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Erster Teil<br />

TolEranz und GEwalT als<br />

mEnschlichE ErsTaufGabE


1. Kapitel<br />

Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

I. Der Mensch: das Kulturwesen<br />

m enschen töten menschen. weil dem leben Gewalt droht, benötigt<br />

der mensch schutz. diesen lebensschutz sicherzustellen ist die<br />

grundlegende, die erste stufe der Toleranz. bis in den heutigen diskurs<br />

der menschenrechte gilt als minimalforderung „das Verbot von mord,<br />

sklaverei, folter und Genozid“ 1 . um dieser mindestanforderung gerecht<br />

zu werden, bedarf es wiederum der Gewalt, nämlich der Gegengewalt,<br />

die der unterdrückungs- oder Tötungsabsicht entgegentritt. so<br />

sind Toleranz und Gewalt von vornherein ineinander verwoben. die<br />

englische und die französische sprache unterscheiden, im Gegensatz<br />

zum deutschen, zwischen willkür-Gewalt und schutz-Gewalt: violence<br />

und authority, violence und puissance; im hintergrund steht<br />

die lateinische unterscheidung von violentia und potestas/auctoritas.<br />

in dieses spannungsfeld gehören auch die religionen. neigen sie zur<br />

willkür-Gewalt oder zur schutz-Gewalt? und wie versteht sich das<br />

christentum? ist es, wie angeblich alle monotheismen, gewalttätig?<br />

hinterläßt es, wie ein soeben vorgelegtes religionspädagogisches buch<br />

über ›Gewalt in den weltreligionen‹ behauptet, eine breite blutspur? 2<br />

wir stoßen hier auf ein Problem, daß der mensch von anfang an zu bewältigen<br />

hatte, nämlich Tötungshemmung durch aufbau von Kultur.<br />

„Keine menschliche bevölkerung lebt in der wildnis von der wildnis;<br />

jede hat ihre Jagdtechniken, waffen, feuer, Geräte“ – so der Kulturanthropologe<br />

arnold Gehlen († 1976) 3 . den menschen gibt es nicht in<br />

einem kulturlosen ur- oder naturzustand. Er ist ein ‚mängelwesen‘ und<br />

hat sich deswegen allzeit Kultur aufbauen müssen. der mensch ist – so<br />

Gehlen explizit – „,organisch mittellos‘, ohne natürliche waffen, ohne<br />

angriffs- oder schutz- oder fluchtorgane, mit sinnen von nicht besonders<br />

bedeutender leistungsfähigkeit, denn jeder unserer sinne wird von<br />

den ‚spezialisten‘ im Tierreich weit übertroffen. Er ist ohne haarkleid<br />

und ohne anpassung an die witterung. um zu überleben, muß sich der<br />

mensch vorsehen, die angeborenen mängel ausgleichen und Kultur aufbauen,<br />

nämlich nahrung suchen, ein Kleid weben und ein schutzdach


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

errichten“. so lebt er immer schon als ‚Kulturwesen‘, nämlich „von den<br />

resultaten seiner voraussehenden, geplanten und gemeinsamen Tätigkeit,<br />

die ihm erlaubt, aus sehr beliebigen Konstellationen von naturbedingungen<br />

durch deren voraussehende und tätige Veränderung Techniken<br />

und mittel seiner Existenz zurechtzumachen... irgendwelche<br />

Techniken der nahrungsbeschaffung und -zubereitung, irgendwelche<br />

waffen, organisationsformen gemeinsamer Tätigkeit und schutzmaßnahmen<br />

vor feinden, vor der witterung usw. gehören daher zu den beständen<br />

auch der primitivsten Kultur und ‚naturmenschen‘, d.h. kulturlose<br />

gibt es überhaupt nicht“ 4 . Kultur ist nichts anderes – so sigmund<br />

freud († 1939) – als die summe der leistungen und Einrichtungen, „in<br />

denen sich unser leben von dem unserer tierischen ahnen entfernt und<br />

die zwei zwecken dienen: dem schutz des menschen gegen die natur<br />

und der regelung der beziehungen der menschen untereinander“ 5 .<br />

heute sind wir allerdings vorsichtig geworden, diesen aufbau anhand<br />

wertender Kulturstufen zu erklären. der Titel von Gehlens zuerst<br />

1943 erschienenem buch ›urmensch und spätkultur‹ drückt es<br />

eher schillernd aus; denn wie anders würde man assoziieren, hieße es<br />

‚frühmensch und hochkultur‘. spätkultur deutet auf Verfall, hochkultur<br />

auf Überlegenheit hin. anzuvisieren ist die vielgefächerte differenz<br />

von natur und Kultur, von stamm und staat, steinzeit-werkzeug und<br />

Technik-zivilisation, von brauchtums- und buchreligion, von mythos<br />

und wissenschaft. an diesen Gegenüberstellungen ist freilich problematisch,<br />

daß sie wertungen suggerieren, die ein elitäres fortschrittsdenken<br />

unterstellen, das sich jedoch angesichts der heutigen drittewelt-Problematik<br />

verbietet. bevorzugt wird darum die nicht-wertende<br />

abfolge von einem Primär- zu einem sekundärstatus: also Primär- und<br />

sekundärkultur, Primär- und sekundärgesellschaften, Primär- und sekundärreligionen.<br />

1. Tötungshemmung durch kulturelle Regeln<br />

so sehr der mensch auf werkzeuge angewiesen ist, so gefährlich können<br />

sie ihm werden. sie sind zweischneidig: wie die werkzeuge einerseits<br />

dem leben dienen, so andererseits dem Töten. ausgehend von der<br />

These, „daß die aggressionsneigung eine ursprüngliche, selbständige<br />

Triebanlage des menschen ist“ 6 , formulierte sigmund freud als Kulturtheorie:<br />

„die Kultur muß alles aufbieten, um den aggressionstrieben der<br />

menschen schranken zu setzen“ 7 .<br />

21


22 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

Eine Tötungshemmung aufzubauen und einzuhalten ist Erstaufgabe<br />

der Toleranz: das lebenlassen. diese aufgabe reicht weit in die Vorgeschichte<br />

zurück. bei helmstedt/niedersachsen aufgefundene speere, die<br />

auf 400.000 Jahre geschätzt werden, gelten derzeit als „die bisher ältesten<br />

vollständig erhaltenen hölzernen Jagdwaffen der menschheit“ 8 . damit<br />

vermochte der mensch Großwild zu erjagen und seine nahrungsbasis<br />

zu verbessern; damit konnte er aber auch seine artgenossen effektiver<br />

denn je töten. walter burkert, der mit seinem buch ›homo necans‹<br />

eine Geschichte der menschlichen aggression geschrieben hat, nennt<br />

den im feuer gehärteten speer „die älteste wirksame fernwaffe“, so daß<br />

schon „die älteste Technik ein werkzeug des Tötens schuf “. darum burkerts<br />

schlußfolgerung: „wenn der mensch trotzdem überlebt, ja sich<br />

ausgebreitet hat, so darum, weil an stelle angeborener instinkte die regeln<br />

kultureller Tradition traten ... Vor allem muß der waffengebrauch<br />

strengsten – wenn auch künstlichen – regeln unterworfen sein: im einen<br />

bereich ist erlaubt und notwendig, was im anderen absolut verboten ist;<br />

was dort eine glänzende leistung ist, ist hier mord. Entscheidend ist, daß<br />

der mensch überhaupt in der lage ist, sich solchen Gesetzen zu unterwerfen,<br />

die seine individuelle intelligenz und anpassungsfähigkeit einschränken<br />

zugunsten gesellschaftlicher ‚Voraussagbarkeit‘“ 9 . die seit der<br />

Vor- und frühgeschichte bestehende herausforderung, eine Tötungshemmung<br />

durch ‚kulturelle regeln‘ aufzubauen, gilt bis heute, ja stellt<br />

sich in erhöhter dringlichkeit. schon vor dem atom-zeitalter prognostizierte<br />

freud als „schicksalsfrage der menschenart“, „ob und in welchem<br />

maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der störung des<br />

zusammenlebens durch den menschlichen aggressions- und selbstvernichtungstrieb<br />

herr zu werden“ 10 . mit hans Jonas steht heute dem menschen<br />

dringender denn je an, „die unversehrtheit seiner welt und seines<br />

wesens gegen die Übergriffe seiner macht zu bewahren“ 11 .<br />

der Tötungsrausch war noch im mittelalter, wie der von freud inspirierte<br />

soziologe norbert Elias († 1990) aufgezeigt hat, eine gesellschaftlich<br />

erlaubte freude. zur mittelalterlichen Kriegergesellschaft gehörte<br />

das rauben, Plündern und morden; zwar herrschte unter standesgenossen<br />

ritterlichkeit, aber untergebene, hörige, bauern, bettler konnte<br />

man verstümmeln, ihnen die augen ausdrücken, sie sogar erschlagen,<br />

erst recht ihre Äcker, Ernten, häuser und höfe niedermachen und<br />

abbrennen. „die freude am Quälen und Töten anderer war groß, und<br />

es war eine gesellschaftlich erlaubte freude“ 12 . solche ausbrüche von<br />

Gewalt gibt es bis heute; man denke nur an ruanda, wo im Verlaufe<br />

des sommers 1994 fast eine million menschen getötet wurden 13 . Ge-


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

gen diese regellose rausch-Gewalt sind kulturelle regeln aufzubauen:<br />

zurückdrängung des eigenen leidenschaftsausbruchs, niederdrückung<br />

der gegen andere gerichteten angriffslust, regulierung des eigenen affekthaushalts,<br />

