Die Masken der Liebe Kerstin Cornils Grenzen sind dafür gemacht, überschritten zu werden. Wie die Potsdamer Autorin Antje Rávic Strubel dem Denken die Grazie zurückgibt. pony: In Ihrem Roman „Kältere Schichten der Luft“ erzählen Sie von der jungen Anja aus Halberstadt. Um der ostdeutschen Tristesse zu entfliehen, schließt Anja sich einem Feriencamp im schwedisch-norwegischen Grenzland an. Doch schon bald stellt sich heraus, dass die Campteilnehmer ihren Traum von einem alternativen Leben nicht umsetzen können. Sind Grenzüberschreitungen nicht einmal im Grenzland möglich? Antje Rávic Strubel: Sie haben Recht, es geht in diesem Roman um die Frage, inwieweit Grenzen dehnbar sind. Das bezieht sich nicht nur auf die Geschlechtergrenze, sondern auf Alter ebenso wie auf das Verhältnis von Fiktion und Wirklichkeit. Wenn es nicht mehr klar ist, ob hier gerade von einem Jungen oder einer Frau Mitte dreißig die Rede ist, entsteht eine Irritation, Körper und Alter werden fließend. Ich glaube, dass Grenzüberschreitungen heute nicht mehr einfach in der Zerschlagung von Grenzen bestehen, sondern in ihrer Neukombination und Verschiebung. Lesung Antje Rávic Strubel Anja nimmt in ihrer Beziehung zu Siri spielerisch eine männliche Identität an. Ihre Verkleidung als Junge führt dazu, dass sie sich ihre Liebe im Stil einer H&M-Reklame vorstellt: Siri wird zum „anschmiegsamen Mädchen“, Anja zum „selbstsicheren Jungen“. Ist die lesbische Liebe eine Maskerade – eine bloße Imitation der heterosexuellen Ordnung? Spielerisch würde ich das nicht nennen. Mit Anjas Jungenhemd ist es ja nicht getan. Es geht hier nicht um Rollenspiele, sondern um Bewusstseinserweiterung, die Vorstellung von einem zweiten möglichen Leben, das momentweise, blitzlichthaft im Dialog zwischen den beiden Frauen aufscheint und im Sprechen wirklich wird. Und es geht darum, dass Liebe Identität schafft, eben auch eine, die körperliche Grenzen übersteigen kann. Schon im Mythos wird aus dem Ungeheuer ein Prinz, wenn die Schöne ihm sagt, dass sie es liebt. Im Übrigen sehe ich keinen Unterschied zwischen homo- und heterosexueller Maskerade. Geschlechtliche Identität ist in jedem Fall eine unablässig wiederholte Handlung, eine gesellschaftlich regulierte Inszenierung, wie wir seit Judith Butler wissen. Antje Rávic Strubel erklärt am 8.11.07 um 20.00 Uhr im Lit. Zentrum das Phänomen „Sehnsucht“. Ihr Roman „Kältere Schichten der Luft“ (2007, 188 Seiten, 17,90 EUR) ist bei S. Fischer erschienen; siehe auch Rezension in pony 4/07. Die andere Seite Jan Langehein Die Entführung Hanns-Martin Schleyers, das Land im nicht verhängten Ausnahmezustand, die Entführung und Befreiung der Urlaubermaschine Landshut, schließlich der Tod der Stammheimer Gefangenen und die Ermordung Schleyers – das sind die Ereignisse, die als „Deutscher Herbst“ in die Zeitgeschichte eingingen. Dreißig <strong>Jahre</strong> später wütet eine Infotainmentmaschine über die Bildschirme, die ein Minimum an Erkenntnis und kritischer Reflexion mit einer King-Size-Portion Gefühlsduselei unters Volk zu bringen versucht – routiniertester Guido-Knoppismus; „Baaders Helfer“. Da erfährt man dann, dass Schleyers Kinder unter dessen Tod schlimmer litten als die Täter (Wer hätte es gedacht!), und Leute, die Baader 1967 mal auf einer Party getroffen hatten, durften erzählen, dass es dem gar nicht um <strong>Politik</strong> gegangen sei, sondern nur um Weiber und schnelle Autos. Neu ist an dieser Sicht auf die RAF höchstens deren Diskussionen Klaus Viehmann & Karl-Heinz Dellwo küchenfreudianisch begründete Gleichsetzung mit den Nazis: Im Aufstand gegen die Väter hätten sich Teile der 68er deren „Totalitarismus“ und deren Gewaltfetisch zu eigen gemacht und seien deshalb Mörder geworden wie sie. Im Vokabular der hoch gelobten deutschen Vergangenheitsbewältigung fordern die Kommentatoren, ein angebliches „Schweigen über damals“ müsse gebrochen, ein „Schlussstrich unter die Geschichte“ dürfe nicht gezogen werden – hier wird die RAF zur Wehrmacht, der Andreas mutiert zum Adolf, und die Schleyerentführung rückt in die Nähe des an Auschwitz gebildeten Begriffs „Menschheitsverbrechen“. Wer sich nicht in Betroffenheit suhlen, sondern 77 begreifen will, der sollte sich auf diesen Blick nicht beschränken lassen. Mit Klaus Viehmann, ehemals „Bewegung 2. Juni“, und Karl-Heinz Dellwo, früher RAF, kommen im November zwei Referenten in den T-Keller, die im Deutschen Herbst buchstäblich auf der anderen Seite standen. Auch sie werden vor allem „Oral History“ zu bieten haben und wohl kaum eine echte Reflexion der Geschichte liefern können – aber ihre Perspektive gehört zu dieser Reflexion unbedingt dazu. Veranstaltungen im T-Keller zum Thema „<strong>30</strong> <strong>Jahre</strong> Deutscher Herbst“: am 6.11.07 um 20.00 Uhr mit Klaus Viehmann; am 15.11.07 um 20.00 Uhr mit Karl-Heinz Dellwo Klare Trennung! Porreereste, Bananenschalen, Möhrengrün … Zahnbürste, Windeln, Glühbirnen … Konservendosen, Milchtüten, Shampooflaschen … Zeitungen, Zeitschriften, Kartons … Weinflaschen, Saftflaschen kaputte Gläser … Eigenbetrieb der Stadt Göttingen Bei Fragen können Sie sich direkt an uns wenden. www.stadtreinigung.goettingen.de · Servicenummer 400 5 400 6 Kleine Texte Kleine Texte 7