FORTSCHRITTE IN DER HIRNFORSCHUNG - Dana Foundation
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<strong>FORTSCHRITTE</strong> <strong>IN</strong> <strong>DER</strong><br />
<strong>HIRNFORSCHUNG</strong><br />
Ausgabe 2008<br />
Einleitung von Eve Marder, PhD<br />
Kunst und Kognition:<br />
Hinweise auf Beziehungen<br />
Essay von Michael S. Gazzaniga, PhD<br />
Die wachsenden Möglichkeiten<br />
der tiefen Hirnstimulation<br />
von Mahlon R. DeLong, MD, und Thomas Wichmann, MD
<strong>FORTSCHRITTE</strong> <strong>IN</strong> <strong>DER</strong><br />
<strong>HIRNFORSCHUNG</strong><br />
Einleitung von Eve Marder, PhD<br />
Kunst und Kognition:<br />
Hinweise auf Beziehungen<br />
Essay von Michael S. Gazzaniga, PhD<br />
Die wachsenden Möglichkeiten<br />
der tiefen Hirnstimulation<br />
von Mahlon R. DeLong, MD, und Thomas Wichmann, MD<br />
Ausgabe 2008
THE EUROPEAN DANA ALLIANCE<br />
FOR THE BRA<strong>IN</strong> EXECUTIVE COMMITTEE<br />
William Safire, Chairman<br />
Edward F. Rover, President<br />
Colin Blakemore, PhD, ScD, FRS, Vice Chairman<br />
Pierre J. Magistretti, MD, PhD, Vice Chairman<br />
Carlos Belmonte, MD, PhD<br />
Anders Björklund, MD, PhD<br />
Joël Bockaert, PhD<br />
Albert Gjedde, MD, FRSC<br />
Sten Grillner, MD, PhD<br />
Malgorzata Kossut, MSc, PhD<br />
Richard Morris, Dphil, FRSE, FRS<br />
Dominique Poulain, MD, DSc<br />
Wolf Singer, MD, PhD<br />
Piergiorgio Strata, MD, PhD<br />
Eva Syková, MD, PhD, DSc<br />
Executive Committee<br />
Barbara E. Gill, Executive Director<br />
Die European <strong>Dana</strong> Alliance for the Brain (EDAB) ist ein Zusammenschluss<br />
von 183 führenden Wissenschafterinnen und Wissenschaftern aus<br />
27 Ländern. Zu ihren Mitgliedern zählen fünf Nobelpreisträger. Die EDAB<br />
hat sich zum Ziel gesetzt, die Gesellschaft auf die Bedeutung der Gehirnforschung<br />
aufmerksam zu machen. Die Organisation wurde 1997 gegründet<br />
und versteht sich als Schnittstelle zwischen der medizinischen Laborarbeit,<br />
der Forschung sowie der breiten Öffentlichkeit.<br />
Für weitere Informationen:<br />
The European <strong>Dana</strong> Alliance for the Brain<br />
Dr Béatrice Roth, PhD<br />
Centre de Neurosciences Psychiatriques<br />
Site de Cery<br />
1008 Prilly / Lausanne<br />
E-mail: Contact.Edab@hospvd.ch Deckel: Keystone
<strong>FORTSCHRITTE</strong> <strong>IN</strong> <strong>DER</strong><br />
<strong>HIRNFORSCHUNG</strong><br />
Ausgabe 2008<br />
Kunst und Kognition: Hinweise auf Beziehungen<br />
5 Einleitung<br />
von Eve Marder, PhD<br />
Präsidentin, Society for Neuroscience<br />
11 Kunst und Kognition: Hinweise auf Beziehungen<br />
von Michael S. Gazzaniga, PhD<br />
17 Die wachsenden Möglichkeiten der tiefen Hirnstimulation<br />
von Mahlon R. DeLong, MD, und Thomas Wichmann, MD<br />
Fortschritte in der Hirnforschung im Jahr 2007<br />
25 In der Kindheit auftretende Störungen<br />
33 Bewegungsstörungen und andere Störungen der Motorik<br />
41 Schädigungen des Nervensystems<br />
49 Neuroethik<br />
57 Neuroimmunologische Erkrankungen<br />
65 Schmerz<br />
71 Psychiatrische Erkrankungen, Verhaltensstörungen<br />
und Suchtkrankheiten<br />
81 Störungen der Sinnes- und Körperfunktion<br />
89 Stammzellen und Neurogenese<br />
97 Denken und Erinnern<br />
107 Referenzen<br />
117 Stelle Dir eine Welt vor...
Einleitung<br />
von Eve Marder, PhD<br />
Präsidentin, Society for Neuroscience<br />
Angesichts des vorliegenden Berichts,<br />
der neuere Erkenntnisse zusammenfasst, die<br />
unser Leben und das unserer Familien in<br />
Gegenwart und Zukunft entscheidend beeinflussen,<br />
lege ich Ihnen hier die Ansichten<br />
einer unerschrockenen und kompromisslosen<br />
Grundlagenwissenschafterin vor.<br />
Als Wissenschafterin habe ich das Privileg,<br />
mich mit den grundlegendsten Fragen der<br />
Neurowissenschaft zu befassen, etwa mit der<br />
homeostatischen Regulation (dem lebenslangen Aufrechterhalten einer<br />
stabilen neuronalen Funktion), und durfte erkennen, dass diese auch für<br />
klinische Problemstellungen, etwa im Hinblick auf Epilepsie, relevant ist 1, 2 .<br />
Gleichzeitig konnte ich als Tochter verblüfft miterleben, wie sich mein Vater<br />
von einer traumatischen Hirnverletzung erholte, die er bei einem Verkehrs -<br />
unfall erlitten hatte. Bis heute staune ich darüber, dass sich sein damals<br />
76 Jahre altes Gehirn selbst wieder so weit herstellte, dass heute niemand,<br />
der ihm sieben Jahre später erstmals begegnet, auch nur im Traum auf den<br />
Gedanken käme, dass jemals etwas derart Bedauerliches vorgefallen ist.<br />
Nichtsdestoweniger bezeugt seine Gesundung wohl mehr die ausserordentliche<br />
Fähigkeit des menschlichen Gehirns, sich von einem Insult zu<br />
erholen, sowie die chirurgische Kunst und weniger unser Wissen, wie und<br />
weshalb er völlig gesund wurde. Nichts beunruhigt einen Neurowissenschafter<br />
oder eine Neurowissenschafterin mehr, als im vollen Bewusstsein<br />
um unseren begrenzten Wissensstand miterleben zu müssen, dass eine<br />
nahe stehende Person oder ein Familienmitglied an einer Hirnverletzung<br />
oder -krankheit leidet; daher begrüsse ich alle in der vorliegenden Ausgabe<br />
beschriebenen Fortschritte.<br />
Als wissenschaftliche Forscherin an einer geisteswissenschaftlichen Hochschule<br />
gebe ich einen Kurs „Grundlagen der Neurowissenschaft“; er 5
6<br />
umfasst die gesamten Grundlagen der Neurowissenschaft und deren<br />
Anwendung bei konkreten klinischen und allgemein menschlichen Fragestellungen.<br />
Für mich als Pädagogin ist es äusserst befriedigend festzu -<br />
stellen, dass häufig ausgefallene Einzelfragen, mit denen sich die Grund -<br />
lagenwissenschaft befasst, die für das Verständnis von Krankheiten<br />
notwendigen Voraussetzungen schaffen. Angesichts der vorliegenden<br />
Sammlung von Aufsätzen erfüllt es mich auch mit Genugtuung, dass die<br />
langjährige Grundlagenforschung in mancherlei Hinsicht zu bedeutsamen<br />
Fortschritten geführt hat und schliesslich eine erfolgreichere Behandlung<br />
von Menschen ermöglichen wird.<br />
Weshalb und auf welche Weise Einzelne, die in den verschiedensten Familien<br />
aufwachsen, Maler, Musiker oder Tänzer werden, gehört zu den grossen<br />
Geheimnissen des Lebens. Dass künstlerische Begabungen und Tätigkeiten<br />
familiär gehäuft vorkommen, ist allgemein bekannt. Beruht dies auf<br />
Vererbung, auf früher Exposition und Übung, oder auf beidem? Es wird oft<br />
behauptet, Fachpersonen in Mathematik und Physik würden sich musikalisch<br />
besonders hervortun. Haben formales abstraktes Denken und Musizieren<br />
tatsächlich gewisse Beschaffenheiten des Kortex gemein? Fördert<br />
Kunstunterricht auch andere Arten der kognitiven Entwicklung? Mit Fragen<br />
dieser Art beschäftigt sich das <strong>Dana</strong> Arts and Cognition Consortium.<br />
In der Kindheit auftretende Störungen – z. B. Autismus, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung<br />
und Entwicklungsverzögerung – gehören<br />
zu den besonders herzzerreissenden neurologischen Erkrankungen.<br />
Niederschmetternd sind auch degenerative Erkrankungen wie Chorea<br />
Huntington, Parkinson und Alzheimer, von denen Erwachsene betroffen<br />
sind. Neuere Arbeiten zeigen das grosse Potential der Genetik für das Verständnis<br />
der Ursachen dieser Krankheiten. Die jahrzehntelange Untersuchung<br />
der grundlegenden genetischen Mechanismen trägt heute Früchte,<br />
besonders da wir nun über ein Instrumentarium verfügen, um die Inter -<br />
aktionen multipler Gene bei komplexen Krankheiten zu untersuchen.<br />
Dasselbe zeigt sich bezüglich neuerer Studien von Hirntumoren. Die<br />
Erforschung zellulärer Signalwege, die das Wachstum und die Ausbreitung<br />
verschiedener Krebsarten, einschliesslich jener des Gehirns, steuern,<br />
könnte zur Entwicklung neuer Therapien für Gliome und weitere Hirn -<br />
tumoren führen.<br />
Das Gehirn meines Vaters wurde durch einen rasch eingeleiteten chirurgischen<br />
Eingriff gerettet; wie im vorliegenden Bericht dargestellt wird, ist
auch für den Schutz des Gehirns nach einem Schlaganfall und nach transitorischen<br />
ischämischen Attacken, die kleinere neurologische Auswirkungen<br />
zu haben scheinen, das rechtzeitige Eingreifen entscheidend. Wir<br />
wissen heute, dass durch die rechtzeitige Behandlung einer transitorischen<br />
ischämischen Attacke das Risiko eines schweren Hirnschlags in den<br />
folgenden Wochen reduziert wird.<br />
Bei vielen Krankheiten können die aus Tiermodellen stammenden<br />
Erkenntnisse und Befunde nur schwer in die klinische Praxis übertragen<br />
werden. Ausschlaggebend sind hervorragende und gut kontrollierte<br />
klinische Studien, doch ist ihre korrekte Durchführung oft fraglich. Deshalb<br />
hat die International Campaign for Cures of Spinal Cord Paralysis<br />
(ICCP) neue Kriterien erarbeitet, um die Teilnahme und Beurteilung von<br />
Patienten an klinischen Studien bezüglich neuer Therapien von Rückenmarkverletzungen<br />
zu regeln. Entsprechende Kriterien für klinische Studien<br />
sind für sämtliche Bereiche von grosser Bedeutung, bei denen die<br />
Behandlung neurolo gischer oder psychiatrischer Erkrankungen beurteilt<br />
werden müssen.<br />
Das Interesse an Fragen, die zur neuen Disziplin der Neuroethik gehören,<br />
ist im vergangenen Jahr enorm gewachsen; das American Journal of<br />
Bioethics widmet diesem Bereich nun jährlich drei Ausgaben. Vier Themen<br />
erhielten 2007 besondere Aufmerksamkeit: die Kommerzialisierung<br />
des Lügendetektors, die tiefe Hirnstimulation zur Behandlung von Depressionen,<br />
genetische Studien von Abhängigkeit, und bildgebende Verfahren.<br />
Die Entwicklung neuer Techniken zu Diagnose und Behandlung von<br />
Hirnkrankheiten lässt dabei unerwartete, heikle Konsequenzen erkennen.<br />
Gleichzeitig macht die Stammzellbiologie bemerkenswerte Fortschritte,<br />
die dazu führen könnten, dass viele mit der Verwendung embryonaler<br />
Stammzellen zusammenhängende Kontroversen hinfällig werden.<br />
Unterdessen werden die Interaktionen von Immunsystem und Nerven -<br />
system immer klarer fassbar. Am deutlichsten ist dies im Falle der Multiplen<br />
Sklerose, einer Krankheit, bei der Vererbungs- und Umweltfaktoren<br />
bewirken, dass das Immunsystem die Myelinscheide, die viele Nerven -<br />
zellen umgibt, angreift. Neuere Studien belegen einen Zusammenhang<br />
zwischen verschiedenen Genen des Immunsystems und dem Risiko, an<br />
Multipler Sklerose zu erkranken. Interessant sind auch neue Befunde,<br />
denen zufolge ein enger Zusammenhang zwischen Vitamin D, Sonnenbestrahlung<br />
(die Vitamin D erhöht), Immunsystem und Multipler Sklerose 7<br />
Einleitung
8<br />
besteht. Das Immunsystem könnte sich auch als wichtig erweisen für ein<br />
besseres Verständnis gewisser chronischer Schmerzerkrankungen.<br />
Die zu chronischen Schmerzzuständen führenden Mechanismen sind<br />
geheimnisvoll; möglicherweise gehören zu den Ursachen auch Fehlanpassungen<br />
auf eine Verletzung, welche nicht unmittelbar auf das Ereignis folgen.<br />
Da starker chronischer Schmerz eine massive Beeinträchtigung darstellt<br />
und oft nur schwer wirksam behandelt werden kann, sind neue<br />
Erkenntnisse über den Aufbau und die Tätigkeit von Schmerzbahnen<br />
nötig und neue Behandlungsmethoden besonders willkommen. Dabei<br />
geht es vor allem um die Suche nach Alternativen zur langfristigen Verwendung<br />
von opiathaltigen Medikamenten, die zu Abhängigkeit führen<br />
können. Zu den besonders viel versprechenden, neuen, intensiv erforschten<br />
Behandlungsformen gehört die Neurostimulation, bei der Elektroden<br />
entweder in der Nähe des Rückenmarks oder peripher implantiert werden.<br />
Mit dieser Methode sollen Schmerzsignale durch eine direkte Stimulation<br />
blockiert werden, bevor sie das Gehirn erreichen. In anderen Bereichen<br />
lassen faszinierende Studien erkennen, auf welche Weise das Gehirn<br />
als Reaktion auf eine Infektion Fieber erzeugt 3 ; auch diese Einsichten verdanken<br />
wir unserem neuen Verständnis der Signalübertragung zwischen<br />
Zellen und der Möglichkeit, sie in Tiermodellen genetisch zu verändern.<br />
Leider werden schwere psychiatrische Krankheiten wie Schizophrenie,<br />
Depression und Sucht in vielen Fällen erst erkannt, wenn die davon betroffenen<br />
Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Lage sein sollten, als<br />
kreative und selbständige Personen ihren gesellschaftlichen Beitrag zu leisten.<br />
Im Jahr 2007 hat die Forschung zu einem Paradigmenwechsel bei der<br />
Beurteilung dieser Krankheiten beigetragen.<br />
Lange Zeit hatte sich die Wissenschaft darauf konzentriert, einzelne biochemische<br />
und molekulare Ursachen zu suchen. Heute erkennen wir, dass<br />
Störungen des Denkens und des Gemüts auf fehlerhaften Verbindungen<br />
in Hirnschaltkreisen beruhen können, obwohl möglicherweise jede einzelne<br />
Nervenzelle richtig funktioniert. Neue bildgebende Verfahren und<br />
Genmanipulationen lassen jene Gene leichter erkennen, die für den<br />
Aufbau und die Funktion der Schaltkreise unter unterschiedlichen<br />
Umweltbedingungen verantwortlich sind. Darüber hinaus dürfte der Paradigmenwechsel<br />
zu neuen Behandlungsformen von Störungen beitragen.<br />
Es ist zu erwarten, dass wir auch Denkstörungen bei degenerativen<br />
Erkrankungen des Nervensystems, etwa der Alzheimer-Krankheit, besser
verstehen werden, bei welchen Nervenzellen zugrunde gehen und damit<br />
bestimmte Schaltkreiskomponenten ausfallen.<br />
Zu den grössten Schwierigkeiten bei der Behandlung psychiatrischer<br />
Krankheiten gehört die enorme Heterogenität der Bevölkerung; eine der<br />
grössten Hoffnungen besteht darin, dass künftig bereits bei der Wahl einer<br />
medikamentösen oder anderen Behandlung berücksichtigt werden kann,<br />
mit welcher Wahrscheinlichkeit jemand aufgrund der genetischen Konstitution<br />
auf eine bestimmte Behandlung anspricht.<br />
Viele junge Forschende entscheiden sich für die Neurowissenschaft, weil<br />
sie von den wirklichen „grossen“ Fragen fasziniert sind: Sie interessieren<br />
sich für die Beschaffenheit des Bewusstseins; den Aufbau des menschlichen<br />
Denkens; die Beziehung zwischen spezifischen Hirnstrukturen und<br />
unserer Fähigkeit, mit Sprache umzugehen, Musik zu geniessen oder mit<br />
anderen in Beziehung zu treten. Die Studien des Jahres 2007 lassen uns<br />
besser verstehen, wie das Gehirn mit seinen Nervenschaltkreisen bei komplexen<br />
Denkvorgängen funktioniert.<br />
Trotz der ausserordentlichen Erkenntnisse über die Tätigkeit des Gehirns<br />
in Gesundheit und Krankheit lässt uns jeder neue Befund nur umso deutlicher<br />
erkennen, wie viel wir noch nicht verstehen. Wir alle erleben beispielsweise<br />
geistige Ermüdung, haben aber keine Ahnung, welche biologischen<br />
Korrelate diesem Zustand entsprechen. Wir wissen, dass sich<br />
unser Gehirn von dem anderer Personen unterscheidet, dass wir unterschiedliche<br />
Erinnerungen gespeichert haben und diese auf je einzigartige<br />
Weise dazu benutzen, auf einander und auf die Welt zu reagieren. Gleichzeitig<br />
gehen wir davon aus, dass die grundsätzlichen Regeln, welche die<br />
Tätigkeit unseres Gehirns bestimmen, erhalten bleiben – und zwar gröss -<br />
tenteils nicht nur beim Menschen sondern auch im Tierreich. Wie wir<br />
angesichts des gemeinsamen Sets von biochemischen, molekularen und<br />
genetischen Mechanismen unsere individuellen menschlichen Eigenschaften<br />
verstehen, ist die grösste Herausforderung für unsere weitere<br />
Arbeit.<br />
Einleitung<br />
9
Kunst und Kognition:<br />
Hinweise auf Beziehungen<br />
von Michael S. Gazzaniga, PhD<br />
Im Jahr 2004 versammelte das <strong>Dana</strong> Arts<br />
and Cognition Consortium an sieben amerikanischen<br />
Universitäten tätige kognitive<br />
Neuro wissenschafter und Neurowissenschafterinnen,<br />
die sich mit der Frage auseinandersetzten,<br />
worauf der Zusammenhang<br />
von Kunstunterricht und einer höheren akademischen<br />
Leistung beruht. Fühlen sich<br />
kluge Leute einfach dazu hingezogen, künstlerisch<br />
„tätig“ zu werden – Musik, Tanz,<br />
Schauspiel zu studieren und auszuüben – oder ruft früher Kunstunterricht<br />
Veränderungen im Gehirn hervor, die andere wichtige Aspekte der Kognition<br />
fördern.<br />
Die Arbeitsgemeinschaft kann nun Ergebnisse vorlegen, dank denen wir<br />
die möglichen ursächlichen Beziehungen zwischen Kunstunterricht und<br />
der Fähigkeit des Gehirns, in anderen kognitiven Bereichen zu lernen,<br />
besser verstehen.<br />
Die Studie enthält neue Daten über die Auswirkungen von Kunstunterricht<br />
und regt dadurch künftige Untersuchungen an. Die bisherigen, noch<br />
vorläufigen Schlussfolgerungen dürften schon bald zuverlässige Annahmen<br />
darüber erlauben, wie sich Kunstunterricht auf das Gehirn auswirkt;<br />
Eltern, Studierende, Erziehende, Neurowissenschafter und Neurowissenschafterinnen<br />
sowie politisch Verantwortliche würden dadurch in ihrer<br />
jeweils persönlichen, institutionellen und politischen Entscheidungsfindung<br />
unterstützt.<br />
Genaueres über die Forschungsprogramme aller einzelnen Teilnehmenden<br />
sind in den Berichten ausgeführt, die Sie von www.dana.org herunterladen<br />
können. Im Folgenden finden Sie eine Zusammenfassung der<br />
Erkenntnisse dieser Gruppe. 11
12<br />
1. Das Interesse an darstellender Kunst führt zu einer hohen „Motivation“;<br />
diese erzeugt eine für Fortschritte notwendige „anhaltende Aufmerksamkeit“<br />
und das Aufmerksamkeitstraining seinerseits führt zu Verbesserungen<br />
in anderen Wissensgebieten.<br />
2. Genetische Studien lassen Kandidatengene erkennen, die möglicherweise<br />
zur Erklärung der individuell unterschiedlichen Kunstinteressen<br />
beitragen.<br />
3. Zwischen intensivem Musikunterricht und der Fähigkeit, sowohl im<br />
Arbeits- als auch im Langzeitgedächtnis Informationen zu handhaben,<br />
gibt es spezifische Beziehungen, die über den Bereich des Musikunterrichts<br />
hinaus reichen.<br />
4. Bei Kindern scheinen spezifische Beziehungen zwischen musikalischer<br />
Aktivität und darstellender Geometrie zu bestehen, die jedoch andere<br />
Arten des Umgangs mit Zahlen nicht mit einschliessen.<br />
5. Wechselbeziehungen gibt es zwischen Musikunterricht einerseits und<br />
lesen Lernen sowie sequentiellem Lernen andererseits. Einer der wichtigsten<br />
Hinweise auf eine frühe Lesefähigkeit ist das phonologische<br />
Bewusstsein; es korreliert sowohl mit Musikunterricht als auch mit der<br />
Entwicklung einer bestimmten Hirnverbindung.<br />
6. Schauspielunterricht scheint über das Erlernen allgemeiner Fertigkeiten<br />
zur Verarbeitung semantischer Informationen zu einem besseren<br />
Gedächtnis zu führen.<br />
7. Zwischen dem selbst deklarierten Interesse an Ästhetik und der Veranlagung<br />
zu Offenheit, die ihrerseits durch auf Dopamin bezogene Gene<br />
beeinflusst wird, besteht ein Zusammenhang.<br />
8. Zwischen tanzen Lernen durch aufmerksames Beobachten und Lernen<br />
durch eigenes Üben besteht ein enger Zusammenhang, und zwar sowohl<br />
was den Erfolg anbelangt als auch bezüglich der neuralen Substrate, die<br />
solche komplexen Tätigkeiten ermöglichen. Lernen durch aufmerksames<br />
Beobachten kann sich auf andere kognitive Fähigkeiten auswirken.<br />
Die vorangehenden Ausführungen erweitern unser Wissen über die Beziehung<br />
zwischen Kunst und Kognition. Bezüglich der Frage, ob Kunstunterricht
das Gehirn so verändert, dass allgemeine kognitive Fähigkeiten gefördert<br />
werden, stellen diese Erkenntnisse einen ersten Schritt des neurowissenschaftlichen<br />
Forschungsansatzes dar. Die Frage ist – ähnlich wie bei<br />
bestimmten organischen Krankheiten – von so hohem allgemeinem Interesse,<br />
dass unhaltbare Antworten zwar rasch eine grosse Kraft entwickeln,<br />
dann aber einen Bumerangeffekt haben können.<br />
Darin besteht das besondere Problem von Korrelationen; da einige Studien<br />
schwache und sogar bloss scheinbare Korrelationen aufzeigten,<br />
wurde diese Arbeitsgemeinschaft gebildet. Es ist zwar interessant, begleitende,<br />
parallele, ergänzende oder reziproke „Korrelationen“ festzustellen,<br />
doch sind Aktionen und Veränderungen erst möglich, wenn wir die ihnen<br />
zugrunde liegenden Mechanismen verstehen.<br />
Zwar muss die Wissenschaft stets darauf hinweisen, dass es notwendig<br />
ist, zwischen Korrelation und Kausalität zu unterscheiden, doch ist<br />
ebenfalls festzuhalten, dass gerade die Neurowissenschaft häufig mit<br />
Korrelationen beginnt – üblicherweise von der Entdeckung, dass eine<br />
bestimmte Art von Hirnaktivität und eine bestimmte Verhaltensweise<br />
gemeinsam auftreten. Um jedoch zu entscheiden, welche Forschungs -<br />
arbeit am sinnvollsten ist, muss man darauf achten, ob diese Korrelationen<br />
niedrig oder hoch sind. Indem viele der hier erwähnten Studien<br />
bereits früher festgestellte Korrelationen bestätigen, schaffen sie die<br />
Voraussetzung, dass das Verständnis der zugrunde liegenden biologischen<br />
Vorgänge und Hirnmechanismen schliesslich zu echten kausalen<br />
Erklärungen führt.<br />
Ausserdem gibt es nicht nur hohe und niedrige Korrelationen, sondern<br />
auch starke und schwache Kausalzusammenhänge. Ebenso wie bei<br />
„Rauchen verursacht Krebs“, könnten wir theoretisch aufgrund von Ergebnissen<br />
randomisierter prospektiver Studien, denen zufolge Kinder mit<br />
Kunstunterricht einen kognitiven Vorteil haben, im weitesten Sinne einen<br />
Kausalzusammenhang postulieren. Doch selbst ein derart eindeutiges<br />
Ergebnis würde nur wenig über die Ursache aussagen; wir hätten dadurch<br />
keinen einzigen Lernmechanismus im Gehirn entdeckt, der uns solche<br />
Mechanismen besser „verstehen“ liesse und zu einer optimalen Begegnung<br />
mit Kunst anleiten könnte. Wir wüssten weder Bescheid darüber, durch<br />
welche Mechanismen das Gehirn das Gelernte generalisiert noch über die<br />
Entwicklungsstadien, in denen das Gehirn besonders gut auf bestimmte<br />
Arten der Erfahrung anspricht. 13<br />
Kunst und Kognition: Hinweise auf Beziehungen
14<br />
Zwischen hoher Korrelation und eindeutig wissenschaftlich fundierten<br />
kausalen Erklärungen ist viel Raum für wertvolle Untersuchungen. Fragestellungen,<br />
die von Theorien ausgehen können mit neurowissenschaftlichen<br />
Methoden untersucht werden und zu Experimenten führen, die<br />
sich nicht mit dem Nachweis von Erfolgsergebnissen begnügen; vielmehr<br />
können sie aufzeigen, auf welche Weise durch Kunstunterricht hervorgerufene<br />
Veränderungen im Gehirn das Leben von Menschen bereichern<br />
und wie sich eine solche Erfahrung auf Bereiche übertragen lässt, die<br />
eine akademische Bildung fördern. Auch wenn solche in einem mittleren<br />
Bereich angesiedelte Studien nicht auf der Ebene von zellulären oder<br />
molekularen Erklärungen liegen, könnten sie unser Wissen entscheidend<br />
voranbringen.<br />
Die von der Arbeitsgemeinschaft durchgeführte Untersuchung zum Tanzen<br />
ist hierfür ein gutes Beispiel. Unsere Forschungsarbeit zeigt, dass sich<br />
Personen, die Tanzunterricht nehmen, zu höchst erfolgreichen Beobachtenden<br />
entwickeln können. Wir stellten fest, dass man durch blosses<br />
Zuschauen sehr erfolgreich tanzen lernen kann und dass dieser Erfolg auf<br />
der neuralen Ebene dadurch gestützt wird, dass sich jene Hirnbereiche<br />
weitgehend überlappen, die beim Beobachten der Abläufe bzw. beim<br />
Ausführen der entsprechenden Bewegungen aktiv sind. Diese gemeinsamen<br />
neuralen Substrate sind bedeutsam, wenn es gilt, komplizierte<br />
Abläufe so zu organisieren, dass eine sequenzielle Struktur entsteht. In der<br />
Zukunft können wir untersuchen, ob sich diese erfolgreiche Beobachtungsstrategie<br />
auch auf andere akademische Bereiche übertragen lässt.<br />
Im komplizierten Schaltkreis des Gehirns kausale Mechanismen festlegen<br />
zu wollen, ist ein bisschen viel verlangt. Die Studien zu Kunst und Kognition,<br />
welche die Arbeitsgemeinschaft der <strong>Dana</strong> in den letzten drei Jahren<br />
durchgeführt hat, ermöglichten das Verständnis der für Handlungen notwendigen<br />
Mechanismen; auf dieser Grundlage – so glauben wir – werden<br />
künftige Studien aufbauen können.<br />
Die Neurowissenschaft eröffnet eine lebensbejahende Dimension: Die<br />
Entdeckung, dass künstlerische Tätigkeiten und Kunstgenuss unsere<br />
kogni tiven Fähigkeiten erweitern, ist ein entscheidender Schritt hin<br />
zur Erkenntnis, wie wir besser lernen und sowohl angenehmer als auch<br />
produktiver leben können. Nachstehend geben wir einige Anregungen,<br />
wie die hier vorgestellten Forschungsarbeiten weiter geführt wer -<br />
den könnten.
1. Bisherige Untersuchungen haben ergeben, dass für verschiedene Sparten<br />
der Kunst – Musik, bildende Kunst, Theater, Tanz – jeweils unterschiedliche<br />
neurale Netzwerke zuständig sind. In künftigen Studien soll<br />
überprüft werden, in welchem Ausmass diese Netzwerke eigenständig<br />
sind bzw. sich überlappen.<br />
2. Wir wollen auch Klarheit darüber erhalten, auf welche Weise eine hohe<br />
künstlerische Motivation raschere Veränderungen in diesem Netzwerk<br />
bewirkt, und wie stark sich solche Veränderungen auf andere Arten der<br />
Kognition auswirken.<br />
3. Der Zusammenhang zwischen Unterricht in Musik und in bildender<br />
Kunst einerseits und bestimmten Bereichen der Mathematik, etwa der<br />
Geometrie, anderseits muss mit modernen bildgebenden Verfahren<br />
genauer untersucht werden.<br />
4. Weiter nachgehen wollen wir auch dem Zusammenhang von intrinsischer<br />
Motivation für eine bestimmte Kunstsparte (z. B. Musik und<br />
bildende Kunst) und der dafür erforderlichen Fähigkeit der beständigen<br />
Aufmerksamkeit; wir brauchen Forschungsresultate auf der Ver -<br />
haltensebene und mittels bildgebender Verfahren, um aufzeigen zu<br />
können, dass in spezifischen Bahnen bei höherer Motivation grössere<br />
Veränderungen auftreten.<br />
5. Die Suche nach individuellen Indikatoren für das Interesse an Kunstunterricht<br />
und für dessen Einfluss sollte weitergeführt werden; sinnvoll<br />
wären Untersuchungen, welche Erhebungen mittels Fragebogen, die<br />
Bestimmung bereits bekannter Kandidatengene und eine umfassende<br />
Überprüfungen des Genoms miteinander kombinieren.<br />
Weitere Untersuchungen sollten auch den folgenden Fragen nachgehen:<br />
1. In welchem Ausmass ist der Zusammenhang zwischen Musikunterricht,<br />
Lesen und sequentiellem Lernen kausaler Art? Falls tatsächlich eine<br />
Kausalität bestehen sollte, geht sie mit einer Anpassung der Verbindungen<br />
zwischen beteiligten Hirnbereichen einher?<br />
2. Ist der Zusammenhang zwischen Musik- und Schauspielunterricht und<br />
Gedächtnisfunktionen kausaler Art? Falls ja, lassen sich diese Mechanismen<br />
mittels bildgebender Verfahren untersuchen? 15<br />
Kunst und Kognition: Hinweise auf Beziehungen
16<br />
3. Welche Rolle spielen aufmerksame Beobachtung und Nachahmung bei<br />
darstellenden Künsten? Können wir unser motorisches System auf<br />
komplizierte Tanzbewegungen vorbereiten, indem wir die gewünschten<br />
Bewegungen ganz einfach beobachten oder sie uns vorstellen?<br />
Lassen sich die zur Erreichung dieses Ziels notwendige Disziplin und<br />
die kognitiven Fertigkeiten übertragen?<br />
Der Arbeitsgemeinschaft ist es gelungen, einige der in kognitiver Neurowissenschaft<br />
weltweit führenden Fachpersonen zusammenzubringen, um<br />
Korrelationsstudien zu Kunst und Kognition zu sichten und auf allfällige<br />
kausale Beziehungen zu überprüfen. Die neuen Erkenntnisse und konzeptuellen<br />
Fortschritte der Arbeitsgemeinschaft haben geklärt, was als Nächs -<br />
tes zu tun ist. Die oben angeführten spezifischen Vorschläge sind ein<br />
Ergebnis dieser Arbeiten, wobei es natürlich auch weitere Möglichkeiten<br />
gibt. Ziel dieser Vorschläge ist es, ein neu erschlossenes Forschungsgebiet<br />
weiter zu vertiefen. Die vorliegenden aktuellen Ergebnisse und neuen<br />
Ideen zeigen die Richtung an, in der dieser Bereich weiter erforscht werden<br />
könnte.<br />
Meines Erachtens hat dieses Projekt Kandidatengene identifiziert, die zu<br />
einer künstlerischen Begabung beitragen, und es hat zudem aufgezeigt,<br />
dass sich kognitive Verbesserungen auf bestimmte geistige Fähigkeiten,<br />
etwa die geometrische Vorstellung, beschränken können; das Projekt<br />
hat gezeigt, dass sich spezifische Bahnen im Gehirn identifizieren lassen,<br />
welche sich möglicherweise im Verlauf des Unterrichts verändern; dass<br />
die Lösung eines Problems manchmal auf veränderten kognitiven Strategien<br />
beruht und nicht auf veränderten Hirnstrukturen; und dass früher<br />
Musikunterricht die Kognition über einen bisher noch nicht bekannten<br />
neuralen Mechanismus verbessern kann. All diese Entdeckungen sind<br />
bemerkenswert und faszinierend.
