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III. Die Antike und ihre Nachtseite

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unmittelbar soziale Form annahm. <strong>Die</strong> Kritik der Aufklärung am Mythos hatte<br />

mithin das Ergebnis, die Dichtung <strong>ihre</strong>s herkömmlichen Stoffes beraubt zu haben,<br />

<strong>und</strong> somit war die Möglichkeit selbst entzogen worden, durch eine gemeinschafts-<br />

stiftende Idee von Gott eine Gesellschaft zu rechtfertigen <strong>und</strong> die symbolische<br />

Identität zwischen äußerer <strong>und</strong> innerer Welt wie im alten Griechenland wiederher-<br />

zustellen. Angesichts der Zergliederung Deutschlands behauptete schon Goethe,<br />

daß es in Deutschland an einem Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens fehle;<br />

diese Lücke wollten die Romantiker durch das Programm einer Neuen Mythologie<br />

beseitigen, zu deren Schöpfung die Dichter sich ausersehen fühlten.<br />

Den romantischen Gedanken einer Sonderrolle der dichterischen Tätigkeit <strong>und</strong><br />

einer neuen legitimierenden Sinngebung der Gesellschaft als Gemeinde kommt<br />

die mythologische Gestalt des Dionysos sehr entgegen. Er ist nämlich der fremde<br />

Gott, welcher das Wesen des gesamten griechischen Pantheons in sich verkörpert<br />

<strong>und</strong> dessen Ankunft immer eine in der Zukunft sich erfüllende Verheißung be-<br />

deutet. Im Rausch <strong>und</strong> in den dieser Gottheit heiligen Riten durfte der Mensch die<br />

Grenzen seiner Individualität aufheben <strong>und</strong> eine Einheit mit dem Gott <strong>und</strong> den an-<br />

deren Mitmenschen <strong>und</strong> Teilnehmern bilden. In dieser Hinsicht ist Dionysos der<br />

gemeinschaftsstiftende Gott <strong>und</strong> Patron der Tragödie <strong>und</strong> eignet sich in besonde-<br />

rem Maße dazu, das Programm einer Neuen Mythologie zu symbolisieren.<br />

An der Schwelle zwischen dem 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>ert vollzieht sich deshalb<br />

ein Wandel in der Auffassung von Dionysos: vom unbeschwerten <strong>und</strong> friedlichen<br />

Gott des Genußlebens zum „kommenden Gott“ der frühromantischen Mythologie.<br />

Parallel zu der Aufwertung dieses Gottes wird das herkömmliche Mythos- <strong>und</strong><br />

Dichtungsverständnis in Frage gestellt. Es geht nicht mehr darum, die Dichtung<br />

mit einem Repertoire von Mythologemen <strong>und</strong> Bildern zu verschönern, sondern<br />

vielmehr um die Entdeckung des symbolischen Potentials des alten Mythos <strong>und</strong><br />

daher um die Erforschung bisher nicht berücksichtigter Aspekte der ,klassischen‘<br />

<strong>Antike</strong>. <strong>Die</strong>se philosophischen <strong>und</strong> dichtungstheoretischen Bemühungen beein-<br />

flussen, wenn auch nicht widerspruchslos, die weitere Entwicklung der modernen<br />

Altertumswissenschaft.<br />

Es ist versucht worden, die Etappen zu skizzieren, welche zum neuen Diony-<br />

sos- <strong>und</strong> <strong>Antike</strong>bild führte: Winckelmanns Unterscheidung einer apollinischen,<br />

männlichen Schönheit von einer dionysischen <strong>und</strong> knabenhaften; Hamanns Poetik

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