absicherung gegen die schockartigen Einbrüche des Gewaltrausches,<br />

Verzicht des siegers auf freilauf seiner Triebe. Eine in<br />

jeder Generation herbeizuführende neumodellierung des psycho-physischen<br />

apparates steht an, wofür die von Elias erfundenen formulierungen<br />

zitatworte geworden sind: „selbstkontrollapparatur“ 14 bzw.<br />

„selbstzwangsapparatur“ 15 , jeweils mit dem ziel eines „genau geregelten<br />

an-sich-haltens“ 16 und einer „leidenschaftslosen selbstbeherrschung“ 17 .<br />

Eine Verschiebung mußte erfolgen zu einem ethisch-innerlichen selbstzwang,<br />

so daß die zunächst nur äußerlich aufgezwungenen Verhaltensregeln<br />

„sich in selbstzwänge verwandelten“ 18 .<br />

die regeln, die wegen des fehlens einer angeborenen Gewalthemmung<br />

notwendig sind, bedürfen nicht nur der Erhebung zu ethischen<br />

normen, sie bedürfen auch der durchsetzung. bei drohender willkürgewalt<br />

braucht es zur abwehr Gegengewalt, die den regellosen in die<br />

schranken weist. Toleranz und Gewalt stehen folglich nicht einfach nebeneinander<br />

oder gar gegeneinander, sondern bewegen sich zirkular ineinander.<br />

alle rechtsverletzung erfordert – so der bielefelder soziologe<br />

niklas luhmann († 1998) – „vorbeugende oder verhindernde abwehr“ 19 .<br />

als maßstab für diese Gegenwehr diente zunächst die Talion: ‚wie du<br />

mir – so ich dir‘. angesichts der ursprünglich maßlosen rache – so luhmann<br />

– war die talionsartige Vergeltung „gleichsam das zuerst einfallende<br />

rechtsprinzip“; mit ihrer genauen Entsprechung bildete sie „eine<br />

kulturelle Errungenschaft spätarchaischer Gesellschaften“ 20 . der nächste<br />

schritt war dann, die Talion bei Tötung aufzuheben, so daß nicht immer<br />

wieder eine Gegentötung erfolgen mußte.<br />

wir sehen: Gewalt und Toleranz sind von anfang an ineinander verwoben,<br />

nämlich als bemühen um gewaltfreies lebenlassen und um gewaltbereiten<br />

schutz. die regeln für das ineinanderspiel formten sich anhand<br />

historischer Gegebenheiten und Voraussetzungen, so anhand von<br />

ethisch geweckter Gewissenhaftigkeit, wachsendem wissen und vergrößertem<br />

zivilisationsapparat, nicht zuletzt anhand von verändertem<br />

Person- und freiheitsbewußtsein. Tatsächlich war die ausformulierung<br />

und Etablierung „ein Prozeß sukzessiver Verrechtlichung von freiheits-,<br />

Gleichheits- und Partizipationsforderungen“ 21 .<br />

für die oben vorgeschlagene sprachregelung von Primär- und sekundärwelt<br />

ergeben sich hier bereits erste Präzisierungen. diese bezeichnungsweisen<br />

bedeuten keineswegs, es sei völlig einerlei, ob man<br />

23


24 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

sich im Primär- oder sekundärbereich befindet. der primäre bereich ist<br />

nicht der grundsätzlich ‚natürliche‘ und der zweite nur der nachträglich<br />

‚künstliche‘. sofern die kulturellen regeln sekundär sind – und sie sind<br />

tatsächlich keine instinkt-mitgift –, bleibt kein zweifel an der einzuschlagenden<br />

richtung: hin zur kulturellen regel. und deren erste heißt:<br />

du sollst nicht töten. mit freud ist zu wiederholen: „die Kultur muß alles<br />

aufbieten, um den aggressionstrieben der menschen schranken zu<br />

setzen“ 22 . Jegliche art von fortschritt macht, weil damit oft genug neue<br />

Tötungsmöglichkeiten entstehen, die ‚kulturellen regeln‘ zur neuen aufgabe.<br />

das betrifft den Einzelnen wie die jeweiligen sozietäten, was im<br />

folgenden weiter zu bedenken ist.<br />

2. Vom Clan zur Menschheit<br />

der aufbau einer Tötungshemmung geschah und geschieht gesellschaftlich,<br />

und zwar zunächst in der eigenen familie, im clan und<br />

stamm, immer innerhalb der blutsverwandtschaft. diese binnensozialität<br />

wird heute oft biologisch gedeutet, daß nämlich unsere Gene ‚selbstsüchtig‘<br />

seien und eine ‚kin selection‘ (Verwandtschafts-bevorzugung)<br />

bewirkten 23 . dem Göttinger Philosophen und biologen christian Vogel<br />

(† 1994) zufolge agieren wir gemäß einem uralten stammesgeschichtlichen<br />

Erbe, nach dem „Prinzip des genetischen Eigennutzes“, welches jeweils<br />

nach außen und nach innen unterschiedlich reagiert: „einerseits<br />

das mißtrauen, die ablehnung oder gar die feindlichkeit gegenüber<br />

nichtverwandten, fremden und außenstehenden, und andererseits der<br />

altruismus, die hilfsbereitschaft und der opfermut gegenüber Verwandten,<br />

uns ‚nahestehenden‘ und vertrauten menschen“ 24 . Ein universalismus,<br />

verstanden als ausgerichtetheit auf das größere Ganze von welt<br />

und mensch, sei gerade nicht angeboren, müsse vielmehr der menschennatur<br />

abgerungen werden. wiederum ist es eine ‚kulturelle regel‘, die<br />

nicht aus der natur hervorgeht, sondern dieser abgetrotzt werden muß.<br />

das ingroup/outgroup-Verhalten darf ethnologisch als primäre<br />

form sozialer organisation gelten, die auch als Gentilismus bezeichnet<br />

wird, um die Konzentration auf das jeweils eigene Volk (gens) zu verdeutlichen.<br />

Traditionelle Gesellschaften sehen sich – so der am Essener<br />

wissenschaftskolleg tätige Ethnologe Klaus E. müller – „eingebunden<br />

in ein system konzentrischer, sie ringförmig umschließender Kreise“:<br />

im zentrum steht die familie, um sie herum dann die Verwandtschaft,<br />

das dorf, das Territorium, zuletzt noch der stamm. die jeweils eigene


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

Gruppe, das eigene dorf bildet das zentrum der welt, erhebt den anspruch,<br />

in gerader linie vom ersterschaffenen menschen abzustammen,<br />

hält die eigenen leute für die tüchtigsten, klügsten und schönsten der<br />

menschen, die eigene Kultur als ältestgestiftete, auch für die höchstentwickelte.<br />

„die weltanschauung traditioneller Gesellschaften bestimmen<br />

optik und doktrin des Ethnozentrismus“ 25 . der clan garantiert leben<br />

und ansehen; der nichtzugehörige ist verloren. im inneren Kreis aber<br />

herrschen, trotz aller solidarität, keineswegs individuelle freiheit und<br />

Toleranz, denn ein jeder muß sich des Überlebens wegen in den Gesamtverband<br />

einfügen.<br />

nach außen herrscht feindschaft, denn „die menschen, die ‚da draußen‘<br />

existieren [und] quasi regellos, bar aller vernünftigen ordnung leben,<br />

nur über wenig entwickelte ‚primitive‘ Gerätschaften verfügen, keine<br />

schickliche Kleidung besitzen, lediglich dämonen, tote ‚Götzen‘ und<br />

ohnmächtige Gottheiten verehren, sind ohne jedes höhere Empfinden<br />

für moral, sittlichkeit und recht usw.; mit einem wort: sie vegetieren<br />

gleichsam als rechte barbaren und ‚wilde‘ dahin“ 26 . indem jedes Volk auf<br />

diese weise das andere herabsetzt, herrscht ‚natürliche feindschaft‘. Gerade<br />

die stammesgesellschaft mit häuptling und Gefolgschaft realisiert<br />

beständig das ingroup/outgroup-Verhalten. nach innen geht die sozialpflicht<br />

so weit, „daß das einzige, meist nicht wieder aufhebbare Vergehen<br />

ein gegen den stamm oder einzelne stammesangehörige gerichtetes<br />

asoziales Verhalten ist“ 27 . nach außen aber muß die stammesgesellschaft<br />

stets aktionsbereit sein, und dafür braucht sie interne Geschlossenheit<br />

und eine schlagkräftige spitze. Es sind also zwei sphären: sozialität im<br />

innern und feindschaft gegen die Äußeren. wir werden noch sehen,<br />

daß diesem Gentilismus auch eine Gentilreligion entspricht: die eigenen<br />

Götter sind die besseren und stärkeren, die der anderen nur schwächlich<br />

und verkehrt. darum kann man die anderen Götter ‚lassen‘, nicht eigentlich<br />

aus Toleranz, sondern aus Verachtung. im eigenen bereich herrschen<br />

die besseren Götter und dulden keinen nichtverehrer.<br />

die Geschichte bietet beispiele für die ingroup/outgroup-moral in<br />

fülle. im blick auf die homerische welt schreibt etwa der althistoriker<br />

Georg P. landmann: „Gerne geben wir uns der illusion hin, zwischen<br />

Völkern sei friede der normalzustand und Krieg nur eine störung.<br />

in wirklichkeit muß friede seit je vertraglich geschlossen und bewahrt<br />

werden. wer nicht zur eigenen Gemeinschaft gehört, wer ‚draußen‘ steht,<br />

ist zunächst ‚echthros‘, feind. in der frühzeit gehören frauenraub, herdenraub<br />

zum alltäglichen“ 28 . als ausdruck der Geringschätzung anderer<br />

benutzte die antike das griechische wort barbar, ursprünglich<br />

25


26 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

verwendet zur deklassierung von nichtgriechen, fremden, ausländern,<br />

landesfeinden, kulturlosen wilden, ungebildeten, dummen, überhaupt<br />

von angehörigen eines fremden (Kultur-)Volkes. Erst in hellenistischer<br />

zeit kamen positive aussagen hinzu, insgesamt blieb die Einstellung jedoch<br />

weiterhin feindlich 29 . in der germanischen welt war – so der bochumer<br />

religionswissenschaftler hans-Peter hasenfratz – „alles, was außerhalb<br />

des sippenfriedens steht, ... feind“ 30 . für die frühmittelalterliche<br />

welt konstatiert der französische mediävist Georges duby († 1996) eine<br />

„natürliche feindschaft zwischen den Volksstämmen“ 31 . noch die ethnischen<br />