Die wachsenden Möglichkeiten<br />
der tiefen Hirnstimulation<br />
von Mahlon R. DeLong, MD, und Thomas Wichmann, MD<br />
Einleitung<br />
Da es im vergangenen Jahrhundert noch<br />
keine wirksamen Medikamente gab, um<br />
verzweifelten Kranken zu helfen, die an körperlichen<br />
Behinderungen infolge Parkinson<br />
(Parkinson’s disease; PD), Tremor und anderen<br />
Bewegungsstörungen litten, begann die<br />
Neurochirurgie, die Auswirkungen von Läsi -<br />
onen auf verschiedene Hirnstrukturen zu<br />
untersuchen. Seinen Höhepunkt hatte dieses<br />
Vorgehen in den 1950er und 1960er Jahren,<br />
etwa zur selben Zeit, als auch chirurgische<br />
Eingriffe bei verschiedenen psychiatrischen<br />
Störungen und bei abnormem Verhalten den<br />
Höchststand erreichten. Nachdem in den<br />
1960er Jahren die Substitutionstherapie mit<br />
Levodopa als Behandlung der Parkinson-<br />
Krankheit eingeführt worden war und auch<br />
als Reaktion auf den lauten Aufschrei der<br />
Öffentlichkeit gegen Auswüchse der Psychochirurgie<br />
nahmen neurochirurgische Eingriffe<br />
in den nachfolgenden Jahrzehnten rapide ab.<br />
Vor diesem Hintergrund mag es erstaunen, dass neurochirurgische Eingriffe<br />
sowohl bei neurologischen als auch bei psychiatrischen Störungen<br />
im vergangenen Jahrzehnt eine eigentliche Renaissance erfuhren. Das<br />
Wiederaufleben von neurochirurgischen Massnahmen beruht in erster<br />
Linie auf dem bemerkenswerten Fortschritt der Grundlagenforschung, die<br />
sich mit der Organisation des motorischen Systems und mit der Neuro -<br />
biologie von Störungen wie der Parkinson-Krankheit befasste. Die an<br />
Primatenmodellen durchgeführten Forschungsarbeiten wiesen nach, dass 17
18<br />
Bewegungsstörungen wie die Parkinson-Krankheit auf der regelwidrigen<br />
Aktivität ganz bestimmter Hirnschaltkreise beruhen und dass eine<br />
Regulierung der Aktivität in diesen Schaltkreisen mittels gezielter chirurgischer<br />
Eingriffe an einzelnen Knotenpunkten die Symptome wirksam zu<br />
lindern vermag 1 .<br />
Der Impuls für das Wiederaufleben neurochirurgischer Therapien hat verschiedene<br />
Gründe: Bei vielen dieser chronischen neuropsychiatrischen<br />
Störungen lassen sich die Krankheitssymptome in fortgeschrittenen<br />
Stadien entweder nicht ausreichend bekämpfen oder aber es kommt zu<br />
unzumutbaren Nebenwirkungen; das öffentliche Bewusstsein für die Belas -<br />
tung, die solche Störungen für die Betroffenen und ihre Betreuungsper -<br />
sonen darstellen, ist gewachsen; und – dies gilt insbesondere für psychiatrische<br />
Erkrankungen – das Einholen von Einverständniserklärungen der<br />
Betroffenen sowie andere Massnahmen zum Schutze von Patientenrechten<br />
werden heute einheitlich gehandhabt.<br />
Die meisten heute gebräuchlichen funktionellen neurochirurgischen Verfahren<br />
sind auf bestimmte Hirnstrukturen, die so genannten Basalganglien<br />
gerichtet. Diese subkortikalen Hirnstrukturen gelten als Komponenten<br />
einer Familie von anatomisch unterschiedlichen Hirnschaltkreisen, die<br />
auch die Grosshirnrinde und den Thalamus einbeziehen. Diese Schaltkreise<br />
unterstützen Aspekte des motorischen Verhaltens (motorischer<br />
Schaltkreis), des kognitiven Verhaltens (assoziativer Schaltkreis) sowie<br />
von Emotion und Motivation (limbischer Schaltkreis).<br />
Allgemein ausgedrückt beruhen Bewegungsstörungen wie die Parkinson-<br />
Krankheit auf abnormen neuronalen Aktivitäten im motorischen Schaltkreis;<br />
Regelwidrigkeiten in limbischen oder assoziativen Schaltkreisen<br />
verursachen dagegen Symptome und Merkmale von neuropsychiatrischen<br />
Erkrankungen. Daher richten sich Operationen bei Personen mit<br />
Bewegungsstörungen auf Ziele im motorischen Schaltkreis und Eingriffe<br />
bei neuropsychiatrischen Erkrankungen auf den limbischen oder assozia -<br />
tiven Schaltkreis.<br />
Unter den chirurgischen Ansätzen der neuen Generation zeichnet sich die<br />
tiefe Hirnstimulation (THS) dadurch aus, dass sie die Aktivität in bestimmten<br />
Schaltkreisen verändert. Im Zusammenhang mit Bewegungsstörungen<br />
wurde THS erstmals Ende der 1970er Jahre zur Behandlung des Tremors<br />
untersucht; im Laufe der Zeit gelang es, besser geeignete Zielpunkte zu
identifizieren und THS erwies sich auch bei der Parkinson-Krankheit und<br />
anderen Bewegungsstörungen als äusserst wirksam. Anders als beim Setzen<br />
von Läsionen, welche irreversible Auswirkungen haben, wird das<br />
Gehirn durch THS nicht dauerhaft verändert, sondern durch die lokale<br />
Applikation von elektrischem Strom in einer Weise modifiziert, die verändert<br />
und sogar rückgängig gemacht werden kann.<br />
Im Verlauf einer THS-Operation implantiert man stimulierende Elektroden<br />
mit vier verschiedenen Anschlüssen in ganz bestimmte Hirnregionen und<br />
– ähnlich wie bei einem Herzschrittmacher – einen programmierbaren<br />
Impulsgeber direkt unterhalb des Schlüsselbeins unter die Haut. Der<br />
Impulsgeber kann so programmiert werden, dass er die anvisierte Hirn -<br />
region ununterbrochen mit einer optimalen Frequenz, Amplitude und<br />
Impulsdauer stimuliert. Dass diese Stimulation reversibel ist und angepasst<br />
werden kann, gehört zu den grossen Vorzügen der THS; zudem richtet<br />
sie sich direkt auf die relevanten Ziele und führt daher zu weniger<br />
unerwünschten Nebenwirkungen als auf das gesamte Gehirn wirkende<br />
Medikamente.<br />
Tiefe Hirnstimulation hat für Personen, die von einer fortgeschrittenen<br />
Bewegungsstörung oder anderen Krankheiten betroffen sind, bemerkenswerte<br />
Vorteile, doch bleibt unklar, worauf ihre Wirkung letztlich beruht.<br />
Zuerst hatte man angenommen, sie ahme einfach die Wirkungen von<br />
Läsionen nach, doch deuten neuere Untersuchungen der Hirnaktivität bei<br />
Tieren und Menschen darauf hin, dass THS Axone aktiviert, die vom stimulierten<br />
Bereich des Zellkerns weg- oder zu ihm hinführen, und auf diese<br />
Weise Aktivitätsmuster in den mit der stimulierten Hirnregion verbundenen<br />
Netzwerken verändert.<br />
Bewegungsstörungen<br />
Am häufigsten wird tiefe Hirnstimulation bei Personen im fortgeschrittenen<br />
Stadium der Parkinson-Krankheit (einer progredienten Erkrankung<br />
mit typischer Verlangsamung der Bewegungen sowie Tremor und Muskelstarre)<br />
eingesetzt. Die Symptome beruhen auf einer Einbusse des Neurotransmitters<br />
Dopamin in den Basalganglien, was die neuronale Aktivität im<br />
gesamten motorischen Schaltkreis beeinflusst.<br />
Frühe Stadien der Parkinson-Krankheit sind einer medikamentösen Behandlung<br />
zugänglich; in späteren Krankheitsstadien ist sie dadurch begrenzt,<br />
dass dann häufig arzneimittelinduzierte unwillkürliche Bewegungen, so 19<br />
Die wachsenden Möglichkeiten der tiefen Hirnstimulation
20<br />
genannte Dyskinesien, auftreten; auch nimmt die Wirksamkeit der Medikamente<br />
rasch ab. THS innerhalb der motorischen Teilbereiche zweier<br />
Kerne der Basalganglien, dem Nucleus subthalamicus und dem inneren<br />
Segment des Pallidum, behebt Bewegungsstörungen der Parkinson-<br />
Krankheit sowie die durch Arzneimittel induzierten Komplikationen 2, 3 .<br />
Die Operation führt nur selten, bei 1-2% der Betroffenen, zu grösseren<br />
Problemen und die langfristigen Vorteile sind erheblich.<br />
Ausser dem Nucleus subthalamicus und dem Pallidum werden zurzeit weitere<br />
mögliche THS-Zielstrukturen erforscht, unter anderem der Nucleus<br />
pedunculopontinus, der im Falle von schweren Parkinson-Erkrankungen<br />
mit behandlungsresistenten Gang- und Gleichgewichtsstörungen viel versprechend<br />
erscheint. Auch bei Personen mit anderen Bewegungsstörungen<br />
als Tremor und Parkinson wird THS bereits erfolgreich eingesetzt.<br />
Getestet werden z. B. Stimulationen bei verschiedensten Arten der Dystonie,<br />
einer höchst unbeständigen Bewegungsstörung mit typischen, generalisiert<br />
oder fokal auftretenden, unwillkürlichen Drehbewegungen und<br />
unnatürlichen Körperhaltungen; dies weckt Hoffnung für Kranke, die nur<br />
schlecht auf die heute verfügbaren Behandlungen ansprechen 4 .<br />
Neuropsychiatrische Erkrankungen<br />
Die bemerkenswerten Erfolge der tiefen Hirnstimulation im Falle der<br />
Parkinson-Krankheit und bei anderen Bewegungsstörungen sowie die<br />
Erkenntnis, dass etliche verbreitete neuropsychiatrische Erkrankungen<br />
ebenfalls auf abnormen Aktivitätsmustern in neuronalen Netzwerken<br />
beruhen könnten, haben die Neurochirurgie zu vorsichtigen Versuchen<br />
mit THS auch bei verschiedenen derartigen Erkrankungen angeregt. Zurzeit<br />
befinden sich die Anwendungen ausschliesslich in einem experimentellen<br />
Stadium.<br />
Viel versprechend ist auch die Behandlung der Zwangserkrankung<br />
(obsessive-compulsive disorder; OCD), eine Störung die durch zwanghaftes<br />
Denken und Handeln charakterisiert ist. Im Falle der OCD richteten<br />
sich neurochirurgische Läsionen jeweils auf empirische Zielstrukturen,<br />
etwa das Vorderhorn der inneren Kapsel. Kürzlich wurde berichtet, dort 5<br />
oder im nahen ventralen Striatum ansetzende THS sei ebenfalls wirksam.<br />
Das Tourette-Syndrom, bei dem unwillkürliche, rasche und stereotype<br />
Bewegungen und Vokalisationen (motorische und vokale Ticks) häufig mit<br />
OCD, Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom mit Hyperaktivität, Depression
und psychosozialen Auffälligkeiten verbunden sind, lässt sich möglicherweise<br />
ebenfalls mit THS behandeln 6 . Da die Symptome nach der Pubertät<br />
häufig nachlassen, bleibt eine Behandlung schweren Fällen vorbehalten,<br />
in denen keine spontane Besserung erfolgt. Ausgehend von früheren<br />
empirischen Läsions-Studien und angesichts der relevanten Anatomie des<br />
limbischen Schaltkreises wurde THS bei diesen Personen versuchsweise<br />
auf mehrere Zielstrukturen gerichtet, unter anderem auf die intralaminaren<br />
thalamischen Kerne entlang der Mittellinie und auf die motorischen und<br />
limbischen Teilbereiche des Pallidum. Diese ersten Anwendungen führten<br />
in einigen Fällen zu einer deutlichen Besserung der Symptome.<br />
Gegenwärtig laufen auch verschiedene Studien, um die Möglichkeiten der<br />
THS bei Personen zu evaluieren, die an einer schweren, auf konventionelle<br />
Therapien nicht ansprechenden Depression leiden. Nachdem Untersuchungen<br />
mit bildgebenden Verfahren gezeigt hatten, dass der kortikalen<br />
subgenual cingulären Region (Cg25) bei Depressionen eine Schlüsselrolle<br />
zukommt, ergab eine neuere Studie, dass THS in diesem Bereich bei Personen<br />
mit einer Depression eine signifikante klinische Besserung<br />
bewirkte 7 . Eine fortgesetzte Stimulation (während sechs Monaten) führte<br />
bei zwei Dritteln der Versuchspersonen, die alle bereits verschiedene<br />
erfolglose Therapieversuche hinter sich hatten, zu einer deutlichen und<br />
anhaltenden Besserung. Jetzt sind Folgestudien und grösser angelegte<br />
Untersuchungen mit Kontrollgruppen erforderlich, um diese Ergebnisse<br />
zu überprüfen und weitere Zielstrukturen, wie etwa das ventrale Striatum<br />
zu explorieren.<br />
Schlussfolgerungen<br />
Die tiefe Hirnstimulation ist für Patienten, deren Bewegung stark eingeschränkt<br />
ist, zum neurochirurgischen Verfahren der Wahl geworden;<br />
gegenwärtig wird sie auch an Personen mit verschiedenen schweren neuropsychiatrischen<br />
Erkrankungen erprobt. Zwar wissen wir über die neurobiologischen<br />
Grundlagen von Krankheiten wie OCD, Tourette-Syndrom<br />
und Depression weniger als über jene von Bewegungsstörungen, doch<br />
scheint allen gemein zu sein, dass sie auf Fehlfunktionen von Hirnschaltkreisen<br />
beruhen, die bei therapieresistenten Fällen durch THS erfolgreich<br />
beeinflusst werden könnten.<br />
Die wachsenden Möglichkeiten der tiefen Hirnstimulation<br />
21
Fortschritte<br />
in der<br />
Hirnforschung<br />
im Jahr 2007<br />
23
In der Kindheit<br />
auftretende Störungen<br />
Die Genetik des Autismus 26<br />
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung 27<br />
Rett-Syndrom Fortschritte 29<br />
Wichtiges Enzym bei Fragilem-X 31<br />
25
26<br />
Für zwei besonders häufige Arten von Entwicklungsstörungen – die<br />
Autismus-Spektrum-Störungen und die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyper -<br />
aktivitätsstörung (ADHS) – konnte die Wissenschaft im Jahr 2007 einige<br />
genetische Grundlagen bestimmen. Erste Erfolge gab es auch im Hinblick<br />
auf eine mögliche Behandlung des Rett-Syndroms (dabei handelt es sich<br />
um eine Variante der Autismus-Spektrum-Störungen, die zu schwersten<br />
körperlichen Behinderungen führt und vor allem bei Mädchen diagnostiziert<br />
wird, da die betroffenen Knaben selten mehr als zwei Jahre alt werden)<br />
und des Fragilen-X-Syndroms (dies ist die häufigste erbliche Form<br />
von geistiger Behinderung und sie betrifft vor allem Knaben).<br />
Die Genetik des Autismus<br />
Zwar haben Zwillingsstudien ergeben, dass Autismus-Spektrum-Störungen<br />
in hohem Masse erblich sind, doch liessen sich bisher keine überzeugenden<br />
Kandidatengene bestimmen. Überdies kommt diese Krankheit in<br />
der Familienanamnese der meisten von Autismus Betroffenen nicht vor –<br />
ein Hinweis darauf, dass die ererbten Risikofaktoren sehr vielschichtig<br />
sind. 2007 konnte eine von Jonathan Sebat geleitete Forschungsgruppe<br />
am Cold Spring Harbor Laboratory neue Erkenntnisse zur Genetik dieser<br />
Störungen vorlegen.<br />
In einem im April in Science veröffentlichten Paper berichteten Sebat und<br />
seine Mitarbeitenden, dass Genmutationen, die bei keinem Elternteil vorhanden<br />
sind, so genannte Varianten der Kopienzahl, mit einem grösseren<br />
Autismusrisiko einhergehen als bisher angenommen 1 . Typisch für diese<br />
Mutationen sind Deletionen kleiner Gensegmente.<br />
Sebats Gruppe suchte bei 264 Familien nach solchen Varianten der<br />
Kopienzahl: bei 118 „Simplex“-Familien mit nur einem an Autismus<br />
erkrankten Kind, bei 47 „Multiplex“-Familien mit mehreren betroffenen<br />
Geschwistern und bei 99 Kontroll-Familien, in denen kein Fall von<br />
Autismus festgestellt wurde.<br />
Die Forschenden stellten bei 10% der Kinder mit Autismus-Spektrum-<br />
Störungen, die kein Geschwister mit einer solchen Störung hatten, Deletionen<br />
von Gensegmenten fest; bei aus Multiplex-Familien stammenden<br />
Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen waren es 2,6% und bei der<br />
Kontrollgruppe 1%. Diese Deletionen kamen an den verschiedensten<br />
Stellen des Genoms vor. Die Daten stimmen mit der Hypothese überein,
dass es viele Autismus-Gene gibt, und könnten die Widersprüchlichkeit<br />
der Befunde früherer genetischer Studien teilweise erklären.<br />
Die Tatsache, dass eine Störung durch viele Gene bedingt sein kann, verweist<br />
auch auf einen grundsätzlichen Aspekt des Autismus: Vielleicht<br />
beruht die Gemeinsamkeit der üblichen Merkmale des Autismus (Beeinträchtigung<br />
der sozialen Interaktion, Kommunikationsprobleme sowie eingeschränkte<br />
Interessen und Verhaltensweisen) nicht auf gemeinsamen<br />
Genen sondern auf einer gemeinsamen biologischen Signalübertragung,<br />
an der ein grosses und verschiedenartiges Set von Genen beteiligt ist.<br />
Die Befunde wirken sich auch auf den klinischen Bereich aus. Wenn Kinder<br />
mit Autismus-Spektrum-Störungen im Spital generell auf das Vorhandensein<br />
von spontanen Mutationen untersucht würden, könnte man den<br />
Eltern mitteilen, wie hoch ihr Risiko ist, ein zweites Kind mit einer<br />
Autismus-Spektrum-Störung zu bekommen – wobei man annimmt, es sei<br />
im Falle einer spontanen Mutation niedriger.<br />
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung<br />
Für die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS) sind verschiedene<br />
Merkmale charakteristisch: sie ist sehr häufig (betroffen sind<br />
3-7% der Kinder), stark erblich bedingt und hat eine Tendenz, beim<br />
Heranwachsen der betroffenen Kinder schwächer zu werden.<br />
In einer im August in Archives of General Psychiatry veröffentlichten<br />
Studie untersuchten Philip Shaw und Mitarbeitende am National Institute<br />
of Mental Health die Wirkungen eines der wichtigsten bekannten genetischen<br />
Risikofaktoren dieser Störung 2 . Die Forschenden untersuchten das<br />
Gen D4, das zu den selteneren Formen des Rezeptors für den Neurotransmitter<br />
Dopamin gehört. Im Gegensatz zu anderen Dopaminrezeptoren<br />
verfügt dieser in einem Teil des Gens, dem Axon 3, über die Variante<br />
7-Repeat-Allel. Diese Genvariante ist für ca. 30% der ererbten Fälle der<br />
Störung verantwortlich und somit bei weitem das aussichtsreichste Kandidatengen.<br />
Die Forschenden bestimmten die DNA, erhoben klinische Daten und<br />
machten Magnetresonanzaufnahmen des Gehirns bei 105 Kindern mit<br />
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung und bei 103 Kindern ohne<br />
diese Störung. Die Analyse der Daten ergab, dass Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung,<br />
die über das Gen 7-Repeat Allel 27<br />
In der Kindheit auftretende Störungen
28<br />
8 9 10<br />
11<br />
12<br />
Kinder mit einer Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung haben einen dünneren<br />
Kortex als solche ohne diese Störung, doch zeigen Hirnscans (die Zahlen geben<br />
das Alter des Kindes an), dass diese Diskrepanz in jenen 30% der Fälle, bei denen ADHS<br />
mit einer ganz bestimmten, seltenen Genvariante einhergeht, bis zum Alter von etwa<br />
16 Jahren verschwindet.<br />
verfügten, einen besseren klinische Status aufwiesen und intelligenter<br />
waren als Kinder ohne das Gen 7-Repeat-Allel. Dieser Befund war hochspezifisch:<br />
Bei zwei anderen bekannten genetischen Risikofaktoren für<br />
ADHS wurde weder was den klinischen Status noch was den charakteristischen<br />
Verlauf der kortikalen Entwicklung anbelangt ein vergleichbarer<br />
Zusammenhang gefunden.<br />
Bei Kindern mit der Genvariante 7-Repeat-Allel fanden die Forschenden<br />
ein unverkennbares kortikales Entwicklungsmuster: In Regionen, die für<br />
die Kontrolle der Aufmerksamkeit bedeutsam sind, war der Kortex anfänglich<br />
dünn, wurde dann jedoch dicker und näherte sich bei ca. 16-Jährigen<br />
der Entwicklungskurve von gesunden Kindern.<br />
In einer früheren Studie hatte dieselbe Forschungsgruppe berichtet, mit<br />
diesem kortikalen Entwicklungsmuster sei ein besserer klinischer Status<br />
der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung verbunden. Die Untersuchung<br />
aus dem Jahr 2007 brachte die Genetik sowohl mit dem klinischen<br />
13<br />
14<br />
15<br />
16<br />
–2<br />
–5<br />
T statistic
Adrian Bird und Mitarbeitende<br />
am Wellcome Trust<br />
Centre for Cell Biology in<br />
Schottland beeinflussten<br />
die Produktion des Proteins<br />
MeCP2 in einem Maus -<br />
modell des Rett-Syndroms.<br />
Sie stellten fest, dass die<br />
Wieder herstellung der<br />
MeCP2-Produktion die<br />
Symptome beseitigte.<br />
Bild als auch mit der kortikalen Entwicklung in Zusammenhang und lässt<br />
hoffen, dass solche genetische Informationen künftig in die klinische<br />
Behandlung einfliessen werden.<br />
Rett-Syndrom Fortschritte<br />
Das Rett-Syndrom beruht auf Genmutationen des Methyl-CpG Bindungsproteins<br />
2 (MeCP2) und betrifft vor allem Mädchen. Die Symptome<br />
entwickeln sich in der frühen Kindheit und führen dazu, dass die Sprache<br />
und normale Bewegungen, insbesondere der Gebrauch der Hände, ver -<br />
loren gehen. Pathologische Atemmuster und Parkinson ähnliches Zittern<br />
sind häufig.<br />
Frauen mit Rett-Syndrom haben ein mutiertes und ein normales MeCP2-<br />
Gen. Deshalb eignen sich weibliche Mäuse mit einem Stopp-Gen auf dem<br />
einen X Chromosom am besten als genetisches Modell für diese Krankheit.<br />
Bei diesen Mäusen entwickeln sich im Alter von 4 – 12 Monaten Rett<br />
ähnliche Symptome – Zittern sowie Störungen der Beweglichkeit und der<br />
Gangart – und diese Symptomatik bleibt während einer offenbar normalen<br />
Lebensdauer bestehen.<br />
Zwar haben die Neuronen weniger Ausläufer als normal, doch gibt es<br />
weder im Mausmodell noch bei vom Rett-Syndrom betroffenen Menschen 29<br />
In der Kindheit auftretende Störungen
30<br />
CrH Expression ist erhöht in MeCP2 308 Mäusen<br />
Paraventrikulärer<br />
Hypothalamus<br />
CrH Expressions Level<br />
stark<br />
schwach<br />
Wild-Typ<br />
MeCP2 308<br />
Mutationen des Proteins MeCP2 verursachen das Rett-Syndrom. Mit diesen Muta -<br />
tionen gezüchtete Mäuse zeigen erhöhte Spiegel des Stresskontrollhormons Cortico -<br />
trophin freisetzendes Hormon (CrH) im Hypothalamus, was wahrscheinlich zu Stress<br />
und Angst beiträgt, Symptome, die für Rett typisch sind.<br />
Hinweise auf einen Verlust an Nervenzellen – dies im Gegensatz zu degenerativen<br />
Erkrankungen wie Parkinson, Chorea Huntington oder Alzheimer.<br />
Da die fehlerhaften Neuronen am Leben bleiben, fragten sich Forschende<br />
am Wellcome Trust Centre for Cell Biology an der Edinburgh<br />
University in Schottland, ob eine Wiederherstellung des MeCP2-Proteins<br />
die Funktionsfähigkeit der Nerven bewahren und die Mäuse „heilen“<br />
könnte.<br />
Adrian Bird und Mitarbeitende überprüften diese Hypothese, indem sie<br />
ins MeCP2-Gen der Maus eine „Stopp-Kassette“ einfügten, welche die<br />
Produktion des MeCP2-Proteins verhinderte; diese Studie erschien im<br />
Februar in Science 3 . Das Stopp-Gen konnte nach Belieben reaktiviert<br />
werden, indem man der Maus Tamoxifen injizierte; dieses setzte eine<br />
Reihe molekularer Abläufe in Gang, die zur Deletion der Stopp-Kassette<br />
führten und auf diese Weise das MeCP2-Gen reaktivierten, so dass es das<br />
Protein herstellte.<br />
Die Forschenden verabreichten Tamoxifen erst, nachdem sich bei den<br />
weiblichen Mäusen das volle Krankheitsbild entwickelt hatte. Sobald das<br />
MeCP2-Gen wieder dazu gebracht wurde, MeCP2-Protein zu produzieren,
hörte überraschenderweise das Zittern auf und Atmung, Beweglichkeit<br />
sowie die Gangart der Mäuse, die zuweilen wenige Tage vor dem Tod<br />
standen, normalisierten sich. Dass ausserdem auch die elektrophysiologischen<br />
Funktionen der weiblichen Mäuse wieder hergestellt waren, belegten<br />
Messungen des Reaktionsvermögens von stimulierten Nervenzellen.<br />
Versuche mit Tamoxifen wurden auch an männlichen Mäusen durchgeführt,<br />
bei denen bereits Symptome aufgetreten waren. Auch bei ihnen<br />
verschwanden die meisten oder alle Symptome, wenn das MeCP2-Gen<br />
wieder hergestellt war, und die Mäuse erreichten ein der normalen<br />
Lebenserwartung entsprechendes Alter.<br />
Da diese Ergebnisse annehmen lassen, dass die Symptome des Rett-<br />
Syndroms potentiell reversibel sind, könnten sie zu ähnlichen Forschungsarbeiten<br />
im Hinblick auf verwandte Autismus-Spektrum-Störungen anregen.<br />
Wichtiges Enzym bei Fragilem-X<br />
Ähnlich ermutigende Ergebnisse erzielte eine von Nobelpreisträger Susumu<br />
Tonegawa geleitete Forschungsgruppe am Massachusetts Institute of<br />
Technology bezüglich des Fragilen-X-Syndroms, der häufigsten erblichen<br />
Art von Entwicklungsverzögerung, die vor allem männliche Personen<br />
betrifft. Die Arbeit erschien in der Juli-Ausgabe von Proceedings of the<br />
National Academy of Sciences 4 .<br />
In dieser Studie an einem Mausmodell des Fragilen-X-Syndroms wiesen<br />
die Tiere ähnliche Symptome auf wie von der Krankheit betroffene Menschen:<br />
Hyperaktivität, repetitive Bewegungen, Aufmerksamkeitsdefizite<br />
und Schwierigkeiten mit Lern- und Gedächtnisaufgaben.<br />
Auch die strukturellen Abweichungen der Versuchstiere glichen jenen, die<br />
man bei Menschen festgestellt hatte. Die Neuronen im Gehirn der betroffenen<br />
männlichen Personen haben viele dendritische Dorne, die jedoch<br />
länger und dünner sind als normal und schwächere elektrische Signale<br />
übertragen als jene von nicht betroffenen Personen. Dendritische Dorne<br />
sind kleine Ausstülpungen auf den Dendriten-Ästen von Neuronen; sie<br />
empfangen chemische Signale von anderen Neuronen und leiten sie zum<br />
Zellkörper weiter.<br />
Die Forschenden nahmen an, die Hemmung eines bestimmten Enzyms im<br />
Gehirn könnte ein wirksamer Weg sein, diesen strukturellen Veränderungen 31<br />
In der Kindheit auftretende Störungen
32<br />
und den schwer beeinträchtigenden Symptomen des Fragilen-X-<br />
Syndroms zu begegnen. Das Enzym p21-aktivierte Kinase beeinflusst<br />
Zahl, Grösse und Form der Verbindungen von Neuronen im Gehirn.<br />
Wenn sie die Aktivität des Enzyms blockierten, bildeten sich bei Mäusen<br />
die abnormen Strukturen der neuronalen Verbindungen zurück. Darüber<br />
hinaus förderte die Hemmung des Enzyms die elektrische Kommunikation<br />
zwischen Neuronen im Gehirn der Mäuse und damit besserten sich auch<br />
ihre Verhaltensauffälligkeiten.<br />
Da die Genexpression, welche p21-aktivierte Kinase hemmt, nach der<br />
Geburt auftritt, könnte es eines Tages möglich sein, durch Präparate,<br />
welche die Aktivität des Enzyms hemmen, bereits bei kleinen Kindern mit<br />
Fragilem-X-Syndrom geistige Einbussen zu verhindern oder zu beheben.
Bewegungsstörungen und<br />
andere Störungen der Motorik<br />
Chorea Huntington 34<br />
Parkinson-Krankheit 37<br />
33
34<br />
Die Erforschung der Chorea Huntington und der Parkinson-Krankheit<br />
liess 2007 die genetischen und molekularen Grundlagen dieser Bewegungsstörungen<br />
deutlicher erkennen, offenbarte aber zugleich, wie überaus<br />
kompliziert diese sind und mässigte dadurch übertriebene Hoffnungen<br />
auf Behandlungsfortschritte. Von Seiten der Forschung wird betont,<br />
für ein besseres Verständnis dieser beiden Krankheiten seien tiefere Einblicke<br />
in die molekularen Aktivitäten innerhalb der Hirnzellen notwendig.<br />
Chorea Huntington<br />
Menschen, bei denen sich Chorea Huntington entwickelt, kommen mit<br />
der Genmutation, welche diese Krankheit verursacht, zur Welt, doch zeigen<br />
sich Symptome oft erst, wenn sie in den Vierzigern sind. Diese lange<br />
zeitliche Verzögerung war für die Wissenschaft ein Rätsel; nun beginnen<br />
sich aber Erklärungen abzuzeichnen.<br />
Cynthia T. McMurray und Mitarbeitende an der Mayo Clinic und andernorts<br />
kamen 2007 zu einem Aufsehen erregenden Befund bezüglich<br />
Chorea Huntington: sie führten den Krankheitsprozess auf die gewöhn -<br />
liche Oxidation und Reparatur der DNA zurück, deren Schlüsselrolle beim<br />
Alterungsvorgang seit langem bekannt ist.<br />
Während des ganzen Lebens binden in jeder Zelle Sauerstoffatome an<br />
Nukleotide des DNA-Strangs. Enzyme der Zelle schneiden diese oxidierten<br />
Fragmente heraus und reparieren die DNA. In einem Aufsatz in Nature weist<br />
McMurray nach, dass bei Trägern der Chorea Huntington-Mutation dieser<br />
Vorgang dazu führt, dass die Zahl der zur Zeit der Geburt auf Chromosom 4<br />
bestehenden Wiederholungen einer aus drei Basen – Cytosin, Adenin und<br />
Guanin (CAG) – bestehenden Sequenz zunimmt 1 . Diese Sequenz enthält<br />
Bauanweisungen für das Huntingtin-Protein, welches benötigt wird, um<br />
Neurotransmitter vom Zellkörper durch das Axon zur Synapse zu transportieren,<br />
wo die Kommunikation zwischen Zellen stattfindet.<br />
Normalerweise haben Menschen 10-35 CAG-Wiederholungen auf Chromosom<br />
4. Bei Personen mit 40 oder mehr CAG-Wiederholungen treten<br />
schliesslich Symptome der Chorea Huntington auf und zwar desto früher,<br />
je höher die Zahl der Wiederholungen ist. So kam es beispielsweise bei<br />
einem Kind mit 95 Wiederholungen bereits im Alter von drei Jahren zu<br />
Anfällen, einer Verminderung der intellektuellen Fähigkeiten und neuromuskulären<br />
Störungen; mit elf Jahren starb es an Chorea Huntington.
