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Der geriatrische Patient - Österreichische Ärztezeitung

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34<br />

<strong>Der</strong><br />

<strong>geriatrische</strong><br />

<strong>Patient</strong><br />

Unter dem Begriff „vier Giganten der Geriatrie“ werden die alters-<br />

typischen Symptome Immobilität, das erhöhte Sturzrisiko, die<br />

Inkontinenz und kognitive Beeinträchtigung zusammengefasst. Bei<br />

der Behandlung ist es wichtig, Schwerpunkte zu setzen, denn nicht<br />

jede Erkrankung des <strong>geriatrische</strong>n <strong>Patient</strong>en ist behandlungsbedürftig.<br />

Von Monika Lechleitner*<br />

› ö s t e r r e i c h i s c h e ä r z t e z e i t u n g ‹ 1 2 ‹ 3 0 . j u n i 2 0 0 7<br />

© Mauritius


Die Anzahl älterer <strong>Patient</strong>en<br />

nimmt entsprechend der demographischen<br />

Entwicklung deutlich<br />

zu. <strong>Der</strong> Anteil der über 60-Jährigen<br />

in Österreich wird von 22 Prozent im<br />

Jahr 2004 auf rund 33 Prozent im Jahr<br />

2050 ansteigen. Dem Lebensalter entsprechend<br />

unterscheidet man zwischen<br />

jungen Alten (60 bis 75 Jahre), Alten<br />

(75 bis 85 Jahre), Hochbetagten (über<br />

85 Jahre) und langlebige Menschen (um<br />

100 Jahre; siehe Tab. 1). Laut den Daten<br />

des aktuellen <strong>Österreichische</strong>n Gesundheitsberichts<br />

beträgt die mittlere Lebenserwartung<br />

für Frauen derzeit rund<br />

81 Jahre, für Männer rund 77 Jahre. Im<br />

höheren Alter nimmt die Anzahl an Gebrechen<br />

zu. Im Alter zwischen 65 und<br />

69 Jahren weisen neun Prozent der Bevölkerung<br />

sieben oder mehr körperliche<br />

Gebrechen auf, bei den über 80-Jährigen<br />

sind es bis zu 30 Prozent. Dementielle<br />

Erkrankungen sind in der Altergruppe<br />

über 65 Jahre bei drei Prozent der Bevölkerung<br />

anzutreffen, bei über 85-Jährigen<br />

bei 30 Prozent. Dementsprechend<br />

steigt die Pflegebedürftigkeit mit zunehmendem<br />

Lebensalter kontinuierlich an<br />

und beträgt im Alter über 85 Jahre nahezu<br />

80 Prozent.<br />

Ein <strong>geriatrische</strong>r <strong>Patient</strong> ist grundsätzlich<br />

durch sein biologisches Alter<br />

gekennzeichnet; darüber hinaus durch<br />

sein Leiden an mehreren Krankheiten,<br />

eine veränderte oft unspezifische klinische<br />

Symptomatik, einen verlängerten<br />

Krankheitsverlauf und eine verzögerte<br />

Genesung (Tab. 2). Charakteristisch<br />

für den älteren <strong>Patient</strong>en ist auch die<br />

veränderte Reaktion auf Medikamente<br />

sowie das mögliche Vorliegen von Demobilisierungs-<br />

und psychosozialen<br />

Symptomen. Die Multimorbidität des<br />

älteren <strong>Patient</strong>en bedeutet, dass mit<br />

zunehmendem Alter häufig mehrere<br />

Krankheiten gleichzeitig auftreten. In<br />

der Behandlung ist es deshalb wichtig,<br />

Schwerpunkte zu setzen, denn nicht<br />

jede Erkrankung beim <strong>geriatrische</strong>n <strong>Patient</strong>en<br />

ist behandlungsbedürftig, und<br />

die Anzahl an verordneten Medikamenten<br />

sollte so gering wie möglich sein.<br />

Unter dem Begriff „vier Giganten der<br />

Geriatrie“ werden die alterstypischen<br />

Symptome Immobilität, das erhöhte<br />

Sturzrisiko, die Inkontinenz und kogni-<br />

› ö s t e r r e i c h i s c h e ä r z t e z e i t u n g ‹ 1 2 ‹ 3 0 . j u n i 2 0 0 7<br />