säuberungen des 20. Jahrhunderts wiederholten das uralt-angeborene<br />

feindschema, jetzt neu begründet mit rassistisch-nationalen<br />

argumenten und verheerender denn je ausgeführt mit moderner waffentechnik.<br />

so schreibt der amerikanische historiker n. naimark, der<br />

den begriff ‚ethnische säuberung‘ eingeführt hat: absicht sei immer die<br />

Entfernung des anderen Volkes von einem bestimmten Territorium; die<br />

jeweils fremde nationalität, ob nun als ethnische oder religiöse Gruppe,<br />

gelte es auszurotten und ihre wohnsitze zu übernehmen, wobei massenmorde<br />

geradezu selbstverständlich würden, um das land vom anderen<br />

Volk zu säubern. „seit den anfängen der dokumentierten Geschichte<br />

haben dominierende Völker weniger mächtige und Gruppen, die sie als<br />

untergeordnet und fremd ansahen, angegriffen und von ihrem Territorium<br />

verjagt. homers Ilias ist voller brutaler und schockierender beispiele<br />

dessen, was man ethnische säuberung nennen könnte, gleiches<br />

gilt für die bibel“ 32 .<br />

Vom modernen Verständnis einer universalen menschheit her laufen<br />

wir leicht Gefahr, die uns wie selbstverständlich gebotene humanität<br />

und individualität als immer schon gegebenen maßstab vorauszusetzen.<br />

Verkannt wird dabei, daß primäre Gesellschaften und zumal stammeskulturen<br />

wesentlich anders agieren und strukturieren: die blutsgemeinschaft<br />

ist das Vorgegebene, und auf sie hin lebt jedes mitglied. bis heute<br />

gilt: „in vielen Teilen der nichtwestlichen welt definiert sich der mensch<br />

nicht zuerst als individuum, sondern als Teil einer bestimmten Gruppe,<br />

meistens einer verwandtschaftlichen Gruppe: einer familie, einer<br />

lineage, eines Klans“ 33 . Persönliches freiheitsbewußtsein und Emanzipation<br />

des Einzelnen spielen allenfalls eine nachgeordnete rolle, und damit<br />

entfällt auch die notwendigkeit einer individuellen Toleranzgewährung.<br />

Ja, man will gar nicht die eigene sonderrolle, sondern will sein wie<br />

alle, oder besser noch: wie das sippenhaupt bzw. der spitzenahn. sollen<br />

wirklich individuelle menschenwürde und -rechte definiert und realisiert<br />

werden, sind neue schritte zu tun: der Übergang von der clan- und


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

stammesgesellschaft zur einer den Einzelnen individuell respektierenden<br />

menschenwürde.<br />

3. Die Hierarchie der theopolitischen Ordnung<br />

Vergesellschaftung und religion gehen regelmäßig zusammen. an<br />

zahlreichen religionsgeschichtlichen beispielen läßt sich zeigen, wie bestimmte<br />

religionsansätze auch ganz bestimmte Konzepte menschlicher<br />

und gesellschaftlicher Entfaltungsmöglichkeiten einerseits befördern<br />

wie andererseits behindern. religion bestimmt mit über die maßstäbe<br />

von Gewalt und Toleranz. will man hier die unterscheidung in ‚Primär-‘<br />

und ‚sekundärreligion‘ beibehalten, kann damit positiv ausgedrückt<br />

werden, daß die Primärform die bausteine religiöser Grunderfahrung<br />

erfaßt und darum nicht als eine zu überwindende Primitivstufe gelten<br />

darf. dennoch dürfen erweisliche unterschiede zur sekundärreligion<br />

hin nicht verwischt werden, gerade nicht in der Gewaltfrage.<br />

die Primärform von religion bedeutet, wie der heidelberger Ägyptologe<br />

Jan assmann sagt, „weltbeheimatung“ 34 , nämlich Eingebettetsein<br />

in den Kosmos und dessen ewige Gesetzlichkeit: morgen und abend<br />

– Tag und nacht – sommer und winter. der mensch existiert ganz in<br />

und mit der welt und ihrer rhythmik. angesichts der ewigen wiederkehr<br />

verheißt der Kosmos dem menschen ebenfalls wiederkehr: nach<br />

dem Tod wieder leben. Gleichzeitig erfahren die menschen ein oft genug<br />

auch grausames Geschick, indem ihnen die Kosmosmächte gnadenlos<br />

mitspielen. wie einerseits eine eherne Gesetzlichkeit vorherrscht, so<br />

wütet andererseits blinde willkür: donner und blitz, unglück und Tod,<br />

Krankheit und seuchen. folglich muß es sowohl ordnungsmächte wie<br />

willkürmächte geben, die miteinander im streit liegen. zu optieren ist<br />

natürlich für die ordnungsmächte. dabei stabilisiert die primärreligiöse<br />

weltbeheimatung, sofern sie blut- und boden-beheimatung in familie,<br />

clan und stamm einschließt, immer auch die Primärgesellschaft; sie sakralisiert<br />

das eigene Volk als erstes der welt und macht den herrscher<br />

zum göttlichen stellvertreter auf Erden: „hauptakteure alter religionen<br />

sind die Könige und die sonstigen obrigkeiten“ 35 .<br />

die sich daraus ergebenden folgewirkungen für menschenverständnis,<br />

für freiheit und Toleranz sind im einzelnen zu bedenken.<br />

weil Primärreligion immer ‚kosmologische ordnung‘ ist, errichtet sie<br />

gesellschaftlich eine „theopolitische ordnung“ 36 : Von oben, von den<br />

himmlischen her, ist der ganze Kosmos bis in die niederungen der welt<br />

27


28 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

hinein durchstrukturiert. als solche ist sie von eherner stabilität, vermittelt<br />

einerseits die feste hoffnung auf wiederkehr des lebens nach dem<br />

Tode, zwingt andererseits strikt in ihre kosmische hierarchie. Gemäß<br />

dieser ewigen hierarchie stammen die herrscher aus höherer sphäre<br />

oder sind zumindest von dort her legitimiert.<br />

auf Erden gipfelt dieser Kosmopolitismus im himmlisch/irdischen<br />

Gottkönigtum. die folge ist, wie wiederum Jan assmann sagt, „die Verehrung<br />

eines höchsten Gottes, der als schöpfer, Erhalter und Gottkönig<br />

das Prinzip herrschaft verkörpert, was der [irdische] König als sein<br />

sohn oder statthalter in der menschenwelt ausübt“ 37 . Positiv vermag die<br />

theopolitische ordnung vor allem dort zu wirken, wo herrschaft und<br />

ordnung erst durchzusetzen sind, sozusagen in zeiten eines notwendigen<br />

absolutismus. nur darf man dabei nicht eine allgemeine Gleichheit<br />

erwarten, denn es herrscht eine vom himmel zur Erde hinabreichende<br />

hierarchie, die die menschen jeweils abstuft und für ewig festlegt. der<br />

soziale rang in dieser welt bestimmt sogar noch über die stellung im<br />

Jenseits: wer auf Erden König ist, wird es ebenso im himmel sein 38 . infolgedessen<br />

bedeutet jeder irdisch-soziale umsturz, etwa den König entthronen<br />

oder sklaven befreien, eine revolte gegen die ewige Kosmosordnung,<br />

stellt sogar den freventlichen Versuch dar, das weltengesetz<br />

von sonne und sternen umzustoßen. wo immer politische und religiöse<br />

ordnung identisch sind, bleibt eine Trennung von religion und herrschaft<br />

ganz undenkbar. Ja, umgekehrt: jeder Verstoß gegen König und<br />

staat ist ein religionsvergehen.<br />

die antike kannte züge eines „naturalismus zugunsten von ungleichheit“,<br />

bei Platon sogar „in form eines gegen Veränderung gefeiten<br />

Kastenstaates“ 39 . den vorderorientalischen religionen hat man insgemein<br />

nachsagen können, „daß sie immer ‚weltordnung‘ mit-bedeuteten:<br />

gerechtes handeln ist ein handeln in Übereinstimmung mit dem der<br />

welt inhärenten sinn“ 40 . selbst in der europäischen neuzeit konnten solche<br />

theopolitischen Vorstellungen aktiviert werden. Jean bodin († 1596),<br />

Erfinder der staatssouveränität und beförderer des absolutismus, stellt<br />

den irdischen fürsten in relation zum universalen Gott als dem beherrscher<br />

der Planeten und aller Kreaturen, so daß sich Kosmos und staat<br />

entsprechen und beide eine geschichtete hierarchie aufweisen; folglich<br />

sind auch die menschen ungleich 41 . für Thomas hobbes († 1679), einen<br />

weiteren Theoretiker des absolutismus, entspricht die uneingeschränkte<br />

herrscher-souveränität der allmacht Gottes: „der souveräne herrscher<br />

ist deus mortalis [sterblicher Gott]“ 42 . der kosmologischen ordnung<br />

folgen auch die ostasiatischen religionen: nach den lehren des


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

Konfuzius besteht die welt als Einheit (‚universum‘) aus ineinandergefügten,<br />

konzentrischen Kreisen, die eine hierarchische ordnung darstellen.<br />

der jeweils höherstehende würdenträger ist verpflichtet, seine untergebenen<br />

gerecht zu behandeln und zu schützen, während diese ihm<br />

ihre dienste und strikten Gehorsam schulden. „Jede form eines ‚dualistischen‘<br />

denkens, wie es aus westlicher sicht etwa im Gegensatz von<br />

recht und moral, herrschaft und freiheit, staat und Gesellschaft, Kollektiv<br />

und individuum zum ausdruck kommt, ist den fernöstlichen Kulturkreisen<br />

fremd“ 43 .<br />

die kosmopolitisch-hierarchische weltordnung zu erschüttern, bewirkte<br />

das Konzept der persönlichen Ethik. sie reißt den menschen aus<br />

der primären weltbeheimatung heraus, indem ein Gott bzw. der eine<br />

Gott in Erscheinung tritt, welcher das sittlich Gute repräsentiert und<br />

ewiges leben verheißt. der mensch sieht sich nun, statt primärreligiös<br />

in die eine theopolitische ordnung eingeordnet zu sein, als Einzelner vor<br />

einen sittlich-wahren Gott gestellt. dieser offenbart sich ihm, gibt seine<br />

Gebote und beansprucht dafür des menschen innerstes, sowohl Geist<br />

wie herz. so hat der mensch sein sinnen und handeln jeweils zu überdenken,<br />

um zu einem inneren Entscheid für den wahren Gott und dessen<br />

sittlich gute forderungen zu kommen. wer sich hierin bewährt, ist<br />

ein Gottesfreund, mag er in wirklichkeit nur sklave sein; wer sich hiergegen<br />