Hirnscans zeigen den<br />
auffallenden Unterschied<br />
zwischen einer<br />
gesunden Person<br />
(links) und einer mit<br />
der Huntington-<br />
Krankheit (rechts).<br />
Die normale DNA-Reparatur tendiert dazu, die Zahl der CAG-Wiederholungen<br />
zu erhöhen, meint McMurray. Verantwortlich dafür sei ein einziges<br />
Enzym, das OGG1, das Neuronen zur Produktion einer zunehmend toxischen<br />
Form des Huntingtin-Proteins veranlasst, das zu viel Glutamin, eine<br />
für den Zellstoffwechsel notwendige Aminosäure, enthält. Dieses zusätz -<br />
liche Glutamin bewirkt, dass das Huntingtin-Protein klebrig wird, verklumpt<br />
und im Nukleus Zusammenballungen bildet. Das setzt eine<br />
Kaskade von zellulären Fehlfunktionen in Gang, die schliesslich zur Ent -<br />
stehung von Symptomen der Chorea Huntington führen.<br />
Diese Beobachtung stimmt mit der linearen Beziehung zwischen der Zahl<br />
von CAG-Wiederholungen und dem Alter des Krankheitsausbruchs<br />
überein. Bei Personen, die von Geburt an eine grosse Zahl von CAG-<br />
Wiederholungen aufweisen, treten schon früh Symptome auf, wohingegen<br />
bei jenen, die mit einer kleineren Zahl von Wiederholungen geboren<br />
wurden, Symptome erst dann auftreten, wenn dieser DNA-Reparaturvorgang<br />
Zeit hatte, die Zahl der CAG-Wiederholungen auf ein toxischeres<br />
Niveau zu erhöhen.<br />
Bei Mäusen ohne OGG1-Enzym, wurde die CAG-Expansion massiv<br />
unterdrückt, ohne dass schädliche Auswirkungen aufgetreten wären<br />
– ein Hinweis darauf, dass die DNA-Wiederherstellung möglicherweise<br />
durch „Backup“-Enzyme ausgeführt wurde. Somit scheint dieses<br />
Enzym ganz spezifisch für eine Förderung der CAG-Expansion verantwortlich<br />
zu sein; wenn man also OGG1 bei Menschen auf irgendeine<br />
Weise blockieren könnte, liesse sich möglicherweise die durch Chorea<br />
Huntington verursachte Schädigung entscheidend hinauszögern oder<br />
gar verhindern. 35<br />
Bewegungsstörungen und andere Störungen der Motorik
Forschende in Cambridge und Harvard versuchten die toxischen Wirkungen<br />
des mutierten Huntingtin-Proteins auf andere Weise zu vermindern; sie<br />
brachten Zellen dazu, die toxischen Ablagerungen wirksamer zu entsorgen.<br />
In einem Aufsatz in Nature Chemical Biology berichten Stuart L. Schreiber,<br />
David C. Rubinsztein und Mitarbeitende, wenn man der Hefe so genannte<br />
„Klein-Molekül-Verstärker“ beimische, fördere dies die Autophagie –<br />
einen Zellvorgang zum Abbau fehlerhafter und falsch gefalteter Proteine,<br />
etwa mutiertem Huntingtin 2 . Wenn es gelingen würde, die Autophagie<br />
bei Personen mit Chorea Huntington anzuregen, würde dies die Produktion<br />
von Huntingtin zwar weder verlangsamen noch stoppen, doch könnte<br />
der wirksamere Abbau toxischer Ablagerungen nach Meinung der Forschenden<br />
das Auftreten von Symptomen hinauszögern.<br />
Mutiertes Huntingtin-Protein scheint jedoch noch viele andere Probleme<br />
zu verursachen; diesen gehen Elena Cattaneo und Mitarbeitende an der<br />
Universität Milano nach.<br />
Normales Huntingtin stimuliert z. B. die Produktion eines Nervenwachstumsfaktors<br />
im Gehirn (brain-derived neurotrophic factor; BDNF); dieses<br />
Protein fördert das Überleben bestehender Neuronen sowie die Entwikklung<br />
von Synapsen und neuen Neuronen. Bei von Chorea Huntington<br />
Betroffenen sterben Neuronen im Striatum ab, was Spastik und viele weitere<br />
Symptome verursacht. Im Jahr 2001 zeigten Cattaneo und Mitarbeitende,<br />
dass Huntington-Kranke ein niedrigeres BDNF-Niveau aufweisen 3 .<br />
Die Forschende hätten diesen Cholesterinmangel auch im Mausmodell<br />
der Chorea Huntington gefunden; für dieses Defizit machen sie dasselbe<br />
mutierte Huntingtin-Protein verantwortlich, das auch bei Menschen<br />
mit Chorea Huntington vorkam.<br />
36<br />
Ausgehend von dieser Entdeckung gelang es ihnen 2007 die Fehlfunktion<br />
einem regulierenden Genabschnitt zuzuweisen, der sich bei Huntington-<br />
Kranken auf BDNF auswirkt 4 . Allerdings liegt dieser Abschnitt in einer<br />
Region mit über 1000 Genen, die nicht nur BDNF beeinflussen; dies lässt<br />
vermuten, dass bei Huntington-Kranken möglicherweise auch andere,<br />
Neuronen beeinflussende Gene eine Fehlfunktion aufweisen. Zurzeit sucht<br />
Cattaneos Gruppe nach Molekülen, welche die Aktivität von normalem<br />
Huntingtin imitieren und die Expression von BDNF und verwandten Genen<br />
steigern. Bisher haben sie drei Wirkstoffe bestimmt, welche die Produktion<br />
von BDNF in von Chorea Huntington betroffenen Zellen steigern 5 .
Indem BDNF die Menge von Cholesterin in synaptischen Bläschen erhöht,<br />
scheint er auch die Bildung von Synapsen zu regulieren 6 . 2005 stellten<br />
Cattaneo und Mitarbeitende fest, dass Zellen und Gewebe von Huntington-Kranken<br />
zu wenig Cholesterin enthielten und dass eine ergänzende<br />
Cholesterinzufuhr die von der Krankheit am meisten betroffenen Neuronen<br />
im Striatum vor dem Untergang bewahrte 7 . In einem Paper in Human<br />
Molecular Genetics berichten Cattaneo und Mitarbeitende, sie hätten<br />
diesen Cholesterinmangel auch im Mausmodell der Chorea Huntington<br />
gefunden; für dieses Defizit machen sie dasselbe mutierte Huntingtin-<br />
Protein verantwortlich, das auch bei Menschen mit Chorea Huntington<br />
vorkam 8 .<br />
Die Forschenden vermuten, die Signalübertragung von BDNF übe einen<br />
direkten Einfluss auf die Biosynthese von Cholesterin aus – eine Hypothese,<br />
die einen Zusammenhang zwischen zwei anscheinend unabhän -<br />
gigen Fehlfunktionen herstellt.<br />
Zwar ist eine Heilbehandlung bei Chorea Huntington erst möglich, wenn<br />
es gelingt, die für das fehlerhafte Huntingtin-Protein verantwortlichen<br />
DNA-Wiederholungen zu verhindern, doch zeigt eine neuere Studie, dass<br />
ein kleines Molekül C2-8 die Zusammenballung von mutiertem Huntingtin<br />
in Zellen hemmen und dadurch die Entwicklung der Symptome zumindest<br />
verlangsamen könnte 9 .<br />
Parkinson-Krankheit<br />
Im Jahr 2007 wurden zwei neue Formen der Behandlung der Parkinson-<br />
Krankheit entwickelt, die darauf hoffen lassen, dass sie zumindest Symptome<br />
wie Tremor und Muskelsteifheit mildern können.<br />
Forschende an der Northwestern University berichteten in Nature, es sei<br />
ihnen gelungen, in einer bestimmten Hirnregion, der kompakten Zone der<br />
Substantia nigra, Dopamin produzierende Neuronen zu „verjüngen“. Da<br />
diese Neuronen bei Parkinson-Kranken zugrunde gehen, stehen dem<br />
Gehirn nicht mehr genug Neurotransmitter zur Verfügung, um die normale<br />
Bewegungsfähigkeit aufrechtzuerhalten 10 .<br />
Bewegungsstörungen und andere Störungen der Motorik<br />
Für gewöhnlich dienen bei diesen Zellen Kalziumkanäle der Aufrechterhaltung<br />
des normalen Stoffwechsels. James Surmeier und Mitarbeitende<br />
fanden jedoch heraus, dass sich genetisch veränderte Mäuse, die über<br />
keine Kalziumkanäle verfügten, normal verhielten, da ihre Dopamin 37
38<br />
produ zierenden Zellen auch weiterhin jene Natriumkanäle verwendeten,<br />
die normalerweise nur in der frühen Entwicklung aktiv sind.<br />
Mittels Isradipin, einem Kalziumkanalblocker, blockierten sie die Kalziumkanäle<br />
in Neuronen, die sie normalen Mäusen entnommen hatten.<br />
Während rund 30 Minuten funktionierten diese Zellen nicht mehr. Als<br />
dann die bislang untätigen Natriumkanäle wieder zu funktionieren begannen,<br />
nahmen sie ihre Schrittmachertätigkeit wieder auf. Als die Forschenden<br />
Isradipin-Pellets unter die Haut von genveränderten Parkinson-<br />
Modell-Mäusen implantierten, kam es bei diesen Tieren nicht zu den für<br />
die Krankheit typischen motorischen Einbussen.<br />
Ein weiterer Hinweis auf eine mögliche Wirksamkeit von Isradipin, ergibt<br />
sich aus der Tatsache, dass es einer Medikamentenklasse angehört, die zur<br />
Behandlung von Bluthochdruck verwendet wird. Eine retrospektive Studie<br />
deutet darauf hin, dass von Bluthochdruck betroffene Personen, die mit solchen<br />
Medikamenten behandelt wurden, seltener an Parkinson erkranken 11 .<br />
Auch dass Versagen der Mitochondrien, der Energie produzierenden Bläschen<br />
innerhalb der Zellen, kann den Untergang der Dopamin produzierenden<br />
Neuronen verursachen. Forschende an der Stanford University<br />
wiesen nach, dass eine Mutation des Gens Pink1 mit einem gehäuften<br />
Auftreten der Parkinson-Krankheit korreliert 12 . Bei Fruchtfliegen, die mit<br />
dieser Mutation gezüchtet wurden, degenerierten sowohl die Flugmuskulatur<br />
als auch die Dopamin produzierenden Neuronen.<br />
Der Muskeldegeneration gingen Anomalien in den Mitochondrien, welche<br />
Energie für die Zellen produzieren, voraus. Die Forschenden halten<br />
fest, die Funktionsstörung der Mitochondrien bei der Parkinson-Krankheit<br />
beruhe vermutlich darauf, dass Pestizide, die bekanntlich das Krankheits -<br />
risiko erhöhen, eine hemmende Wirkung auf die Mitochondrien ausüben.<br />
Allerdings traten diese Probleme nicht auf, wenn die Fliegen genetisch so<br />
verändert wurden, dass sie zu viel Parkin – ein Protein, das beim Abbau<br />
von falsch gefalteten Proteinen mitwirkt – exprimierten; dies deutet darauf<br />
hin, dass Pink1 und Parkin ihre Aktivität in einem gemeinsamen Wirkmechanismus<br />
entfalten, der bei Fruchtfliegen die Tätigkeit der Mitochondrien<br />
und das Überleben der Zellen regelt.<br />
Was die Behandlung anbelangt, weckte die Forschung im Jahr 2007<br />
Hoffnungen auf die Möglichkeit einer Gentherapie. In der ersten
Yu-Hung Kuo, links, sieht zu, wie Michael Kaplitt vom New York-Presbyterian Hospital/<br />
Weill Cornell Medical Center die Infusion eines Enzyms vorbereitet, das die Bewegung<br />
von Parkinson-Kranken verbessern soll.<br />
Gentherapie-Studie zur Parkinson-Krankheit wurden entscheidende Verbesserungen<br />
der Symptome ohne unerwünschte Wirkungen erzielt 13 .<br />
Forschende am New York-Presbyterian Hospital/Weill Cornell Medical<br />
Center implantierten zwölf Kranken ein unschädliches Virus mit dem<br />
Gen für das Enzym Glutaminsäure-Decarboxylase (glutamic acid decar -<br />
boxylase; GAD). GAD produziert GABA, einen Neurotransmitter, der die<br />
übermässige neuronale Entladung unterdrückt und koordinierte Bewegungen<br />
fördert.<br />
Das unschädliche Virus mit GAD wurde in den Nucleus subthalamicus<br />
implantiert, in jenes Hirnzentrum also, das Bewegung steuert um, wie<br />
Michael Kaplitt als Hauptautor ausführt, die Produktion von GABA anzuregen<br />
und auf diese Weise das normale Funktionieren wiederherzustellen.<br />
(Im Jahr 2003 hatte Kaplitt die erste chirurgische Gen-Therapie bei Parkinson-Kranken<br />
durchgeführt.)<br />
Um allfällige Risiken zu minimalisieren, wurde das unschädliche Virus nur<br />
in eine Seite des Gehirns implantiert; da aber die Symptome der Kranken<br />
in beiden Körperhälften gleichermassen auftreten, erlaubte es diese<br />
Massnahme auch, Fortschritte zu erkennen und zu messen. Drei Monate<br />
nach der Operation hatten sich die Bewegungsstörungen der gesamten 39<br />
Bewegungsstörungen und andere Störungen der Motorik
40<br />
Patientengruppe, gemessen mit der Parkinsonskala (Unified Parkinson’s<br />
Disease Rating Scale) um 25-30% gebessert. Bei Einigen betrug die Besserung<br />
40-65%.<br />
Derart eindrückliche Fortschritte lassen diese potentielle Therapie als<br />
ebenso interessant erscheinen wie tiefe Hirnstimulation; letztere wird bei<br />
Personen, welche keine medikamentöse Behandlung mehr ertragen,<br />
bereits häufig zur Normalisierung der parkinsonschen Gang- und Bewegungsstörungen<br />
eingesetzt (vgl. auch Neuroethik, S. 52).<br />
Kurzfristig ist tiefe Hirnstimulation bei Parkinson-Kranken das aussichtsreichste<br />
Verfahren. Bei der Therapie werden Elektroden in den Nucleus<br />
subthalamicus, eine tief im Gehirn gelegene Region, implantiert. Diese<br />
Elektroden werden dann stimuliert und regulieren die elektrische Kommunikation<br />
von Nervenzellen innerhalb von Hirnschaltkreisen und zwischen<br />
ihnen. Auf diese Weise blockiert tiefe Hirnstimulation die pathologischen<br />
Signale, welche die motorischen Symptome der Parkinson-Krankheit, insbesondere<br />
den Tremor, hervorrufen.<br />
Im Jahr 2007 gingen Forschende in Italien bei der tiefen Hirnstimulation<br />
einen Schritt weiter und platzierten Elektroden in eine neue Region, den<br />
Nucleus pedunculopontinus, der fürs Gehen sehr bedeutsam ist 14 . Sechs<br />
Parkinson-Kranke, die auf Medikamente nicht gut ansprachen, zeigten<br />
gute Erfolge bei implantierten Elektroden, die den Nucleus pedunculopontinus<br />
mit einer Frequenz von 25 Hz und den Nucleus subthalamicus<br />
mit 185 Hz stimulierten. Insgesamt betrug die Verbesserung über 60% auf<br />
der Beurteilungsskala – weitaus mehr als durch die Stimulation nur einer<br />
Hirnregion oder durch medikamentöse Behandlung erreicht wurde.<br />
Tiefe Hirnstimulation ist heute eine zugelassene und anerkannte Therapie<br />
für Parkinson-Kranke, deren Symptome nicht mehr mit L-DOPA behandelt<br />
werden können oder bei denen die Nebenwirkungen einer langfristigen L-<br />
DOPA-Behandlung zu schweren Beeinträchtigungen geführt haben.<br />
Wissenschaftliche Studien zur tiefen Hirnstimulation untersuchen weiterhin,<br />
wo Elektroden im Gehirn platziert werden sollen, um Symptome am<br />
wirksamsten zu mildern. Eine weitere neuere Studie ergab, dass sich tiefe<br />
Hirnstimulation sogar neuroprotektiv auf die Dopamin produzierenden<br />
Zellen in der Substantia nigra auswirken könnte, die im Verlauf der Krankheit<br />
degenerieren 15 .
Schädigungen<br />
des Nervensystems<br />
Ein Schlaganfall erfordert schnelles Handeln 42<br />
Mit molekularer Präzision Hirntumoren anvisieren 44<br />
Rückenmarkverletzung: Den Weg für klinische<br />
Studien bahnen 47<br />
41
42<br />
Schädigungen des Nervensystems umfassen verschiedenartige Störungen,<br />
die Gehirn und Rückenmark betreffen, einschliesslich Schlaganfall,<br />
Rückenmarkverletzungen und Hirntumoren. Im Jahr 2007 wiesen Forschende<br />
nochmals deutlich darauf hin, dass ein Hirnschlag schnelles<br />
Handeln erfordert; ausserdem wurden neue Ansätze zur Behandlung von<br />
Hirntumoren getestet und Verbesserungen der klinischen Versuche bei<br />
Rückenmarkverletzungen erarbeitet.<br />
Ein Schlaganfall erfordert schnelles Handeln<br />
Dass die Betroffenen frühzeitig hospitalisiert und dort angemessen behandelt<br />
werden, steht für die klinische Hirnschlagforschung weiterhin im<br />
Vordergrund; neue Daten aus Europa lassen die Nachbehandlung von<br />
Personen mit transitorischen neurologischen Symptomen als ebenso<br />
dringlich erscheinen.<br />
Im Mai brachten die American Heart Association und die American Stroke<br />
Association ihre Empfehlungen zur Akutbehandlung des Schlaganfalls auf<br />
den neusten Stand; sie bestätigten, dass die Verabreichung des Gewebe-<br />
Plasminogen-Aktivators (tissue plasminogen activator; tPA) vorrangig ist<br />
und dass dieses gerinnungshemmende Mittel innert drei Stunden verabreicht<br />
werden muss, um Hirnschäden nach einem ischämischen Schlaganfall<br />
auf ein Minimum zu reduzieren (der ischämische Schlaganfall beruht<br />
auf einem Sauerstoffmangel im Gehirn, der typischerweise daher rührt,<br />
dass Arterien, die das Gehirn mit Blut versorgen, nicht mehr durchlässig<br />
sind) 1 . Die Empfehlungen fordern ausserdem eine bessere Vorbereitung<br />
auf rasche Massnahmen bei Notaufnahmen in Spitälern und bei Erstversorgern;<br />
neue Daten der Centers for Disease Control and Prevention zeigen,<br />
dass weniger als die Hälfte der von einem Schlaganfall Betroffenen<br />
innert zwei Stunden nach dem ersten Auftreten akuter neurologischer<br />
Symptome ein Spital erreichen 2 .<br />
Während die Symptome bei einem schweren Schlaganfall oft offenkundig<br />
sind (z. B. verschwommene Sicht, verwaschene Sprache oder Gefühllosigkeit<br />
bzw. Lähmung auf einer Körperseite), kommt es bei einer Ischämie<br />
auch zu vorübergehenden Funktionsveränderungen des Gehirns, die<br />
keine klinisch erkennbaren Symptome hinterlassen. Man spricht dann von<br />
einer transitorischen ischämischen Attacke. Bildgebungsstudien weisen<br />
bei vielen Personen mit transitorischen neurologischen Symptomen eine<br />
Hirnschädigung nach, die auf einen subklinischen Schlaganfall hindeutet.
Wurde die Ursache einer Hirn-Ischämie (egal ob es sich dabei um eine<br />
transitorische ischämische Attacke oder einen leichten klinischen Schlaganfall<br />
handelt) erst einmal manifest, so ist die Wahrscheinlichkeit sehr<br />
gross, dass diese Ursache ohne entsprechende Behandlung fortbesteht;<br />
daher sind transitorische ischämische Attacken und leichte Schlaganfälle<br />
ganz entscheidende Risikofaktoren für einen schweren Schlaganfall. Bei<br />
Interventionen nach einer transitorischen ischämischen Attacke geht es<br />
darum, in den darauf folgenden Wochen und Monaten weitere Schlaganfälle<br />
zu verhindern. Viele Hinweise lassen darauf schliessen, dass sich<br />
Schlaganfälle durch eine Reduktion der entsprechenden Risikofaktoren<br />
(dazu gehören hoher Blutdruck und ein erhöhter Cholesterinspiegel) verhindern<br />
lassen. Zwei im Oktober veröffentlichte Arbeiten betonen, dass<br />
bei Personen, die eine transitorische ischämische Attacke erlitten haben,<br />
unverzüglich mit einer solchen Behandlung begonnen werden muss.<br />
Das erste Paper stammt vom Neurologen Peter Rothwell und Mitarbeitenden<br />
an der University of Oxford in England und erschien in Lancet; es<br />
macht deutlich, dass Personen, die innerhalb von 24 Stunden nach einer<br />
transitorischen ischämischen Attacke mit herkömmlichen präventiven<br />
Therapien behandelt wurden, wesentlich weniger gefährdet waren, in den<br />
folgenden drei Monaten einen Schlaganfall zu erleiden, als solche, die<br />
keine unmittelbare Nachbehandlung erhielten 3 . Insbesondere die Gefahr<br />
eines rezidivierenden Schlaganfalls sank von 10% auf 2%; dies entspricht<br />
einer Abnahme von 80%, was den Autoren zufolge, allein in Grossbritannien<br />
einer Verhinderung von jährlich 10000 Schlaganfällen entspricht. In<br />
die Studie einbezogen waren 600 Personen aus einer grösseren Oxford-<br />
Studie, die das Auftreten von Schlaganfällen und transitorischen ischämischen<br />
Attacken bei nahezu 100000 Personen verfolgt.<br />
Schädigungen des Nervensystems<br />
Die zweite Studie wurde vom Neurologen Pierre Amarenco, einem<br />
Spezia listen für Schlaganfälle am Universitätsspital Bichat-Claude Bernard<br />
in Paris geleitet und erschien in Lancet Neurology; auch sie bestätigt den<br />
Nutzen einer frühzeitigen Intervention zur Vermeidung von Schlagan -<br />
fällen 4 . Die Forschenden werteten die Daten von 1085 Personen aus, die<br />
mit dem Verdacht auf eine transitorische ischämische Attacke in eine rund<br />
um die Uhr betriebene Klinik aufgenommen worden waren. Zu den<br />
Notfallmassnahmen zählten Bildgebung des Gehirns, der Blutgefässe<br />
und des Herzens. Personen, bei denen eine transitorische ischämische<br />
Attacke festgestellt oder vermutet wurde, erhielten unverzüglich eine<br />
Präventivbehandlung; dazu gehörten im Allgemeinen Medikamente zur 43
44<br />
Senkung des Blutdrucks und/oder des Cholesterinspiegels sowie Aspirin<br />
zur Hemmung der Blutgerinnung.<br />
Bei etwa 5% der Kranken wurden Massnahmen zur Offenhaltung der<br />
Karotis ergriffen, der Halsschlagader, die das Gehirn mit Blut versorgt. Sie<br />
wurden entweder einer offenen Operation (Karotisendarterektomie)<br />
unterzogen oder man platzierte einen transarteriellen Stent (ein „Gitterröhrchen“),<br />
um die Karotis zu erweitern (endovaskuläre Therapie).<br />
Weitere 5% litten an Vorhofflimmern, einer Herzrhythmusstörung, die zur<br />
Bildung von Blutgerinnseln im Herzen führen kann; um dieses Risiko zu<br />
vermindern, wurden sie mit gerinnungshemmenden Medikamenten<br />
behandelt. Solche Blutgerinnsel können nämlich vom Herzen ins Gehirn<br />
wandern und einen Schlaganfall verursachen.<br />
Bei den frühzeitig behandelten Personen betrug die Hirnschlagrate in den<br />
auf die transitorische ischämische Attacke folgenden 90 Tagen etwas mehr<br />
als 1%; demgegenüber lag die aufgrund früherer Beobachtungsstudien<br />
erwartete Rate beinahe bei 6%. Zusammen mit dem Bericht in Lancet führten<br />
diese Erkenntnisse dazu, dass Fachleute weltweit auf neue Behandlungsnormen<br />
für Personen mit einer transitorischen ischämischen Attacke<br />
drängen; als vorrangig gilt dabei die unverzügliche Beurteilung und<br />
Behandlung zur Vermeidung eines Schlaganfalls.<br />
Mit molekularer Präzision Hirntumoren anvisieren<br />
Da wir immer noch nicht über wirksame Behandlungsansätze für Hirn -<br />
tumoren verfügen, richtet sich die Hoffnung heute vor allem auf die Entwicklung<br />
von Therapien, die Tumoren gezielt auf der molekularen Ebene<br />
bekämpfen – wie es in der Krebsforschung ganz allgemein der Fall ist.<br />
Ausserdem wächst die Einsicht, dass sich die besonders letalen Hirnkrebsarten<br />
wohl kaum durch eine einzige Therapie ausmerzen lassen; dies führt<br />
zur vermehrten Erforschung von kombinierten Ansätzen, bei denen neue<br />
Therapieformen die Standardbehandlungen, etwa Bestrahlung und<br />
Chemo therapie, ergänzen.<br />
Viele Forschende sind überzeugt, dass solche multimodalen Therapien für<br />
Personen mit einem malignen Gliom – eine Familie von relativ seltenen Hirntumoren,<br />
die aber bereits während eines kurzen Zeitraums nach der Diag -<br />
nose mit einer hohen Sterblichkeitsrate verbunden ist – die grösste Hoffnung<br />
darstellen. Das multiforme Glioblastom, eines der aggressivsten<br />
Mitglieder dieser Familie, war bis anhin besonders schwer behandelbar.
Rakesh Jain und Mitarbeitende<br />
am Massachusetts<br />
General Hospital Cancer<br />
Center untersuchten ein<br />
Präparat, welches das<br />
Wachstum von Hirntumor-Blutgefässenunterdrückt.<br />
Das Aufdecken der spezifischen Signalfaktoren und -wege, welche Tumoren<br />
für Wachstum und Streuung nutzen, verhilft der klinischen Forschung<br />
auf diesem Gebiet zu neuen Einsichten in die Pathogenese der Tumor -<br />
entwicklung auf der molekularen Ebene. Die Verschiedenartigkeit von<br />
Tumoren macht allerdings deutlich, dass es keinen „Einheits-Behandlungs -<br />
ansatz“ geben kann. Doch scheint es bezüglich einiger Elemente der<br />
von Tumoren genutzten Bahnen Gemeinsamkeiten zu geben und auf<br />
diese gemeinsamen Merkmale richtet sich die Forschung zu einem<br />
grossen Teil.<br />
Fachleute für Hirntumoren sind der Ansicht, ausschlaggebend für eine<br />
verbesserte Behandlung maligner Gliome sei eine präzisere Auswahl<br />
jener Personen, die mit der grössten Wahrscheinlichkeit auf spezifische<br />
Therapien ansprechen, sowie eine Verbesserung der kombinierten<br />
Behandlungsansätze.<br />
Ein viel versprechender Weg besteht darin, die Blutzufuhr von Tumoren<br />
zu unterbinden – ein Ansatz, der für viele Arten von Krebs erforscht wird.<br />
Im Januar 2007 berichteten Rakesh Jain und Mitarbeitende vom Massachusetts<br />
General Hospital Cancer Center in Cancer Cell über erste Ergebnisse<br />
mit einem Forschungspräparat, welches das Wachstum jener Blutgefässe<br />
unterdrückt, die Tumoren versorgen 5 . Das Präparat AZD2171<br />
blockiert die drei Hauptrezeptoren für den vaskulären endothelialen<br />
Wachstumsfaktor VEGF (Vascular Endothelial Growth Factor); dieser fördert<br />
das Wachstum von Blutgefässen und kommt auf jenen Gefässen vor,<br />
die Glioblastome versorgen. (Das Überleben voll entwickelter Blutgefässe<br />
im normalen Gewebe beruht nicht auf VEGF.) 45<br />
Schädigungen des Nervensystems
46<br />
Die experimentelle Substanz erweist sich als viel versprechend im Hirnscan von Testpatienten,<br />
die am besten ansprechen. Die oben stehenden Zahlen entsprechen den<br />
Tagen vor und nach dem Behandlungsbeginn. Die oberste Reihe zeigt, wie der Tumor<br />
im Laufe der Zeit kleiner wird. Andere Reihen zeigen die Verkleinerung der Tumor-Blutgefässe,<br />
die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke und das Anschwellen in Gebieten<br />
um den Tumor. Die letzte Reihe zeigt, wie die weisse Substanz beim Abklingen der<br />
Schwellung sichtbar wird.<br />
Bei der Hälfte von 16 Personen mit rezidivierendem Glioblastom, die<br />
in einem Phase 2 klinischen Versuch mit AZD2171 behandelt wurden,<br />
verkleinerten sich die Tumoren um 50% oder mehr und bei dreiviertel der<br />
an der Studie Teilnehmenden um mindestens 25%. Die Bildgebung des
Gehirns zeigte eine rasch einsetzende Normalisierung der Blutgefässe<br />
(bei einigen Kranken begann sie bereits nach einer einzigen Dosis des<br />
Medikaments) und einen Rückgang der Hirnschwellung, einem häufigen<br />
Problem bei Hirnkrebs. Der Versuch ist noch im Gang und die Forschenden<br />
beabsichtigen, das Präparat in Kombination mit herkömmlichen<br />
Krebstherapien bei neuen Glioblastom-Patienten zu untersuchen.<br />
Forschende an der Duke University führten an 32 Personen mit fortgeschrittenem<br />
Gliom eine Phase 2 Studie durch, bei der sie einen anderen<br />
Angiogenese-Hemmer, Bevacizumab (Avastin), und Chemotherapie mit<br />
Irinotecan kombinierten. Erste Resultate wurden von James Vredenburgh<br />
und Mitarbeitenden im Februar in Clinical Cancer Research publiziert; sie<br />
deuten darauf hin, dass die Kombination gegen diese letale Tumorart wirksam<br />
ist und eine „akzeptable“ Toxizität aufweist 6 . Bei nahezu Zweidrittel<br />
der Kranken verkleinerte sich der Tumor um mindestens 50% und bei 38%<br />
hatte auch nach sechs Monaten kein neues Tumorwachstum eingesetzt.<br />
Im Gegensatz dazu verlangsamt Chemotherapie allein das Wachstum von<br />
Gliomen normalerweise nur während eines Zeitraums von sechs Wochen<br />
bis drei Monaten.<br />
Vredenburgh und weitere Fachleute für Hirntumoren sind der Ansicht, ausschlaggebend<br />
für eine verbesserte Behandlung maligner Gliome sei eine<br />
präzisere Auswahl jener Personen, die mit der grössten Wahrscheinlichkeit<br />
auf spezifische Therapien ansprechen, sowie eine Verbesserung der kombinierten<br />
Behandlungsansätze. Notwendig seien auch bessere klinische Studiendesigns,<br />
um in kürzester Zeit ein Maximum an Informationen zu erhalten.<br />
Rückenmarkverletzung: Den Weg für klinische Studien bahnen<br />
Bessere klinische Studiendesigns stehen auch bei der Erforschung des<br />
Rückenmarks im Vordergrund, geht es doch auf diesem Gebiet zunehmend<br />
darum, Ergebnisse der Grundlagenwissenschaft auf Therapieansätze<br />
zu übertragen. Im März 2007 veröffentlichte ein internationales, fachübergreifendes<br />
Forschungsgremium in Spinal Cord eine Serie von vier Auf -<br />
sätzen mit den ersten Empfehlungen für klinische Studien bei Rückenmarkverletzungen<br />
7-10 .<br />
Schädigungen des Nervensystems<br />
Die von der International Campaign for Cures of Spinal Cord Paralysis<br />
unternommene Anstrengung versucht für möglicherweise wirksame<br />
Methoden, die zurzeit in präklinischen Studien getestet werden, Kriterien<br />
aufzustellen, die robuste, realistische und nützliche klinische Studien 47
48<br />
ermöglichen. Das Gremium ruft dazu auf, bei der Planung und Durch -<br />
führung von Humanstudien die Messgrössen, die Ein- und Ausschluss -<br />
kriterien und die Ethik rigoros und einheitlich zu handhaben.<br />
Die Autoren hielten beispielsweise fest, die Messgrössen müssten anatomische<br />
und neurologische Bestimmungen umfassen, welche die „Wiederverbindung“<br />
des Rückenmarks belegen; ausserdem brauche es Kriterien, um<br />
beurteilen zu können, welche Aktivitäten des täglichen Lebens den Kranken<br />
möglich sind, sowie Erhebungen der Lebensqualität. Was die Ein- und Ausschlusskriterien<br />
anbelangt, hält das Gremium fest, die an der Studie teilnehmenden<br />
Personen müssten einen Verletzungsgrad aufweisen, für den<br />
bereits Daten aus Tierversuchen oder früheren Human studien vorliegen,<br />
welche ein positives Resultat der Intervention erwarten lassen; ausserdem<br />
müssten Schwere, Ausmass, Art und Grösse der Verletzung und die Wahrscheinlichkeit,<br />
dass die Kranken von einer experimentellen Therapie profitieren<br />
können, in einem günstigen Verhältnis stehen. Weiter betonen die<br />
Autoren, es sei nötig, dass Studienteilnehmende eine Einverständniserklärung<br />
abgeben, nachdem sie klar und angemessen über Risiken, Vorteile und<br />
wissenschaftlichen Gründe experimenteller Therapien aufgeklärt wurden.<br />
Prospektive, randomisierte Doppelblindstudien mit einer angemessenen<br />
Kontrollgruppe hält das Gremium für optimal, wobei es anerkennt, dass<br />
allenfalls in gewissen Situationen andere Studiendesigns in Betracht gezogen<br />
werden müssen.<br />
Zu diesen Empfehlungen hatte wohl zum Teil die Frustration von Forschenden<br />
der westlichen Welt geführt, als sie versuchten, die Wirksamkeit<br />
unkontrollierter Humanstudien zu beurteilen. Da es im Bereich von<br />
Rückenmarkverletzungen keine wirklich wirksame Therapie gibt, nehmen<br />
verzweifelte Kranke und ihre Angehörigen jede nur denkbare Behandlung<br />
in Kauf. Dies hatte zur Folge, dass sie und gewisse Forschende bereit<br />
waren, alles zu versuchen. Besonders problematisch wurde dies in<br />
Ländern, in denen die klinische Forschung keinerlei Regeln unterworfen<br />
ist; dazu gehört auch China, wo Kranke mit Rückenmarkverletzungen<br />
massenhaft unerprobten Stammzelltransplantationen unterzogen werden.<br />
Das Gremium möchte auch Probleme mit klinischen Studiendesigns verhindern,<br />
welche früher bei der Suche nach Behandlungen komplexer neurologischer<br />
Erkrankungen aufgetreten waren – so etwa die unzureichende<br />
Empfindlichkeit der Messgrössen bei klinischen Studien zu neuroprotektiven<br />
Therapien des Schlaganfalls.
Neuroethik<br />
Vermarktung der Lügendetektion 50<br />
Tiefe Hirnstimulation bei schwerer Depression 52<br />
Genetische Grundlagen von Abhängigkeit 53<br />
Bildgebung des Gehirns zu diagnostischen Zwecken 54<br />
49
50<br />
Die ethischen Implikationen der vielen und rasanten Fortschritte der<br />
Neurowissenschaft fördern weiterhin das Wachstum der Neuroethik, so<br />
dass diese im grösseren Bereich der Bioethik einen immer prominenteren<br />
Platz einnimmt. Seit dem Jahr 2007 publiziert das American Journal of<br />
Bioethics zwölf statt sechs Hefte – dies auch deshalb, weil es der Neuro -<br />
ethik jährlich drei ganze Hefte widmen möchte. Diese Spezialhefte, die<br />
so genannten AJOB Neuroscience, sind heute das offizielle Journal der<br />
Neuroethik.<br />
Vier bedeutende Entwicklungen haben im vergangenen Jahr Diskussionen<br />
und Debatten hervorgerufen: die Vermarktung der Lügendetektion;<br />
das Ansinnen, tiefe Hirnstimulation zur Behandlung von Depressionen<br />
einzusetzen; Fortschritte im Verständnis der genetischen Grundlagen von<br />
Abhängigkeit; sowie Verbesserungen der Bildgebung des Gehirns zu<br />
diagnostischen Zwecken.<br />
Vermarktung der Lügendetektion<br />
Da es in den letzten Jahren immer besser gelang, die Aktivität in ver -<br />
schiedenen Hirnregionen mittels funktioneller Magnetresonanztomo -<br />
graphie (functional magnetic resonance imaging; fMRI) abzubilden,<br />
wuchs auch das Interesse daran, diese Technik für das Aufdecken von<br />
Lügen einzusetzen. Obwohl erst Vorversuche gemacht wurden und<br />
die Resultate problematisch sind, haben bereits zwei Firmen auf fMRI<br />
basierende Produkte und Dienstleistungen zur Lügendetektion ent -<br />
wickelt: Cephos Corporation und No Lie MRI. Als mögliche Verwendungszwecke<br />
nennen die Firmen die Ermittlung bei Verbrechen, Anhörungen<br />
zu bedingter Haftentlassung und Sorgerecht, Spionageabwehr<br />
sowie Befragungen, die mit Versicherungsrecht und Staatssicherheit<br />
zusammenhängen.<br />
Im Jahr 2007 veröffentlichte das American Journal of Law and Medicine<br />
einen Aufsatz von Henry Greely (Stanford) und Judy Illes (sie ist inzwischen<br />
an der University of British Columbia), in dem sie die bisherigen Forschungsresultate<br />
der auf fMRI beruhenden Lügendetektion analysieren<br />
und dringend zum Erlass von Richtlinien aufrufen 1 . Die Autoren geben zu<br />
bedenken, dass es sich zwar um eine viel versprechende Technik handle,<br />
dass aber ihre Zuverlässigkeit für die reale Welt durch die bisherigen<br />
Studien in keinerlei Weise erwiesen sei, zumal es in den Experimenten um<br />
künstliche und triviale Lügen gehe.