tive Beeinträchtigung zusammengefasst.<br />

Sie haben einen wesentlichen Einfluss<br />

auf die Selbstständigkeit und damit Lebensqualität<br />

des <strong>geriatrische</strong>n <strong>Patient</strong>en.<br />

Anstelle einer rein organbezogenen<br />

Diagnostik und Therapie erfordert die<br />

Betreuung des <strong>geriatrische</strong>n multimorbiden<br />

<strong>Patient</strong>en eine ganzheitsmedizinische<br />

Beurteilung. <strong>Der</strong> eingehenden<br />

Anamnese kommt im Hinblick auf die<br />

Erfassung vorbestehender <strong>geriatrische</strong>r<br />

Symptome und der Medikation eine<br />

zentrale Bedeutung zu, erfordert jedoch<br />

einen entsprechenden Zeitaufwand,<br />

der in Akutabteilungen häufig fehlt.<br />

Im Krankenhaus erhöht sich durch die<br />

Immobilisierung sowie durch die beeinträchtigte<br />

Adaptationsfähigkeit des<br />

<strong>geriatrische</strong>n <strong>Patient</strong>en und die häufige<br />

soziale Isolierung das Risiko für weitere<br />

Komplikationen. <strong>Der</strong> <strong>geriatrische</strong><br />

<strong>Patient</strong> sollte so früh wie möglich mobilisiert<br />

werden, um in seine gewohnte<br />

Umgebung zurückkehren zu können.<br />

Abteilungen für Akutgeriatrie/Remobilisation<br />

sind in besonderem Maß an die<br />

Bedürfnisse des <strong>geriatrische</strong>n <strong>Patient</strong>en<br />

angepasst. Die Indikation zur Aufnahme<br />

an eine Akutgeriatrie besteht beim<br />

älteren <strong>Patient</strong>en bei somatischer oder<br />

psychischer Multimorbidität, die eine<br />

stationäre Akutbehandlung erfordert,<br />

bei einer Einschränkung der Selbstständigkeit<br />

durch den Verlust funktioneller<br />

und kognitiver Fähigkeiten beziehungsweise<br />

psychischer Probleme im Rahmen<br />

einer Erkrankung. Die Notwendigkeit<br />

für funktionsfördernde, funktionserhaltende<br />

oder reintegrierende Maßnahmen<br />

stellt eine weitere Indikation zur Betreuung<br />

an einer Abteilung für Akutgeriatrie/Remobilisation<br />

dar.<br />

In Bezug auf die Qualitatskriterien<br />

gelten als Mindeststandards einer akut<strong>geriatrische</strong>n<br />

Einheit die Ausstattung<br />

durch ein multidisziplinäres, geriatrisch<br />

ausgebildetes Team (Medizin, Pflege,<br />

Physio- und Ergotherapie, Logopädie,<br />

Sozialarbeit und Psychologie), die Betreuung<br />

durch geriatrisch fortgebildete<br />

beziehungsweise erfahrene Fachärzte<br />

(Additivfacharzt für Geriatrie), durch<br />

Konsiliarfachärzte unterschiedlicher<br />

Fachrichtungen sowie der Zugang zu<br />

diagnostischen Einrichtungen (bildge-<br />

bende Verfahren, Labor, Endoskopie,<br />

Intensivstation).<br />

Die Durchführung eines <strong>geriatrische</strong>n<br />

Basis-Assessments mit darauf aufbauender<br />

Planung und Anpassung der Behandlung<br />

gilt als eine Grundvoraussetzung in<br />

der Betreuung <strong>geriatrische</strong>r <strong>Patient</strong>en.<br />

Das <strong>geriatrische</strong> Assessment wird als<br />

ein multidimensionaler, interdisziplinärer<br />

Prozess definiert. Es ermöglicht<br />

anhand der unterschiedlichen Testabläufe<br />

das Erkennen von medizinischen,<br />

psychosozialen und funktionalen Problemen<br />

und Defiziten, aber auch von<br />

bestehenden Kapazitäten des <strong>Patient</strong>en.<br />

Klinische Studien konnten belegen, dass<br />

bei <strong>Patient</strong>en, die einem <strong>geriatrische</strong>n<br />

Assessment unterzogen wurden, neben<br />

einer Reduktion der Wiederaufnahmebedürftigkeit<br />

und einer Verbesserung<br />

der Mobilität und kognitiven Funktion<br />

eine Senkung der Mortalität beobachtet<br />

werden konnte.<br />

Die österreichische Gesellschaft für<br />

Geriatrie und Gerontologie hat einen<br />

standardisierten Ablauf für das geria- :<br />

Definition des Alters<br />

Alter<br />

Junge Alte 60 – 75 Jahre<br />

Alte 75 – 85 Jahre<br />

Hochbetagte 85+<br />

Langlebige Menschen um 100<br />

Allgemeinzustand<br />

• Selbstständige ältere Menschen<br />

• Gebrechliche <strong>Patient</strong>en ohne typisch<br />

<strong>geriatrische</strong> Probleme<br />

• Extrem beeinträchtigte <strong>Patient</strong>en mit<br />

fortgeschrittener Demenz, terminalen<br />

Erkrankungen<br />

Tab. 1<br />

Charakteristika des<br />

<strong>geriatrische</strong>n <strong>Patient</strong>en<br />

•<br />

Höheres Lebensalter<br />

• Multimorbidität<br />

• Unspezifische Symptome<br />

• Verlängerter Krankheitsverlauf und<br />

verzögerte Genesung<br />

• Veränderte Reaktion auf Medikamente<br />

• Demobilisierungssymptome<br />

• Psychosoziale Symptome<br />

Quelle: Füsgen I, „<strong>Der</strong> ältere <strong>Patient</strong>“, 3.<br />