versündigt, wird verworfen, mag er selbst König sein. den Entscheid<br />

darüber fällt der ethische Gott in seinem Gericht nach dem Tod<br />

jedes einzelnen menschen.<br />

dieses persönlich zu erwartende Gericht bezeichnet Jan assmann als<br />

den großen beitrag Ägyptens zur religionsgeschichte; denn das anhand<br />

der ethischen lebensführung gefällte urteil habe über den zugang zum<br />

Jenseits entschieden, und zwar für hoch und niedrig in gleicher weise.<br />

dies habe eine doppelte wirkung gehabt, einmal eine egalisierende und<br />

sogar demokratisierende, denn vor diesem richtergott galten nicht mehr<br />

rang und stand, sondern allein die Person 44 ; zum anderen eine individualisierende,<br />

sich nämlich wegen der Verantwortung vor Gott gebotenenfalls<br />

gegen alle anderen zu stellen und Gott mehr zu gehorchen als<br />

den menschen. auf diese weise erst entsteht die gewissenhafte, ethisch<br />

handelnde Person, und dies wird göttlicherseits anerkannt, ja gefordert<br />

und belohnt; dadurch bildet sich eine erste basis für freiheit und autonomie<br />

45 . der Exeget claus westermann († 2000) hat im blick auf das<br />

alte Testament das individualbewußtsein erst einem relativ späten stadium<br />

zugeordnet, erst einer zeit nach der geschlossenen Volksreligion,<br />

in welcher noch die Volkszugehörigkeit mit der je eigenen religion iden-<br />

29


30 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

tisch gewesen sei und religion alle bereiche des Volkslebens, so auch Politik<br />

und wirtschaft, mitbestimmt habe; das aber habe bedeutet, daß „die<br />

freie religionswahl undenkbar und unvollziehbar war“ 46 .<br />

der kosmisch-religiöse und ethisch-religiöse ansatz sind tief geschieden.<br />

in primär kosmischen religionen geht es um die ewige ordnung,<br />

deretwegen das Kosmosgefüge unbedingt aufrechtzuerhalten und<br />

jede störung zu beheben ist. stets muß sich die ordnung der ewigen<br />

Verhältnisse wieder herstellen, und daran hat der mensch mitzuwirken,<br />

sonst trifft es ihn tödlich. nötigenfalls sind opfer darzubringen, auch<br />

solche von menschen, etwa bei der winterwende, damit die kosmische<br />

sonne wieder erstarkt. letztlich zielen diese wiedergutmachung und die<br />

ahndung von Verstößen darauf, den entstandenen ‚riß‘ oder die ‚lücke‘<br />

im ordnungsgefüge durch entsprechende sühneleistungen, Kasteiungen<br />

und opfer wieder auszugleichen, ebenso Verunreinigungen durch kathartische<br />

riten zu tilgen – „alles, um den ‚ursprünglichen‘ zustand der<br />

Gesellschaft, ihre ‚unversehrtheit‘ und damit volle funktionsfähigkeit<br />

stets wieder aufs neue zu ‚restituieren‘“ 47 . hierbei ist ethisches Verhalten,<br />

das sich in der innerlichkeit des menschen begründet, nachgeordnet<br />

oder irrelevant. selbst die Götter richten sich nicht nach recht und<br />

Gerechtigkeit; eher umgekehrt agieren sie wie willkürlich, treiben die<br />

menschen zu Krieg, mord und Ehebruch. so gibt es in der griechischen<br />

frühwelt „szenen der gebrochenen Versprechen und Verträge, der ungezügelten<br />

Grausamkeit und der schieren mordlust, auch seitens der Götter“<br />

48 . Ebenso ist der alttestamentliche Gott zunächst nicht ein Gott der<br />

Ethik; vielmehr herrschte „eine vorkultische, vorpolitische und vormoralische<br />

religion“ 49 . im kosmischen Verständnis sind religiöse Vergehen<br />

‚objektiv‘ zu büßen; sie verlangen, ob willkürlich oder zufällig begangen,<br />

immer einen ausgleich der gestörten weltbalance. was ein ethisch bestimmter<br />

Gott soziologisch zu leisten vermag, bringt ein Vers des neutestamentlichen<br />

›magnificat‹ zum ausdruck: „Er stürzt die mächtigen<br />

vom Thron und erhöht die niedrigen“ (lk 1,52).<br />

im hinblick auf die kulturellen regeln ist festzuhalten: die kosmopolitische<br />

ordnung schafft menschliche ordnungen und stabilisiert<br />

irdische hierarchien. sie schafft ordnung, vermag aber keine soziale<br />

dynamik freizusetzen. dem Tüchtigen freie bahn zu geben ist hier<br />

grundsätzlich nicht möglich. dafür bedarf es einer anderen ordnung,<br />

einer solchen mit je individueller initiative, die dem Geist und herzen<br />

des Einzelnen entspringt und entspricht.


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

4. Von der Primärethik zur Sekundärethik<br />

das Vordringen eines verinnerlichten Ethos war ein langdauernder<br />

Prozeß, dessen auswirkungen sich historisch aufzeigen lassen. für die<br />

frühzeit gerade auch der kosmisch bestimmten religionen ist mit dem<br />

Kieler rechtshistoriker hans hattenhauer vorauszusetzen: „das alte<br />

recht fragte nicht nach dem Täter, nicht nach fahrlässigkeit und Vorsatz.<br />

anlaß der bußpflichtigkeit war der rechtsbruch als ein äußeres Ereignis;<br />

er wurde nicht ethisch gewertet, so schwer verständlich dies auch modernem<br />

denken ist“ 50 . noch die homerische Gesellschaft agierte frühzeitlich,<br />

beurteilte handlungen eher vom Ergebnis als von den absichten<br />

her und unterschied beispielsweise nicht zwischen Totschlag und<br />

mord; jede Tötung, ob gewollt oder ungewollt, war eine kosmische störung<br />

und darum auszugleichen 51 . Erst die Philosophie formulierte die<br />

neue intentionale Ethik. Platon († 348/47 v. chr.) proklamierte: „wenn<br />

jemand mit willen beabsichtigt, einen ... menschen zu töten ..., diesen<br />

aber nur verletzt, ohne daß es ihm gelingt, ihn zu töten, so ... soll man ...<br />

ihn zwingen, sich wegen mordes zu verantworten“ 52 . zugleich galt nun<br />

aber auch umgekehrt: „wenn jemand ... ungewollt einen befreundeten<br />

menschen tötet, so soll er ... rein sein“ 53 . in israel haben die Propheten<br />

diese wende vollzogen, nämlich „in der stärkung der ethischen dimension<br />

der Jahwereligion“ 54 . zu recht gilt der Übergang von der ‚faktizistischen‘<br />

zur ‚voluntaristischen‘ schuld-auffassung als „weltgeschichtlich<br />

einmalige und bahnbrechende Entwicklung“ 55 , für Paul ricoeur († 2005)<br />

sogar als „wahre revolution“ 56 . denn erst dadurch entsteht raum für innere<br />

und persönliche Entscheidungen.<br />

der unterschied von vorethischer und ethischer religion zeigt sich<br />

besonders auch darin, wie kosmische und vorethische ordnungen das<br />

ungute ahnden. Kosmisch orientierte religionen verlangen bei jeder<br />

störung sofort den ausgleich, ob nun der mensch sich seiner Verursachung<br />

bewußt ist oder nicht. der Kosmos muß schleunigst wieder ausbalanciert<br />

werden, und das führt zu einem Phänomen, das der moderne<br />

höchst anstößig ist und umschrieben wird mit ‚strafe für fremde schuld‘.<br />

denn der kosmische Verstoß muß nötigenfalls vom Kollektiv, in dessen<br />

bereich er sich ereignet hat, behoben werden, wobei andere stellvertretend<br />

für den Verursacher eintreten können, damit nur ja die störung beglichen<br />

wird. so anstößig heute dieses Phänomen erscheint, aus der sicht<br />

des kosmischen ausgleichs ist es nur folgerichtig. bei ethischen Einstellungen<br />

zählt allein, was der Einzelne an Gutem bzw. bösen gewollt hat.<br />

sofern er böses gewollt hat, muß er als Einzelner büßen, und kein an-<br />

31


32 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

derer kann seine buße erledigen. wer aber seine untat nicht gewollt und<br />

ihre bösartigkeit nicht beabsichtigt hatte, bleibt sogar frei, mag die untat<br />

noch so gravierend sein und die weltordnung aus dem Gleichgewicht<br />

bringen. wo immer kosmisch orientierte religionssysteme mit solchen<br />

ethischer art zusammenstoßen, ergeben sich notwendig Konflikte, die<br />

gerade auch die individuelle schuld betreffen. im christentum bietet ein<br />

beispiel die heute oft als empörend empfundene Erbsünde, die zunächst<br />

nichts anderes als ‚strafe für fremde schuld‘ bedeutet 57 . so sehr das christentum<br />

die je individuelle schuld hervorhob, so erklärte es dennoch die<br />

allenthalben feststellbare störung in welt und menschenleben mit einer<br />

‚Erbsünde‘ (worauf noch näher einzugehen ist).<br />

mit der weckung der ethischen Eigenpersönlichkeit, wie sie im alttestamentlichen<br />