In einer gemeinsam mit Henry<br />
Greely verfassten Publikation<br />
hat Judy Illes zum Erlass von<br />
Richtlinien aufgerufen, welche<br />
die auf funktioneller Magnet -<br />
resonanztomographie beruhende<br />
Lügendetektion regeln. Den<br />
Autoren zufolge hat sich dieses<br />
Verfahren in Studien nicht als<br />
zuverlässig erwiesen.<br />
Ausserdem sei keine einzige dieser an kleinen Stichproben durchge -<br />
führten Studien durch unabhängige Forschende bestätigt worden, und<br />
die Möglichkeit, dass Versuchspersonen Gegenmassnahmen getroffen<br />
hätten, um die Lügendetektoren auszutricksen, habe man nicht in<br />
Betracht gezogen. Das von den Autoren vorgeschlagene Kontrollsystem<br />
– es entspricht den FDA (Food and Drug Administration)-Kontrollen für<br />
die Verwendung von Medika menten – würde verlangen, dass Firmen, die<br />
Verfahren zur Lügende tektion vermarkten wollen, deren Genauigkeit und<br />
Leistungsfähigkeit mit gross angelegten Studien belegen. Aufgrund einer<br />
derartigen Regelung wäre die Vermarktung dieser Technik ohne behörd -<br />
liche Zulassung gesetzwidrig.<br />
Gemeinsam mit Margaret Eaton in Stanford verfasste Illes auch einen<br />
Kommentar für die im April 2007 erschienene Ausgabe von Nature Biotechnology,<br />
der einige ethische, soziale und politische Aspekte im<br />
Zusammenhang mit der Vermarktung der kognitiven Neurotechnologie im<br />
Allgemeinen behandelt 2 . Sie äussern unter anderem Bedenken bezüglich<br />
der Präzision, der Privatsphäre des Gehirns und der Vertraulichkeit sowie<br />
potentiellen Interessenkonflikten bei jenen, die diese Techniken auf den<br />
Markt bringen.<br />
Eine besondere Gefahr einer unkontrollierten Lügendetektions-Industrie<br />
ist die Ausbeutung der verletzlichsten Gruppen der Bevölkerung, etwa<br />
jener, die an neurologischen oder psychiatrischen Störungen leiden. Allerdings<br />
scheint unsere Gesellschaft derart auf Geräte zur Lügendetektion<br />
erpicht zu sein, dass zahlreiche Personen deren angeblicher Brauchbarkeit<br />
noch so gern Vertrauen schenken, so die Autoren. 51<br />
Neuroethik
52<br />
Tiefe Hirnstimulation bei schwerer Depression<br />
Nachdem tiefe Hirnstimulation (deep brain stimulation; DBS) zur Behandlung<br />
der körperlichen Parkinson-Symptome so erfolgreich war und nachdem<br />
Bildgebungsstudien eine spezifische Hirnregion identifiziert hatten,<br />
die bei Depression involviert ist und mittels tiefer Hirnstimulation behandelt<br />
werden könnte, begannen Forschende an einer kleinen Zahl von Personen<br />
mit behandlungsresistenter Depression klinische Studien mit dieser Technik<br />
durchzuführen. Im Jahr 2005 veröffentlichte Befunde belegten für viele<br />
dieser operierten Kranken beachtliche Symptomver besserungen, doch 2007<br />
begann man, diese Behandlung einer ethischen Prüfung zu unterziehen.<br />
Da tiefe Hirnstimulation auch als Methode zur Behandlung der Parkinson-<br />
Krankheit relativ neu ist, erkennen die Forschenden nun auch unerwartete<br />
Risiken. Eine in Acta Neuropsychiatrica veröffentlichte Fallstudie zeigte im<br />
Juni 2007, dass geringfügige Verschiebungen des Kontakts oder der Spannung<br />
der Elektrode bei zwei Parkinson-Kranken eine lebensbedrohliche<br />
(mit Selbstmordabsichten einhergehende) Depression auslösten 3 .<br />
Forschende stellen fest, dass Fragen der Sicherheit zwar immer wichtig<br />
seien, doch wenn es um die Behandlung schwer beeinträchtigender oder<br />
gar letaler Krankheiten wie Parkinson gehe, seien Menschen bereit,<br />
beachtliche Risiken einzugehen. Depression ist wesentlich brisanter:<br />
Einige Patientenvereinigungen sind der Ansicht, diese Diagnose werde zu<br />
häufig gestellt; andere meinen, selbst die tatsächlich Betroffenen müssten<br />
lernen, mit ihr zu leben; und wiederum andere erinnern daran, dass viele<br />
Antidepressiva zur Verfügung stehen.<br />
Allerdings ist tiefe Hirnstimulation für behandlungsresistente Depressionen<br />
bestimmt, also für solche, die nicht auf Medikamente ansprechen.<br />
Und ohne wirksame Behandlung können Kranke schwer beeinträchtigt<br />
und manchmal auch suizidgefährdet sein.<br />
Für die tiefe Hirnstimulation zur Depressionstherapie und für andere<br />
klinischen Indikationen fehlen zur Zeit die Richtlinien. Daher traf sich im<br />
Jahre 2007 eine Gruppe führender Forscher und Forscherinnen auf diesem<br />
Gebiet, um in einer Consensus-Konferenz Richtlinien zur experimentellen<br />
Anwendung tiefer Hirnstimulation zu entwerfen.<br />
Auch die Einverständniserklärung weckt ethische Bedenken. Aufgrund von<br />
Wahrnehmungsstörungen und Verzweiflung als möglichen Begleiterschei-
nungen von schweren Depressionen, kann die Urteilsfähigkeit von Kranken<br />
stark beeinträchtigt sein. Über dieser ganzen Debatte schwebt das Schreckgespenst<br />
der Elektrokrampftherapie, deren therapeutischer Nutzen zwar<br />
unbestritten, deren Anwendung jedoch weiterhin höchst kontrovers ist.<br />
Genetische Grundlagen von Abhängigkeit<br />
Im Jahr 2007 wurden mehrere wissenschaftliche Artikel über Gene publiziert,<br />
die für Abhängigkeiten verantwortlich sein können. Beispielsweise<br />
veröffentlichten Colin Haile und Mitarbeitende in Behavior Genetics 4<br />
einen Artikel mit dem Titel „Genetics of Dopamine and Its Contribution to<br />
Cocaine Addiction“ (Genetik des Dopamin und ihr Beitrag zu Kokainabhängigkeit).<br />
Joel Gelernter und Mitarbeiter publizierten den in Biological<br />
Psychiatry 5 . erschienenen Artikel „Genomewide Linkage Scan for Nicotine<br />
Dependence: Identification of a Chromosome 5 Risk Locus“ (Linkage Scan<br />
des gesamten Genoms bezüglich Nikotinabhängigkeit: Identifizierung<br />
eines Risiko-Locus auf Chromosom 5).<br />
Mit dem Nachweis, dass Gene gewisse Personen zu Suchtverhalten<br />
prädisponieren, sind ethische Fragen verbunden.<br />
Was Alkohol anbelangt, legte Charles O’Brien 6 2007 in einem Kommentar<br />
der November-Ausgabe von Addiction dar, es zeige sich immer deutlicher,<br />
dass eine Genvariante des Mu-Opiatrezeptors im Gehirn mit einer verstärkten<br />
Anfälligkeit für Alkoholeuphorie, einem erhöhten Risiko für Alkoholismus,<br />
einem erhöhten Risiko für Opiatabhängigkeit und einem guten<br />
klinischen Ansprechen auf das in klinischen Alkoholismusstudien verwendete<br />
Medikament Naltrexon verbunden sei.<br />
Mit dem Nachweis, dass Gene gewisse Personen zu Suchtverhalten prädisponieren,<br />
sind ethische Fragen verbunden. Ein Fragenkomplex betrifft<br />
die Untersuchung an sich. Sollen wir bestimmte Gene überhaupt überprüfen,<br />
wenn sie zwar zu Sucht beitragen, diese aber nicht absolut bestimmen?<br />
Wie gross muss der Vorhersagewert der Gene oder ihre Bedeutung<br />
im Hinblick auf die Wahl einer Therapie sein, damit wir uns für ihre Überprüfung<br />
entscheiden? Wie früh soll man mit der Überprüfung beginnen?<br />
Wenn beispielsweise Eltern erfahren, dass ihr Kind zu Nikotinabhängigkeit<br />
neigt, können sie entsprechende Vorkehrungen treffen, die Kinder etwa<br />
besonders aufklären und vor Zigarettenwerbung schützen – das Wissen<br />
kann aber auch zu Gängelung und übertriebener Angst der Eltern führen.<br />
Die Kenntnis der eigenen Suchtgefährdung könnte auch zur selbst erfüllenden<br />
Prophezeiung werden. 53<br />
Neuroethik
54<br />
Auch die Beratung wirft Fragen auf: Was soll ein Arzt oder eine Ärztin<br />
Eltern sagen, deren Kind sich aufgrund seiner Gene mit grösserer Wahrscheinlichkeit<br />
zum Raucher, Alkoholiker oder Heroinsüchtigen entwickeln<br />
wird? Noch heikler wird diese Frage, wenn die genetische Information in<br />
utero zur Verfügung steht; manche Eltern könnten es sich nochmals überlegen,<br />
ob sie diese Schwangerschaft überhaupt wollen.<br />
Das frühzeitige Wissen um eine Suchtgefährdung wirft auch die Frage auf,<br />
ob Sucht hemmende Medikamente (etwa Naltrexon) vorbeugend, also<br />
noch bevor sich eine Sucht entwickelt hat, verabreicht werden sollten.<br />
Angesichts der hohen Kosten einer Suchtbehandlung könnten künftige<br />
Arbeitgeber und Versicherungsgesellschaften ein rechtmässiges Interesse<br />
an einer solchen Überprüfung geltend machen – und sie könnten Träger<br />
dieser Gene diskriminieren. (Die heutigen Gesetze verhindern die unbefugte<br />
Weitergabe von genetischen Informationen an Versicherer und<br />
Arbeitgeber.)<br />
Ein weiterer Gesichtspunkt ist wie bei jeder genetischen Abweichung<br />
die soziale Stigmatisierung. Blosse Träger dürften mehr Mühe haben,<br />
Ehe- und Fortpflanzungspartner zu finden, und Eltern könnten sich selbst<br />
dann schuldig fühlen, schlechte Gene weitergegeben zu haben, wenn ihr<br />
Kind keinerlei Anzeichen einer Sucht aufweist. Je mehr wir über gene -<br />
tische Risikofaktoren für Abhängigkeit erfahren, desto hitziger dürfte die<br />
Diskussion solcher Fragen noch werden.<br />
Bildgebung des Gehirns zu diagnostischen Zwecken<br />
Während der Einsatz der Bildgebung des Gehirns zur Diagnose der<br />
meisten psychiatrischen Erkrankungen noch in weiter Ferne liegt, er -<br />
folgten bezüglich Alzheimer-Krankheit und anderen Arten von Demenz<br />
dieses Jahr bereits die ersten Schritte. Im August 2007 veröffentlichte<br />
Agneta Nordberg in Current Opinion in Neurology 7 einen Übersichts -<br />
artikel, der ein neues Amyloid-Bildgebungsverfahren mittels Positronen-<br />
Emissions-Tomographie diskutiert, das eindeutige Unterschiede zwischen<br />
dem Gehirn von Alzheimer-Kranken und gesunden Versuchspersonen<br />
aufzeigt. Diese Studie deutet darauf hin, dass eine frühzeitige Diag -<br />
nose der Alzheimer-Krankheit möglich sein könnte. Ähnlich berichtete<br />
eine 2007 in der Märzausgabe von Archives of Neurology 8 publizierte<br />
Fallstudie, dass der Bildgebungstracer Pittsburgh Compound B erfolgreich<br />
dazu benutzt wurde, leichte kognitive Beeinträchtigungen sichtbar<br />
zu machen.
Studien dieser Art lassen hoffen, dass Bildgebung auch zu einer präziseren<br />
Diagnose von Angst- und Autismus-Spektrum-Störungen beitragen<br />
könnte. Besonders gefragt ist eine bessere Diagnose im Zusammenhang<br />
mit eingeschränkten Bewusstseinszuständen, insbesondere um exakt<br />
unterscheiden zu können, ob es sich um Personen im Wachkoma oder um<br />
solche in einem minimalen Bewusstseinszustand handelt.<br />
Zwar gab es auf diesem Gebiet im Jahr 2007 keine grösseren technischen<br />
Fortschritte, doch hat sich das ethische Bezugssystem weiterentwickelt.<br />
Im Juni leiteten Judy Illes und Joseph Fins an der Stanford University einen<br />
gut besuchten Workshop „Ethics, Neuroimaging, and Limited States of<br />
Consciousness“ (Ethik, neurologische Bildgebung und eingeschränkte<br />
Bewusstseinszustände), in dem diese Punkte wissenschaftlich diskutiert<br />
wurden. Einigkeit erzielte man unter anderem bezüglich folgender<br />
Aspekte: Forschung sowie klinische Ziele bei der Durchführung von Neuroimaging-Studien<br />
an Kranken mit eingeschränktem Bewusstseinszustand;<br />
die Problematik, eine Einverständniserklärung oder Bewilligung für<br />
solche Studien einzuholen; dass experimentelle Protokolle ein ethisch<br />
begründetes Vorgehen bei der Auswahl von Probanden und der Gestaltung<br />
von Tests beachten sollen. Eine Sonderausgabe des American Journal<br />
of Bioethics Neuroscience zu diesem Thema soll in Kürze erscheinen.<br />
Doch obwohl in der Neuroethik bezüglich dieser Fragen Einigkeit besteht<br />
und obwohl die Bildgebung zweifellos weiter verbessert wird, diskutieren<br />
Forschende und klinisch Tätige weiterhin über die viel heikleren Fragen,<br />
wie die Aufnahmen des Gehirns zu interpretieren seien und welchen<br />
prognostischen Wert sie für Kranke mit Bewusstseinsstörungen hätten. In<br />
einem im April in Neurology erschienen Artikel empfahlen Joseph Fins,<br />
Nicholas Schiff und Kathleen Foley, man solle versuchen, die Epidemio -<br />
logie des minimalen Bewusstseinszustands zu definieren, die Vorgänge<br />
während der Erholung zu klären und klinisch anwendbare diagnostische<br />
und prognostische Merkmale zu bestimmen, die der Entscheidungsfindung<br />
am Krankenbett dienen 9 .<br />
Neuroethik<br />
55
Neuroimmunologische<br />
Erkrankungen<br />
Auf den Rezeptor IL-7 konvergieren 58<br />
Sonnenstrahlen bringen Licht in die Multiple Sklerose 62<br />
57
58<br />
Das Immunsystem verwendet sein grosses und vielseitiges Arsenal von<br />
Zellverbänden und Molekülen, mittels derer Zellen kommunizieren, um<br />
uns vor den ständigen Angriffen durch krankheitserregende Organismen<br />
zu schützen. Doch können diese Zellen und Moleküle des Immunsystems,<br />
wenn sie nicht richtig auf ihr Ziel ausgerichtet und reguliert sind, ihrerseits<br />
Krankheiten hervorrufen.<br />
Es ist zwar nicht klar warum, doch scheint bei Multipler Sklerose, einer<br />
neurologischen Krankheit, das Immunsystem der Aggressor zu sein. Eine<br />
immunologisch bedingte Schädigung jener isolierenden Schicht, welche<br />
die Axone von Nervenzellen in Gehirn und Rückenmark umgibt, beeinträchtigt<br />
die Übertragung der Nervenimpulse zwischen den Zellen. Multiple<br />
Sklerose kann ganz verschiedenartige Symptome hervorrufen, von<br />
Sehstörungen bis zu Gangstörungen, und der Verlauf besteht oft aus<br />
einem Auf und Ab, wobei sich die Symptome periodisch verschlimmern.<br />
Die Anfälligkeit für Multiple Sklerose beruht sowohl auf genetischen<br />
Faktoren als auch auf Umweltfaktoren, doch hängen Verlauf und Progression<br />
der Krankheit wahrscheinlich vom Zusammenspiel vieler verschiedener<br />
Gene und vieler verschiedener Umweltfaktoren ab. Für eine Beteiligung<br />
des Immunsystems gibt es klare Hinweise, und im Jahr 2007 fand die<br />
Forschung neue Indizien für genetische Einflüsse und Umweltfaktoren, die<br />
über das Immunsystem wirken.<br />
Auf den Rezeptor IL-7 konvergieren<br />
Im Jahr 1972 erkannte man erstmals eine Verbindung zwischen jenen<br />
Genen, welche die Anfälligkeit für Multiple Sklerose vererben und einer<br />
Gruppe von so genannten HLA-Genen des Immunsystems. Was die<br />
Bestimmung weiterer spezifischer genetischer Risikofaktoren anbelangt,<br />
wurden seither kaum Fortschritte erzielt. Doch brachte die Auflistung der<br />
gesamten Genom-Sequenz des Menschen (des vollständigen Sets von<br />
DNA-Instruktionen in jeder menschlichen Zelle) im Jahr 2001 die Genanalyse<br />
ausserordentlich voran. Dank neuen Labormethoden und leistungs -<br />
fähigen Computern können Forschende heute bei ihrer Suche nach der<br />
schwer fassbaren Nadel im Genom-Heuhaufen eine früher undenkbar<br />
grosse Datenmenge analysieren.<br />
Das menschliche Genom besteht zwar aus 3 Milliarden Basenpaaren, doch<br />
beschränken sich die meisten Variationen auf 250000 bis 500000 Segmente
Ein DNA- Microarray oder<br />
„Gen-Chip“ hat dazu<br />
beigetragen, genetische<br />
Risikofaktoren für Multiple<br />
Sklerose aufzudecken.<br />
der DNA. Alle diese vielen Segmente können mittels DNA-Microarrays<br />
oder „Gen-Chips“ gleichzeitig abgefragt werden. Genomweite Scans<br />
liessen Gene erkennen, die mit Brustkrebs, Herzkrankheiten und Diabetes<br />
verbunden sind 1 . Allerdings erlaubt bei multiplen genetischen Faktoren,<br />
von denen jeder nur einen geringen Einfluss ausübt, erst die Analyse<br />
grosser Stichproben eine Aussage über statistische Zusammenhänge.<br />
(Mehr zu „genomweiter Assoziation“ finden Sie im Kapitel „Psychiatrische<br />
Erkrankungen, Verhaltensstörungen und Suchtkrankheiten“, S. 71.)<br />
Die Ergebnisse einer genomweiten Suche nach Genen, die das Risiko für<br />
Multiple Sklerose übertragen, wurden in der Augustausgabe des New<br />
England Journal of Medicine 2 publiziert. Eine internationale Arbeitsgemeinschaft<br />
von Forschenden verwendete die Gen-Chip-Methode, um<br />
hunderttausende von einzelnen genetischen Veränderungen in insgesamt<br />
über 12000 Proben zu untersuchen. Ohne im Voraus eine Idee zu haben,<br />
was sie dabei finden könnten, bestätigten sie den Zusammenhang zwischen<br />
der HLA-Region und der Krankheit und spürten zwei weitere<br />
Marker auf: einen im Gen für den Rezeptor Interleukin-2 (IL-2) und einen<br />
für den Rezeptor Interleukin-7 (IL-7). Interleukine sind Proteine des<br />
Immunsystems, über welche Zellen miteinander kommunizieren und die<br />
Tätigkeit anderer Zellen beeinflussen.<br />
Diese Rezeptoren sind für die Signalübertragung zwischen den Zellen des<br />
Immunsystems bedeutsam. Ebenso wie die zum Gen HLA gehörenden<br />
Proteine sind auch die Rezeptoren IL-2 und IL-7 wichtige Regulatoren des 59<br />
Neuroimmunologische Erkrankungen
60<br />
Ein auf den Gen-Chip Array gerichteter Laserstrahl lässt die markierten DNA Fragmente, welche hybridisierten, aufleuchten<br />
Nicht-hybridisiertes DNA<br />
Hybridisiertes DNA<br />
Hybridisierte DNA-Fragmente leuchten auf, wenn ein Laser-Lichtstrahl auf ein Micro -<br />
array gerichtet wird, das viele Millionen von Fragmenten enthält.<br />
Immunsystems; so lässt sich verstehen, dass die Gene, welche diese beiden<br />
Interleukin-Rezeptoren hervorbringen, an Multipler Sklerose beteiligt<br />
sein können. Allerdings begnügte sich diese Studie damit, einen statistischen<br />
Zusammenhang aufzuzeigen.<br />
Genetische Studien lassen oft mehrere mögliche genetische Risikofaktoren<br />
für eine bestimmte Krankheit erkennen, die alle nicht besonders überzeugend<br />
sind. Nachfolgende Bemühungen, diese Risikofaktoren zu bestätigen,<br />
schlagen oft fehl. Durch die Kombination mehrerer verschiedener<br />
experimenteller Ansätze – Michael Hauser vom Center for Human Genetics<br />
an der Duke University spricht von „genomischer Konvergenz“ – kann<br />
man das aussichtsreichste Kandidatengen herausgreifen.<br />
Kombiniert man Resultate aus Studien, die Gene mit familiären Krank -<br />
heiten in Beziehung bringen – dabei wird die gemeinsame Vererbung<br />
von Genen analysiert und geprüft, welche Gene im betroffenen Gewebe<br />
aktiv sind – so kann sich ein aussichtsreicherer genetischer Marker
abzeichnen. Dieser Ansatz wurde für die Untersuchung der genetischen<br />
Grundlagen verschiedener komplexer neurologischer Krankheiten, einschliesslich<br />
Parkinson- und Alzheimer-Krankheit sowie Multipler Sklerose,<br />
verwendet.<br />
In zwei Studien, die in der Ausgabe vom September 2007 in Nature<br />
Genetics erschienen, wurde ein solcher genomischer Konvergenz-Ansatz<br />
durchgespielt; bei ihrer Suche nach Kandidatengenen betrachteten die<br />
Forschenden ganz gezielt jene, die sich in früheren funktionellen und<br />
genetischen Studien als aussichtsreich erwiesen hatten 3, 4 . Ebenso wie bei<br />
der Genom-Analyse bezogen auch die Nature Genetics-Studien den<br />
Rezeptor IL-7 mit ein. Und sie identifizierten dieselbe Variation einzelner<br />
Basenpaare (Single-Nucleotid-Polymorphism oder SNP) im Gen, welches<br />
den Rezeptor IL-7 produziert.<br />
Es war erwartet worden, diese besondere Genvariante würde die<br />
Bindung des Rezeptors an die Zellmembran, dem Ort seiner signalübertragenden<br />
Funktion, vermindern, so dass er mehr in löslicher Form vorhanden<br />
wäre und durch die Bindung von IL-7 dieses von der Interaktion<br />
mit Zellen abhalten könnte. Dies war tatsächlich der Fall und zwar sowohl<br />
im Laboratorium als auch bei Personen mit Multipler Sklerose. Theoretisch<br />
könnte diese Veränderung die Wirkung von IL-7 im Körper ver -<br />
mindern. Ausserdem war sowohl die Genexpression für IL-7 als auch<br />
jene für den Rezeptor IL-7 im Liquor von Personen mit dieser Krankheit<br />
verändert.<br />
Die Hinweise mehren sich, dass IL-7 und sein Rezeptor entscheidend<br />
am Krankheitsprozess mitwirken, doch ist nicht klar auf welche Weise.<br />
Zwar wird dem Gen für den Rezeptor IL-7 nur eine geringe Erhöhung des<br />
Krankheitsrisikos zugeschrieben, doch lässt sich der Rezeptor IL-7 immer<br />
weniger ignorieren. Weitere Untersuchungen des Rezeptors IL-7 sollen<br />
seine Rolle bei der Multiplen Sklerose klären und neue Behandlungs -<br />
ansätze liefern 5 .<br />
Neuroimmunologische Erkrankungen<br />
Im gesamten Krankheitsprozess wäre ein auf IL-7 beruhender Vorgang<br />
nur einer von vielen verschiedenen Mechanismen, welche die Krankheit<br />
fördern. Aufgrund der Analyse dieses Markers und anderer genetischer<br />
Marker könnte es schliesslich möglich werden, genau zu bestimmen, was<br />
bei den einzelnen Kranken geschieht, die diagnostischen Verfahren zu<br />
verbessern und den Behandlungsplan individuell zu gestalten. 61
62<br />
Sonnenstrahlen bringen Licht in die<br />
Multiple Sklerose<br />
Das Risiko, an Multipler Sklerose zu erkranken, hängt eng mit dem Breitengrad<br />
zusammen; wer weiter vom Äquator entfernt lebt, hat ein höheres<br />
Risiko. Selbst bei Menschen mit gemeinsamen Vorfahren kann die Anfälligkeit<br />
unterschiedlich sein, wenn sie – insbesondere in jungen Jahren – in<br />
verschiedenen geografischen Breiten leben. Die neuere Forschung macht<br />
hierfür die Sonne verantwortlich.<br />
Eine in Neurology publizierte Studie untersuchte den Einfluss der Sonnenexposition<br />
bei eineiigen Zwillingen in Nordamerika 6 . Die von Thomas<br />
Mack von der Keck School of Medicine an der University of Southern<br />
California geleitete Studie ergab, dass jener Zwilling, der als Kind mehr<br />
Zeit im Freien verbrachte (z. B. weil er an den Strand ging oder an Teamsport<br />
teilnahm) ein kleineres Multiple Sklerose-Risiko aufwies als der<br />
andere Zwilling. Dank der Untersuchung von eineiigen Zwillingen liess<br />
sich der Zusammenhang mit Umweltfaktoren – ohne den Störeinfluss von<br />
genetischen Unterschieden – belegen.<br />
Auch eine in Norwegen durchgeführte und im Journal of Neurology veröffentlichte<br />
Studie zeigte, dass Sonnenexposition während der Kindheit das<br />
Risiko für Multiple Sklerose verringerte 7 . Darüber hinaus wies die Studie<br />
nach, dass eine fischreiche Ernährung das Risiko herabsetzte. Unter der<br />
Federführung von Margitta Kampman wiesen die Autoren darauf hin, dass<br />
der hohe Vitamin D-Gehalt von Fischen für diese Schutzwirkung verantwortlich<br />
sein könnte.<br />
Die Befunde lassen einen direkten Einfluss von Vitamin D aufs Gehirn<br />
erkennen. Studien haben gezeigt, dass Vitamin D im Tiermodell das<br />
Schlaganfallrisiko verringert. Die Schutzwirkung der Sonnenexposition<br />
könnte auf einem direkten Einfluss der Ultraviolettstrahlung oder indirekt<br />
auf der Produktion von Vitamin D beruhen. Wir nehmen zwar eine<br />
gewisse Menge von Vitamin D mit der Nahrung auf, doch wird der<br />
grösste Teil aufgrund von Sonnenexposition von der Haut produziert;<br />
deshalb wird Vitamin D manchmal als Sonnenschein-Vitamin bezeichnet.<br />
Wenn die Tage im Winter kürzer sind und die Sonne tiefer am Himmel<br />
steht, treten häufig Vitamin D-Mangelzustände auf. Tatsächlich erhalten<br />
Personen, die auf dem Breitengrad von Boston– Barcelona– Rom– Sofia<br />
oder nördlich davon leben, zwischen November und Februar überhaupt<br />
kein Vitamin D durch die Sonne.
Im Jahr 2007 zeigten<br />
Forschungsarbeiten, dass<br />
in der Haut durch Sonnen -<br />
exposition produziertes<br />
Vitamin D das Multiple-<br />
Sklerose-Risiko<br />
herabsetzen könnte.<br />
Man weiss, dass Vitamin D für den Erhalt der Knochendichte wichtig ist.<br />
Weniger bekannt sind vielleicht seine regulierenden Einflüsse auf das<br />
Immunsystem. Vitamin D-Rezeptoren finden sich auf Zellen des Immun -<br />
systems und ein Vitamin D-Mangelzustand wurde bereits mit Autoimmunund<br />
entzündlichen Erkrankungen, einschliesslich Asthma, Gelenkrheumatismus,<br />
entzündlicher Darmerkrankung und Diabetes in Verbindung ge -<br />
bracht. Zurzeit ist der schützende Einfluss von Vitamin D an Mausmodellen<br />
der Multiplen Sklerose Gegenstand wissenschaftlicher Unter suchungen.<br />
Mehrere neuere Populationsstudien erbrachten den Nachweis einer<br />
umgekehrten Korrelation zwischen dem Vitamin D-Spiegel im Blut und<br />
dem Multiple Sklerose-Risiko. Eine in Tasmanien, Australien, durch -<br />
geführte Studie ergab, dass von dieser Krankheit Betroffene niedrigere<br />
Vitamin D-Spiegel im Blut hatten 8 . Bei einer Untersuchung, die am<br />
20. Dezember 2006 im Journal of the American Medical Association veröffentlicht<br />
wurde, bestimmte man den Zeitverlauf des Vitamin D-Spiegels<br />
von amerikanischen Militärangehörigen und fand, dass er vor dem Auf -<br />
treten von Multiple Sklerose-Symptomen herabgesetzt war.<br />
Dieser Befund stützt die Interpretation, dass Vitamin D-Mangel zu Multi -<br />
pler Sklerose beiträgt und die verminderte Sonnenexposition nicht auf die<br />
Krankheit zurückzuführen ist 9 . Und eine weitere Studie, sie stammt aus<br />
Finnland und erschien im Journal of Neurology, Neurosurgery, and Psy -<br />
chia try, wies nach, dass herabgesetzte Vitamin D-Spiegel im Blut mit einer<br />
Verschlechterung der Symptome einhergingen 10 . 63<br />
Neuroimmunologische Erkrankungen
64<br />
Da es möglicherweise die Anfälligkeit für Multiple Sklerose und andere<br />
Krankheiten beeinflusst, werden heute die Empfehlungen, wie viel<br />
Vitamin D mit der Nahrung aufgenommen werden soll, neu überprüft.<br />
Zurzeit hält das Institute of Medicine of the National Academy of<br />
Sciences 200 Internationale Einheiten (IE) oder 5 Mikrogramm Vitamin D<br />
täglich für die meisten nicht über 50jährigen Personen für angemessen.<br />
Im September 2007 empfahl die Canadian Paediatric Society in einer Erklärung,<br />
schwangere und stillende Frauen sollten eine Vitamin D-Ergänzung<br />
bis zu 2000 IE täglich in Betracht ziehen 11 .<br />
Die Gruppe empfahl ausserdem, dass Säuglinge, die voll gestillt werden,<br />
400 IE Vitamin D bekommen, und dass Säuglinge, die über dem 50. Breitengrad<br />
leben (etwa so weit nördlich wie Edmonton, Kanada, Frankfurt am<br />
Main und Prag), in den Wintermonaten 800 IE erhalten sollen. Tierver -<br />
suche deuten darauf hin, dass sich Vitamin D sowohl zur Vorbeugung als<br />
auch zur Behandlung der Multiplen Sklerose einsetzen lässt, doch braucht<br />
es weitere Untersuchungen, um diesen Befund auf Menschen übertragen<br />
zu können.