Auflage, Urban-Fischer 2000 Tab. 2<br />

35


: trische Basis-Assessment definiert<br />

(www.geriatrie-online.at). So erfolgt<br />

zur Beurteilung der Mobilität der Test<br />

nach Tinetti. Dieser Test beurteilt Bewegungsfunktionen<br />

wie Stand, Balance,<br />

Aufstehen, Drehen auf der Stelle<br />

und Hinsetzen. Zur Einschätzung des<br />

Gehvermögens werden das Gangbild,<br />

die Schrittlänge und Schritthöhe, die<br />

Symmetrie, Kontinuität, Abweichung,<br />

Schrittbreite und die Rumpfstabilität<br />

erfasst. Werden weniger als 20 der 28<br />

möglichen Punkte erreicht, besteht ein<br />

signifikant erhöhtes Sturzrisiko. Beim<br />

„Timed Up and Go“ Test nach Richardson<br />

und Podsiadlo wird die Zeit in Sekunden<br />

angegeben, die der <strong>Patient</strong> benötigt,<br />

um nach Aufforderung aufzustehen,<br />

mit einem sicheren Gang bis zu einer<br />

drei Meter vom Sessel entfernten Linie<br />

zu gehen, sich umzudrehen, zurückzugehen<br />

und wieder hinzusetzen. Eine alltagsrelevante<br />

Mobilitätseinschränkung<br />

besteht bei einer benötigten Zeitdauer<br />

von länger als 20 Sekunden. Mit dem<br />

standardisierten Handkrafttest wird auf<br />

die Muskelkraft rückgeschlossen.<br />

Weitere Testverfahren des <strong>geriatrische</strong>n<br />

Assessments sind die Beurteilung<br />

des Barthel-Index beziehungsweise<br />

des Activity Daily Life Index. Dabei<br />

wird die Selbstständigkeit der Absolvierung<br />

von Aktivitäten wie Nahrungsaufnahme,<br />

Waschen, Toilettengang, Gehen<br />

auf Flurebenen oder Fahren mit dem<br />

Rollstuhl, Treppensteigen, sowie An-<br />

und Auskleiden beurteilt, einschließlich<br />

möglicher Inkontinenzsymptome. Zum<br />

<strong>geriatrische</strong>n Assessments zählt auch die<br />

Prüfung der Sinnesfunktionen (Hörminderung,<br />

Visuseinschränkung), die<br />

Erfassung depressiver Störungen durch<br />

die Geriatrische Depressionsskala und<br />

die Beurteilung der kognitiven Funktion<br />

anhand des Mini-Mental State Examination<br />

Tests. <strong>Der</strong> Geldzähltests nach<br />

Nikolaus erfasst die manuellen Fähigkeiten,<br />

den Nahvisus und die kognitive<br />

Leistung. Auch die Beurteilung des Essverhaltens,<br />

der Gewichtsbewegung und<br />

des Ernährungszustandes (Body Mass<br />

Index, eventuell Körperfettmessung,<br />

36/37<br />

Oberarm- und Wadenumfang) zählt zu<br />

den Messparametern des <strong>geriatrische</strong>n<br />

Assessments.<br />

Ernährungszustand im Alter<br />

Im höheren Lebensalter kommt es<br />

häufig zu einer Reduktion des Body<br />

Mass Index (BMI). Eine deutliche Gewichtsabnahme,<br />

körperliche Schwäche<br />

und Inaktivität werden auch als „Frailty“<br />

bezeichnet, die Gebrechlichkeit erhöht<br />

das Risiko für Stürze und weitere<br />

Behinderungen. Unabhängig vom BMI<br />

kann aber auch bei normal- oder übergewichtigen<br />

<strong>Patient</strong>en eine Malnutrition<br />

mit einem Protein- und Vitaminmangel<br />

vorliegen. Die europäische SENECA<br />

(Survey in Europe on Nutrition and<br />

the Elderly Concerted Action) Study<br />

hat nachgewiesen, dass bei rund zehn<br />

Prozent der zu Hause lebenden älteren<br />

Menschen eine Unterernährung vorliegt.<br />

Dieser Prozentsatz steigt bei in<br />

Alters- und Pflegeheimen betreuten älteren<br />

Menschen auf bis zu 60 Prozent<br />

an. Dem Ernährungszustand älterer<br />

Menschen wird grundsätzlich zu wenig<br />

Aufmerksamkeit gewidmet. Vielfältige<br />

und komplexe Mechanismen tragen zur<br />

Mangelernährung beim <strong>geriatrische</strong>n <strong>Patient</strong>en<br />