Prophetismus und im griechischen Philosophentum<br />

hervortrat, entstand ein neues Verständnis von freiheit und selbstbestimmung,<br />

nun sogar mit dem Verlangen, sich gegebenenfalls von der<br />

Gruppe loszulösen, um ganz selbst zu werden. das bedeutete persönliche<br />

freiheit, forderte aber zugleich ethische anstrengung: man mußte<br />

sich von lob und schmeichelei, zumal von der angst des öffentlichen<br />

ansehensverlusts freimachen, nötigenfalls sich der allgemeinheit mitsamt<br />

ihren mächtigen entgegenstellen. die eigene absicht war unabhängig<br />

von der herrschenden meinung rein auf ihre ethische Qualität hin<br />

zu prüfen, vom eigenen Gewissen her zu rechtfertigen und öffentlich zu<br />

bezeugen. hier geschieht eine „große Änderung“, daß nämlich, um sigmund<br />

freud zu zitieren, „Gewissensphänomene auf eine neue stufe gehoben“<br />

werden, nämlich von der sozialen angst, der „angst vor dem<br />

Entdecktwerden“, zur Gewissensangst mit „schuldgefühl“ 58 . dem englischen<br />

althistoriker Eric dodds († 1979) zufolge ist es „die aufrichtung<br />

der inneren autorität“, der Übergang von der „shame culture“ zur „guilt<br />

culture“, ob man sich nämlich der öffentlichen meinung anpaßt, um sich<br />

nicht zu blamieren, oder ob man seinem Gewissen folgt und sich gegebenenfalls<br />

gegen alle sonst stellt, um nicht vor sich selber schuldig zu werden<br />

59 . für die menschliche freiheitsgeschichte bedeutet das: Erst nach<br />

weckung eines solchen inneren Ethos gibt es jenes individuum, das wesentlich<br />

eigene Person sein will; erst jetzt entsteht das Verlangen, die eigene<br />

individualität voll zu verwirklichen und dafür Toleranz zu erhalten.<br />

immer aber stellt sich dabei der anspruch, dem Gebot des Gewissens zu<br />

folgen. somit beginnt hier jene ‚selbstverwirklichung‘, die der soziologe<br />

hans Joas auf die formel bringt: „das mir bestimmte Entwicklungsziel<br />

unterscheidet sich von deinem und dem aller anderen“ 60 . und das<br />

gilt gerade für die moderne.


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

der wechsel von primärer bzw. kosmologischer zu personal-ethischer<br />

religion hat im einzelnen noch eine Vielzahl spezieller freiheitsfolgen,<br />

von denen hier nur eine, nämlich die veränderte stellung der<br />

frau, angeführt sei. nach kosmologischer ordnung entspricht der mann<br />

für gewöhnlich der sonne und die frau dem mond, womit letztere immer<br />

nur ein abglanz ist und nie Gleichberechtigung erhält. hingegen<br />

kann sie bei ethischer lebensauffassung eine eigene und gleichwertige<br />

Personalität gewinnen. damit ändert sich zum beispiel auch die Ehe, die<br />

nun zur partnerschaftlichen Konsens-Ehe wird.<br />

das neue Testament setzt die im alten Testament eingeleitete internalisierung<br />

der Ethik konsequent fort: wer im herzen begehre, habe<br />

schon getan! Eine fehltat zählt folglich auch dann, wenn sie nur erst im<br />

herzen, nicht aber in wirklichkeit geschehen ist (cf. mt 5,28). weiter<br />

wird auch die ‚shame-culture‘ aufgelöst: „fürchtet euch nicht vor denen,<br />

die den leib töten ..., sondern fürchtet euch vor dem, der seele und leib<br />

ins Verderben der hölle stürzen kann“ (mt 10,28). Paulus ist als lehrer<br />

des Gewissens aufgetreten, daß sich „vor Gott und den menschen immer<br />

ein reines Gewissen“ gebiete (apg 24,16). Er setzt dieses Gewissen<br />

als „allen menschen eigen voraus, bei Juden wie bei heiden“ 61 , fordert<br />

von jedem, mit sich selbst ins Gericht zu gehen und zu handeln „nicht<br />

allein aus furcht vor strafe, sondern vor allem um des Gewissens willen“<br />

(röm 13,5). an die stelle eines von außen drohenden strafgerichts soll<br />

der spruch des eigenen Gewissens treten. hier herrscht verinnerlichte<br />

Ethik, in welcher Geist und herz die entscheidende Qualität ausmachen.<br />

infolgedessen mußte sich das christentum von allen vorethischen schemata<br />

lösen. so bezeugt beispielsweise das neue Testament eine „eigenartige<br />

freiheit Jesu gegenüber den reinheitsgeboten“ 62 , die er zugunsten<br />

ethischer reinheit entwertet: „was aus dem herzen herauskommt, das<br />

macht unrein“ (mk 7,20), und nicht, was etwa als unreine speise in den<br />

magen gelangt oder an sexualstoffen ausgeschieden wird. diese Ethisierung<br />

verschaffte allgemein und insbesondere den frauen eine befreiung<br />

zu einem stärker gleichberechtigten menschsein 63 .<br />

halten wir fest: solange die primärsoziale ordnung mit clan- und<br />

Kosmosbindung vorherrscht, bleibt der mensch ein- und untergeordnet.<br />

Erst das Ethos der sekundärreligion sprengt ihn daraus frei, verschafft<br />

seinem denken und handeln einen individualraum, sowohl gegenüber<br />

clan und Volk wie gegenüber den kosmisch fixierenden ordnungen.<br />

Erst jetzt sieht sich der Einzelne zu überlegter lebensführung verpflichtet,<br />

weckt in sich eine intensivierte Geistigkeit und ein freiheitsbewußtsein.<br />

somit dürfte deutlich sein: Grundsätzlich bedarf es, wo immer in-<br />

33


34 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

dividualrechte und deren Tolerierung durchzusetzen und abzusichern<br />

sind, der Konzeption eines ‚freien‘ menschenbildes und dessen gesellschaftlicher<br />

Tolerierung. mit der wende zur personalisierten sekundärsozialisation<br />

hat sich jene menschliche Personalität, wie wir sie heute<br />

verstehen, zu bilden begonnen. zugleich wird aber auch klar, daß es<br />

unmöglich ist, von diesem ethischen und sozialen zugewinn abzusehen,<br />

ebenso unmöglich, diesen zugewinn historisch relativierend von<br />

‚wahr‘ und ‚falsch‘ loszulösen. denn für uns ist die ‚sekundär‘ entstandene<br />

Personalität ‚richtig‘ und die rückkehr in die Primärsituation ‚falsch‘,<br />

ja ‚barbarisch‘, wie etwa die anwendung der ‚archaischen‘ sippenhaft in<br />

den modernen Terrorsystemen zeigt.<br />

5. Das kulturelle Gedächtnis<br />

wo immer eine Erfindung, ob nun technisch-zivilisatorischer oder<br />

auch mental-ethischer art, gemacht wird, muß sie erprobt und, wenn<br />

für positiv befunden, festgehalten und allgemein angeeignet werden.<br />

weil die kulturellen regeln nicht einfach von natur aus da sind, müssen<br />

gerade sie erfunden, erprobt, gespeichert und publiziert werden,<br />

damit sie allen zu eigen werden. hierhin gehört Jan assmanns inzwischen<br />

vielzitierte Theorie über das ‚kulturelle Gedächtnis‘. Ein solches<br />

bildet sich zunächst durch aneignung der Tradition und bestätigt sich<br />

durch wiederholung, nämlich in der kollektiven Teilnahme an den kultischen<br />

Erinnerungsfesten und im hören der mythen mit der Einprägung<br />

entsprechender lebensregeln. ziel ist „die Verfestigung des kulturellen<br />

sinns“ 64 .<br />

Einen neuen schub brachte die Erfindung der buchstaben und des<br />

buches: „der Erwerb der schrift gilt als Evolutionsschritt gleichen ranges<br />

wie der Erwerb der sprache“ 65 . die schriftkultur vermag wichtige Erkenntnisse<br />

und regeln in neuer Präzision festzuhalten und ‚kulturelle<br />

Kohärenz‘ mittels repetition und interpretation in einer neuen dichte<br />

zu erstellen: alle müssen sich mit den inzwischen erstellten normtexten<br />

beschäftigen und sie im eigenen bewußtsein verankern. diese Verfestigung<br />

bewirken die schrift-Kulturen in doppelter weise: „als eine<br />

rückkehr zu den großen fundierenden Texten und als die institutionalisierung<br />

einer ausbildungskultur bzw. ‚sinnpflege‘, die dafür sorgt, daß<br />

die in den Texten kodifizierte wirklichkeitsvision durch alle Epochen<br />

hin gegenwärtig und maßgeblich bleibt“ 66 . mittels ‚Kodifizierung‘ und<br />

‚Kanonisierung‘ – so die entscheidenden stichworte assmanns – lassen


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

sich die kulturellen regeln in feste Gesetze umsetzen. zugleich kann<br />

der aneignungs- und durchsetzungsprozeß von wissen schneller vorangetrieben<br />

und besser begründet werden. die Verschriftlichung macht<br />

unabhängig von der oft schwankenden Erinnerung der alten, garantiert<br />

Konstanz über die Generationen hinweg, wie obendrein das wissen<br />

effektiver und egalitär verbreitet werden kann. die folgen gestalteten<br />

sich geradezu unübersehbar. Ermöglicht wird der „Übergang zu anspruchsvolleren<br />

formen der gesellschaftlichen differenzierung“ 67 , denn<br />

die schrift erlaubt „die reflexive haltung zur Tradition und führt durch<br />

schlagartige ausweitung des Gedächtnisses zu einer veränderten struktur<br />

des wissens“, verändert damit gerade auch „das leben in staaten“ 68 .<br />

die nun verschriftlichten Gesetze werden allgemein verbreitet, und jeder<br />

kann sie als sein recht ergreifen. wer immer sich auf begründetes und<br />

verbrieftes recht zu berufen vermag, gewinnt halt gegen den druck der<br />

allgemeinheit und bekommt wissen für die eigene Entscheidung 69 . für<br />

die Gegenwart braucht nur auf die bedeutung der helsinki-akte und der<br />

menschenrechtskonventionen für die bürgerrechtsbewegungen im ehemaligen<br />

ostblock verwiesen zu werden.<br />

Voraussetzung des kulturellen Gedächtnisses ist ein effektiver zivilisatorischer<br />