Schmerz<br />
Chronischer Schmerz und Opiatabhängigkeit 66<br />
Das Schmerzsignal ins Visier nehmen 68<br />
Erfolgreiche Behandlung von Rückenschmerzen<br />
durch Neurostimulation 69<br />
65
66<br />
In den USA ist Schmerz der Hauptgrund dafür, dass Menschen medizi -<br />
nische Hilfe suchen. Dabei ist es für Ärzte und Ärztinnen weiterhin ein<br />
ständiger Kampf, Mittel zu finden, mit denen sich chronische und akute<br />
Schmerzen wirksam behandeln und kontrollieren lassen.<br />
In der Schmerzforschung gab es im Jahr 2007 mehrere Ansätze. Zum<br />
einen wurde nach Möglichkeiten gesucht, die Abhängigkeit von starken<br />
Opiaten, die oft das wirksamste Mittel zur Schmerzlinderung darstellen, zu<br />
reduzieren. Zum andern wurde ein entscheidender Schmerzsignalweg<br />
identifiziert, der neue Möglichkeiten für die Behandlung von Kranken<br />
eröffnet, die nach einer Rückenmarkverletzung an starken Phantomschmerzen<br />
leiden. Ausserdem wurde eine wirksamere Therapie für chronischen<br />
neuropathischen Schmerz gefunden, was Millionen von durch<br />
Rückenschmerzen behinderten Menschen neue Hoffnung gibt.<br />
Chronischer Schmerz und Opiatabhängigkeit<br />
Opium wurde während einigen tausend Jahren zur Linderung von Leiden<br />
und Schmerzen eingesetzt; auch heute werden viele von Opium abgeleitete<br />
Arzneimittel, so genannte Opiate, zu erlaubten und unerlaubten<br />
Zwecken verwendet. Dass diese Medikamente infolge ihrer ausgeprägten<br />
euphorischen Wirkung abhängig machen können, stellt die Ärzteschaft<br />
vor ein Dilemma, denn es gilt, das Bedürfnis der Kranken nach Schmerzlinderung<br />
und das Risiko einer Abhängigkeit gegeneinander abzuwägen.<br />
Forschende an der Wake Forest University School of Medicine haben herausgefunden,<br />
dass chronischer Schmerz nicht nur die analgetische Wirkung<br />
vieler Opiate vermindert, sondern auch dazu führt, dass die betroffenen<br />
Person weniger dazu neigen, von gewissen Medikamenten abhängig<br />
zu werden; dies gilt für Morphin, Hydromorphon und Fentanyl. Der in der<br />
Ausgabe vom 27. Februar 2007 von Anesthesiology publizierte Befund<br />
weist darauf hin, dass Kranke, deren chronische Schmerzen nicht ausreichend<br />
mit angemessenen Medikamenten behandelt werden, schliesslich<br />
nicht mehr die verschriebenen Medikamente nehmen sondern auf Alternativen<br />
ausweichen, einschliesslich Heroin und Methadon, welche chronischen<br />
Schmerz zwar wirksamer bekämpfen, jedoch die gefürchteten<br />
abhängig machenden Folgen haben 1 .<br />
Die Forschenden von Wake Forest implantierten Ratten – bei der Hälfte von<br />
ihnen waren die Spinalnerven unterbunden oder rotiert worden – einen
Katheter und brachten den Tieren bei, sich selbst Clonidin und Adenosin<br />
zuzuführen, zwei opiatähnliche Substanzen, welche die Schmerzüberempfindlichkeit<br />
herabsetzen. Die Forschenden stellten fest, dass keines der<br />
beiden Medikamente das Heroin-Suchtverhalten gesunder Tiere beeinflusste,<br />
da – wie sie festhalten – das Heroin-Missbrauchpotential beim ge -<br />
sunden Tier über Stellen im Gehirn und nicht im Rückenmark vermittelt wird.<br />
Hingegen führte die spinale Verabreichung von Clonidin bei Ratten mit<br />
chronischem Schmerz zu einer drastischen Reduktion des Heroin-<br />
Suchtverhaltens. Die Zufuhr von Adenosin auf Ebene des Rückenmarks<br />
beeinflusste die Heroinsucht von Ratten mit Nervenverletzung nicht,<br />
obwohl dieses Medikament bekanntlich die Schmerzüberempfindlichkeit<br />
in solchen Fällen vermindert. Dieser Befund lässt darauf schliessen,<br />
dass zumindest im Tiermodell die kombinierte Gabe von Clonidin und<br />
Adenosin schmerzlindernd wirken kann, ohne ein Verlangen nach Heroin<br />
zu provozieren.<br />
Eine andere Studie zeigte auf, dass eine Untergruppe von Kranken<br />
mit chronischen Schmerzen zu Drogensucht neigt.<br />
Eine andere Studie zeigte auf, dass eine Untergruppe von Kranken mit<br />
chronischen Schmerzen zu Drogensucht neigt. Forschende am Massachusetts<br />
General Hospital analysierten mehrere Studien um herauszufinden,<br />
wie Opiat-Abhängigkeit und Linderung chronischer Schmerzen zusam -<br />
menhängen. Im Juni berichteten sie in der Zeitschrift Pain, erste Annahmen,<br />
wonach gegen chronische Schmerzen behandelte Personen selten<br />
abhängig würden, hätten sich als falsch erwiesen 2 . In Wirklichkeit kommen<br />
bei einer kleinen Gruppe von Kranken mit chronischen Schmerzen<br />
Drogensucht und andere problematische Verhaltensweisen durchaus vor.<br />
Diese Untergruppe unterscheidet sich allerdings bezüglich der Art, wie<br />
die Abhängigkeit entsteht. Der Übergang zu Abhängigkeit erfolgt nämlich<br />
schleichender und ist schwerer erkennbar.<br />
Ärzte und Ärztinnen verfügen zwar über eine Fülle von Informationen, um<br />
bei der Behandlung von Personen mit chronischen Schmerzen die Entwi -<br />
cklung einer Opiat-Abhängigkeit zu vermeiden; die Forschenden stellen<br />
jedoch fest, dass besser geeignete Methoden nötig sind, um entscheiden<br />
zu können, welche dieser Kranken zu Abhängigkeit neigen. Dann könnten<br />
Ärzte und Ärztinnen, unterstützt von Suchtspezialisten, strukturierte<br />
Therapiepläne entwickeln, die allenfalls die Verwendung von Alternativen<br />
zu Opiaten erfordern. 67<br />
Schmerz
68<br />
Das Schmerzsignal ins Visier nehmen<br />
Beinahe 80% der Personen mit einer Rückenmarkverletzung leiden unter<br />
klinisch signifikanten Schmerzen, die als brennend, reissend, bohrend<br />
oder stechend beschrieben werden. Ausserdem kommt es bei vielen<br />
Kranken, die in gewissen Körperteilen ohne Gefühl sind, zu Phantomschmerzen,<br />
so dass sie ihren Körper unterhalb der Rückenmarkverletzung<br />
„fühlen“ und in diesen völlig empfindungslosen Bereichen Schmerzen<br />
haben.<br />
Mikrogliazellen, hier als helle<br />
Flecken zwischen dunkleren<br />
Neuronen im lumbalen<br />
Hinterhorn erkennbar, sind für<br />
den chronischem Schmerz<br />
nach einer Rückenmarkverletzung<br />
mitverantwortlich.<br />
Forschende am Yale University Center for Neuroscience and Regeneration<br />
Research sehen eine Fehlfunktion des Nervensystems als Ursache<br />
der häufig nach einer Rückenmarkverletzung auftretenden abnormen<br />
Schmerzen. Wie sie in der Ausgabe vom 28. Februar 2007 im Journal of<br />
Neuroscience berichteten, konnten sie im verletzten Rückenmark erstmals<br />
einen direkten Signalweg zwischen Neuronen und der Mikroglia nach -<br />
weisen, zwischen jenen Immunzellen also, die im Zentralnervensystem<br />
vorhanden sind und eine Entzündungsreaktion hervorbringen, die das<br />
Nervensystem eigentlich schützen soll, es aber manchmal auch schädigt 3 .<br />
Bei Ratten, deren Rückenmark gequetscht worden war, stellten die<br />
Forschenden fest, dass bei chronischem Schmerz, der durch Mikroglia<br />
vermittelt wird, das Molekül Prostaglandin E2 (PGE2) eine wichtige Rolle<br />
spielt. Dieses Molekül wird von aktivierter Mikroglia freigesetzt und trägt<br />
zur Sensibilisierung der spinalen Neuronen nach einer Verletzung bei.<br />
Die Forschenden von Yale sind der Ansicht, dass eine gezielte Einflussnahme<br />
auf diesen Übertragungsmechanismus zwischen Mikroglia und
Neuronen zu einem erfolgreichen Schmerzmanagement nach einer<br />
Rücken markverletzung führen könnte. Sie überprüfen nun Substanzen,<br />
die den Signalweg an verschiedenen Orten im Rückenmark blockieren.<br />
Der Prototyp ist Minocyclin, ein Antibiotikum, das von der amerikanischen<br />
Arzneimittelbehörde (Food and Drug Administration) zur Behandlung<br />
einiger Infektionskrankheiten zugelassen wurde und dessen Wirksamkeit<br />
nun im Rahmen von klinischen Studien in „zulassungsüberschreitenden“<br />
Anwendungen bei neurologischen Störungen wie Huntington-Krankheit,<br />
Amyotropher Lateralsklerose und Multipler Sklerose getestet wird.<br />
Das Team von Yale möchte mittels Positronen-Emissions-Tomographie,<br />
einem bildgebenden Verfahren, nachweisen, dass Menschen und Mäuse<br />
über ähnliche, wenn nicht identische Schmerzmechanismen verfügen.<br />
Falls dem so ist, werden sie testen, ob Minocyclin bei Kranken mit einer<br />
Rückenmarkverletzung die auf Prostaglandin E2 beruhenden schmerz -<br />
vermittelnden Vorgänge wirksam auszuschalten vermag.<br />
Erfolgreiche Behandlung von Rückenschmerzen<br />
durch Neurostimulation<br />
Rückenschmerzen gehören in den USA zu den häufigsten Gesundheitsproblemen;<br />
etwa 80% der Bevölkerung sind irgendwann in ihrem Leben<br />
davon betroffen. Laut einer Studie der Duke University vom Jahr 2004<br />
kosten Rückenschmerzen – Kreuzschmerzen, Nackenschmerzen und<br />
Ischias – die USA jährlich beinahe 100 Milliarden Dollar in Form von<br />
Arztrechnungen, Invalidenrenten und verlorener Produktivität. Herkömmliche<br />
Therapien und chirurgische Eingriffe konnten Rückenschmerzen<br />
zwar bis zu einem gewissen Grad lindern, doch stellten Forschende fest,<br />
dass Neurostimulation – dabei wird ein medizintechnisches Gerät implantiert,<br />
das elektrische Impulse abgibt – bei chronischen neuropathischen<br />
Schmerzen in Rücken und Beinen erfolgreicher ist. Diese elektrischen<br />
Impulse werden in den Epiduralraum der Wirbelsäule gesendet und sollen<br />
verhindern, dass Schmerzsignale das Gehirn erreichen.<br />
Schmerz<br />
Die bisher grösste multizentrische, randomisierte kontrollierte Studie zu<br />
Neurostimulation wurde von einer internationalen Forschungsgruppe unter<br />
der Leitung von Krishna Kumar vom Regina General Hospital in Kanada<br />
durchgeführt und ergab, dass Neurostimulation bezüglich Schmerzbehandlung,<br />
Lebensqualität und Funktionsfähigkeit wirksamer ist als herkömmliche<br />
Behandlungsformen wie Schmerzmittel, pharmakologische Nervenblo -<br />
ckade, Steroidinjektionen, Physiotherapie und chiropraktische Behandlung. 69
70<br />
Die im November in Pain publizierte Studie ergab, dass beinahe die Hälfte<br />
jener Kranken, die begleitend zu herkömmlichen Therapien auch mit<br />
Neurostimulation behandelt worden waren, nach sechs Monaten eine um<br />
mindestens 50% stärkere Besserung ihrer Beinschmerzen zeigte als jene<br />
Personen, die nur konventionell behandelt worden waren 4 . Alle Kranken<br />
hatten mindestens eine Rückenoperation wegen Diskushernie hinter sich,<br />
litten aber während mindestens sechs Monaten nach der Operation<br />
weiterhin an mässigen bis starken Schmerzen in einem oder beiden<br />
Beinen sowie im Rücken.<br />
Da sich behindernde neuropathische Schmerzen schwer behandeln<br />
lassen, empfehlen die Forschenden, Neurostimulation auf die Liste von<br />
Routinebehandlungen zu setzen, die Kranken mit chronischen Rückenschmerzen<br />
angeboten werden.<br />
Forschende an der Westküste – vom Coast Pain Management in Kali -<br />
fornien – berichteten in der Juli-Ausgabe von Neuromodulation, eine<br />
bestimmte Art der Neurostimulation, die so genannte periphere Nervenfeldstimulation<br />
(peripheral nerve field stimulation; PNFS) biete Personen<br />
mit chronischen Kreuzschmerzen eine sichere und wirksame Alternative 5 .<br />
Die medizinische Forschungsgruppe prüfte die Wirksamkeit dieser<br />
Behandlung an sechs Personen mit chronischen Kreuzschmerzen, bei<br />
denen herkömmliche Therapien erfolglos gewesen waren. Anders als die<br />
Stimulation des Rückenmarks oder die direkte Stimulation peripherer Nerven<br />
erfolgt die periphere Nervenfeldstimulation über Elektroden, die<br />
durch die Haut zum schmerzenden Bereich führen und die Region der<br />
betroffenen Nerven stimulieren. Bei allen sechs Personen ermöglichte<br />
dieses Verfahren eine Reduktion der Schmerzmittel, eine Zunahme der<br />
Aktivität und damit verbunden eine höhere Lebensqualität.<br />
Die Forschenden betonen, die periphere Nervenfeldstimulation weise<br />
gegenüber anderen Arten der Neurostimulation klare Vorteile auf, unter<br />
anderem weniger Komplikationen und eine geringere Morbidität; die<br />
Behandlung sei als Ergänzung bestehender Therapien viel versprechend<br />
und verdiene eine weitere Abklärung.
Psychiatrische Erkrankungen,<br />
Verhaltensstörungen<br />
und Suchtkrankheiten<br />
Depression 72<br />
Bipolare affektive Störung 76<br />
Zwangsstörung 77<br />
Schizophrenie 77<br />
Alkoholismus 78<br />
Künftige Ausrichtung von Studien und Behandlung 79<br />
71
72<br />
Im Jahr 2007 konzentrierte sich die psychiatrische Forschung darauf, die<br />
Ursachen gewisser Störungen besser zu verstehen und wirksame Behandlungen<br />
zu finden. Viele Forschende hielten an der grundlegenden Bedeutung<br />
der Genetik für psychiatrische Erkrankungen fest und begannen auch<br />
gezielter zu untersuchen, wie sich Gene auf die Bewältigung und Behandlung<br />
auswirken. Ausserdem richteten sich neurobiologische Studien auf<br />
einen weiteren Bereich: um den Einfluss unterbrochener oder fehlgeleiteter<br />
Signale auf den psychischen Zustand zu erkennen, untersuchten sie<br />
nicht mehr bloss einzelne Regionen sondern ganze Nervenschaltkreise<br />
oder Verbindungen zwischen verschiedenen Hirnbereichen.<br />
Neuere Befunde der Depressionsforschung liessen die der Krankheit<br />
zugrunde liegenden Veränderungen in neuralen Schaltkreisen besser<br />
verstehen und verwiesen auf potentielle nicht medikamentöse Behandlungen.<br />
Die Erforschung der manisch-depressiven Erkrankung führte zu<br />
einem wahrscheinlichen genetischen Indikator sowie zum ersten Mausmodell,<br />
also zu Ausgangspunkten für weitere Studien. Schliesslich ergaben<br />
sich aus Studien über Schizophrenie und Alkoholismus neue potentielle<br />
medikamentöse Behandlungen.<br />
Depression<br />
Der Hippokampus ist völlig mit dem für menschliche Emotion verantwortlichen<br />
System, dem limbischen System, verbunden und wurde lange mit<br />
Gedächtnis und räumlicher Vorstellung in Zusammenhang gebracht.<br />
Nachdem sich gezeigt hatte, dass der Hippokampus in Hirnregionen projiziert,<br />
die mit Depression zusammenhängen, und dass die durch Antidepressiva<br />
angeregte Neurogenese im Hippokampus in Beziehung steht<br />
zum therapeutischen Erfolg der Pharmaka, wurde diese Region auch für<br />
die Depressionsforschung interessant.<br />
Laut einem am 10. August in Science erschienenen Bericht identifizierten<br />
Karl Deisseroth und Mitarbeitende aus verschiedenen Fachgebieten an<br />
der Stanford University einen neurophysiologischen Schaltkreis, der den<br />
Hippokampus einschliesslich des Gyrus dentatus mit Depression in Verbindung<br />
bringt 1 . Dieser Schaltkreis könnte für zukünftige Interventionen<br />
von Interesse sein.<br />
Das Team setzte eine Gruppe von Ratten Stresssituationen aus, z. B.<br />
Schlafentzug, unangenehme Lichtbedingungen und laute Geräusche, und
Der Forscher Karl Deisseroth<br />
und Mitarbeitende an<br />
der Stanford University<br />
zeigten mithilfe von<br />
Hochgeschwindigkeits-<br />
Bildgebung, der so<br />
genannten Bildgebung mit<br />
spannungsempfindlichen<br />
Farbstoffen, bei Ratten<br />
einen Zusammenhang<br />
zwischen einem fehlerhaften<br />
Schaltkreis im Hippokampus<br />
und Depression.<br />
liess eine Kontrollgruppe in einer relativ stressfreien Umgebung leben.<br />
Einige der gestressten Ratten erhielten ausserdem Antidepressiva.<br />
Nach einigen Wochen wurden beide Gruppen in Wasser getaucht. Die<br />
gestressten Ratten, die keine Antidepressiva erhalten hatten, schwammen<br />
weniger kräftig als jene, die entweder nicht gestresst oder aber medikamentös<br />
behandelt worden waren – die Forschenden werten das als Ausdruck<br />
von Hoffnungslosigkeit.<br />
Anschliessend wurde mittels einer Bildgebung mit Hochgeschwindigkeits-Messtechniken,<br />
der so genannten Bildgebung mit spannungsempfindlichen<br />
Farbstoffen (voltage-sensitive dye imaging), die elektrische<br />
Aktivität im Bereich des Hippokampus – insbesonders ihre Projektionen<br />
in den Gyrus dentatus – registriert. Es zeigte sich, dass die Signale sowohl<br />
bei den nicht gestressten als auch bei den medikamentös behandelten<br />
Ratten erfolgreich im Schaltkreis weitergeleitet wurden; bei den gestressten<br />
wurden sie jedoch unterbrochen, so dass der Schaltkreis schliesslich<br />
zugrunde ging.<br />
Dieser Befund lässt darauf schliessen, dass Depression wohl nicht auf<br />
einer einzigen Ursache beruht, dass aber ein einzelnes Erlebnis, etwa<br />
ein Todesfall in der Familie oder eine stressige Arbeitssituation eine<br />
Störung im Schaltkreis bewirken kann, welche die bei Depression vor -<br />
herrschenden Symptome zur Folge hat. Die Autoren empfehlen den<br />
Schaltkreis als einen aussichtsreichen Ort für künftige therapeutische<br />
Inter ventionen. 73<br />
Psychiatrische Erkrankungen, Verhaltensstörungen und Suchtkrankheiten
74<br />
Pre-op MRI<br />
Zielstruktur der Elektrode:<br />
Cg25 weisse Substanz<br />
Post-op MRI<br />
Elektroden<br />
Kontakte<br />
Bestätigung der<br />
Elektrodenplatzierung<br />
Pre-op PET<br />
Depression:<br />
Hyperaktives Cg25<br />
6 Monate DBS PET<br />
Erholung durch DBS:<br />
Cg25 Suppression<br />
Frühere Bildgebungsstudien zeigten einen Zusammenhang zwischen erhöhter Aktivität<br />
im Areal Cg25, einem Teil des subgenualen Cingulum, und schwerer Depression.<br />
Arbeiten im Jahr 2007 lassen vermuten, dass tiefe Hirnstimulation im Areal Cg25 antidepressiv<br />
wirkt. Diese Bilder zeigen eine Abnahme des Blutflusses zum Areal Cg25<br />
nach tiefer Hirnstimulation, die über eine implantierte Elektrode erfolgte.<br />
Auch andere neurale Schaltkreise im limbischen System wurden mit<br />
Depression in Verbindung gebracht. Diese Schaltkreise umfassen häufig<br />
Hirnregionen wie den präfrontalen Kortex, die Amygdala und das subgenuale<br />
Cingulum – Regionen also, die mit der Verarbeitung von Emotionen,<br />
mit der Herstellung von Neurotransmittern, die mit traurigen Gemütslagen<br />
in Zusammenhang stehen und auch mit dem Ansprechen auf Antidepressiva<br />
verbunden sind.<br />
In einer Übersichtsarbeit in Nature Neuroscience vom September stellen<br />
Kerry J. Ressler und Helen S. Mayberg vom Emory University’s Department
of Psychiatry and Behavioral Sciences Fortschritte fest bezüglich der<br />
Identi fizierung und der Einsicht in Wirkmechanismen von neuralen Schaltkreisen,<br />
die mit der Depression in Verbindung stehen; Fortschritte gebe<br />
es auch im Hinblick auf die Lokalisierung bestimmter Bereiche innerhalb<br />
dieser Schaltkreise, deren Dysregulation mit Verhaltensauffälligkeiten in<br />
Zusammenhang steht, was die Möglichkeit viel versprechender nicht<br />
medikamentöser Therapien eröffne 2 . Für schwer depressive Personen, die<br />
auf die heute verfügbaren Antidepressiva nicht ansprechen, sind<br />
wirksame Alternativen äusserst wichtig.<br />
Unter diesen nicht medikamentösen Ansätzen ist die tiefe Hirnstimu -<br />
lation (vgl. auch „Bewegungsstörungen“, S. 33 und „Neuroethik“, S. 49)<br />
besonders hervorzuheben. Klinische Versuche mit tiefer Hirnstimulation<br />
zur Behandlung schwerer Depressionen basierten auf Maybergs ersten<br />
Bildgebungsstudien mittels Positronen-Emissions-Tomographie, die das<br />
subgenuale Cingulum (Cg25) als eine mit schwerer Depression ver -<br />
bundene Region identifiziert hatten. Tiefe Hirnstimulation verändert in<br />
dieser Region mittels Hochfrequenzstimulation über die implantierten<br />
Elektroden die Kommunikation innerhalb von Hirnschaltkreisen und<br />
zwischen ihnen.<br />
Die Behandlung wirkte antidepressiv, führte zu einer deutlichen Reduktion<br />
des Blutflusses zum Areal Cg25 und zu Veränderungen in mehren<br />
Hirnregionen, die mit Stimmungsregulation und mit dem Ansprechen auf<br />
eine Behandlung in Verbindung gebracht werden. Zurzeit sollen weitere<br />
klinische Studien an einer grösseren Zahl von Kranken die Sicherheit und<br />
Wirksamkeit der Behandlung einwandfrei feststellen, die Wirkmechanismen<br />
von Hirnschaltkreisen in dieser Region bei Depressionen klären und<br />
aufzeigen, auf welche Weise tiefe Hirnstimulation diesen Schaltkreis<br />
erfolgreich beeinflusst.<br />
Psychiatrische Erkrankungen, Verhaltensstörungen und Suchtkrankheiten<br />
Weitere mögliche Alternativen zu Antidepressiva sind unter anderem<br />
die Vagus-Nerv-Stimulation, die Elektrokrampftherapie und die repetitive<br />
transkranielle Magnetstimulation. Während Elektrokrampftherapie lange<br />
Zeit zur Behandlung schwerer Depressionen eingesetzt wurde und in<br />
den letzten Jahren wieder an Akzeptanz gewonnen hat, werden die<br />
tiefe Hirnstimulation, die Vagus-Nerv-Stimulation und die transkranielle<br />
Magnetstimulation zurzeit auf ihre Fähigkeit geprüft, mit Depression und<br />
Emotionsregulation verbundene Hirnschaltkreise zu unterbrechen und<br />
zu verändern. 75
76<br />
Indem man bildgebende Verfahren, etwa Positronen-Emissions-Tomo -<br />
graphie und funktionelle Magnetresonanztomographie, vor und nach der<br />
Behandlung einsetzt, lassen sich Veränderungen der regionalen Aktivierung<br />
des Gehirns beobachten, die Veränderungen in den beteiligten<br />
Schaltkreisen anzeigen. Wenn wir die zugrunde liegenden Schaltkreise<br />
besser verstehen, könnten mit diesen Therapien möglicherweise auch andere<br />
psychiatrische Krankheiten, etwa die Zwangsstörung, behandelt werden.<br />
Obwohl tiefe Hirnstimulation mittlerweile bei Personen, welche die medikamentöse<br />
Behandlung mit L-DOPA nicht länger ertragen, als Behandlung<br />
der Parkinson-Krankheit anerkannt ist und auch als Behandlung von<br />
schweren Depressionen erste Erfolge zeigt, empfehlen Ressler und<br />
Mayberg weitere Forschungsarbeiten, um einerseits mehr über die Langzeitwirkungen<br />
zu erfahren und andererseits optimale Behandlungsbedingungen<br />
festzulegen.<br />
Bipolare affektive Störung<br />
Frühere Studien liessen darauf schliessen, dass die gestörte Regulation zirkadianer<br />
Rhythmen der inneren Uhr des Körpers, entscheidend zur bipolaren<br />
affektiven Störung beiträgt, einer psychiatrischen Erkrankung, die<br />
manchmal auch manisch-depressiv genannt wird. In einer Studie, die in<br />
Proceedings of the National Academy of Sciences USA veröffentlicht<br />
wurde, schufen Colleen McClung und Mitarbeitende das erste mutierte<br />
Mausmodell der bipolaren Störung: sie induzierten Mutationen jener Proteine,<br />
welche die zirkadianen Rhythmen des Tieres regulieren und schalteten<br />
dadurch das so genannte Clock-Gen (circadian locomotor output<br />
cycles kaput) aus 3 .<br />
Man vermutet, dass Clock ein Protein produziert, das für die Regulation<br />
der komplizierten Rückkoppelungsschleife, welche die zirkadianen<br />
Rhythmen im Gehirn steuert, gebraucht wird. McClungs mutierte Clockfreie<br />
Mäuse zeigten maniforme Verhaltensweisen, die den bipolaren<br />
Symptomen bei Menschen glichen. Zu diesen Symptomen gehörten<br />
Hyperaktivität und verkürzte Schlafdauer, sowie ein gesteigertes Ansprechen<br />
auf neue Reize und Stimulanzien wie Kokain.<br />
Bei der Clock-mutierten Maus handelt es sich um das erste Tiermodell der<br />
Manie; es eröffnet die Möglichkeit, die neuronale und genetische Regu -<br />
lation zirkadianer Rhythmen besser zu verstehen und nachzuvollziehen,<br />
wie eine Dysregulation zu bipolaren Symptomen führen kann. Ausserdem
weist das Modell den Forschenden eine neue Richtung zur Entwicklung<br />
neuer und besserer Behandlungsmöglichkeiten für manisch-depressive<br />
Patienten und Patientinnen.<br />
Zwangsstörung<br />
In den letzten Jahren stand bei der Erforschung der Zwangsstörung<br />
(obsessive-compulsive disorder; OCD) stets das Striatum, das Input-<br />
Zentrum des Basalgangliensystems, im Mittelpunkt. Dieses System wird<br />
mit motorischer Kontrolle, Lernen und Belohnungsverarbeitung in Verbindung<br />
gebracht.<br />
Guoping Feng und Mitarbeitende überprüften diese Hypothese. In einer<br />
Arbeit, die in Nature veröffentlicht wurde, brauchte Fengs Team Tech -<br />
niken des Gen-Knockout, um bei Mäusen das Gen Sapap3 auszu -<br />
schalten, das für die erfolgreiche synaptische Kommunikation jener<br />
Neuronen im Gehirn erforderlich ist, die den Neurotransmitter Glutamat<br />
verwenden 4 .<br />
Dieser Befund vermittelt neue Erkenntnisse zu den neurobiologischen<br />
Ursachen, die der Zwangsstörung zugrunde liegen, und eröffnet Wege<br />
für künftige Behandlungen.<br />
Die bezüglich Sapap3 gentechnisch veränderten Mäuse wiesen verschiedene<br />
OCD ähnliche Symptome auf; dazu gehörten verstärkte<br />
Ängstlichkeit und übermässiges Putzverhalten bis hin zum Verlust des<br />
Fells. Wenn man die Mäuse jedoch mit Fluoxetin (Prozac) behandelte,<br />
einem Medikament, das häufig zur Behandlung der OCD eingesetzt<br />
wird, oder wenn das Sapap3-Gen wieder direkt ins Striatum der mutierten<br />
Mäuse eingefügt wurde, klangen die Symptome ab.<br />
Dieser Befund vermittelt neue Erkenntnisse zu den neurobiologischen<br />
Ursachen, die der Zwangsstörung zugrunde liegen, und eröffnet Wege<br />
für künftige Behandlungen. Während sich bisherige Studien und<br />
Behandlungen auf den Neurotransmitter Serotonin konzentriert hatten,<br />
könnte dieser Befund, der das Glutamat einbezieht, zur Entwicklung<br />
medikamentöser Therapien Anlass geben, die auf die glutamaterge<br />
neuro nale Erregungsübertragung ausgerichtet ist.<br />
Schizophrenie<br />
In den Jahren 2005 und 2006 zeigte eine Reihe unabhängiger Studien,<br />
dass atypische Neuroleptika, also solche der zweiten Generation, weniger 77<br />
Psychiatrische Erkrankungen, Verhaltensstörungen und Suchtkrankheiten
78<br />
wirksam sind als ältere Medikamente, die oft mit mehr Nebenwirkungen<br />
einher gehen. In einer von Jeffrey Lieberman geleiteten Studie, die 2005<br />
im New England Journal of Medicine publiziert wurde, gab es eine Ausnahme:<br />
Olanzapin, eine atypische Substanz, welche die Kranken seltener<br />
absetzten als entsprechende andere Pharmaka 5 . Allerdings führte sie zu<br />
andauernder Gewichtszunahme und weiteren, den Stoffwechsel betreffenden<br />
Nebenwirkungen. Die Ergebnisse dieser Studien riefen in Psychiatrie<br />
und Forschung verbreitet Besorgnis hinsichtlich der Behandlungs -<br />
möglichkeiten von Schizophreniekranken hervor.<br />
Unter der Leitung von Sandeep Patil von den Lilly Research Laboratories<br />
testete eine andere Forschungsgruppe den neuen Wirkstoff LY2140023,<br />
der den Neurotransmitter Glutamat im Gehirn herabsetzt. In Nature<br />
Medicine berichteten die Forschenden über eine vierwöchige Studie an<br />
200 Schizophreniekranken, in der sie diese neue Substanz mit Olanzapin<br />
und Placebo verglichen 6 .<br />
Mehr als 25% der Kranken sprachen auf die Behandlung mit LY2140023<br />
an, ohne dass negative Nebenwirkungen aufgetreten wären. Die Ergebnisse<br />
lassen hoffen, dass Medikamente, die dazu beitragen, dass sich die<br />
gestörten glutamatergen Verbindungen im Gehirn normalisieren, künftig<br />
eine sichere und wirksame Behandlung für Schizophreniekranke sein<br />
könnten.<br />
Alkoholismus<br />
In der Behandlung des Alkoholismus wurden Medikamente mit unterschiedlichem<br />
Erfolg eingesetzt. Eine Studie von Lara Ray und Kent<br />
Hutchison, die im September in den Archives of General Psychiatry<br />
erschien, lässt darauf schliessen, dass der Opiatrezeptor-Antagonist<br />
Naltrexon, eine jener Substanzen, die bei Alkoholismus verschrieben<br />
wird, bei Personen mit einem bestimmten Genotyp wirksamer ist als<br />
bei anderen 7 .<br />
Ray und Hutchison stellten fest, dass Alkoholabhängige mit einem gewissen<br />
Typ des Gens OPRM1 nicht nur von einem stärkeren Rauscherlebnis<br />
nach dem Trinken berichteten, sondern nach der Einnahme von Naltrexon<br />
auch weniger auf Alkohol ansprachen. Dieser Befund macht den Weg<br />
für weitere Studien frei und zwar sowohl im Hinblick auf genetische<br />
Merkmale für Alkoholismus als auch auf allfällige Wechselwirkungen<br />
zwischen diesen Merkmalen und einer Behandlung.
Künftige Ausrichtung von Studien und Behandlung<br />
Als im Jahr 2005 das Internationale HapMap-Projekt – ein Katalog häufiger<br />
menschlicher Genvarianten – fertig gestellt wurde, eröffnete dies der<br />
Psychiatrieforschung die Gelegenheit, zur Bestimmung der genetischen<br />
Faktoren, die komplexen psychiatrischen Erkrankungen zugrunde liegen,<br />
das gesamte Genom zu untersuchen. „Genomweite Assoziationsstudien“<br />
zu Herzkrankheiten, Diabetes und gewissen Arten von Krebs haben völlig<br />
neue Wege der Entwicklung und Behandlung von Krankheiten aufgezeigt;<br />
nun besteht Hoffnung, dass vergleichbare Studien zu Schizophrenie, bipolaren<br />
Störungen und Zwangsstörungen ähnlich erfolgreich sein werden.<br />
Thomas R. Insel, Direktor des National Institute of Mental Health (NIMH),<br />
und Thomas Lehner von der Division of Neuroscience and Basic Behavioral<br />
Science an diesem Institut, führten im Mai in einem Leitartikel in Biological<br />
Psychiatry aus, das Potential für genomweite Assoziation sei zwar gross,<br />
doch müssten Forschende die für erfolgreiche Analysen notwendigen<br />
Bedingungen beachten 8 . Grosse Stichproben mit klar definierten Merkmalen<br />
sind ein Muss, können aber für kleinere Forschungslaboratorien mit<br />
kleinem Patientengut ein Problem darstellen. Ausserdem kann es bei<br />
jenen Störungen, deren Diagnosekriterien weit gefasst oder umstritten<br />
sind, schwer sein, die beteiligten genetischen Faktoren einzugrenzen.<br />
Um mit diesen Problemen fertig zu werden, raten die Autoren zur gemeinsamen<br />
Nutzung von Genom-Datenbanken. Eine solche Datenbank ist die<br />
Bipolar Disorder Phenome Database des NIMH. Sie wurde von Forschenden<br />
dieses Instituts zusammengestellt und umfasst validierte Variablen<br />
von über 5000 Personen mit bipolarer Störung 9 .<br />
Die Datenbank steht Laboratorien und Forschungszentren für die Bestimmung<br />
von genetischen Merkmalen und Wirkungen zur Verfügung. Der<br />
Aufbau von weiteren solchen allgemein zugänglichen Datenbanken<br />
würde ein differenzierteres Verständnis der Bedeutung von Genen bei<br />
psychiatrischen Erkrankungen ermöglichen und es könnten auch neue<br />
und wirksamere Behandlungen gefunden werden.<br />
Psychiatrische Erkrankungen, Verhaltensstörungen und Suchtkrankheiten<br />
79
Störungen der Sinnes-<br />
und Körperfunktion<br />
Die Fieberreaktion 82<br />
Der allgemeinmenschliche Sinn für Musik 84<br />
Die komplizierte Wahrnehmung der<br />
gesprochenen Sprache 85<br />
81
82<br />
Im Jahr 2007 befassten sich wissenschaftliche Untersuchungen weiterhin<br />
mit der Frage, wie das Gehirn wahrgenommene Stimulationen verarbeitet<br />
und beantwortet. Forschende an der Harvard University erforschten die<br />
Gründe für unser Gefühl, krank zu sein, und machten erste Schritte, um<br />
diese Empfindung bei Personen mit gewissen Krankheiten zu mildern. Forschende<br />
an den Universitäten Duke und Johns Hopkins trieben die komplizierte<br />
Erforschung der auditiven Wahrnehmung mit Untersuchungen<br />
über Musik bzw. Sprache voran.<br />
Die Fieberreaktion<br />
Eine Person, die den Eindruck hat, krank zu werden leidet üblicherweise<br />
unter einer Reihe bekannter Symptome: Schmerzen, Schlappheit, Appetitmangel<br />
sowie – im Zusammenhang mit Fieber – Schüttelfrost und<br />
Hitzewallungen. Der Körper reagiert auf verschiedene Situationen, die<br />
er als bedrohlich wahrnimmt, mit Fieber. Meistens wird das Fieber durch<br />
bakterielle Infektionen hervorgerufen, doch können auch einige Virus -<br />
infektionen und nichtinfektiöse Krankheiten, die das Immunsystem mit<br />
einbeziehen, z. B. rheumatoide Arthritis und Crohn-Krankheit, den Körper<br />
dazu veranlassen, seine Temperatur auf über 37 o Celsius zu erhöhen.<br />
Fieber haben ist zwar eine unangenehme Erfahrung, doch unterstützt es<br />
den Kampf des Körpers gegen eine Infektion. Weisse Blutzellen, die zum<br />
Immunsystem des Körpers gehören, werden bei erhöhter Körpertempe -<br />
ratur aktiver und verstärken ihre Abwehr gegen die eindringenden Organismen<br />
1. Ausserdem überleben und gedeihen Erreger von Infektionen in<br />
einem heisser werdenden System nur mit Mühe. Bis vor kurzem konnte<br />
man die zu Fieber führenden Mechanismen jedoch nicht vollumfänglich<br />
wissenschaftlich erklären.<br />
Man wusste, dass Fieber auftritt, wenn Prostaglandin E2 (PGE2) – ein<br />
Hormon, das von Blutgefässen am Rand des Gehirns produziert wird –<br />
ins Blut freigesetzt wird, ins Gehirn gelangt und an EP3-Prostaglandin-<br />
Rezeptoren (EP3R) bindet. Diese Rezeptoren gibt es in einem Teil des<br />
Hypothalamus, dem so genannten medianen Nucleus praeopticus, sowie<br />
in anderen Bereichen des Zentralnervensystems.<br />
Clifford B. Saper und sein Forschungsteam versuchten folgende Frage<br />
in 2007 zu beantworten: Welche Rezeptoren lösen als Reaktion auf das<br />
Hormon PGE2 im Körper Fieber aus?