bei, wie eine Verminderung von<br />

Appetit, Geschmack, Geruchsvermögen<br />

und Durstgefühl, aber auch Zahnprobleme,<br />

Schluckstörungen, die Immobilität,<br />

sozioökonomische Faktoren und<br />

Nebenwirkungen von Medikamenten.<br />

Diese verschiedenen Einflussfaktoren<br />

werden im Rahmen des <strong>geriatrische</strong>n Assessments<br />

erfasst. Nahrungssupplemente,<br />

Trink- und Zusatznahrungen können<br />

helfen, Defizite wie eine Hypoproteinämie,<br />

einen Calcium-, Folsäure- oder Eisenmangel<br />

auszugleichen. Bei Schluckstörungen<br />

mit Aspirationsgefahr ist die<br />

Anlage einer PEG-Sonde (Percutane Endoskopische<br />

Gastrotomie) zu erwägen.<br />

Atypische<br />

Krankheitssymptome<br />

Während die klassischen klinischen<br />

Symptome von Infektionen oder Herz-<br />

Kreislauferkrankungen abgeschwächt<br />

oder gänzlich fehlen können, findet<br />

man als Begleitreaktion akuter Erkrankungen<br />

beim <strong>geriatrische</strong>n <strong>Patient</strong>en<br />

häufig eine Verschlechterung des Allgemeinzustandes,<br />

Schwäche, Verwirrtheit,<br />

verstärkte Sturzneigung und das Auftreten<br />

einer Inkontinenz. Bei einer akuten<br />

Verschlechterung des Allgemeinzustandes<br />

sollten deshalb abklärende Untersuchungen<br />

auf das Vorliegen von Infekten<br />

(Harnwegsinfekt, Diverticulitis), kardiovaskulären<br />

Erkrankungen (stummer<br />

Herzinfarkt) oder metabolischen Erkrankungen<br />

(Hypo- oder Hyperglykämie<br />

bei Diabetes mellitus) durchgeführt<br />

werden. Auch funktionelle Störungen<br />

wie die Obstipation oder Blasenentleerungsstörungen<br />

können beim älteren<br />

<strong>Patient</strong>en mit Allgemeinsymptomen wie<br />

mit einer Verschlechterung der Befindlichkeit<br />

und Verwirrtheit einhergehen.<br />

Differentialdiagnostisch sind auch Nebenwirkungen<br />

und Interaktionen von<br />

Medikamenten zu berücksichtigen.<br />

Medikamentöse Therapie<br />

Aufgrund altersbedingter Organ-Veränderungen,<br />

vor allem der Nieren- und<br />

Leberfunktion, ist die Pharmakokinetik<br />

von Medikamenten beim älteren <strong>Patient</strong>en<br />

eingeschränkt, und damit das<br />

Risiko für potentielle Nebenwirkungen<br />

erhöht. Die Nierenzellmasse nimmt von<br />

circa 250 Gramm beim 50-Jährigen mit<br />

zunehmendem Alter kontinuierlich auf<br />

rund 180 Gramm im Alter von 90 Jahren<br />

ab. In der Folge kommt es zu einer<br />

Reduktion der glomerulären Filtrationsrate<br />

um etwa ein Milliliter pro Jahr<br />

nach dem 40. Lebensjahr. <strong>Der</strong> Serumkreatininwert<br />

bleibt jedoch aufgrund<br />

der altersbedingten Abnahme der Skelettmuskulatur<br />

(Sarkopenie) stabil und<br />

kann damit zu einer Fehlinterpretation<br />

der Nierenfunktion führen; deshalb ist<br />

die Berechnung der glomerulären Filtrationsrate<br />

von Vorteil. Auch die Leberzellmase<br />

und der hepatische Blutfluß<br />

nehmen mit zunehmendem Lebensalter<br />

ab. Aufgrund der großen Reserve zeigt<br />

sich jedoch keine relevante Funk- :<br />

› ö s t e r r e i c h i s c h e ä r z t e z e i t u n g ‹ 1 2 ‹ 3 0 . j u n i 2 0 0 7