apparat: schulen entstehen, bildung reichert sich an und<br />

administration baut sich auf, wofür Primär-Gesellschaften keine Voraussetzungen<br />

bieten. das kulturelle Gedächtnis, sobald es verschriftlicht<br />

wird, verortet sich in der Gelehrtenstube und in der schulstube. beide<br />

bedingen sich: der spezialisierte Gelehrte und die ihn hörenden und<br />

dann fortsetzenden schüler. noch Jürgen habermas’ habilitationsschrift<br />

›strukturwandel der Öffentlichkeit‹ behandelt die dialektik von ‚Einzelzimmer‘,<br />

wo der Einzelne sinniert, und von ‚salon‘, wo die Gemeinschaft<br />

diskutiert: „die Privatleute treten aus der intimität ihres wohnzimmers<br />

in die Öffentlichkeit des salons hinaus“ 70 .<br />

Ganz wesentlich ist die religion betroffen: sie wird zur buchreligion.<br />

bei einem heiligen buch – so schon Kant – „verschlägt nichts wider<br />

den alle Einwürfe niederschlagenden machtanspruch: da steht’s geschrieben“<br />

71 . das hat grundlegende folgen, wie sie etwa der englische<br />

Ethnologe Jack Goody darstellt: „die ursprünglichen worte der Propheten,<br />

die hohen ziele der religionsstifter wurden in Texte eingeschlossen<br />

und können machtvolle Potenzen der Veränderung darstellen“ 72 . andererseits<br />

entsteht die Gefahr, daß schriftreligionen ihre flexibilität verlieren,<br />

zur buchstäblichen orthodoxie gerinnen und lebensprozesse<br />

einzwängen. der streit um ‚wahr‘ und ‚falsch‘ kann dadurch neuartig<br />

eskalieren.<br />

35


36 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

als eindringlichste beispiele großer und revolutionärer durchbrüche<br />

gelten die ‚achsenzeitlichen Kulturen‘, die im ersten vorchristlichen Jahrtausend<br />

in bestimmten hochkulturen eine neue ‚rationalität‘ und ‚Ethisierung‘<br />

hervorbrachten. die hierdurch bewirkte revolution ist „wahrscheinlich<br />

die radikalste vor dem heraufziehen der moderne“ gewesen 73 ,<br />

denn hier habe sich die weltgeschichte ein erhebliches stück ‚weitergedreht‘.<br />

breiter bekanntgemacht hat Karl Jaspers († 1969) diese achsenzeit:<br />

„die Gottheit wurde gesteigert durch Ethisierung der religion“, wobei<br />

gleichzeitig „der mensch über sich hinausgreift, indem er sich seiner<br />

im Ganzen des seins bewußt wird, und daß er wege beschreitet, die er<br />

als je Einzelner zu gehen hat“ 74 . shmuel Eisenstadt von der hebrew university/Jerusalem<br />

hat sich zum unermüdlichen Propagator einer „achsenzeit<br />

der weltgeschichte“ gemacht. obwohl eine solche heute als zeitlich<br />

wie sachlich breiter angesetzt wird, spricht Eisenstadt betont von<br />

den ‚saatbett-Gesellschaften‘ Griechenland und israel 75 . Eindringlich<br />

warnt er vor nur ‚natürlicher Evolution‘; denn die kulturellen Programme<br />

und institutionellen formen dieser revolution gingen „nicht aus einem<br />

natürlichen evolutionären Potential ... hervor“ 76 . darum seien die<br />

achsenzeitlichen zugewinne immer auch gefährdet, müßten stetig neu<br />

gesichert und vor amalgamierungen mit primordialen Verhaltensstrukturen<br />

geschützt werden: „die neuen ‚kulturbezogenen‘ ... – ‚religiösen‘<br />

– Kollektive hoben sich zwar deutlich ab von den politischen und auch<br />

von ‚primordialen‘, ‚ethnischen‘, lokalen oder religiösen Kollektiven, aber<br />

jene wirkten auf sie ein, interagierten mit ihnen, forderten sie heraus, so<br />

daß alle ihre identität ständig neu herstellen mußten. die handelnden<br />

... waren die autonomen kulturellen Eliten“ 77 .<br />

Gesellschafts- und geistesgeschichtlich gesehen verstärkt sich in diesen<br />

Prozessen – um die Perspektive wieder auf unsere Thematik zurückzulenken<br />

– die identität des Einzelnen. denn jetzt entsteht – so Jan<br />

assmann – „das im bewußtsein des Einzelnen aufgebaute und durchgehaltene<br />

bild der ihn von allen (signifikanten) anderen unterscheidenden<br />

Einzelzüge“ 78 . Voraussetzung dafür ist der aufbau von ‚rationalen‘<br />

wie ‚ethischen‘ Kulturen, die diese individualisierung ermöglichen. immer<br />

aber droht eine Gefährdung durch rückfall in primordiale Gesellschafts-<br />

und religionsstrukturen, wogegen jedoch die Verschriftlichung<br />

ihre bewahrende und erinnernde wirkung setzt. das alles ist aber, wie<br />

gesagt, nur erst in sozietäten gesteigerter zivilisation möglich, wie freilich<br />

umgekehrt bei gesteigerter zivilisation sich auch die Gewalt brutalisieren<br />

kann.


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

II. Die Geburt der modernen Freiheit<br />

1. Von der Selbstjustiz zur Staatsgewalt<br />

die pure Gewalt zu überwinden und statt dessen recht walten zu<br />

lassen ist aufgabe des staates. wortgeschichtlich erklärt sich ‚staat‘ aus<br />

dem indogermanischen sta/,stehen‘ oder ‚stellen‘, womit generell auf<br />

stabilität verwiesen ist. im mittelalter verband sich das wort mit dem<br />

lateinischen status in der bedeutung von ‚stand/Verfassung‘. der moderne<br />

staat versteht sich „als ein zusammenschluß von menschen zum<br />

zwecke des physischen Überlebens, des materiell besseren lebens und<br />

schließlich des sittlich guten lebens“ 79 . was wir heute als staat bezeichnen,<br />

ist „auf eine fortgeschrittene historische Entwicklungsstufe sozialer<br />

organisation zu beziehen“ 80 , kann also wieder nicht einfach als ‚natürlich‘<br />

gelten. „natürliche, unbegrenzte freiheit bedeutet das freie walten<br />

naturhafter Kräfte, letztlich die macht des stärkeren. Erst im recht und<br />

durch recht wird freiheit als beständige, gesicherte freiheit und als freiheit<br />

für alle möglich“ 81 .<br />

Ein fortgeschrittener staat hat in der antike bestanden und weiter<br />

ausgebaut dann wieder in der neuzeit. angesichts des historisch gesehen<br />

jungen Phänomens wendet sich das interesse heute zunehmend auch<br />

den vorstaatlichen Gesellschaften zu. so ist das mittelalterliche römischdeutsche<br />

reich „nie staat geworden“ 82 ; es war ein ‚Personenverbandsstaat‘,<br />

in dem statt rechtlicher administration ‚spielregeln der Politik‘<br />

galten, wie der münsteraner mediävist Gerd althoff sagt 83 . Eine minister-berufung<br />

muß man sich für damals so vorstellen, daß der berufene<br />

neben dem König an der Tafel zu sitzen kam, und die abberufung in der<br />

weise, daß der Entlassene dort keinen Platz mehr fand. die spielregeln<br />

waren keineswegs willkürlich, sondern beruhten auf persönlicher beziehung<br />

wie auf herkommen und konkretisierten sich in ritualen. am<br />

wichtigsten aber war, ob und wie dieser Vor-staat Gewalt regulierte, wie<br />

er recht setzte und recht sprach. Tatsächlich herrschte zunächst selbstjustiz,<br />

so daß der Einzelne, zumal der adlige, sich sein (vermeintliches)<br />

recht mit dem schwert holte. zum mittel der bewaffneten selbsthilfe<br />

griff im mittelalter, so althoff, wer immer sich zurückgesetzt, ungerecht<br />

behandelt oder beleidigt fühlte: „Er schädigte leute oder auch land des<br />

Gegners so lange, bis der [andere] sich bereit fand, einzulenken und den<br />

streit mittels geeigneter Genugtuungsleistung aus der welt zu schaffen.<br />

die Gewaltanwendung selbst ... war kein regelbruch, sondern nach allgemeiner<br />

auffassung legitim“ 84 . noch in den hoch- und spätmittelal-<br />

37


38 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

terlichen städten, die mit waffenverbot, rechtsverordnungen und bewaffneten<br />

stadtsoldaten erste ansätze zur staatlichen friedenswahrung<br />

schufen, blieb die Gewaltbereitschaft hoch, wie der Göttinger mediävist<br />

Ernst schubert († 2006) schreibt: „Eine spätmittelalterliche stadt ist<br />

ohne Gewalt, ohne handgreiflichkeiten beim austrag zwischenmenschlicher<br />

Konflikte nicht vorstellbar“; zuweilen waren „ein drittel aller im<br />

15. Jahrhundert vom rat bestraften Vergehen Gewaltdelikte“, und das<br />

„bei allen ständen“ 85 . heute ist ein recht auf gewaltbereite selbstjustiz<br />

undenkbar, und doch realiter immer wieder aufflackernd. in abständen<br />

bringen medien nachrichten wie: „mann wegen streit um geparktes<br />

auto erschossen“.<br />

um den ‚Krieg aller gegen alle‘ zu beenden, hat der neuzeitliche staat<br />

als erstes jedem Einzelnen die waffen genommen, alle Gewalt rechtlich<br />

lizenziert und obrigkeitlich konzentriert. Erst nach beseitigung des<br />

‚natürlichen Krieges‘ und bei befestigung des rechtes als verbindlicher<br />

norm wächst die chance für Gerechtigkeit und Gleichbehandlung, dergestalt<br />

nämlich, daß die physisch schwächeren, so gerade auch frauen<br />

und Kinder, nicht einfach vergewaltigt und ausgebeutet werden, die armen<br />

nicht weiter erniedrigt, die mächtigen nicht länger ihrer willkür<br />

folgen und die religiösen abweichler nicht mehr vernichtet werden. da<br />

aber der hierfür notwendige staat erst eine spätschöpfung ist, lassen<br />

sich bereits die chancen einer humangeschichte voraussagen: ohne den<br />

rechtsstaat kann die lebens- und freiheitsgeschichte, wenn überhaupt,<br />

nur mühsam gedeihen. Es sei denn, diese humangeschichte hätte sich<br />

aus anderen wurzeln genährt, etwa – wie es unser Thema ist – aus religiösen.<br />