Forschende konnten bei<br />
Mäusen die Entwicklung<br />
von Fieber verhindern,<br />
indem sie die EP3-Prosta -<br />
glandin-Rezeptoren (weiss<br />
gefärbt) über dem dritten<br />
Ventrikel, einem normalen<br />
Hohlraum des Gehirns,<br />
ausschalteten. Die<br />
dunklen Zellen wurden<br />
von der Injektion eines<br />
Gens beeinflusst, das<br />
EP3-Rezeptoren blockiert.<br />
Das eingefügte Bild zeigt<br />
eine stärkere Vergrösserung<br />
dieses Vorgangs.<br />
Um die Rezeptor Reaktion zu untersuchen, benutzte Sapers Team virale<br />
Vektoren, so genannte adeno-assoziierte Viren; dabei handelt es sich um<br />
gutartige Viren, die so modifiziert werden, dass sie bestimmtes gene -<br />
tisches Material übertragen. In diesem Fall wurde durch die adeno-asso -<br />
ziierten Viren selektiv das Gen EP3 entfernt und dadurch verhindert, dass<br />
dort überhaupt Hormone PGE2 binden konnten. Das Team schaltete die<br />
Rezeptoren jeweils in einem klar umschriebenen, winzigen Hirnbereich<br />
der Mäuse aus und untersuchte dann deren Fieberreaktion.<br />
Wurden die EP3R-Rezeptoren im medianen Nucleus praeopticus ausgeschaltet<br />
– wurden also die Gene EP3 dort eliminiert – reagierten die Mäuse<br />
auf eine Infektion nicht mit Fieber 2 .<br />
Sapers Team vermutet, dass das Hormon PGE2 und seine Rezeptoren<br />
EP3R für die Symptome verantwortlich sind, die wir normalerweise mit<br />
dem Gefühl von krank sein verbinden; Substanzen wie Aspirin und<br />
Ibuprofen, welche die Synthese von Prostaglandinen blockieren, wirken<br />
nämlich sowohl gegen Fieber als auch gegen Schmerzen. Aus zwei<br />
Gründen entschlossen sie sich, zuerst die Fieberreaktion zu untersuchen.<br />
Erstens lässt sich die Körpertemperatur relativ einfach messen (leichter<br />
als Schlappheit oder Schmerzen). Zweitens war Fieber schon besser<br />
erforscht als die anderen Reaktionen auf Infektionen. Im Jahr 2008 werden<br />
Saper und seine Mitarbeitenden wiederum an Mäusen den Einfluss 83<br />
Störungen der Sinnes- und Körperfunktion
84<br />
der Hormone PGE2 und ihrer Rezeptoren EP3R auf die Schmerzreaktion<br />
im Krankheitsfall untersuchen.<br />
Wenn sich zeigen sollte, dass der kranke Organismus über genau dieselben<br />
Mechanismen Schmerz empfindet, die auch Fieber produzieren,<br />
könnte man Schmerz durch die Beeinflussung des Hormons PGE2 und<br />
seiner Rezeptoren in den Griff bekommen. Ein solcher Fortschritt brächte<br />
Klinikern für die Behandlung der Leiden von chronisch Kranken und von<br />
Personen im Endstadium – für Situationen also, in denen die Schmerz -<br />
reaktion nicht mehr eine vorbeugende und adaptive Funktion hat – eine<br />
Alternative zu Betäubungsmitteln und anderen Schmerzmitteln. Im Idealfall<br />
könnten Ärzte und Ärztinnen die Schmerzreaktion bei diesen Kranken<br />
einfach „herunterfahren“ und dadurch ihre Lebensqualität verbessern.<br />
Der allgemeinmenschliche Sinn für Musik<br />
Das menschliche Ohr kann zwar eine grosse Vielfalt von Klängen hören,<br />
doch hat die Musikwissenschaft verschiedene Kulturen untersucht und<br />
dabei festgestellt, dass alle etwa die gleiche kleine Untermenge von<br />
Klängen, die so genannten Tonleitern, zum Musizieren verwenden. Dale<br />
Purves und sein Forschungsteam am Duke fragten sich, warum dies so sei,<br />
und stellten die Vermutung auf, es könnte etwas mit den Tönen der<br />
menschlichen Sprache zu tun haben. Im Jahr 2007 machten sich diese<br />
Forschenden daran, den Zusammenhang zwischen menschlicher Sprache<br />
und jenen musikalischen Klängen, die alle Menschen als angenehm<br />
empfinden, zu entschlüsseln.<br />
Anfänglich meinte das Team, in der Musik würden jene Intervalle bevorzugt,<br />
die das Auf und Ab der Tonlage von sprechenden Menschen<br />
nachahmen. Sie erwarteten, allgemeine Stimmmodulationen anhand der<br />
allgemein gebräuchlichen Tonleitern entschlüsseln zu können, doch handelte<br />
es sich nicht um dieselben Intervalle. Daraufhin befasste sich das<br />
Team mit den so genannten Formanten.<br />
Wenn ein Instrument einen Ton erzeugt, kann dieser als Spektrum dargestellt<br />
werden. Formanten sind die wichtigsten Frequenzkomponenten, die<br />
dargestellt werden, wenn ein Instrument – dazu gehört auch der menschliche<br />
Kehlkopf – einen Ton hervorbringt. Wenn jemand einen Vokallaut<br />
ausspricht, sind jene stärksten Tonlagen oder Formanten, dafür verantwortlich,<br />
dass man dieses Klangbild von anderen Vokallauten unterscheiden<br />
kann.
Purves und seine Mitarbeitenden werteten die durch Musik und gesprochene<br />
Vokale gebildeten Spektren statistisch aus (die Spektren wurden<br />
visuell dargestellt) und stellten fest, dass es zu 68% der Zeit dieselben<br />
Intervalle waren, die Menschen unabhängig von Zeit und Ort in der Musik<br />
als angenehm empfinden, die auch beim Sprechen von Vokallauten betont<br />
wurden 3 . Die betonten harmonischen Schwingungen der menschlichen<br />
Sprache – jene Frequenzen, die die Harmonie und Form dessen bilden<br />
was wir in der Sprache als Vokallaut erkennen – stimmen häufig mit den<br />
chromatischen Intervallen unserer Musik überein. Mit anderen Worten,<br />
die Klangbilder der Musik sind tatsächlich in unsere Sprache eingebaut.<br />
Die Selektionsmechanismen der Evolution lassen darauf schliessen, dass<br />
das ästhetische Empfinden von Menschen einen praktischen Ursprung<br />
hat. Die oben angeführte Entdeckung lässt vermuten, dass das Gehirn<br />
jene Harmonien als angenehm empfindet, die Aspekten unserer Umwelt<br />
entsprechen, welche wichtige Informationen enthalten, bzw. einmal enthielten.<br />
Darauf zu achten, was eine andere Person sagt, konnte buchstäblich<br />
über Leben und Tod entscheiden (und kann es auch heute noch);<br />
Menschen, die Sprache als besonders angenehm empfanden, hörten hin,<br />
nutzten ihre lebensrettenden Vorteile und vermehrten sich. Die Nachkommen<br />
dieser frühen Menschen benutzten dann dieselben reizvollen<br />
Intervalle, um Musik zu erzeugen – soweit diese Theorie.<br />
Diese Art der Musikforschung weckte das Interesse von Purves und so<br />
plant er, als nächstes den Zusammenhang von Musik und Emotionen zu<br />
untersuchen. Menschen interpretieren Musik, die in einer Dur-Tonart<br />
gespielt wird, als hell und hoffnungsvoll, während eine Melodie in einer<br />
Moll-Tonart melancholisch zu sein scheint. Purves vermutet, dass sich der<br />
Kehlkopf als Reaktion auf Vorgänge im Nervensystem so verändert, dass<br />
beim Sprechen Veränderungen der Formanten auftreten, die diesen Durund<br />
Moll-Tonarten entsprechen. Gemäss dieser Theorie veranlasst das<br />
Nervensystem einer glücklichen Person den Kehlkopf dazu, Formanten in<br />
Dur zu produzieren; das Nervensystem einer traurigen Person bringt Formanten<br />
in Moll hervor.<br />
Die komplizierte Wahrnehmung der gesprochenen Sprache<br />
In den 1970er Jahren erkannten Murray Sachs und Eric D. Young von der<br />
Johns Hopkins University den Mechanismus, über den das Gehirn<br />
Sprache kodiert und folglich versteht. Sie entdeckten, dass Haarzellen im<br />
Ohr als Reaktion auf einen Laut vibrieren und dass diese Vibration in ein<br />
Störungen der Sinnes- und Körperfunktion<br />
85
86<br />
Die Intervalle zwischen Noten der<br />
chromatischen Tonleiter (den markierten<br />
Klaviertasten) entsprechen Schlüsseltönen<br />
der menschlichen Sprache (den<br />
Gipfeln der weissen Linie). Diese Spitzen<br />
ermöglichen es uns, Vokallaute zu<br />
erkennen und machen möglicherweise<br />
verständlich, weshalb Menschen<br />
gewisse Töne als musikalisch empfinden.<br />
elektrisches Signal – einen Nervenimpuls – übersetzt und dann vom Hörnerv<br />
in andere Hirnbereiche geleitet wird.<br />
In den 1980er Jahren konnten sie darüber Aufschluss geben, wie das<br />
Gehirn die vielfältigen über die Ohren eingehenden Informationen<br />
abbildet. Jede der 30000 Fasern des Hörnervs ist für eine ganz kleine<br />
Zahl von spezifischen Frequenzen zuständig. Die entscheidenden Frequenzen,<br />
also die Formanten – es handelt sich um dieselben Muster, die<br />
das Team von Purves untersucht hat – werden dann in der Hörschnecke,<br />
welche die Frequenzverarbeitung der Fasern des Hörnervs interpretiert,<br />
herausgefiltert.<br />
Xiaoqin Wang, der sich inzwischen dieser Forschungsgruppe angeschlossen<br />
hat, interessiert sich dafür, wie das Gehirn sprachähnliche Stimuli in<br />
der Hörrinde verarbeitet. Anfänglich untersuchte er an Krallenaffen, wie<br />
Tiere entscheiden, welchen auditiven Reizen sie ihre Aufmerksamkeit<br />
schenken. Krallenaffen wurden gewählt, weil sie über ein grosses Repertoire<br />
an Vokalen verfügen; mittels Lauten, die an Vogelgezwitscher erinnern,<br />
geben sie mannigfaltige Informationen zu sozialen und praktischen<br />
Belangen weiter. Auch in Gefangenschaft behalten sie die Kommunikation<br />
über Zwitschern bei. Wang und sein Team spielten aufgezeichnete Affenrufe<br />
vorwärts (wie sie normalerweise gehört werden) und dann rückwärts<br />
ab und stellten fest, dass Affen und Katzen Affenrufe unterschiedlich<br />
verarbeiten. Katzen reagierten auf die Affenrufe unabhängig davon, wie
diese abgespielt wurden, gleich; die Neuronen in den artgleichen Affen<br />
reagierten jedoch stärker auf die vorwärts gespielte, vertraute Version des<br />
Rufes. Es zeigte sich also, dass Tiere die Laute von Artgenossen auf spezifische<br />
Weise verarbeiten; diese Unterschiede wurden im Colliculus inferior,<br />
dem auditorischen Mittelhirn, sichtbar.<br />
Der von Young ausgiebig untersuchte Colliculus inferior bezieht die Zeit<br />
als Faktor für das Sprachverständnis mit ein. Wenn wir etwas Gesprochenem<br />
lauschen, hören wir einzelne Laute, entschlüsseln sie und speichern<br />
sie im Kurzzeitgedächtnis, ausserdem nehmen wir bereits die nächsten<br />
Laute vorweg. Wenn wir mehreren Sprechenden gleichzeitig zuhören,<br />
etwa in einer Gruppendiskussion, wird jeder Redefluss für sich verstanden<br />
und von den anderen unterschieden. Da das Gehirn in Gesprochenem<br />
rasch einen Sinn erkennen kann, ist Sprache für Menschen eine zweck -<br />
mässige Möglichkeit der Informationsübertragung.<br />
Zurzeit erforscht Young, wie das auditorische System neben der jeweils<br />
augenblicklichen Lautverarbeitung auch das Kurzzeitgedächtnis für das<br />
Verständnis von Sprache einsetzt. In einem nächsten Forschungsschritt<br />
will er untersuchen, worauf unsere Fähigkeit beruht zu ahnen, was jemand<br />
als Nächstes sagen wird.<br />
Im Jahr 2008 möchte Sachs ins Labor von Young und Wang zurückkehren<br />
und untersuchen, woran ein Krallenaffe die Rufe eines ganz bestimmten<br />
anderen Affen erkennt, wenn es viele sind, die weit weg – sichtbar und<br />
auch unsichtbar – zwitschern. Diesen Vorgang, von allen Lauten jene einer<br />
einzigen Quelle zu isolieren, nennt man Bildung eines auditorischen<br />
Objekts. Die Forschenden suchen im Colliculus inferior nach Neuronen,<br />
die diese Analyse vornehmen; im Wesentlichen handelt es sich um<br />
dieselbe Analyse, dank welcher Menschen inmitten einer Menge Gesprochenes<br />
verstehen oder bei einer Band oder einem Orchester den Klang<br />
eines einzelnen Instruments heraushören können.<br />
Die Gruppe möchte erforschen, wie Musik erlebt wird. Ebenso wie Purves<br />
interessiert sich auch Sachs für den Einfluss von Tönen auf Emotionen.<br />
Störungen der Sinnes- und Körperfunktion<br />
87
Stammzellen<br />
und Neurogenese<br />
Stammzellen aus Hautgewebe 90<br />
Stammzellen von nicht lebensfähigen Embryos 91<br />
Nicht alle neuralen Stammzellen sind gleich 92<br />
Stammzellen schützen Neuronen bei ALS 93<br />
Leistungsfähige neue Mittel zur Erforschung<br />
von Krankheiten 94<br />
89
90<br />
Die unreifen, vielseitigen Vorläufer des menschlichen Gewebes, die so<br />
genannten Stammzellen, sind, weiterhin viel versprechend für das<br />
Verständnis und die Behandlung von Krankheiten – insbesondere von<br />
degenerativen Erkrankungen des Nervensystems, bei denen bedeutende<br />
Hirnzellpopulationen allmählich zugrunde gehen. Im Jahr 2007 berichteten<br />
Forschende über neue Möglichkeiten, auf ethisch unbedenkliche<br />
Weise serienmässig Stammzellen zu gewinnen und im ganzen Körper,<br />
auch im Gehirn, einzusetzen. Ausserdem zeigten Studien, dass Stamm -<br />
zellen dazu beitragen können, Prozesse der Nervendegeneration zu erforschen,<br />
und dass man durch sie absterbenden Hirnzellen eine Behandlung<br />
zukommen lassen kann.<br />
Stammzellen aus Hautgewebe<br />
Im Jahr 2007 gelang der Stammzellforschung ein gewaltiger Schritt in<br />
Richtung auf ein seit langem angestrebtes Ziel: aus adultem menschlichem<br />
Gewebe gewonnene Zellen allmählich dazu zu bringen, sich wie embryonale<br />
Stammzellen zu verhalten und so die ethischen Hindernisse zu umgehen,<br />
welche die Verwendung von Embryos aufwirft. In der am 20. November<br />
erschienenen Ausgabe von Cell, beschrieben Shinya Yamanaka und<br />
Mitarbeitende von der Kyoto University, Japan, sie hätten vier Gene, die<br />
während der embryonalen Entwicklung aktiv sind, in ein modifiziertes<br />
Virus eingefügt. Anschliessend wurde das Virus in Fibroblasten eingesetzt;<br />
dabei handelte es sich um Hautzellen, die Erwachsenen entnommen<br />
worden waren. Diese Gene bewirkten eine „Umprogrammierung“ der<br />
Hautzellen, so dass diese eine Stammzelllinie produzierten, die sich selbst<br />
erneuern und ebenso viele neue Zellen bilden konnte, wie dies üblicherweise<br />
bei embryonalen Stammzellen der Fall ist 1 . Ein anderes Team unter<br />
der Leitung von James Thompson von der University of Wisconsin, Madison,<br />
verwendete eine etwas andere Kombination von Genen um auf ähnliche<br />
Weise Neugeborenen entnommene Hautzellen umzuprogrammieren.<br />
Ihre Ergebnisse erschienen am 19. November online und am 21. Dezember<br />
in der gedruckten Ausgabe von Science 2 .<br />
Stammzellen, die mit dieser Methode hergestellt wurden, weisen dieselbe<br />
"Pluripotenz“ auf wie embryonale Stammzellen, d. h. sie können sich in<br />
jede gewünschte Art von Gewebe entwickeln. Zwei in der Ausgabe vom<br />
19. Juli in Nature publizierte Studien – die eine wurde von Yamanaka, die<br />
andere von Rudolph Jaenisch vom Whitehead Institute, Boston, und<br />
Mitarbeitenden durchgeführt – hatten mittels demselben Ansatz diese
Pluripotenz für Zelllinien nachgewiesen, die aus Hautzellen von Mäusen<br />
gebildet wurden 3, 4 .<br />
Die unmittelbarste Anwendung dieses Verfahrens wird darin bestehen,<br />
Zelllinien herzustellen, die Gene enthalten, von denen man weiss, dass sie<br />
bestimmte Krankheiten verursachen, etwa erbliche Arten der Alzheimerund<br />
der Parkinson-Krankheit. Anhand dieser Zelllinien kann dann erforscht<br />
werden, auf welche Weise die Genprodukte eine Neurodegeneration<br />
bewirken, und es lassen sich in Frage kommende Therapien überprüfen.<br />
Letztlich erhofft man sich von dieser neuen Stammzelltechnik den Beginn<br />
eines neuen Zeitalters der Medizin, in dem viele Hirnkrankheiten dadurch<br />
behandelt werden können, dass man beschädigte Nervenzellen durch<br />
eine neue Population von Hirnzellen ersetzt; diese stammen von Hautzellen,<br />
die den betreffenden Kranken selbst entnommen wurden. Es gibt<br />
allerdings noch viele Hindernisse. Beispielsweise könnte die Verwendung<br />
modifizierter Viren, welche Gene in Hautzellen bringen, zur Entwicklung<br />
von Tumoren führen. Ausserdem sind die von Hautzellen gewonnenen<br />
Stammzellen und die von Embryos gebildeten nicht identisch, und dieser<br />
Unterschied könnte sich als bedeutend erweisen. Obwohl es noch gilt,<br />
diese potentiellen Schwierigkeiten erfolgreich zu meistern, ist die Möglichkeit<br />
grosse Mengen von Stammzellen zu produzieren, ohne auf<br />
befruchtete menschliche Embryos zurückgreifen zu müssen, ein entscheidender<br />
Fortschritt.<br />
Stammzellen von nicht lebensfähigen Embryos<br />
Das erfolgreiche Klonen des Schafes Dolly im Jahr 1997 mit Hilfe des so<br />
genannten somatischen Zellkern-Transfers weckte die Hoffnung, man<br />
könnte auf dieselbe Weise einen endlosen Vorrat an Stammzellen produzieren<br />
– entweder gesunde Zellen von Kranken oder, zu Forschungs -<br />
zwecken, Zellen mit einer bestimmten genetischen Störung. Die Methode<br />
beruht allerdings darauf, dass das gewünschte genetische Material in eine<br />
Oozyte oder Eizelle eingesetzt wird. Von Menschen eine ausreichende<br />
Zahl von Eizellen zu gewinnen, ist mit technischen und ethischen Problemen<br />
verbunden.<br />
Stammzellen und Neurogenese<br />
Am 7. Juni erschien in Nature eine Studie, die aufzeigt, wie sich viele<br />
dieser Probleme umgehen lassen. Dieter Egli und Mitarbeitende an der<br />
Harvard University arbeiteten mit Mäusen und wiesen nach, dass es<br />
möglich ist, Stammzellmaterial in befruchtete Embryos oder Zygoten einzusetzen<br />
– dies war in früheren Forschungsarbeiten fehlgeschlagen. 91
92<br />
In einer Phase des Experiments verwendeten die Forschenden Zygoten<br />
mit zusätzlichen Chromosomen – diese sind nicht lebensfähig und können<br />
sich daher nicht zu lebenden Nachkommen entwickeln – entfernten die<br />
abnormalen Chromosomen und setzten die DNA jener Stammzellen ein,<br />
die sie vermehren wollten. Einem Bericht der American Society for Reproductive<br />
Medicine/Society for Assisted Reproductive Technology Registry<br />
aus dem Jahr 2000 zufolge sind in Kliniken für In-Vitro-Fertilisations schätzungsweise<br />
3-5% der menschlichen Zygoten Träger solcher Anomalien<br />
und werden üblicherweise entsorgt 5 . Die Studie zeigt erstmals auf, wie<br />
diese unbrauchbaren Zygoten – ihre Zahl geht in die Zehntausende – zu<br />
einem grossen Vorrat an Stammzellen führen könnten.<br />
Da die Chromosomenstörungen der Embryos mit Leben nicht vereinbar<br />
sind, würde dieser Ansatz kein potentielles Leben zerstören. Ausserdem<br />
wäre das genetische Material in den entstandenen Stammzellen nicht das<br />
der ursprünglichen Spender. Die Technik könnte eine ethisch annehmbare<br />
Möglichkeit zur serienmässigen Entwicklung von Stammzellen für die<br />
Erforschung vieler Erbkrankheiten des Menschen darstellen 6 .<br />
Nicht alle neuralen Stammzellen sind gleich<br />
Um die therapeutischen Möglichkeiten von neuralen Stammzellen nutzbar<br />
zu machen muss man jene Faktoren, genau verstehen, die ihre Entwick -<br />
lung steuern. Es wird allgemein angenommen, dass neurale Stammzellen<br />
mit einem einheitlichen Potential ihr Leben beginnen und theoretisch auf<br />
beinahe jeden Entwicklungsweg gebracht werden können.<br />
Diese Annahme gründet jedoch auf Forschungsarbeiten mit Zellkulturen;<br />
über das Verhalten von Stammzellen im Gehirn ist weniger bekannt. Eine<br />
am 20. Juli in Science veröffentlichte Studie zeigt, dass die Entwicklungsmöglichkeiten<br />
einer Stammzelle abhängig von ihrer Lokalisation eingeschränkt<br />
sind 7 .<br />
Arturo Alvarez-Buylla und Mitarbeitende von der University of California<br />
in San Francisco verfolgten bei ihrer Arbeit mit neugeborenen und adulten<br />
Mäusen die Vermehrung einer kleinen Gruppe von Stammzellen. Dabei<br />
wurden ausgewählte Stammzellen dauerhaft mit einem grün fluoreszierendem<br />
Protein markiert. Das Team verfolgte den Verbleib von Stammzellen<br />
aus 15 verschiedenen Orten einer grossen „zellbildenden“ Hirnregion<br />
von adulten Tieren, in der auch nach der Geburt noch Neuronen und<br />
andere Hirnzellen generiert werden.
Zwar brachten alle dieser Orte reife, grün markierte Nervenzellen hervor,<br />
doch unterschied sich die Art der entstandenen Neuronen je nach ihrem<br />
Herkunftsort. Ausserdem erwiesen sich die Stammzellen gegenüber<br />
Veränderungen ihrer Umgebung als erstaunlich widerstandsfähig. Selbst<br />
wenn man sie aus dem Gehirn entfernte und mit den verschiedensten<br />
Wachstumsfaktoren in Zellkulturen züchtete – oder wenn man sie an<br />
unterschiedlichen Orten der zellbildenden Region anderer Tiere implantierte<br />
– stets gingen aus den Stammzellen Neuronen oder andere Hirn -<br />
zellen hervor, und die gebildeten Neuronen waren wiederum für ihren<br />
Herkunftsort spezifisch. Der Befund lässt darauf schliessen, dass Stammzellen<br />
zwar wirklich vielseitig sind, dass aber eine einzelne Stammzelle nur<br />
Neuronenarten hervorbringen kann, die auf einen bestimmten Hirn -<br />
bereich zugeschnitten sind und dass sie nicht leicht eine neue Identität<br />
annimmt, wenn man sie an einen anderen Ort verpflanzt. Diese regionale<br />
Spezifizität könnte den therapeutischen Nutzen einer bestimmten Popu -<br />
lation von Stammzellen einschränken.<br />
Stammzellen schützen Neuronen bei ALS<br />
Üblicherweise werden Stammzellen dafür gepriesen, dass sie einen<br />
gesunden Ersatz für jene Zellen produzieren können, die durch eine degenerative<br />
Erkrankung absterben. Sie können aber auch verwendet werden,<br />
um geschädigte Neuronen mit therapeutischen Substanzen zu versorgen.<br />
Clive Svendsen und Mitarbeitende von der University of Wisconsin, Madison,<br />
manipulierten Stammzellen so, dass diese den Wachstumsfaktor<br />
GDNF (glial-derived neurotrophic factor) freisetzten, eine Substanz, die<br />
Neuronen nährt und schützt. Wie sie in der Ausgabe vom 31. Juli in<br />
PLoS One, der Online-Zeitschrift der Public Library of Science berichteten,<br />
implantierten sie GDNF sezernierende Stammzellen ins Rückenmark<br />
von Ratten mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS, oder Lou-Gehrig-<br />
Syndrom), bei der Motoneuronen geschädigt werden 8 .<br />
Die Transplantate etablierten sich und waren in der Lage, bei Ratten in<br />
einer frühen Krankheitsphase praktisch alle geschädigten Neuronen zu<br />
schützen. Die manipulierten Zellen zeigten eine hohe Affinität zu den<br />
geschädigten Neuronen, bewegten sich direkt in die verletzten Bereiche<br />
und gaben dort GDNF ab.<br />
Stammzellen und Neurogenese<br />
Das Verfahren stellte jedoch die Kommunikation zwischen Motoneuronen<br />
und Muskeln nicht wieder her und es verbesserte auch die Fähigkeit der 93
94<br />
Clive Svendsen und<br />
Mitarbeitende von der<br />
University of Wisconsin,<br />
Madison, haben Stammzellen<br />
hergestellt, die den<br />
Wachstumsfaktor GDNF<br />
(glial-derived neurotrophic<br />
factor) freisetzten. Implantate<br />
solcher Zellen er -<br />
hielten bei Ratten im Früh -<br />
stadium von ALS die<br />
geschädigten Motoneuronen<br />
am Leben.<br />
Ratten nicht, ihre Glieder zu gebrauchen; als Behandlung der ALS würde<br />
sich seine Aufgabe darauf beschränken, die Neuronen am Leben zu erhalten.<br />
Dennoch zeigt dieser Ansatz eine weniger bekannte Verwendung von<br />
Stammzellen auf, die zur Behandlung vieler Krankheiten nützlich sein<br />
könnte. Stammzellen dafür einzusetzen, dass sie an geschädigte Orte im<br />
Gehirn wandern, wird derzeit als gezielte Behandlungsmöglichkeit von<br />
Hirntumoren erforscht.<br />
Leistungsfähige neue Mittel zur Erforschung<br />
von Krankheiten<br />
Zwei Teams verwendeten Stammzellen zur Erforschung der Amyotrophen<br />
Lateralsklerose und fanden einen entscheidenden Hinweis im Zusammenhang<br />
mit dieser geheimnisvollen Krankheit. Mehr als 90% der Fälle treten<br />
vereinzelt auf, d. h. die Krankheit kam in der Familie der Betroffenen nie<br />
vor. Dennoch wurde bei einigen Personen ein mutiertes Gen, welches für<br />
das Enzym Superoxid Dismutase-1 (SOD1) kodiert, als eine Krankheitsursache<br />
identifiziert.<br />
Auf welche Weise das mutierte Gen Motoneuronen schädigt, weiss man<br />
nicht. Unklar ist insbesondere, ob das geschädigte Gen die Funktion<br />
von Motoneuronen direkt beeinflusst oder ob andere Zellen daran<br />
beteiligt sind. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass sogar bei<br />
gesunden Motoneuronen typische Merkmale von ALS auftreten, wenn<br />
man sie zusammen mit nicht neuronalen Zellen züchtet, die Träger dieser<br />
Mutation sind.