: tionseinschränkung. Allerdings können<br />

beim älteren <strong>Patient</strong>en zusätzliche<br />

Stressfaktoren wie Akuterkrankungen<br />

und deswegen erforderliche Therapiemaßnahmen<br />

die hepatische Funktionskapazität<br />

beeinträchtigen. Dies betrifft<br />

die Metabolisierung von Medikamenten<br />

über das Cytochrom P450-System,<br />

das mit zunehmendem Lebensalter eine<br />

verminderte Aktivität aufweist. Bei<br />

der Verabreichung von mehreren Medikamenten<br />

sind vor allem potentielle<br />

Interferenzen in der Metabolisierung<br />

zu berücksichtigen. Weitere Involutionsvorgänge,<br />

die den Wirkspiegel von<br />

Pharmaka beim älteren <strong>Patient</strong>en beeinflussen<br />

können, sind die Verminderung<br />

des Wassergehalts im Organismus, die<br />

Verminderung der Muskelmasse (Sarkopenie)<br />

und Zunahme der Fettmasse,<br />

sowie eine veränderte gastrointestinale<br />

Kinetik (Obstipationsneigung).<br />

Häufige klinische Syndrome<br />

beim <strong>geriatrische</strong>n <strong>Patient</strong>en<br />

Sturzneigung<br />

Jährlich stürzen circa 30 Prozent aller<br />

über 65-jährigen Menschen. Etwa<br />

18 Prozent dieser Stürze haben eine<br />

schwerere Verletzung, bis zu zwölf Prozent<br />

eine Fraktur zur Folge. Die Einjahresmortalität<br />

nach einer Hüftfraktur beträgt<br />

bis zu 30 Prozent. Die Inzidenz der<br />

Stürze im eigenen Haushalt erreicht bei<br />

über 80-jährigen 40 Prozent, in Alten-<br />

und Pflegeheimen liegt sie noch höher.<br />

Sturzgefahren und mögliche Ursachen<br />

müssen deshalb rechtzeitig erkannt<br />

werden, um präventive Maßnahmen zu<br />

treffen. Ursachen für Stürze können altersbedingte<br />

Erkrankungen darstellen<br />

wie cerebro- und kardiovaskuläre Erkrankungen,<br />

eine Beeinträchtigung des<br />

Seh- oder Hörvermögens, die Sarkopenie<br />

und Osteoporose mit Veränderungen in<br />

der Balance und eine Neuropathien (dia-<br />

betische Neuropathie). Medikamente<br />

wie psychotrope Pharmaka, Antihypertensiva,<br />

Diuretika oder Antiparkinsonmedikamente<br />

tragen ebenfalls zum<br />

38/39<br />

Sturzrisiko bei. Die Sturzerfahrung für<br />

den älteren <strong>Patient</strong>en selbst kann zur<br />

Entwicklung des sogenannten „Postfall-<br />

Syndroms“ führen. Das Sturzereignis<br />

stellt ein einschneidendes und beängstigendes<br />

Erlebnis dar, das einen Rückzug<br />

aus dem aktiven Leben, Perspektivlosigkeit<br />

und Depressionen zur Folge hat.<br />

Akute Verwirrtheit<br />

Eine akute Verwirrheit entwickelt<br />

sich innerhalb einer Zeitspanne von<br />

Stunden oder Tagen und geht mit einer<br />

Bewusstseinsstörung, das heißt einer<br />

reduzierten Klarheit der Umgebungswahrnehmung<br />

einher. Störungen des<br />

Neugedächtnisses, der Orientierung,<br />

der Sprache und/oder die Entwicklung<br />

einer Wahrnehmungsstörung sind somit<br />

typische Symptome, ebenso auch Veränderungen<br />

der Psychomotorik (rascher,<br />

nicht vorhersehbarer Wechsel zwischen<br />

Hypo- und Hyperaktivität, vermehrter<br />

oder verminderter Redefluss, verstärkte<br />

Schreckreaktion) und Veränderungen<br />

des Schlaf-Wachrhythmus.<br />

Zu den häufigsten Ursachen für<br />

eine akute Verwirrtheit zählen neurologische,<br />

internistische und psychiatrische<br />

Erkrankungen, Nebenwirkungen von<br />

Medikamenten, aber auch psychosoziale<br />

Belastungssituationen. Reizdeprivationen<br />

und Perzeptionsstörungen, wie der<br />