dafür gibt es beispiele. während des 10. und 11. Jahrhunderts,<br />

das für frankreich als ‚Jahrhundert des schwertes‘ gilt, suchten Kirchenleute<br />

der Gewalt Einhalt zu bieten, indem sie „die geistlichen straf- (und<br />

Gnaden)mittel zum öffentlichen wohl mit neuer schärfe, zum Teil auch<br />

auf neue art handhabten“ 86 . dies konnte insoweit funktionieren, als die<br />

disziplinierende wirkung des für jeden anstehenden Gottesgerichts einwirkte,<br />

ebenso kirchliche bußauflagen drohten, wie vor allem die Exkommunikation.<br />

dem bekannten französischen mediävisten Jacques<br />

leGoff zufolge erwies sich „die möglichkeit, einem weltlichen herrscher<br />

strafen im Jenseits anzudrohen, in den händen der Kirche [als]<br />

ein wirksames herrschaftsinstrument.“ 87 wie es dabei zugehen konnte,<br />

dafür nur das beispiel eines französischen adligen, der um 1100 wegen<br />

eines angriffs gegen einen mönch der abtei Vendome buße zu leisten<br />

hatte und dafür in den Kapitelsaal des Klosters geführt wurde: dort gelobte<br />

er unter berührung des Evangeliums besserung und wurde dann


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

mit von ihm selbst mitgebrachten ruten gezüchtigt 88 – ein beispiel für<br />

‚religiöse Justiz‘ in einer vorstaatlichen Gesellschaft.<br />

angesichts des im mittelalter noch fehlenden staates lohnt es, nochmals<br />

auf den Prozeß der zivilisation zu schauen, wie ihn norbert Elias<br />

so suggestiv dargestellt hat. der kriegerischen männergesellschaft waren<br />

schranken gegen ihre Gewaltentladungen aufzurichten; denn „der<br />

Krieger des mittelalters liebte den Kampf nicht nur, er lebte darin“ 89 . ihm<br />

mußten die waffen genommen werden, die fortan nur noch die rechtmäßige<br />

obrigkeit führen sollte. streitfälle waren dem Gericht zu unterbreiten,<br />

dessen urteile die obrigkeit, die nun ob ihres alleinigen waffenbesitzes<br />

allen sonst überlegen war, zur anerkennung und ausführung<br />

brachte. in dem maß, wie der staat Gesetz und Gericht aufbaute, mußte<br />

der bis dahin selbstmächtige adel auf seine eigenhändige rechtsdurchsetzung<br />

verzichten und die ergangenen Gerichtsentscheide anerkennen.<br />

der Gewinn war evident, nämlich Vermeidung von Kampf, fehde und<br />

Krieg; aber der Preis war hoch, nämlich die rückstufung der Triebe, und<br />

diese waren „wild, grausam, zu ausbrüchen geneigt und hingegeben an<br />

die lust des augenblicks“ 90 . Gegen die Triebentladung mußte jetzt die<br />

‚Überlegung‘ gesetzt werden; der Verstand sollte zur dominanz kommen,<br />

und damit wurde bildung vorrangig. Typischerweise bildete sich<br />

im 12. Jahrhundert die erste universität für recht in bologna, für Theologie<br />

dann in Paris.<br />

das Ganze hatte übrigens schon heinrich heine († 1856) hellseherisch<br />

erfaßt, bei deutlicher betonung auch der wirkung des christentums:<br />

„das christentum – und das ist sein schönstes Verdienst – hat jene<br />

brutale germanische Kampflust einigermaßen besänftigt, konnte sie jedoch<br />

nicht zerstören, und wenn einst der zähmende Talisman, das Kreuz,<br />

zerbricht, dann rasselt wieder empor die wildheit der alten Kämpfer, die<br />

unsinnige berserkerwut, wovon die nordischen dichter soviel singen<br />

und sagen. Jener Talisman ist morsch, und kommen wird der Tag, wo<br />

er kläglich zusammenbricht. die alten steinernen Götter erheben sich<br />

dann aus dem verschollenen schutt und reiben sich den tausendjährigen<br />

staub aus den augen und Thor mit dem riesenhammer springt endlich<br />

empor und zerschlägt die gotischen dome. ... wenn ihr es einst krachen<br />

hört, wie es noch niemals in der weltgeschichte gekracht hat, so wisst:<br />

der deutsche donner hat endlich sein ziel erreicht... Es wird ein stück<br />

aufgeführt werden in deutschland, wogegen die französische revolution<br />

nur wie eine harmlose idylle erscheinen möchte“ 91 .<br />

39


40 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

2. Endlich: der Rechtsstaat<br />

der moderne staat, wie ihn erstmals die antike und dann wieder<br />

die europäische neuzeit hervorbrachten, bewirkt den zusammenschluß<br />

von menschen zu einem Verband mit sowohl vertikalen wie horizontalen<br />

bindungen. Von unserer fragestellung her gesehen will der staat<br />

jene kulturellen regeln garantieren, die ein humanes zusammenleben<br />

ermöglichen. für streitfälle bietet er Gerichte an, wo rechtskundige anhand<br />

juristisch und ethisch ausgearbeiteter Gesetze die urteile fällen.<br />

die staatsangehörigen haben dem Gesetz und dem Gerichtsurteil folge<br />

zu leisten, was bei Verweigerung die obrigkeit als inhaberin des Gewaltmonopols<br />

zu erzwingen vermag. dieser rechtsstaat zählt ohne zweifel<br />

zu den großen humanen leistungen. aber er ist nicht ohne Gefahren,<br />

die in zweierlei hinsicht drohen. die erste Gefahr zeigt sich dort, wo der<br />

staat zu schwach ist, wofür sich noch heute beispiele bieten, etwa in der<br />

größten demokratie der welt, in indien, wo bürger mancherorts lieber<br />

auf selbstjustiz setzen als auf Gerichte: „die breite Öffentlichkeit hat kein<br />

Vertrauen in die Gerichte. sie weiß, daß im bereich der Justiz nur bestechung<br />

und Einfluß weiterhelfen. Gänzlich verloren sind die armen ...<br />

auf frischer Tat ertappte diebe werden öffentlich gelyncht. die extreme<br />

form solcher selbstjustiz ... [bedeutet], Verdächtige eher ab[zu]knallen<br />

als sie den Gerichten zuzuführen“ 92 . die zweite Gefahr zeigt sich dort, wo<br />

der staat zu stark ist, wie es die Terrorsysteme des 20. Jahrhunderts gezeigt<br />

haben. wer immer die staatsspitze total vereinnahmt, ob diktator<br />

oder Partei, vermag ob des Gewaltmonopols despotisch zu werden, denn<br />

angesichts der waffenlosigkeit aller sonst ist seine Gewalt unbeschränkt.<br />

diese mißbrauchsmöglichkeit hatte die aufklärerische staatsdoktrin von<br />

vornherein mitbedacht und dagegen die Gewaltenteilung gestellt, nämlich<br />

das ausbalancieren in legislative, Judikative und Exekutive.<br />

Tatsächlich vermag nur ein austarierter staat sein spezifisches ziel<br />

zu erreichen, nämlich die Gleichheit aller bürger vor dem recht, ohne<br />

jede bevorzugung bzw. benachteiligung nach stand, rasse oder religion.<br />

in der europäischen neuzeit wurden die Geblüts-, standes- und<br />

religionsvorrechte zwar nicht sofort, aber doch stetig weiter abgebaut.<br />

statt dessen sollte jeder sein recht bekommen, gemäß seinen fähigkeiten<br />

zu den staatsämtern aufsteigen können und nur der beste an die<br />

spitze gelangen. bis ziemlich genau hierhin war der aufgeklärte staat im<br />

18. Jahrhundert vorgedrungen, noch mit dem König an der spitze, aber<br />

nun als dem ersten diener des staates. die amerikanische und französische<br />

revolution stürzten indes die monarchische spitze und kehr-


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

ten revolutionär das unterste zuoberst. als ersten Gewalt-inhaber wollten<br />

sie nicht mehr einen von Gottes Gnaden bestellten König, erklärten<br />

statt dessen die bürgerschaft zum Träger aller originären rechte und<br />

freiheiten, und diese hatte nun demokratisch die regierenden zu wählen.<br />

die staatsgewalt sollte dabei die demokratischen rechte nicht nur<br />

anerkennen, sondern zugleich als menschengebotene freiheitsrechte<br />

sichern und schützen. folglich hatte dieser neue, nun demokratische<br />

staat die Gleichberechtigung aller durchzusetzen, was grundsätzlich bejaht<br />

und doch zunächst nur eingeschränkt, etwa wegen des vom zensus<br />

abhängigen wahlrechtes, verwirklicht wurde. Vor allem aber waren<br />

die demokraten allesamt nationalisten. Programmatisch heißt es in der<br />

französischen menschenrechtserklärung von 1789: „der ursprung aller<br />

souveränität ruht seinem wesen nach im Volk [nation]“ 93 . in der nation<br />

sollte sich die allgemeine Volksgleichheit realisieren; da diese aber<br />

nichts anderes ist als die primärsoziale ‚Volksbeheimatung‘, zeigten sich<br />

entsprechende folgen, nämlich ein aggressiver nationalismus. für uns<br />

wird endgültig deutlich, welch hochkompliziertes regelwerk der moderne<br />

staat erfordert, wie aber nur erst dadurch menschenwürde, demokratie<br />

und Toleranz gesichert werden können.<br />

die herausbildung des neuzeitlichen staates vollzog sich keineswegs<br />

rein säkular, als ob es dabei sofort schon ohne religion zugegangen wäre.<br />

Tatsächlich war dieser neue staat zunächst ‚konfessionell‘. das alte herrscherrecht<br />

auf religionsbestimmung gerann nach der reformation zu<br />

der bekannten rechtsformel: Cuius regio eius religio – wer herrscht, bestimmt<br />

auch die religion 94 . in Europa entschieden darüber die Könige,<br />

in deutschland allerdings nicht der Kaiser, sondern die landesfürsten.<br />

in den einzelnen Territorien erhielt die jeweilige Konfession ausschließliche<br />