Diese neuen Studien, die beide in der Mai-Ausgabe von Nature Neuroscience<br />
publiziert wurden, deuten darauf hin, dass die Astrozyten, sternförmige<br />
Zellen, die im Gehirn viele Schutzfunktionen wahrnehmen, dafür<br />
verantwortlich sind. Forschende unter der Leitung von Serge Przedborski<br />
an der Columbia University arbeiteten sowohl mit Motoneuronen, die<br />
Mäuseembryos direkt entnommen worden waren, als auch mit Neuronen,<br />
die aus embryonalen Stammzellen von Mäusen stammten; in ihrer ersten<br />
Studie stellten sie fest, dass Motoneuronen, welche Träger der menschlichen<br />
SOD-Mutation waren, zwar einige Anomalien erkennen liessen,<br />
aber keine Neurodegeneration 9 .<br />
Dennoch führten Astrozyten mit dieser Mutation zum Tod von Motoneuronen,<br />
und dies geschah über denselben degenerativen Prozess wie im<br />
Falle von ALS. Ausserdem erkannte das Team, dass die Astrozyten eine<br />
schädigende Wirkung entfalten, indem sie eine Substanz freisetzen, die<br />
selektiv für Motoneuronen toxisch ist – dies im Gegensatz zu unschädlichen<br />
Substanzen, die von anderen Arten von Helferzellen, etwa der Glia,<br />
freigesetzt werden.<br />
Die zweite Studie wurde von Kevin Eggan und Mitarbeitenden an der Harvard<br />
University und der Universität Perugia durchgeführt; sie verwendeten<br />
embryonale Stammzellen von Mäusen, um dieselbe Frage anhand<br />
eines Modells zu untersuchen 10 . Die Forschenden benutzten Stammzellen<br />
von speziell gezüchteten Mäusen, die entweder über das normale<br />
menschliche SOD-Gen oder über die mutierte Version verfügten, und liessen<br />
sie zu einer grossen Menge von Motoneuronen differenzieren. Die<br />
mutierten Zellen durchliefen die charakteristischen Krankheitsschritte,<br />
was zum Tod der Motoneuronen führte; demnach dürfte der Stammzellen-Ansatz<br />
langfristig ein erfolgreiches Forschungsmodell der ALS darstellen.<br />
Ausserdem zeigte sich sowohl bei den normalen wie auch bei den<br />
mutierten Motoneuronen Anzeichen einer Neurodegeneration, wenn sie<br />
zusammen mit SOD-mutierten Helferzellen in Kulturen gezüchtet wurden.<br />
Stammzellen und Neurogenese<br />
Indem beide Befunde aufzeigen, dass ALS auf Faktoren beruhen könnte,<br />
die, wie z. B. Astrozyten, eigentlich nicht zu den Motoneuronen gehören,<br />
diese jedoch beeinflussen, eröffnen sie neue Behandlungsmöglichkeiten.<br />
Sie machen auch deutlich, dass Stammzellen ein leistungsfähiges Mittel<br />
sein könnten, um den Verlauf dieser Krankheit zu untersuchen – die Arbeit<br />
der letztgenannten Studie stellt sogar eine auf Zellen beruhende Screen -<br />
ing-Methode zur Suche nach potentiellen neuen Medikamenten bereit. 95
Denken und Erinnern<br />
Beta-Amyloid und Alzheimer-Krankheit 98<br />
Genvarianten 100<br />
Andere Ansatzpunkte für eine Behandlung 101<br />
Die Alzheimer-Krankheit vorhersagen 103<br />
Erinnerung und Vorstellung 104<br />
97
98<br />
Was das Verständnis und die Behandlung degenerativer Erkrankungen<br />
des Nervensystems, einschliesslich der Alzheimer-Krankheit, anbelangt,<br />
bearbeitete die Forschung im Jahr 2007 Neuland. Daraus ergaben sich<br />
auch neue Erkenntnisse über die Art und Weise, wie das Gehirn Erinnerungen<br />
an Vergangenes für Zukunftspläne einsetzt.<br />
Bisher wurde noch keine Behandlung gefunden, die nachweislich den<br />
Verlauf der Alzheimer-Krankheit zu beeinflussen vermag, doch sind die<br />
Forschenden an verschiedenen Fronten so nahe dran, dass deren Kombination<br />
die Behandlung und möglicherweise sogar die Prävention der<br />
Alzheimer-Krankheit verbessern könnte. Dem Protein Beta-Amyloid gilt<br />
dabei ein besonderes Augenmerk, doch richtet sich die Forschung weiterhin<br />
auch auf andere Ziele.<br />
Beta-Amyloid und Alzheimer-Krankheit<br />
Einige der Forschungsfortschritte betreffen die aus Beta-Amyloid Protein<br />
bestehenden Plaques und Fibrillen, die sich im Gehirn von Alzheimer-Kranken<br />
bilden. Plaques entstehen in Zwischenräumen zwischen Hirn zellen,<br />
und Fibrillen entwickeln sich innerhalb von Hirnzellen, doch wird angenommen,<br />
dass die Schädigung der Neuronen und die Beeinträch tigung von<br />
Hirnfunktionen bereits erfolgen bevor diese Strukturen sichtbar werden.<br />
Die Ergebnisse verschiedener Studien mit synthetischen Beta-Amyloid<br />
Peptiden, an Zellkultur-Modellen, transgenen Mäusen (die aufgrund<br />
genetischer Veränderungen menschliche DNA enthielten) sowie am<br />
menschlichen Gehirn weisen alle in dieselbe Richtung: Demnach wirkt die<br />
fortschreitende Ansammlung von Beta-Amyloid längst zelltoxisch bevor<br />
sich sichtbare Plaques und Fibrillen bilden. Die Untereinheiten oder Bausteine<br />
des Beta-Amyloid Proteins waren im Jahr 2007 Gegenstand zahlreicher<br />
Forschungsarbeiten.<br />
Ein von Lennart Mucke an der University of California, San Francisco,<br />
geleitetes Team untersuchte transgene Mäuse, die über grosse Mengen<br />
von Beta-Amyloid Untereinheiten im Gehirn verfügten; diese Tiere zeigen<br />
viele Alzheimer-Symptome, unter anderem auch kognitive Einbussen 1.<br />
Die Häufigkeit nicht konvulsiver Anfallstätigkeit im Hippokampus und<br />
im Kortex, d. h. in Strukturen, die bekanntlich für das Gedächtnis<br />
wichtig sind, war hoch. In diesen Hirnregionen bewirken Beta-Amyloid
ADDL sind toxische Proteine, die im<br />
Gehirn und im Liquor von Alzheimerkranken<br />
entstehen und die für das<br />
Gedächtnis verantwortlichen Synapsen<br />
einer Hirnzelle angreifen. Im Jahr 2007<br />
haben Forschende die Auswirkung von<br />
ADDL untersucht.<br />
Untereinheiten, dass sich die Impulsrate in gewissen erregenden neuronalen<br />
Schaltkreisen erhöht. Als Reaktion darauf organisieren sich hemmende<br />
Schaltkreise neu und in der Folge davon nimmt die Impulsrate der Nervenzellen<br />
in den erregenden Schaltkreisen ab.<br />
Das Team folgerte daraus, dass die mit der Alzheimer-Krankheit verbundenen<br />
kognitiven Einbussen möglicherweise auf die Kombination von<br />
übermässiger neuronaler Aktivität infolge der Beta-Amyloid Untereinheiten<br />
einerseits und der darauf folgenden Reorganisation der hemmenden<br />
Schaltkreise anderseits zurückzuführen sind. Die Reorganisation könnte<br />
die Tätigkeit der erregenden Schaltkreise verringern.<br />
Mucke nimmt an, dass eine therapeutisch hervorgerufene Blockade der<br />
durch Beta-Amyloid ausgelösten Übererregung von Neuronen sowohl die<br />
Aktivierung der hemmenden Bahnen als auch die nachfolgende Reorganisation<br />
und die sich daraus ergebenden kognitiven Beeinträchtigungen<br />
verhindern könnte.<br />
Andernorts erforschte ein von William Klein geleitetes Team der North -<br />
western University den Einfluss der von Beta-Amyloid gesteuerten Untereinheiten,<br />
der so genannten ADDL, auf den Aufbau, die Struktur und die<br />
Menge der Synapsen 2 . Diese Moleküle entstehen im Gehirn und im<br />
Liquor. Sie binden an Synapsen und stören deren Plastizität, d. h. die<br />
Fähigkeit der Synapse sich zu verändern. Schliesslich degeneriert die<br />
Synapse und verursacht den im Anfangsstadium der Alzheimer-Krankheit<br />
auftretenden Gedächtnisverlust. 99<br />
Denken und Erinnern
100<br />
Klein und sein Team untersuchten dendritische Dornen, d. h. Auswüchse<br />
auf den schmaleren, verästelten Fortsätzen von Neuronen. Bei den meis -<br />
ten Neuronen leiten Dendriten Impulse zum Nervenzellkörper.<br />
Klein und seine Mitarbeitenden züchteten Neuronen aus dem Hippokampus<br />
und stellten fest, dass ADDL an dendritische Dornen von bestimmten<br />
Typen von Nervenzellen binden und bewirken, dass die Zahl gewisser, für<br />
das Gedächtnis bedeutsamer Rezeptoren zunimmt. Eine fortgesetzte<br />
Exposition führt zu einer abnorm langen, dünnen Form dendritischer<br />
Dornen, und schliesslich zur Reduktion ihrer Anzahl. Als Folge davon<br />
gehen die Synapsen zugrunde. Wie die Gruppe berichtete, konnte das<br />
Anti-Alzheimer-Medikament Namenda beide Veränderungen verhindern.<br />
In einer verwandten Studie wies ein Team unter der Leitung von Bernardo<br />
Sabatini in Harvard nach, dass Untereinheiten von Proteinen, die von Beta-<br />
Amyloid stammen, den fortschreitenden Verlust von Synapsen in Zellen<br />
des Hippokampus hervorriefen – dies allerdings nur, wenn diese Untereinheiten<br />
aus zwei oder drei Molekülen zusammengesetzt waren, nicht<br />
aber, wenn sie aus einem einzigen Molekül bestanden 3 . Nachdem sie den<br />
kleinen, löslichen Molekülen ausgesetzt worden waren, nahmen die<br />
Dichte der Dornen auf den Dendriten und die Zahl der aktiven Synapsen<br />
von pyramidenförmigen Neuronen ab.<br />
Beta-Amyloid-spezifische Antikörper wirkten dem Verlust der Dornen<br />
ebenso entgegen wie eine Substanz, die verhinderte, dass sich die kleinen<br />
Moleküle zu grösseren Einheiten zusammenschlossen. Sabatini schloss<br />
daraus, dass kleine, lösliche Untereinheiten von Beta-Amyloid den Verlust<br />
von Synapsen auslösen.<br />
Die genaue molekulare Struktur dieser löslichen, diffusionsfähigen Untereinheiten,<br />
die sich zu sichtbaren Plaques und Fibrillen zusammenfügen,<br />
wird weiter erforscht. Nichtsdestotrotz beginnt man bereits Therapien zu<br />
entwickeln und zu testen, welche die Bildung dieser Untereinheiten verhindern<br />
sollen. Ziel solcher Behandlungen ist es, das Zugrundegehen neuronaler<br />
Schaltkreise zu verlangsamen oder sogar zu stoppen, noch bevor<br />
Symptome der Alzheimer-Krankheit auftreten 4 .<br />
Genvarianten<br />
Beta-Amyloid wird in verschiedenen Bereichen der Zelle aus dem Amyloid-Vorläufer-Protein<br />
(amyloid precursor protein; APP) gebildet. Ein
wichtiger Schritt bei der Herstellung von Beta-Amyloid erfolgt während<br />
des Wiedereintritts und der Wiederaufbereitung von APP, wenn es<br />
von der Zelloberfläche über eine bestimmte Bahn ins Innere der Zelle<br />
gelangt. Ein grosses internationales Forschungsteam unter der Leitung von<br />
Peter St. George-Hyslop von der University of Toronto kam zum Schluss,<br />
dass sich ererbte Unterschiede in dieser Bahn sowohl auf die Verarbeitung<br />
von APP als auch auf das Risiko, an Alzheimer zu erkranken, aus -<br />
wirken könnten.<br />
Wie sie in Nature Genetics berichteten, hängen ererbte Unterschiede im<br />
Gen SORL1 mit der spät beginnenden Alzheimer-Krankheit zusammen 5 .<br />
Die Varianten kommen in mindestens zwei verschiedenen Clustern von<br />
nicht kodierender DNA im SORL1-Gen vor. Möglicherweise steuern diese<br />
Cluster, wie SORL1 im Hirngewebe exprimiert wird.<br />
Das Team stellte fest, dass APP von SORL1 in Wiederaufbereitungsbahnen<br />
gelenkt wird. Wenn es an SORL1 mangelt, gelangt APP in Regionen,<br />
in denen sich Beta-Amyloid Proteine bilden. Die Forschenden schlossen<br />
daraus, dass ererbte oder erworbene Veränderungen der SORL1-Expression<br />
oder -Funktion eine Ursache der Alzheimer-Krankheit darstellen.<br />
Andere Ansatzpunkte für eine Behandlung<br />
Beta-Amyloid Proteine sind nicht der einzige Ansatzpunkt für mögliche<br />
Behandlungen der Alzheimer-Krankheit. Ein weiterer ist das Tau-Protein.<br />
Tau ist in normalen Neuronen reichlich vorhanden. In Zusammenarbeit mit<br />
dem Protein Tubulin fördert und stabilisiert es Mikrotubuli, jene hohlen,<br />
zylinderförmigen Strukturen in Zellen, welche die Zelle stützen und durch<br />
die Material befördert wird.<br />
Allerdings können gewisse abnorme Formen von Tau den Aufbau der<br />
Neurofibrillen und Fasern bewirken, die man in den Neuronen von Alzheimer-Kranken<br />
findet. Forschende gehen nun der Frage nach, ob auf Tau<br />
gerichtete Behandlungen die durch Beta-Amyloid hervorgerufenen kognitiven<br />
Einbussen verhindern können.<br />
Denken und Erinnern<br />
Ein von Eric Roberson am Gladstone Institute of Neurological Disease in<br />
San Francisco geleitetes Team untersuchte diese Frage anhand von<br />
transgenen Mäusen. Die Mäuse waren so verändert worden, dass sie<br />
hohe Konzentrationen des Amyloid-Vorläufer-Proteins exprimierten. Ihre 101
Lernfähigkeit und ihr Gedächtnis wurden in einem Wasserlabyrinth ge -<br />
testet. Roberson stellte fest, dass eine Reduktion der Tau-Level bewirkte,<br />
dass Mäuse selbst bei hohen Beta-Amyloid-Spiegeln noch lernen konnten,<br />
sich im Labyrinth zurechtzufinden.<br />
Eine weitere mögliche Therapie stützt sich auf das Peptid NAP,<br />
das erwiesenermassen vor dem durch Beta-Amyloid hervorgerufenen<br />
Untergang von Neuronen schützt.<br />
102<br />
Ausserdem beobachtete Roberson, dass eine Reduktion von Tau sowohl<br />
transgene als auch nicht transgene Mäuse vor der so genannten Exzito -<br />
toxizität schützte; diese tritt auf, wenn eine bestimmte Aminosäure im<br />
Gehirn eine für Neuronen toxische Wirkung entfaltet. Die in Science<br />
publizierte Studie kam zum Schluss, dass eine Reduktion von Tau sowohl<br />
Beta-Amyloid als auch eine exzitotoxische Störung von Neuronen zu<br />
hemmen vermag 6 . Somit könnte die Tau-Reduktion eine wirksame<br />
Strategie zur Behandlung der Alzheimer-Krankheit und verwandter Störungen<br />
darstellen.<br />
Eine weitere mögliche Therapie stützt sich auf das Peptid NAP, das erwiesenermassen<br />
vor dem durch Beta-Amyloid hervorgerufenen Untergang<br />
von Neuronen schützt. NAP scheint zu verhindern, dass sich aus Beta-<br />
Amyloid Plaques und Fibrillen bilden. Ausserdem bindet es an Tubulin und<br />
verhindert dadurch die mit der Alzheimer-Krankheit verbundene Schädigung<br />
der Mikrotubuli.<br />
Paul Aisen und sein Forschungsteam an der Georgetown University untersuchten<br />
transgene Mäuse, die beide Merkmale der Alzheimer-Krankheit<br />
aufwiesen: eine Anhäufung von Beta-Amyloid und die mit einer Fehlfunktion<br />
der Mikrotubuli verbundenen modifizierten Formen von Tau. Als die<br />
Tiere neun Monate alt waren, erhielten sie – noch vor dem Auftreten von<br />
Krankheitssymptomen – während dreier Monate täglich eine Dosis NAP.<br />
Im Journal of Molecular Neuroscience berichtete das Team, die Behandlung<br />
hätte den Spiegel von Beta-Amyloid im Gehirn der Tiere entscheidend<br />
gesenkt 7 . NAP setzte auch die Konzentration von abnormalem Tau<br />
herab. Die Forschenden schliessen daraus, dass NAP eine viel versprechende<br />
Behandlung der Alzheimer-Krankheit sein könnte.<br />
Unterdessen untersuchten Forschende am Massachusetts Institute of<br />
Technology Mäuse, bei denen sie den kurzfristigen und örtlich begrenzten
Untergang von Neuronen nachprüfen konnten. Einige der Mäuse wurden<br />
in einer „angereicherten Umgebung“ gehalten – ihre Käfige enthielten<br />
Laufräder, Spielsachen, Tunnels und Klettervorrichtungen. In dieser angereicherten<br />
Umgebung gewannen die Mäuse selbst nach einer Hirna -<br />
trophie und dem Untergang von Neuronen ihr Lernverhalten zurück und<br />
konnten wieder auf ihr Langzeitgedächtnis zurückgreifen.<br />
Das Team untersuchte das im Hirngewebe der Mäuse vorhandene genetische<br />
Material. Dabei interessierte es sich vor allem für die Histon-Enden<br />
des Chromatins jenen Komplex von DNA und Proteinen, aus denen die<br />
Chromosomen bestehen. Chromatinstränge enthalten Histone, einen Proteintyp,<br />
um den DNA gewickelt ist. Die Arme oder Enden der Chromatinfasern<br />
bestehen vor allem aus Histonen.<br />
Die Forschenden stellten fest, dass es in einer angereicherten Umgebung<br />
zu chemischen Veränderungen in diesen Histon-Armen kam. Wenn dieselben<br />
Veränderungen durch eine Substanz ausgelöst wurde, welche die<br />
Aktivität des verwandten Enzyms HDAC hemmt, dann sprossen Dendriten<br />
aus, stieg die Zahl der Synapsen an und besserten sich das Lernverhalten<br />
sowie der Zugriff zum Langzeitgedächtnis. Die Forschenden kamen in<br />
ihrem Artikel in Nature vom 10. Mai zum Schluss, dass Substanzen, die<br />
dieses Enzym hemmen, die Behandlung der Alzheimer-Krankheit und<br />
anderer Formen von Demenz unterstützen könnten 8 .<br />
Andere Forschende untersuchen die Tätigkeit von HDAC-Inhibitoren.<br />
Verändern sie die Expression vieler Gene und beeinflussen sie Gedächtnisvorgänge<br />
ganz allgemein? Oder ist ihre Wirkung spezifisch? Eine<br />
Studie stellte zwei spezifische Auswirkungen fest. Die eine bezieht sich<br />
auf das Protein CREB, das innerhalb der Neuronen gebildet wird und<br />
bekanntlich für den Aufbau des Gedächtnisses von Bedeutung ist. Inhibitoren<br />
beeinflussen ausserdem die Expression mehrerer einzelner Gene<br />
während der Konsolidierung des Gedächtnisses 9 .<br />
Denken und Erinnern<br />
Die Alzheimer-Krankheit vorhersagen<br />
Ein von David Holtzman an der Washington University in Saint Louis ge -<br />
leitetes Team berichtete im März 2007 in Archives of Neurology, die<br />
Verhält niszahlen bestimmter Typen von Beta-Amyloid und Tau gäben<br />
bei Personen mit normalen kognitiven Fähigkeiten darüber Aufschluss,<br />
ob im Gehirn amyloide Ablagerungen vorhanden sind, welche die Wahrscheinlichkeit<br />
einer künftigen Demenz erhöhen. 103
Die Forschenden analysierten den Liquor und das Blut von 139 Freiwilligen<br />
im Alter zwischen 60 und 91 Jahren, die als kognitiv gesund, bzw. als<br />
an einer sehr milden oder moderaten Demenz leidend diagnostiziert worden<br />
waren 10 . Das Team berichtete, dass im Liquor von Personen mit sehr<br />
milder oder moderater Alzheimer-Krankheit ein bestimmter Typ von Beta-<br />
Amyloid weniger und Tau mehr vorhanden war als bei gesunden Kontrollpersonen.<br />
Die Konzentration dieses Typs von Beta-Amyloid erlaubte eine<br />
Aussage über das Vorhandensein von Amyloid im Gehirn von Personen<br />
mit und ohne Demenz.<br />
Erinnerung und Vorstellung<br />
Ebenfalls im Jahr 2007 untersuchte eine zunehmende Zahl von Forschungsgruppen<br />
die Beziehung zwischen der Erinnerung an Vergangenes und der<br />
Vorstellung von Zukünftigem. Personen, mit einer Schädigung des Hippokampus<br />
haben Mühe, sich an vergangene Ereignisse zu erinnern und sich<br />
künftige Szenarien vorzustellen. Schizophrenie-Kranke erinnern sich ebenfalls<br />
weniger an spezifische vergangene Ereignisse und stellen sich eine<br />
kleinere Zahl von spezifischen zukünftigen Ereignissen vor als Gesunde,<br />
berichtete Arnaud D’Argembeau von der belgischen Universität in Liège.<br />
Die Forschungsarbeit ist im Journal of Abnormal Psychology beschrieben 11 .<br />
Der Verlust des episodischen Gedächtnisses führt unter anderem dazu,<br />
dass es älteren Erwachsenen manchmal schwer fällt, Informationen ein -<br />
zuordnen und Elemente miteinander in Beziehung zu bringen.<br />
104<br />
Eine Harvard-Studie, über die in Psychological Science berichtet wurde,<br />
kam zu ähnlichen Ergebnissen. Ein Forschungsteam untersuchte das<br />
episodische Gedächtnis von gesunden, älteren Erwachsenen und von<br />
College-Studierenden. Das episodische Gedächtnis ist bedeutsam, da es<br />
uns die Erinnerung an persönliche Erlebnisse ermöglicht, die in einzigartiger<br />
Weise unser individuelles Leben ausmachen. Dank ihm können wir<br />
uns in der subjektiven Zeit sowohl rückwärts als auch vorwärts entwerfen.<br />
Wenn das Team die Freiwilligen aufforderte, sich vergangene und künftige<br />
Ereignisse vorzustellen, fielen den älteren Erwachsenen zu vergangenen<br />
Ereignissen weniger episodenspezifische Einzelheiten ein als den jün -<br />
geren Erwachsenen. Dasselbe galt für künftige Ereignisse: Vorgestellte<br />
Ereignisse enthielten weniger episodische Informationen 12 . Der Verlust<br />
des episodischen Gedächtnisses führt unter anderem dazu, dass es älteren<br />
Erwachsenen manchmal schwer fällt, Informationen einzuordnen und<br />
Elemente miteinander in Beziehung zu bringen.
Studien mit bildgebenden Verfahren belegen, dass die Erinnerung an<br />
Vergangenes und die Vorstellung von Künftigem auf denselben Hirnbe -<br />
reichen beruhen. In einer Studie wurden 21 Freiwillige im Alter zwischen<br />
18 und 32 Jahren einer Magnetresonanzbildgebung unterzogen, während<br />
sie sich als Reaktion auf entsprechende Stichworte an vergangene Ereignisse<br />
erinnerten und sich künftige vorstellten 13 . Die Aufnahmen liessen<br />
eine erstaunliche Überschneidung der mit vergangenen und künftigen<br />
Ereignissen verbundenen Aktivität erkennen: Bei der Erinnerung an<br />
Vergangenes und der Vorstellung von Künftigem handelt es sich um Vorgänge,<br />
die mit einem zentralen Bereich des Gehirns zusammenhängen,<br />
der sowohl die Bereiche des präfrontalen und medialen Schläfenlappens<br />
als auch die posterioren Bereiche (einschliesslich des Precuneus und des<br />
Cortex retrosplenialis) umfasst; diese werden übereinstimmend als Komponenten<br />
des Erinnerungs-Abruf-Netzwerks des Gehirns angesehen.<br />
Ergebnisse dieser Art führten zum Konzept des „prospektiven Gedächtnisses“,<br />
d. h. zur Annahme, das Gehirn verwende gespeicherte Informationen<br />
dazu, sich mögliche künftige Ereignisse vorzustellen, sie zu simulieren<br />
und vorherzusagen. Dieses Konzept bietet eine neue Denkweise und<br />
neue Untersuchungsmöglichkeiten in Bezug auf das Gedächtnis – so die<br />
Harvard-Psychologen und -Psychologinnen Daniel Schacter, Donna Rose<br />
Addis und Randy Buckner 14 . Es geht von der Annahme aus, dass sowohl<br />
die Erinnerung als auch die Vorstellung auf gemeinsame Netzwerke zu -<br />
rückgreifen, um gespeicherte Informationen abzurufen.<br />
Sich etwas vorstellen verlangt jedoch, dass man einzelne Inhalte auf eine<br />
neue Weise kombiniert; dies beansprucht zusätzliche Hirnbereiche. Diese<br />
Überlappung könnte erklären, weshalb das Abrufen nicht eine perfekte<br />
Erinnerung des Vergangenen sondern einen konstruktiven Vorgang<br />
darstellt. Die Fähigkeit, im Gedächtnis gespeicherte Informationen neu zu<br />
organisieren und umzuformen, kann für die Zukunftsplanung entscheidend<br />
sein, meinen Schacter, Addis und Buckner.<br />
Denken und Erinnern<br />
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Abbildungen / Fotos<br />
S. 5: Photo courtesy of Mike Lovett<br />
S. 11: Photo courtesy of Michael S. Gazzaniga<br />
S. 17: Above photo courtesy of Mahlon R. DeLong, MD<br />
Down photo courtesy of Thomas Wichmann, MD<br />
S. 25: Illustration by Jennifer E. Fairman<br />
S. 28: Image courtesy of Philip Shaw / NIH<br />
S. 29: Photo courtesy of Adrian Bird, University of Edinburgh<br />
S. 30: Image courtesy of Adrian Bird, University of Edinburgh<br />
S. 33: Illustration by Jennifer E. Fairman<br />
S. 35: Image courtesy of Cynthia McMurray<br />
S. 39: Photo courtesy of New York Presbyterian / Weill Cornell Medical College<br />
S. 41: Illustration by Jennifer E. Fairman<br />
S. 45: Photo courtesy of Rakesh Jain<br />
S. 46: Image courtesy of Rakesh Jain<br />
S. 49: Illustration by Jennifer E. Fairman<br />
S. 51: Photo courtesy of Judy Illes<br />
S. 57: Illustration by Jennifer E. Fairman<br />
S. 59: Photo courtesy of Affymetrix<br />
S. 60: Image courtesy of Affymetrix<br />
S. 65: Illustration by Jennifer E. Fairman<br />
S. 68: Photo courtesy of Bryan Hains, Yale University<br />
S. 71: Illustration by Jennifer E. Fairman<br />
S. 73: Photo courtesy of School of Engineering, Stanford University<br />
S. 74: Image courtesy of Helen Mayberg<br />
S. 81: Illustration by Jennifer E. Fairman<br />
S. 83: Image courtesy of Clifford B. Saper<br />
S. 86: Image courtesy of Dale Purvis<br />
S. 89: Illustration by Jennifer E. Fairman<br />
S. 94: Photo courtesy of Clive Svendsen<br />
S. 97: Illustration by Jennifer E. Fairman<br />
S. 99: Image courtesy of William Klein<br />
115
Stelle Dir<br />
eine Welt vor ...
118<br />
… in der Krankheiten wie Alzheimer, Parkinson,<br />
Lou Gehrig (ALS) sowie Retinitis pigmentosa<br />
und andere Ursachen von Erblindung<br />
jeweils in einem frühen Stadium erkannt<br />
und umgehend mit Medikamenten behandelt<br />
werden, die eine Verschlimmerung, noch vor<br />
dem Auftreten schwerwiegender Schädigungen<br />
verhindern.<br />
… in der die genetischen Bahnen und die<br />
umweltbedingten Auslöser, die Menschen für<br />
Geisteskrankheiten disponieren, bekannt sind,<br />
so dass entsprechende diagnostische Tests<br />
und zielgerichtete Therapien – einschliesslich<br />
Medikamente, Beratung und vorbeugende<br />
Eingriffe – in grossem Umfang zur Verfügung<br />
stehen und umfassend angewendet werden.<br />
… in der neue Erkenntnisse über die Entwicklung<br />
des Gehirns dazu verwendet werden,<br />
die entscheidenden Vorteile des Lernens in<br />
den ersten Lebensjahren zu fördern und mit<br />
dem Altern zusammenhängende Krankheiten<br />
zu bekämpfen.<br />
… in der Rückenmarksverletzungen nicht<br />
länger zu lebenslänglichen Lähmungen führen,<br />
da das Nervensystem dazu gebracht werden<br />
kann, Nervenschaltkreise neu zu gestalten und<br />
die Bewegung der Muskeln wieder herzustellen.<br />
… in der Drogenabhängigkeit und Alkoholismus<br />
das Leben von Menschen nicht länger<br />
im Griff haben, da leicht zugängliche Behandlungen<br />
jene Veränderungen im Gehirn be -<br />
einflussen können, die für das Absetzen von<br />
Ab hängigkeit erzeugenden Substanzen verantwortlich<br />
sind, aber auch Sucht und Verlangen<br />
hervorrufen können.<br />
… in der das tägliche Leben der Menschen<br />
nicht mehr von depressiven Episoden oder<br />
Angstattacken beeinträchtigt wird, da wirksamere<br />
Medikamente zur Behandlung dieser<br />
Krankheiten verfügbar werden.<br />
Es mag zwar vielen unrealistisch und utopisch<br />
vorkommen, aber wir dürfen festhalten, dass<br />
wir gegenwärtig in einer ausserordentlich<br />
aufregenden Zeit der Geschichte der Neurowissenschaft<br />
leben. Die im vergangenen Jahrzehnt<br />
erfolgten Fortschritte in der Forschung<br />
haben uns weiter gebracht als wir gehofft<br />
hatten. Wir verstehen die grundlegenden<br />
Mechanismen der Hirntätigkeit wesentlich<br />
besser und sind nun an dem Punkt angelangt,<br />
an dem wir diese Erkenntnisse für therapeu -<br />
tische Zwecke fruchtbar machen können.<br />
Wir haben bereits angefangen, Strategien,<br />
neue Techniken und Behandlungsformen<br />
zur Bekämpfung einer ganzen Reihe neurologischer<br />
Krankheiten und Störungen zu entwickeln.<br />
Indem wir Therapieziele festlegen<br />
und unser Wissen anwenden, werden wir<br />
wirksame Behandlungen und in einigen Fällen<br />
wohl auch Heilmethoden entwickeln.<br />
Bei allem, was wir in letzter Zeit im Bereich<br />
der Neurowissenschaft gelernt haben, erkennen<br />
wir immer deutlicher, wie vieles wir nicht<br />
wissen. Dadurch wird es immer dringlicher,<br />
dass wir die Grundlagenforschung vorantreiben,<br />
die sich mit der weiterreichenden Frage,<br />
wie lebende Organismen überhaupt funktionieren,<br />
befasst. Dies wird dazu beitragen, jene<br />
komplexen Fragestellungen anzugehen, welche<br />
zu wissenschaftlichen Entdeckungen führen.<br />
Die koordinierte Arbeit von Tausenden, die<br />
in den verschiedenen Bereichen der Grund -<br />
lagenforschung und der klinischen Forschung<br />
wissenschaftlich tätig sind, hat uns eine<br />
grosse Menge an Informationen gebracht;<br />
sie umfassen so unterschiedliche Gebiete<br />
wie die Strukturanalyse von Molekülen, die<br />
gezielte Entwicklung neuer Pharmaka, die Genom<br />
forschung, bildgebende Untersuchungen<br />
des Ge hirns, kognitive Neurowissenschaft<br />
und klinische Studien. Dieses ganze Wissen<br />
können wir nun breit zur Behandlung neurologischer<br />
Krankheiten und Störungen ein -<br />
setzen. Diese wissenschaftliche Arbeit werden<br />
wir auch weiterhin nicht nur individuell<br />
und ausgerichtet auf die das eigene spezifische<br />
Interessengebiet weiterführen, sondern
gemeinsam mit Kollegen aller wissenschaftlichen<br />
Bereiche nach Möglichkeiten der interdisziplinären<br />
Zusammenarbeit suchen.<br />
Um unsere Aufgabe erfolgreich zu erfüllen,<br />
sind wir auch auf das Vertrauen der Öffentlichkeit<br />
angewiesen. Forschende und Laien<br />
müssen daher aus den neuen Erkenntnissen<br />
der Hirnforschung entstehenden ethischen<br />
und sozialen Konsequenzen gemeinsam<br />
erörtern.<br />
Die <strong>Dana</strong> Alliance for Brain Initiatives und<br />
die European <strong>Dana</strong> Alliance for the Brain ist<br />
eine Gemeinschaft von Neurowissenschaftlern<br />
und Neurowissenschaftlerinnen, die sich<br />
hochgesteckte Ziele gesetzt haben; dies<br />
zeigte sich bereits im Jahre 1992, als in Cold<br />
Spring Harbor, New York, ein Forschungsplan<br />
aufgestellt wurde und dann im Jahre 1997, als<br />
die neu gebildete europäische Gruppe sich<br />
auf ihre eigenen Zielsetzungen verpflichtete.<br />
Beide Gruppen sind gegenwärtig daran, ihre<br />
konkreten Zielvorstellungen so anzupassen,<br />
dass sie die erreichten Fortschritte optimal<br />
ausnützen können. Wir stecken uns auch<br />
neue Ziele, die uns den Weg zu bald Erreichbarem<br />
weisen, und stellen langfristige Pläne<br />
auf. Indem wir uns ausmalen, welche positiven<br />
Auswirkungen diese neue Ära der Neuro -<br />
wissenschaft voraussichtlich haben wird, be -<br />
schleunigen wir die auf das Erreichen unserer<br />
Ziele ausgerichteten Entwicklungen.<br />
Die Ziele<br />
Die verheerenden Auswirkungen der Alzheimer-Krankheit<br />
bekämpfen. Bei der Alzheimer-Krankheit<br />
kommt es zur Ansammlung<br />
eines Proteinfragments von Amyloid, welches<br />
die Nervenzellen schädigt. Der Mechanismus<br />
dieser Ansammlung wurde inzwischen in<br />
Tier versuchen biochemisch genetisch untersucht.<br />
Aufgrund dieser Tiermodelle werden<br />
gegenwärtig therapeutische Substanzen und<br />
ein möglicherweise wirksamer Impfstoff entwickelt,<br />
die die Anhäufung dieser schädlichen<br />
Substanz verhindern oder ihren Abbau<br />
beschleunigen sollen. Diese neuen Therapien,<br />
die schon bald an Menschen erprobt werden<br />
können, wecken die begründete Hoffnung,<br />
dass der Krankheitsverlauf wirkungsvoll be -<br />
handelt werden kann.<br />
Die optimale Behandlung der Parkinson-<br />
Krankheit herausfinden. Medikamente, die<br />
auf die Dopaminbahnen des Gehirns einwirken,<br />
wurden erfolgreich zur Behandlung der<br />
motorischen Störungen der Parkinson-Krankheit<br />
eingesetzt. Leider verliert sich dieser therapeutische<br />
Effekt bei vielen Patienten nach<br />
5 bis 10 Jahren. Nun werden neue Medikamente<br />
entwickelt; sie sollen die Wirkung der<br />
auf Dopamin beruhenden Behandlungen verlängern<br />
und den für die Krankheit verant -<br />
wortlichen selektiven Untergang von Ner -<br />
venzellen verzögern. Patienten, die auf die<br />
medikamentöse Behandlung nicht ansprechen,<br />
könnten von chirurgischen Methoden,<br />
etwa der tiefen Hirnstimulation, profitieren.<br />
Dank neueren Formen der Bildgebung des<br />
Gehirns lässt sich feststellen, ob diese Be handlungs<br />
formen tatsächlich Nervenzellen vor dem<br />
Unter gang bewahren und die normalen Schaltkreise<br />
wieder herstellen können.<br />
Das Auftreten von Hirnschlag reduzieren<br />
und die Therapie des Hirnschlags verbessern.<br />
Herzkrankheiten und Hirnschlag treten<br />
beträchtlich seltener auf, wenn Leute aufhören<br />
zu rauchen, auf einen tiefen Cholesterinspiegel<br />
achten, durch Diät und sportliche<br />
Betätigung ihr normales Gewicht beibehalten<br />
und wenn ein vorhandener Diabetes<br />
diag nostiziert und behandelt wird. Wenn<br />
ein Hirnschlag aufgetreten ist, können die<br />
rasche Erhebung des Befunds und sofortige<br />
Behandlung eine erstaunliche Verbesserung<br />
mit weniger Folgeerscheinungen bewirken.<br />
Neue Behandlungsmethoden, um die akuten<br />
Auswirkungen eines Schlaganfalls auf Hirnzellen<br />
weiter zu reduzieren, sind im Entwicklungsstadium.<br />
Weitere Verbesserungen er -<br />
warten wir von neuen Rehabilitationsver -<br />
fahren, die auf der neuen Erkenntnis von<br />
Reorganisationsvorgängen im Gehirn nach<br />
Schädigungen beruhen.<br />
Stelle Dir eine Welt vor ...<br />
Erfolgreichere Behandlungen von Gemütskrankheiten<br />
entwickeln wie Depression, 119
120<br />
Schizophrenie, Zwangserkrankung und<br />
manisch-depressive Erkrankung. Zwar wurden<br />
im letzten Jahrzehnt die für diese Krankheiten<br />
verantwortlichen Gene noch nicht ge -<br />
funden, doch dürfte die Sequenzierung des<br />
menschlichen Genoms einige an diesen Krankheiten<br />
beteiligte Gene aufdecken. Neue bildgebende<br />
Verfahren gepaart mit Erkennt -<br />
nissen über die Aktivitäten dieser Gene im<br />
Gehirn werden erkennen lassen, was bei<br />
diesen Erkrankungen des Gemüts und des<br />
Denkens in den einzelnen Hirnschaltkreisen<br />
schief läuft. Dies wird die Grundlage für eine<br />
bessere Diagnose, für eine wirksamere An -<br />
wendung der heute zur Verfügung stehenden<br />
Medikamente und für die Entwicklung<br />
völlig neuartiger therapeutischer Substanzen<br />
bilden.<br />
Die genetischen und neurobiologischen<br />
Ursachen der Epilepsie aufdecken und die<br />
Behandlung verbessern. Das Verständnis<br />
der genetischen Grundlagen der Epilepsie<br />
und der neuralen Vorgänge, die zu Anfällen<br />
führen, wird präventive Diagnosen und zielgerichtete<br />
Therapien ermöglichen. Die Fortschritte<br />
der elektronischen und chirurgischen<br />
Therapien lassen wirkungsvolle Behandlungsmöglichkeiten<br />
erwarten.<br />
Neue, wirkungsvolle Ansätze zur Vorbeugung<br />
und Behandlung der Multiplen Sklerose<br />
finden. Heute stehen uns erstmals<br />
Medikamente zur Verfügung, die erlauben,<br />
den Verlauf dieser Krankheit zu beeinflussen.<br />
Neue Medikamente, die die Immunreaktion<br />
des Körpers verändern, werden Anzahl und<br />
Intensität der Schübe der Multiplen Sklerose<br />
weiter vermindern. Ausserdem werden wir<br />
neue Methoden anwenden, um die lang -<br />
fristige Progression aufzuhalten, die durch<br />
den Untergang von Nervenfasern verursacht<br />
wird.<br />
Bessere Behandlungen bei Hirntumoren<br />
entwickeln. Viele Arten von Hirntumoren, vor<br />
allem die bösartigen und solche, die durch<br />
Ableger einer Krebserkrankung ausserhalb des<br />
Gehirns zustande kommen, lassen sich nur<br />
schwer behandeln. Bildgebende Verfahren,<br />
die Behandlung mit fokussierter Bestrahlung,<br />
verschiedene Methoden, um Medikamente<br />
in den Tumor zu bringen, und die Bestimmung<br />
von genetischen Markern, die zur Diagnose<br />
beitragen werden, bilden die Grundlage<br />
zur Entwicklung innovativer Therapien.<br />
Die Erholung nach traumatischen Hirn- und<br />
Rückenmarksverletzungen verbessern. Wir<br />
sind dabei, Behandlungsmöglichkeiten zu er -<br />
proben, die unmittelbar nach einer Verletzung<br />
den Umfang des verletzten Gewebes<br />
verringern sollen. Andere Wirkstoffe zielen<br />
darauf ab, die Schaltkreise der Nervenfasern<br />
wiederherzustellen. Techniken zur Förderung<br />
der Zellregeneration im Gehirn, um die abgestorbenen<br />
und beschädigten Nervenzellen<br />
zu ersetzen, werden ausgehend von Tier -<br />
modellen schon bald auch an Menschen klinisch<br />
erprobt werden. Gegenwärtig werden<br />
elektronische Prothesen entwickelt, die die<br />
Mikrochip-Technik verwenden, um Nervenschaltkreise<br />
zu steuern und dadurch die<br />
Bewegungsaktivität gelähmter Gliedmassen<br />
wieder zu ermöglichen.<br />
Neue Methoden für den Umgang mit<br />
Schmerzen entwickeln. Der Schmerz muss<br />
heute in der Medizin nicht mehr einfach hingenommen<br />
werden. Die Erforschung der<br />
Ursachen von Schmerzen sowie der Nervenaktivität,<br />
die für ihn verantwortlich ist, wird<br />
den Neurowissenschaftlern Mittel in die<br />
Hand geben, um wirksamere und zielge -<br />
richtete Therapien zur Schmerzbekämpfung<br />
zu entwickeln.<br />
Die Ursachen der Abhängigkeit auf der<br />
Ebene des Gehirns behandeln. Forschende<br />
konnten jene Nervenschaltkreise im Gehirn<br />
bestimmen, die an der Abhängigkeit aller<br />
gängigen Mittel beteiligt sind, und haben die<br />
wichtigsten Rezeptoren für diese Wirkstoffe<br />
geklont. Neue bildgebenden Verfahren, werden<br />
die neurobiologischen Mechanismen<br />
feststellen lassen, die ein normales Gehirn in<br />
ein abhängiges Gehirn verwandeln, und die<br />
Entwicklung von Therapien ermöglichen, um<br />
diese Veränderung entweder rückgängig zu<br />
machen oder zu kompensieren.