Verlust einer Brille, des Hörgeräts oder<br />

der Zahnprothese, sowie Dunkelheit<br />

und Einsamkeit können über illusionäre<br />

Fehlinterpretationen zur Verwirrtheit<br />

führen.<br />

Depression<br />

Die Altersdepression stellt eine wegen<br />

des hohen Suizidrisikos große Gefährdung<br />

für den alten Menschen dar.<br />

Im Vordergrund der Symptomatik der<br />

Altersdepression steht typischerweise<br />

die gedrückte Stimmung mit ausgeprägter<br />

Losigkeits-Symptomatik und<br />

Antriebshemmung. Vegetative Veränderungen<br />

wie Tachykardien, Hypo- oder<br />

Hypertonie, Obstipation oder Diarrhoe<br />

führen häufig zum Arztbesuch. Kognitive<br />

Defizite bei Depression können<br />

zum Bild der Pseudodemenz führen mit<br />

einer Verlangsamung der Denkprozesse,<br />

Konzentrationsstörungen, Wahrnehmungsbeeinträchtigungen<br />

und einer gestörten<br />

Gedächtnisleistung. Ein weiteres<br />

häufiges Symptom einer depressiven<br />

Störung im Alter ist Angst, mit Trennungsängsten<br />

und sozialen Ängsten.<br />

Auch ein Verarmungswahn oder hypochondrischer<br />

Wahn können im Rahmen<br />

einer Depression auftreten.<br />

Demenz<br />

Rund 55 Prozent aller <strong>Patient</strong>en mit<br />

Demenz leiden an der Alzheimer Erkrankung,<br />

zehn bis 15 Prozent an einer<br />

vaskulären Demenz und rund 15<br />

Prozent an einer Kombination beider<br />

Formen. Degenerative motorische, zerebelläre<br />

beziehungsweise spinale Systemerkrankungen<br />

können ebenfalls zur<br />

einer Demenz führen. Die Prävalenz der<br />

Alzheimer-Erkrankung steigt ab dem<br />

65. Lebensjahr kontinuierlich an. In<br />

der Bevölkerungsgruppe über 85 Jahre<br />

weisen rund 35 Prozent Anzeichen eines<br />

dementiellen Syndroms auf.<br />

Häufige Erkrankungen<br />

beim <strong>geriatrische</strong>n <strong>Patient</strong>en<br />

Koronare Herzerkrankung<br />

und Herzinsuffizienz<br />

Pectanginöse Beschwerden als typische<br />

klinische Symptome einer myokardialen<br />

Mangeldurchblutung bei<br />

koronarer Herzerkrankung können<br />

beim älteren <strong>Patient</strong>en fehlen, aufgrund<br />

einer Neuropathie kann sogar ein Myokardinfarkt<br />

stumm verlaufen. Als<br />

sogenannte KHK-Äquivalente gelten<br />

ventrikuläre Extrasystolien, Vorhofflimmern,<br />

Palpitationen, Dyspnoe, Kollaps<br />

beziehunsgweise Synkopen. Eine häufige<br />

Folge einer KHK ist die Herzinsuf-<br />

fizienz.<br />

Die chronische Herzinsuffzienz findet<br />

sich typischerweise beim älteren :<br />

› ö s t e r r e i c h i s c h e ä r z t e z e i t u n g ‹ 1 2 ‹ 3 0 . j u n i 2 0 0 7


: Menschen. Die Inzidenz beträgt in<br />

der Gesamtbevölkerung rund zwei Prozent<br />

und steigt bei über 65-Jährigen<br />

auf zehn Prozent an. Die Notwendigkeit<br />

für eine stationäre Bertreuung und<br />

die Mortalität nimmt in der höheren<br />

Altersgruppe deutlich zu. Pathophysiologisch<br />

führt der Alterungsprozess<br />

am Herzen zu einer zunehmenden<br />

Steifigkeit des linken Ventrikels. Eine<br />

diastolische Funktionsstörung stellt<br />

im höheren Lebensalter mit bis zu 50<br />

Prozent die grundlegende Funktionsstörung<br />

des Herzens dar. Auch die klinische<br />

Symptomatik der Herzinsuffizienz<br />

ändert sich im höheren Lebensalter.<br />

Anstelle der typischen Anzeichen einer<br />

Herzinsuffizienz, wie Leistungsknick,<br />

Dyspnoe und Ödemneigung zeigen<br />

<strong>geriatrische</strong> <strong>Patient</strong>en cerebrale Funktionsstörungen,<br />

wie Agitiertheit, Verwirrtheit,<br />

sowie Appetitlosigkeit und<br />

Adynamie.<br />

Diabetes mellitus<br />

In den Industriestaaten liegt die Prävalenz<br />

des Typ 2-Diabetes in der Altersgruppe<br />

von über 70 Jahren bei 20<br />

bis 25 Prozent. Lebensstilmaßnahmen<br />

stellen auch beim älteren <strong>Patient</strong>en die<br />

Grundlage in der Therapie des Diabetes<br />

mellitus dar. Die Ernährungsempfehlungen<br />

für den Diabetiker gelten<br />

altersunabhängig. <strong>Der</strong> bei über 70-Jährigen<br />

zu beobachtende altersassoziierte<br />

Gewichtsverlust ist dabei jedoch zu berücksichtigen,<br />

um einen ungewollten iatrogenen<br />

Gewichtsverlust zu vermeiden.<br />

Eine einseitige und strikte Diabeteskost<br />

ohne Anpassung an die Bedürfnisse älterer<br />

Menschen ist grundsätzlich abzulehnen.<br />

Generell gelten für den älteren Diabetiker<br />

die gleichen Stoffwechselziele<br />

wie für den jüngeren (besonders bei<br />

biologische jungen, aktiven und selbstständigen<br />

Personen), wenn diese unter<br />

Lebensstilführung und medikamentöser<br />

Therapie bei Aufrechterhaltung einer<br />

guten Lebensqualität erreichbar sind.<br />

Bei Nichterreichen der glykämischen<br />

Zielwerte unter alleinigen Lebens-<br />

40/41<br />

stilmaßnahmen wird der Einsatz von<br />

oralen Antidiabetika beziehungsweise<br />

Insulin empfohlen. Bei Metformin ist<br />

bei älteren <strong>Patient</strong>en die strikte Kontraindikation<br />

einer eingeschränkten<br />

Nierenfunktion zu beachten. Die appetithemmende<br />

Wirkung von Metformin<br />

ist bei kachektischen älteren<br />

<strong>Patient</strong>en ungünstig. Aufgrund einer<br />

Neigung zur Flüssigkeitsretention unter<br />

Glitazonen gilt die Herzinsuffizienz<br />

als Kontraindikation, dies bedeutet eine<br />

weitere Begrenzung der Behandlungsoptionen<br />

beim älteren Diabetiker. Bei<br />

einer Therapie mit Insulinsekretagoga<br />

(Sulfonylharnstoffderivate, Repaglinid)<br />

besteht bei inadäquater Ernährung beziehungsweise<br />

Dosierung die Gefahr<br />

einer Hypogly-kämie. Bei einer Indikation<br />

für eine Insulintherapie (Sekundärversagen<br />

oraler Antidiabetika, Akuterkrankungen)<br />

ist ein auf die Bedürfnisse<br />

des <strong>geriatrische</strong>n <strong>Patient</strong>en angepasstes<br />

Therapieregime zu wählen, mit einer<br />

eventuellen Insulinverabreichung durch<br />

Angehörige beziehungsweise mobile<br />

Hilfsdienste.<br />