Die Hirnmechanismen verstehen, die der<br />
Reaktion auf Stress, Angst und Depression<br />
zugrunde liegen. Geistige Gesundheit ist<br />
eine Vorbedingung für eine gute Lebensqualität.<br />
Stress, Angst und Depression schaden<br />
nicht nur dem Leben der davon betroffenen<br />
Personen, sie können auch verheerende Auswirkungen<br />
auf die Gesellschaft haben. Wenn<br />
es uns gelingt, die Stressreaktion des Organismus<br />
sowie die an Angst und Depression<br />
beteiligten Hirnschaltkreise besser zu ver -<br />
stehen, werden wir wirksamere präventive<br />
Massnahmen entwickeln können und auch<br />
bessere Behandlungsverfahren, um ihre Aus -<br />
wirkungen zu lindern.<br />
Die Strategie<br />
Die Entdeckungen der Erforschung des Genoms<br />
ausnützen. Die vollständige Sequenz<br />
aller Gene, des menschlichen Genoms wird<br />
schon bald zur Verfügung stehen. Dies<br />
bedeutet, dass wir im Verlauf der nächsten<br />
10 bis 15 Jahre in der Lage sein werden, für<br />
jeden Bereich des Gehirns und für jedes<br />
Lebensstadium – vom frühen embryonalen<br />
Leben an, über die Kindheit, die Adoleszenz<br />
bis zum Erwachsenenalter – zu bestimmen,<br />
welche Gene aktiv sind. Wir werden feststellen<br />
können, welche Gene bei verschiedensten<br />
neurologischen und psychiatrischen Krankheiten<br />
verändert sind, so dass ihre Proteinprodukte<br />
entweder ganz fehlen oder auf eine<br />
abnorme Weise funktionieren. Dank dieser<br />
Methode ist es bereits möglich, die genetische<br />
Grundlage von Krankheiten wie Huntington,<br />
spinozerebelläre Ataxie, Muskeldystrophie<br />
und fragiles X-Syndrom zu bestimmen.<br />
Insgesamt verspricht die Entdeckung von<br />
Genen und ihre Anwendung zur klinischen<br />
Diagnose die Neurologie und Psychiatrie<br />
grundlegend zu verändern und stellt eine der<br />
grössten Herausforderungen der Neurowissenschaft<br />
dar. Zum Glück verfügen wir über<br />
Mikroarrays oder „Gen-Chips“, die diese<br />
Entwicklungen sehr beschleunigen und uns<br />
sowohl für die Diagnose als auch für die<br />
Entwicklung neuer Therapien wirkungsvolle<br />
Mittel in die Hand geben.<br />
Unser Wissen über die Entwicklung des<br />
Gehirns anwenden. Von der Empfängnis<br />
bis zum Tod durchläuft das Gehirn ganz<br />
be stimmte Entwicklungsstadien mit jeweils<br />
unterschiedlicher Anfälligkeit für Schädigungen<br />
und Fähigkeit zur Entwicklung, Tendenzen,<br />
die entweder gefördert oder gehemmt<br />
werden können. Um die Behandlung von<br />
Entwicklungsstörungen wie Autismus sowie<br />
Aufmerksamkeits- und Lernstörungen zu verbessern,<br />
wird die Neurowissenschaft eine<br />
detailliertere Darstellung der Hirnentwicklung<br />
erarbeiten. Da gewisse Probleme der Hirnentwicklung<br />
mit anderen Entwicklungsphasen<br />
wie der Adoleszenz oder dem Altern zusam -<br />
menhängen, wird uns das Verständnis der<br />
Veränderungen des Gehirns im Verlauf dieser<br />
Perioden neue Therapien ermöglichen.<br />
Das riesige Potential der Plastizität des<br />
Gehirns ausnutzen. Wenn wir die Neuroplastizität<br />
– die Fähigkeit des Gehirns sich selbst<br />
wiederherzustellen und anzupassen – ausnutzen,<br />
kann die Neurowissenschaft Behandlungen<br />
von degenerativen neurologischen<br />
Erkrankungen fördern und Möglichkeiten zur<br />
Verbesserung von gesunden und kranken<br />
Hirnfunktionen bereitstellen. In den kommenden<br />
zehn Jahren werden Zellen therapeutisch<br />
ersetzt werden und die Förderung<br />
der Neubildung von Zellen wird zu neuen<br />
Behandlungen von Hirnschlag, Rückenmarks -<br />
verletzungen und der Parkinson Krankheit<br />
führen.<br />
Stelle Dir eine Welt vor ...<br />
Unser Verständnis des spezifisch Menschlichen<br />
vergrössern. Wie funktioniert das Ge -<br />
hirn ? Die Neurowissenschaft ist nun so weit,<br />
dass sie die entscheidenden Fragen nicht nur<br />
stellt, sondern auch anfängt sie zu beantworten.<br />
Welche Mechanismen und grundlegenden<br />
Nervenschaltkreise ermöglichen es uns,<br />
Erinnerungen zu speichern, aufmerksam zu<br />
sein, unsere Emotionen wahrzunehmen und<br />
auszudrücken, Entscheidungen zu treffen,<br />
Sprache zu gebrauchen und kreativ zu sein?<br />
Die Bemühungen, eine „einheitliche Feld -<br />
theorie“ des Gehirns zu entwickeln, werden<br />
grosse Möglichkeiten eröffnen, das mensch -<br />
liche Potential zu maximieren. 121
122<br />
Die Methoden<br />
Zellen ersetzen. Ausgewachsene Nervenzelle<br />
können sich nicht replizieren, um die<br />
durch eine Krankheit oder eine Verletzung<br />
verloren gegangenen Zellen zu ersetzen.<br />
Methoden, die sich die Fähigkeit der Nervenstammzellen<br />
(den Vorläufern von Nervenzellen)<br />
zunutze machen, sich zu neuen Nervenzellen<br />
zu differenzieren, werden die Behandlung<br />
neurologischer Erkrankungen möglicher -<br />
weise revolutionieren. Die Verpflanzung von<br />
Nervenstammzellen, die bisher an Tiermodellen<br />
durchgeführt wird, wird schon bald das<br />
Stadium von klinischen Studien an Menschen<br />
erreichen. Wie die Entwicklung dieser Zellen<br />
gesteuert werden kann, wie sie an den richtigen<br />
Ort gebracht und veranlasst werden können,<br />
die geeigneten Verbindungen zu bilden,<br />
sind aktuelle Themen der Forschung.<br />
Reparaturmechanismen von Nervenzellen.<br />
Dank der dem Nervensystem innewohnenden<br />
Fähigkeit der Wiederherstellung – in gewissen<br />
Fällen werden neue Nervenzellen regeneriert,<br />
in andern die Verkabelung wieder hergestellt –<br />
hat das Gehirn die Möglichkeit, sich selbst<br />
„wieder in Ordnung zu bringen“. Wenn es uns<br />
gelingt, diese Prozesse zu fördern, dürfen wir<br />
hoffen, Patienten mit Rückenmarks- oder<br />
Kopfverletzungen heilen zu können.<br />
Verfahren, um die Degeneration des Nervensystems<br />
aufzuhalten oder ihr vorzubeugen.<br />
Viele Erkrankungen wie Parkinson, Alzheimer,<br />
Huntington und ALS sind die Folge<br />
einer Degeneration spezifischer Nervenzell-<br />
Populationen in bestimmten Hirnbereichen.<br />
Die heutigen Behandlungsmethoden beeinflussen<br />
zwar die Symptome einer Krankheit<br />
wie Parkinson, nicht aber den fortschreitenden<br />
Untergang der Nervenzellen. Techniken,<br />
die auf unseren Kenntnissen der Mechanismen<br />
des Zelltods aufbauen, werden vermutlich zu<br />
Methoden führen, die die Degeneration von<br />
Nervenzellen verhindern und damit ein Fortschreiten<br />
der Krankheit aufhalten können.<br />
Verfahren, um die Expression von Genen<br />
im Gehirn zu verändern. Es ist möglich, die<br />
Wirkung bestimmter Gene im Gehirn von<br />
Versuchstieren entweder zu verstärken oder<br />
zu blockieren. Mutierte Gene von Menschen,<br />
die neurologische Krankheiten wie Huntington<br />
und ALS verursachen, werden bei Versuchstieren<br />
eingesetzt, um die Entwicklung<br />
neuer Therapien zur Prävention der Neurodegeneration<br />
voranzutreiben. Solche Techniken<br />
haben uns bereits wertvolle Informationen<br />
über normale Vorgänge wie die Entwicklung<br />
des Gehirns, Lernen und die Bildung neuer<br />
Erinnerungen vermittelt. Diese Techniken bieten<br />
uns die Möglichkeit, normale und ab nor -<br />
me Hirnprozesse wesentlich intensiver als je<br />
zuvor zu untersuchen; sie werden wohl mit der<br />
Zeit auch klinisch zur Behandlung verschiedener<br />
Hirnkrankheiten angewendet werden.<br />
Verbesserte bildgebende Verfahren. Die Abbildungen<br />
sowohl der Hirnstrukturen wie<br />
auch der Hirnfunktionen wurden stark verbessert.<br />
Dank der Entwicklung von Verfahren,<br />
die Hirnfunktionen ebenso rasch und<br />
genau abbilden wie sie stattfinden, sind<br />
„Echtzeit“-Abbildungen von Hirnfunktionen<br />
möglich geworden. Diese Techniken erlauben<br />
es den Forschenden genau zu verfolgen,<br />
welche Teile des Gehirns am Denken, Lernen<br />
und Erleben von Emotionen beteiligt sind.<br />
Elektronische Hilfsmittel als Ersatz für nicht<br />
funktionstüchtige Hirnbahnen. Mit der Zeit<br />
wird es wohl möglich sein, verletzte Hirnbahnen<br />
zu umgehen. Wir hoffen, dass die Verwendung<br />
von Multielektroden-Implantaten<br />
und Mikro-Computer-Vorrichtungen – welche<br />
die Aktivität im Gehirn aufzeichnen und<br />
in Signale übersetzen, die ans Rückenmark,<br />
an die motorischen Nerven oder direkt an die<br />
Muskeln weitergeleitet werden – uns so weit<br />
bringen wird, dass Verletzte auf die Wiederherstellung<br />
ihrer Funktionstüchtigkeit hoffen<br />
dürfen.<br />
Neuartige Methoden um Heilmittel zu entdecken.<br />
Fortschritte der strukturellen Biologie,<br />
der Genomforschung und der rechnergestützen<br />
Chemie erlauben es Forschenden, neue<br />
Pharmaka in einem nie zuvor gekannten Ausmass<br />
hervorzubringen, von welchen viele in
der klinischen Anwendung von beträchtlichem<br />
Nutzen sein könnten. Die Entwicklung<br />
neuer, rascher Screening-Verfahren, die auf<br />
„Gen-Chips“ und anderen hochentwickelten<br />
Techniken beruhen, werden in gewissen Fällen<br />
das Zeitintervall zwischen der Entdeckung<br />
einer neuen Substanz und ihrer klinischen<br />
Erprobung von mehreren Jahren auf einige<br />
Monate reduzieren.<br />
Unsere Verpflichtung:<br />
Vom Labor zum Krankenbett<br />
Die heutige neurowissenschaftliche Forschung<br />
profitiert von einem nie dagewesenen Ausmass<br />
an Möglichkeiten. Unser Verständnis<br />
der Funktionsweise des Gehirns, vom Beginn<br />
und der Progredienz von Krankheiten hat<br />
zugenommen. Ein ausgeklügeltes Arsenal<br />
von Hilfsmitteln erlaubt es uns, unser Wissen<br />
anzuwenden und die Fortschritte der Hirnforschung<br />
zu beschleunigen.<br />
Als Wissenschaftler und Wissenschaftle -<br />
rinnen sind wir verpflichtet, am Laborplatz<br />
auch weiterhin Fortschritte zu erzielen. Zur<br />
Bekämp fung der schweren Hirnkrankheiten<br />
wie Alzheimer-Krankheit, Hirnschlag oder<br />
Parkinson-Krankheit ist es notwendig, die<br />
Grundlagenforschung kontinuierlich weiterzuführen,<br />
so dass Kliniker auf ihr aufbauen<br />
und neue Behandlungsmethoden und Therapien<br />
entwickeln können. Es ist unsere Verantwortung,<br />
die Forschungsarbeiten fortzusetzen<br />
und zu versuchen, die Unterstützung der<br />
Öffentlichkeit zu erlangen.<br />
Ausserdem ist es unsere Pflicht, jene Bereiche<br />
der wissenschaftlichen Forschung verständlich<br />
zu machen, die schon bald konkrete<br />
Anwendungsmöglichkeiten für den Menschen<br />
bieten könnten. Um über das Laboratorium<br />
hinaus Fortschritte zu erzielen, müssen wir<br />
die nächsten klinischen Schritte partnerschaftlich<br />
mit der Öffentlichkeit zusammen<br />
unternehmen – es gilt also, die wissenschaftlichen<br />
Erkenntnisse fruchtbar zu machen, um<br />
aus ihnen wirkliche und echte Fortschritte<br />
„am Krankenbett“ zu erzielen.<br />
Da unsere Methoden und Techniken immer<br />
raffinierter werden, können sie, wenn man<br />
den möglichen Missbrauch ins Auge fasst,<br />
auch als bedrohlich empfunden werden. Es ist<br />
wichtig, dass wir die verständlichen Ängste<br />
wahrnehmen, die Hirnforschung könnte zu<br />
Möglichkeiten führen, die zentralsten Aspekte<br />
unseres Gehirns und Verhaltens, also genau<br />
das, was unsere menschliche Einzigartigkeit<br />
ausmacht, zu verändern. Das Vertrauen der<br />
breiten Öffentlichkeit in die Integrität der wissenschaftlich<br />
Tätigen, in die Sicherheit der klinischen<br />
Versuche – den Eckstein angewandter<br />
Forschung – und in die Sicherstellung der<br />
Vertraulichkeit von Patientendaten muss ständig<br />
aufrecht erhalten werden.<br />
Die Wissenschaft in den Zusammenhang des<br />
wirklichen Lebens zu stellen, ist immer eine<br />
Herausforderung. Die Leute wollen nicht nur<br />
wissen, wie und warum Forschung betrieben<br />
wird, sie wollen auch wissen, inwieweit sie für<br />
sie von Belang ist. Es ist daher sehr wichtig,<br />
den Bedenken der Öffentlichkeit, die Erkenntnisse<br />
der Hirnforschung könnten auf schädigende<br />
oder ethisch fragwürdige Weise angewendet<br />
werden, entgegenzutreten. So gilt es,<br />
beiden Herausforderungen gerecht zu werden,<br />
damit die von einer neurologischen oder<br />
psychiatrischen Krankheit Betroffenen von<br />
den Errungenschaften der Hirnforschung voll<br />
profitieren können.<br />
Der Auftrag der Neurowissenschaftler und<br />
Neurowissenschaftlerinnen reicht über die<br />
Hirnforschung hinaus. Wir stellen uns auch<br />
der Verantwortung, in einer verständlichen<br />
Sprache zu erklären, wohin uns unsere Wissenschaft<br />
mit ihren neuen Verfahren und<br />
Techniken vermutlich führen wird. Wir, die<br />
Mitglieder der amerikanischen <strong>Dana</strong> Alliance<br />
und der Europäischen <strong>Dana</strong> Alliance, sind<br />
gerne bereit, beim Aufbruch in ein neues<br />
Jahrzehnt der Hoffnung, der harten Arbeit<br />
und der Partnerschaft mit der Öffentlichkeit<br />
diese Aufgabe zu übernehmen.<br />
Stelle Dir eine Welt vor ...<br />
123
Members of EDAB<br />
AGID Yves* Hôpital de la Salpêtrière, Paris, France<br />
AGUZZI Adriano University of Zurich, Switzerland<br />
AN<strong>DER</strong>SEN Per* University of Oslo, Norway<br />
ANTUNES João Lobo University of Lisbon, Portugal<br />
AUNIS Dominque <strong>IN</strong>SERM Strasbourg, France<br />
AVENDAÑO Carlos University of Madrid, Spain<br />
AZOUZ Rony Ben-Gurion University of the Negev,<br />
Israel, TM<br />
BADDELEY Alan University of York, UK<br />
BARDE Yves-Alain* University of Basel, Switzerland<br />
BATTAGL<strong>IN</strong>I Paolo University of Trieste, Italy, TM<br />
BELMONTE Carlos Instituto de Neurosciencias,<br />
Alicante, Spain<br />
BENABID Alim-Louis <strong>IN</strong>SERM and Joseph Fourier<br />
Universtiy of Grenoble, France<br />
BEN-ARI Yehezkel <strong>IN</strong>SERM-<strong>IN</strong>MED, Marseille,<br />
France<br />
BENFENATI Fabio University of Genova, Italy<br />
BERGER Michael University of Vienna, Austria<br />
BERLUCCHI Giovanni* Università degli Studi di<br />
Verona, Italy<br />
BERNARDI Giorgio University Tor Vergata-Roma,<br />
Italy<br />
BERTHOZ Alain* Collège de France, Paris, France<br />
BEYREUTHER Konrad* University of Heidelberg,<br />
Germany<br />
BJÖRKLUND Anders* Lund University, Sweden<br />
BLAKEMORE Colin* University of Oxford, UK<br />
BOCKAERT Joel CNRS, Montpellier, France<br />
BORBÉLY Alexander University of Zurich,<br />
Switzerland<br />
BRANDT Thomas University of Munich, Germany<br />
BRUND<strong>IN</strong> Patrik Lund University, Sweden<br />
BUDKA Herbert University of Vienna, Austria<br />
BUREˇS Jan* Academy of Sciences, Prague, Czech<br />
Republic<br />
BYSTRON Irina University of Saint Petersburg,<br />
Russia<br />
CARLSSON Arvid University of Gothenburg,<br />
Sweden<br />
CASTRO LOPES Jose University of Porto, Portugal<br />
CATTANEO Elena University of Milan, Italy<br />
CHANGEUX Jean-Pierre Institut Pasteur, Paris,<br />
France<br />
CHERNISHEVA Marina University of Saint<br />
Petersburg, Russia<br />
CHVATAL Alexandr Institute of Experimental<br />
Medicine ASCR, Prague, Czech Republic<br />
CLARAC François CNRS, Marseille, France<br />
CLARKE Stephanie University of Lausanne,<br />
Swiss Society for Neuroscience, TMP<br />
CLEMENTI Francesco* University of Milan, Italy<br />
COLL<strong>IN</strong>GRIDGE Graham* University of Bristol, UK<br />
British Neuroscience Association president, P<br />
CUÉNOD Michel* University of Lausanne,<br />
Switzerland<br />
CULIC Milka University of Belgrade, Yugoslavia<br />
DAVIES Kay* University of Oxford, UK<br />
DEHAENE Stanislas <strong>IN</strong>SERM, Paris, France<br />
DELGADO-GARCIA José Maria Universidad<br />
Pablo de Olavide, Seville, Spain<br />
DEXTER David Imperial College London, UK, TM<br />
DE ZEEUW Chris Erasmus University,<br />
The Netherlands, TM<br />
DICHGANS Johannes University of Tübingen,<br />
Germany<br />
DIETRICHS Espen University of Oslo, Norway, TM<br />
DOLAN Ray University College London, UK<br />
DUDAI Yadin* Weizmann Institute of Science,<br />
Rehovot, Israel<br />
ELEKES Károly Hungarian Academy of Sciences,<br />
Tihany, Hungary<br />
ESEN Ferhan Osmangazi University, Eskisehir,<br />
Turkey<br />
EYSEL Ulf Ruhr-Universität Bochum, Germany
FERRUS Alberto* Instituto Cajal, Madrid, Spain<br />
FIESCHI Cesare University of Rome, Italy<br />
FOSTER Russell University of Oxford, UK<br />
FRACKOWIAK Richard* University College<br />
London, UK<br />
FREUND Hans-Joachim* University of Düsseldorf,<br />
Germany<br />
FREUND Tamás University of Budapest,<br />
Hungary<br />
FRITSCHY Jean-Marc University of Zurich,<br />
Switzerland<br />
GARCIA-SEGURA Luis Instituto Cajal, Madrid,<br />
Spain<br />
GISPEN Willem* University of Utrecht,<br />
The Netherlands<br />
GJEDDE Albert* Aarhus University Hospital,<br />
Denmark<br />
GLOW<strong>IN</strong>SKI Jacques Collège de France, Paris,<br />
France<br />
GRAUER Ettie Israel Institute of Biological<br />
Research, Israel, TM<br />
GREENFIELD Susan The Royal Institution of Great<br />
Britain, UK<br />
GRIGOREV Igor Institute of Experimental Medicine,<br />
Saint Petersburg, Russia<br />
GRILLNER Sten* Karolinska Institute, Stockholm,<br />
Sweden<br />
HAGOORT Peter F.C. Donders Centre for Cognitive<br />
Neuroimaging, Nijmegen, The Netherlands, TM<br />
HARI Riitta* Helsinki University of Technology,<br />
Espoo, Finland<br />
HARIRI Nuran University of Ege, Izmir, Turkey<br />
HERMANN Anton University of Salzburg, Austria<br />
HERSCHKOWITZ Norbert* University of Bern,<br />
Switzerland<br />
HIRSCH Etienne Hôpital de la Salpêtrière, Paris,<br />
France, French Neuroscience Society, P<br />
HOLSBOER Florian* Max-Planck-Institute of<br />
Psychiatry, Germany<br />
HOLZER Peter University of Graz, Austria<br />
HUXLEY Sir Andrew* University of Cambridge, UK<br />
<strong>IN</strong>NOCENTI Giorgio Karolinska Institute,<br />
Stockholm, Sweden<br />
IVERSEN Leslie University of Oxford, UK<br />
IVERSEN Susan* University of Oxford, UK<br />
JACK Julian* University of Oxford, UK<br />
JEANNEROD Marc* Institut des Sciences<br />
Cognitives, Bron, France<br />
JOHANSSON Barbro Lund University, Sweden<br />
KACZMAREK Leszek Nencki Institute of<br />
Experimental Biology, Warsaw, Poland<br />
KASTE Markku University of Helsinki,<br />
Finland<br />
KATO Ann Centre Médical Universitaire, Geneva,<br />
Switzerland<br />
KENNARD Christopher Imperial College School<br />
of Medicine, UK<br />
KERSCHBAUM Hubert University of Salzburg,<br />
Austria<br />
KETTENMANN Helmut Max-Delbrück-Centre for<br />
Molecular Medicine, Berlin, Germany<br />
KORTE Martin Technical University Braunschweig,<br />
Germany<br />
KOSSUT Malgorzata* Nencki Institute of<br />
Experimental Biology, Warsaw, Poland<br />
KOUVELAS Elias University of Patras, Greece<br />
KRISHTAL Oleg* Bogomoletz Institute of<br />
Physiology, Kiev, Ukraine<br />
LANDIS Theodor* University Hospital Geneva,<br />
Switzerland<br />
LANNFELT Lars University of Uppsala, Sweden<br />
LAURITZEN Martin University of Copenhagen,<br />
Denmark<br />
LERMA Juan Instituto de Neurociencias, Alicante,<br />
Spain<br />
LEVELT Willem* Max-Planck-Institute for<br />
Psycholinguistics, Nijmegen, The Netherlands<br />
LEVI-MONTALC<strong>IN</strong>I Rita* EBRI, Rome, Italy<br />
LIMA Deolinda University of Porto, Portugal<br />
LOPEZ-BARNEO José* University of Seville, Spain<br />
LYTHGOE Mark University College London, UK, TM
MAGISTRETTI Pierre J* University of Lausanne,<br />
Switzerland<br />
MALACH Rafael Weizmann Institute of Science,<br />
Rehovot, Israel<br />
MALVA Joao, University of Coimbra, Portugal,<br />
Portuguese Society for Neuroscience, TMP<br />
MAR<strong>IN</strong> Oscar Universidad Miguel Hernandez-<br />
CSIC, Spain<br />
MATTHEWS Paul University of Oxford, UK<br />
MEHLER Jacques* SISSA, Trieste, Italy<br />
MELAMED Eldad Tel Aviv University, Israel<br />
MOHORKO Nina University of Ljubljana,<br />
Slovenia, TM<br />
MOLDOVAN Mihai University of Copenhagen, TM<br />
MONYER Hannah* University Hospital of<br />
Neurology, Heidelberg, Germany<br />
MORRIS Richard* University of Edinburgh,<br />
Scotland; President of FENS<br />
MOSER Edvard Norwegian University of Science<br />
and Technology<br />
NALECZ Katarzyna Nencki Institute of<br />
Experimental Biology, Warsaw, Poland<br />
NALEPA Irena Polish Academy of Sciences, TM<br />
NEHER Erwin Max-Planck-Institute for Biophysical<br />
Chemistry, Göttingen, Germany<br />
NIETO-SAMPEDRO Manuel* Instituto Cajal,<br />
Madrid, Spain<br />
NOZDRACHEV Alexander State University of<br />
Saint Petersburg, Russia<br />
OERTEL Wolfgang* Philipps-University, Marburg,<br />
Germany<br />
OLESEN Jes Glostrup Hospital, Copenhagen,<br />
Denmark; Chairman European Brain Council<br />
ORBAN Guy* Catholic University of Leuven, Belgium<br />
PARDUCZ Arpad Institute of Biophysics, Biological<br />
Research Centre of the Hungarian Academy of<br />
Sciences, Szeged, Hungary<br />
PEKER Gonul University of Ege Medical School,<br />
Izmir, Turkey. Turkish Neuroscience Society, P<br />
PETIT Christine Institut Pasteur & Collège de<br />
France, Paris<br />
POCHET Roland Université Libre de Bruxelles,<br />
Belgium<br />
POEWE Werner Universitätsklinik für Neurologie,<br />
Innsbruck, Austria<br />
POULA<strong>IN</strong> Dominique Université Victor Segalen,<br />
Bordeaux, France<br />
PROCHIANTZ Alain CNRS and Ecole Normale<br />
Supérieure, France<br />
PYZA Elzbieta Jagiellonian University, Krakow,<br />
Poland<br />
RAFF Martin* University College London, UK<br />
RAISMAN Geoffrey Institute of Neurology, UCL,<br />
London, UK<br />
REPOVS Grega University of Ljubljana, Slovenia.<br />
Slovenian Neuroscience Association (S<strong>IN</strong>APSA), TMP<br />
RIBEIRO Joaquim Alexandre University of Lisbon,<br />
Portugal<br />
RIZZOLATTI Giacomo* University of Parma, Italy<br />
ROSE Steven The Open University, Milton<br />
Keynes, UK<br />
ROTHWELL Nancy University of Manchester, UK<br />
RUTTER Michael King’s College London, UK<br />
SAKMANN Bert Max-Planck-Institute for Medical<br />
Research, Heidelberg, Germany<br />
SCHWAB Martin* University of Zurich, Switzerland<br />
SEGAL Menahem Weizmann Institute of Science,<br />
Rehovot, Israel<br />
SEGEV Idan Hebrew University, Jerusalem, Israel<br />
SHALLICE Tim* University College London, UK<br />
S<strong>IN</strong>GER Wolf* Max-Planck-Institute for Brain<br />
Research, Frankfurt, Germany<br />
SKALIORA Irini Biomedical Research <strong>Foundation</strong><br />
of the Academy of Athens, TM<br />
SMITH David University of Oxford, UK<br />
SPERK Günther University of Innsbruck, Austria<br />
STAMATAKIS Antonis University of Athens,<br />
Greece,TM<br />
STEWART Michael The Open University, UK<br />
STOERIG Petra* Heinrich-Heine University,<br />
Düsseldorf, Germany<br />
STOOP Ron University of Lausanne, Switzerland, TM<br />
STRATA Pierogiorgio* University of Turin, Italy
SYKOVA Eva Institute of Experimental Medicine<br />
ASCR, Prague, Czech Republic. Czech Neuroscience<br />
Society, P<br />
THOENEN Hans* Max-Planck-Institute for<br />
Psychiatry, Germany<br />
TOLDI József University of Szeged, Hungary<br />
TOLOSA Eduardo University of Barcelona, Spain<br />
TSAGARELI Merab Beritashvili Institute of<br />
Physiology, Tblisi, Republic of Georgia<br />
VETULANI Jerzy Institute of Pharmacology, Krakow,<br />
Poland<br />
VIZI Sylvester* Hungarian Academy of Sciences,<br />
Budapest<br />
WALTON Lord John of Detchant* University of<br />
Oxford, UK<br />
W<strong>IN</strong>KLER Hans* Austrian Academy of Sciences,<br />
Austria<br />
ZAGREAN Ana-Maria Carol Davila University of<br />
Medicine and Pharmacy, Romania, TM<br />
ZAGRODZKA Jolanta Nencki Institute of<br />
Experimental Biology, Warsaw, Poland, TM<br />
ZEKI Semir* University College London, UK<br />
ZILLES Karl* Heinrich-Heine-University,<br />
Düsseldorf, Germany<br />
* Original signatory to the EDAB Declaration<br />
P = Full Member and NSS president<br />
TMP = NSS president term member<br />
TM = BAW Term member<br />
Federation of European Neuroscience<br />
Societies Presidents<br />
ANTAL Miklós Hungarian Neuroscience Society,<br />
University of Debrecen, Hungary<br />
BÄHR Mathias German Neuroscience Society,<br />
University Hospital Göttingen, Germany<br />
BANDTLOW Christine Austrian Neuroscience<br />
Association, Innsbruck Medical University, Austria<br />
DE SCHUTTER Erik Belgian Society for<br />
Neuroscience, University of Antwerp, Belgium<br />
DI CHIARA Gaetano Italian Society for<br />
Neuroscience (S<strong>IN</strong>S) University of Cagliari, Italy<br />
EFTHYMIOPOULOS Spyros Hellenic Neuroscience<br />
Society, University of Athens, Greece<br />
FRANDSEN Aase Danish Society for Neuroscience,<br />
Copenhagen University Hospital, Denmark<br />
GALLEGO Roberto Spanish Neuroscience Society,<br />
Instituto de Neurociencias/Universidad Miguel<br />
Hernández, Spain<br />
GORACCI Gianfrancesco European Society for<br />
Neurochemistry, University of Perugia, Italy<br />
JOELS Marian Dutch Neurofederation, University of<br />
Amsterdam, The Netherlands<br />
KHECH<strong>IN</strong>ASHVILI Simon Georgian Neuroscience<br />
Association, Beritsashvili Institute of Physiology,<br />
Tblisi, Republic of Georgia<br />
KOSTOVIC Ivica Croatia Society for Neuroscience,<br />
Institute for Brain Research, Zagreb, Croatia<br />
NUTT David, European College of<br />
Neuropharmacology, University of Bristol, UK<br />
PITKANEN Asla FENS Secretary General University<br />
of Kuopio, Finland<br />
ROTSHENKER Shlomo Israel Society of<br />
Neuroscience, The Hebrew University of Jerusalem<br />
SAGVOLDEN Terje Norwegian Neuroscience<br />
Society, University of Oslo, Norway<br />
SKANGIEL-KRAMSKA Jolanta Polish Neuroscience<br />
Society, Nencki Institute of Experimental Biology,<br />
Warsaw, Poland<br />
STENBERG Tarja Finnish Brain Research Society,<br />
Institute of Biomedicine/Physiology Biomedicum<br />
Helsinki, Finland<br />
ZAGREAN Leon National Neuroscience Society of<br />
Romania, Carol Davila University of Medicine,<br />
Bucharest, Romania<br />
June 2008
A <strong>Dana</strong> Alliance for the Brain Inc Publication prepared by EDAB,<br />
the European subsidiary of DABI<br />
Gedruckt in der Schweiz 6.2008