Perioperatives Managment<br />

Für den <strong>geriatrische</strong>n <strong>Patient</strong>en<br />

kann sich typischerweise die Indikation<br />

für eine akute abdominalchirurgische<br />

(Appendicitis, Cholecystitis,<br />

Diverticulitis, obstruktive Tumore),<br />

eine gefäßchirurgische (Extremitätenischämie,<br />

Aneurysma, diabetisches<br />

Fusßsyndrom) oder eine unfallchi-<br />

rugisch/orthopädische Interventionen<br />

(Schenkelhalsfraktur) ergeben.<br />

Wichtig ist die sorgfältige internistische<br />

Untersuchung und Vortherapie,<br />

die Infektionsprophylaxe, der Einsatz<br />

von Cellsaver und Eigenblutspende bei<br />

elektiven Eingriffen, und vor allem die<br />

Frühmobilisierung und Thromboseprophylaxe.<br />

Zusammenfassung<br />

Hinsichtlich der vorliegenden Zusammenfassung<br />

von Charakteristika des<br />

<strong>geriatrische</strong>n <strong>Patient</strong>en soll grundsätzlich<br />

die Notwendigkeit der patienten-<br />

und funktionsorientierten Medizin<br />

betont werden. <strong>Der</strong> <strong>geriatrische</strong> <strong>Patient</strong><br />

ist durch sein höheres Lebensalter durch<br />

sein Leiden an mehreren Erkrankungen,<br />

eine häufig unspezifische klinische<br />

Symptomatik und eine verzögerte Genesung<br />

charakterisiert. Die Lebensqualität<br />

und die Wertvorstellungen älterer Menschen<br />

müssen bei der Planung der differentialdiagnostischen<br />

Abklärung und der<br />

Therapiemaßnahmen Berücksichtigung<br />

finden. Gespräche mit dem <strong>Patient</strong>en,<br />

seinen Angehörigen und Betreuern sind<br />

dafür eine wichtige Voraussetzung, wie<br />

auch das <strong>geriatrische</strong> Assessment und<br />

ein optimiertes Nahtstellenmanagment<br />

bei einer Entlassung aus dem Krankenhaus.<br />

9<br />

Literatur bei der Verfasserin<br />

Univ. Prof. Dr. Monika Lechleitner,<br />

Landeskrankenhaus Hochzirl/Anna-Dengel-<br />

Haus, 6170 Zirl;<br />

Tel: 05238/501; Fax-DW 55;<br />

E-Mail: monika.lechleitner@tilak.at<br />

Berücksichtigung der physiologischen Veränderung<br />

der Vitalparameter im Alter<br />

•<br />

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Anstieg des systolischen Blutdrucks<br />

Abfall der maximalen Herzfrequenz<br />

Orthostatische Dysregulation<br />

beeinträchtigte Thermoregulation (niedrigere Basistemperatur)<br />

beeinträchtigte Fieberreaktion<br />

abnorme Pulsoxymetrie

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