Geltung; sie kam – so der (evangelische) rechtshistoriker martin<br />

heckel – „durch den staat zur herrschaft“ 95 . umgekehrt erfuhr die<br />

staatsgewalt im landeskirchenregiment ihre letzte zuspitzung, mit sogar<br />

„überirdischer weihe, autorität und Erhabenheit“ 96 . so setzte sich<br />

der moderne staat zunächst mit religiöser autorität durch. dabei stellte<br />

sich die jeweilige Konfession voll in seinen dienst, mit dem risiko<br />

allerdings, als herrschaftsmittel politisiert zu werden 97 . für die interne<br />

staatsbildung spielte diese Konfessionalisierung eine sogar entscheidende<br />

rolle, indem sie eine staatsförderliche sozialdisziplinierung durchsetzte<br />

98 . Erst dadurch entstand das gewissenhaft und strikt für das öffentliche<br />

wohl arbeitende beamtentum. dieser neue Typ erfüllte dann jene<br />

bedingungen, die max weber zur unabdinglichen Voraussetzung moderner<br />

staatlichkeit erklärt hat, nämlich eine bürokratie mit fester Kom-<br />

41


42 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

petenz, behördlicher institution und rationaler administration; dazu<br />

brauchte es die durch schulung angeeignete fachkompetenz, wie aber<br />

auch durch disziplinierung erworbene unbestechlichkeit, um fachlich<br />

und sachlich im sinne des allgemeinwohls zu wirken. Erst jetzt konnte<br />

die grundsätzliche Gleichbehandlung in Verwaltung und vor Gericht garantiert<br />

werden, so „daß die patrimonialfürstliche Justiz des okzidents<br />

nicht in die bahnen genuin patriarchaler wohlfahrts- und materialer<br />

Gerechtigkeitspflege ausmündete“ 99 .<br />

Es war abzusehen, daß, sobald die Konfessionsbindung weltanschaulich<br />

zerbrach, sich auch der Konfessionsstaat verändern mußte: um der<br />

Gleichheit aller bürger willen mußte die Konfessionsbevorzugung aufgegeben<br />

und eine Trennung des staates von der jeweiligen Kirche herbeigeführt<br />

werden. allerdings wurden die beiden Größen nicht parallel<br />

freigesetzt, sondern der staat führte in weiterer wahrnehmung souveräner<br />

beaufsichtigungsrechte die religionskontrolle fort, nun nicht mehr<br />

konfessionell, sondern ‚aufgeklärt‘. dafür mußte jetzt das staatsbeamtentum<br />

eintreten, in Verantwortlichkeit vor Gesetz und Öffentlichkeit.<br />

3. Trennung von Kirche und Staat<br />

„Gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört“<br />

(mk 12,17). dieses neutestamentliche wort sollte weltgeschichtliche<br />

folgen haben, nämlich die Trennung von staat und Kirche herbeiführen.<br />

allgemein wurde herrschaft als Gottkönigtum gedeutet: die<br />

„Vorstellung von einer besonderen autorität des Königs ist ... in der gesamten<br />

nichtchristlichen antike vorhanden, in Ägypten, mesopotamien,<br />

iran, Griechenland und rom: der König ist erwählt durch die Götter<br />

des staates und kraft dieser begabung mit königlicher autorität regiert<br />

er als irdischer stellvertreter der Götter“ 100 . in israel herrschte dieselbe<br />

idee; der himmlische Jahwe bestellte den irdischen König, und sobald<br />

dieser ihm mißfiel, erfolgte die Verwerfung und berufung eines anderen.<br />

religionsgeschichtlich erscheint der König regelmäßig auch als Priester<br />

(rex et sacerdos) 101 . das neue Testament greift diese Vorstellung des Priesterkönigtums<br />

auf, verallgemeinert sie jedoch und egalisiert sie: „ihr seid<br />

ein auserwähltes Geschlecht, eine königliche Priesterschaft“ (1Petr 2,9).<br />

der christliche westen beschritt einen sonderweg, den der zwei Gewalten.<br />

Papst Gelasius i. († 496) lieferte im anschluß an den mailänder<br />

bischof ambrosius die entscheidende Theorie: der staatlichen Gewalt<br />

ist es nach Gelasius verwehrt, „geistlicher dienste sich zu bemächtigen,


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

und [sie] erkennt, daß dies ihrem rechtsbereich nicht zustehe, dem es<br />

nur gegeben ist, über rein menschliche fragen zu befinden, nicht aber<br />

göttlichen dingen vorzustehen ... mag sein, daß vor der ankunft christi<br />

einige menschen zugleich Könige und Priester waren; sie waren es nur<br />

als Vorbild und in nur fleischlichen diensten ... darum nannten sich die<br />

heidnischen Kaiser auch Pontifex maximus. seitdem aber das zeitalter<br />

des wahren Königs und Priesters in einer Person [christus] angebrochen<br />

ist, hat kein Kaiser von sich aus den Titel des Priesters geführt und kein<br />

bischof sich königliche würde angemaßt – obwohl die Glieder christi,<br />

des wahren Königs und hohenpriesters, in Kraft ihrer Teilhabe an der<br />

göttlichen natur, nach dem wort der schrift beide würden zu hochheiligem<br />

adel vereinen und in wahrheit ein ‚königliches und priesterliches<br />

Geschlecht‘ sind. denn christus hat, eingedenk der menschlichen<br />

schwäche, durch eine großartige anordnung zum heil der seinigen weise<br />

abwägend, die rechtsbereiche beider Gewalten in eigenständige betätigungsfelder<br />

und wohlgetrennte würden geschieden ... so sollten die<br />

christlichen Kaiser für das ewige leben der bischöfe bedürfen, die bischöfe<br />

dagegen im bereich der irdischen dinge nach den kaiserlichen<br />

Gesetzen leben.“ 102<br />

mit dieser scheidung war allerdings die bis dahin nirgends sonst angefochtene<br />

idee des Priesterkönigtums keineswegs beseitigt, lebte sogar<br />

auch im christentum wieder auf. so nannte sich Konstantin († 337) sofort<br />

schon ‚bischof des Äußeren‘, worin die alte denkfigur des Priesterkönigs<br />

weiterwirkte, wie auch die byzantinischen Kaiser sich direkt als<br />

Priester und König (hiereus kai basileus) bezeichneten 103 . nicht anders<br />

verstanden sich die Karolinger und ottonen: der jeweilige König lenkte<br />

immer auch die Kirchendinge, sowohl die berufung der bischöfe wie<br />

der Konzilien. in deutschland bildete sich zur Karolinger- und ottonenzeit<br />

das reichskirchen-system heraus: der König als herr der Kirche und<br />

die adeligen bischöfe als Teilhaber an der reichsregierung wie noch an<br />

regionalen herrschaftsrechten 104 . diese Verquickung widersprach direkt<br />

der Gelasianischen Gewaltenteilung.<br />

die als investitur-streit bekannte auseinandersetzung zwischen<br />

Papst Gregor Vii. († 1085) und dem deutschen König heinrich iV.<br />

(† 1106) versuchte erneut eine Trennung: der weltliche herrscher sollte<br />

reine laienperson sein, keine sakralität mehr beanspruchen und sich<br />

auf das säkulare beschränken, wie umgekehrt die geistliche Gewalt auf<br />

das Kirchliche 105 . was eigentlich intendiert war, zeigt am deutlichsten<br />

ein Trennungsvorschlag, der 1111 im Vertrag von sutri ausgehandelt<br />

wurde und eine strikte Kompetenztrennung vorsah: „die Kirchen sol-<br />

43


44 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

len mit den zehnten und ihren opfergaben zufrieden sein; der König<br />

aber soll alle Güter und Königsrechte, die seit Karl [dem Großen], ludwig<br />

[dem frommen], otto [dem Großen], heinrich [dem zweiten] und<br />

anderen den Kirchen angetragen worden sind, für sich und seine nachfolger<br />

zurücknehmen und behalten“ 106 . die bischöfe sollten ihre Königsrechte<br />

zurückgeben und allein von spenden und opfergaben, nicht aber<br />

von Einkünften ihrer weltlichen herrschaftsrechte leben. diese Vorstellung<br />

fand durchaus unterstützung, nicht nur bei häretikern, sondern<br />

auch bei kirchentreuen reformern. dabei wurde oft auch die Konstantinische<br />

wende angeführt: seit Konstantin sei die Kirche ob ihres besitzes<br />

und der dadurch bewirkten Politik verderbt. hören wir nur den eigentlich<br />

konservativen Gerhoh von reichersberg († 1169): laut beklagte<br />

er die Vermischung von Geistlichem und weltlichem; die im besitz von<br />

bischöfen befindlichen Grafen-, zoll- und münzrechte hielt er für unrechtens,<br />

wollte nur zehnten und opfergaben zulassen, darunter allerdings<br />

auch die ‚privat‘ vom König gemachten schenkungen. doch forderte<br />

er die bischöfe nicht direkt zur rückgabe ihrer herrschaftsrechte<br />

auf 107 . daß das wormser Konkordat, das den investitur-streit 1122 beendete,<br />

einen nur faulen Kompromiß bot, zeigt sich daran, daß die bischöfe<br />

weiterhin reichsfürsten blieben, also stab und zugleich schwert<br />

führen konnten. Eine Trennung hätte jenes Geistliche reichsfürstentum,<br />

wie es seit den Karolingern und besonders den ottonen praktiziert wurde,<br />

abrupt beendet.<br />

Konsequenterweise hätte auch der Papst auf seinen ‚Kirchenstaat‘<br />

verzichten müssen. nur, wie hätte das Papsttum in einer staatenlosen<br />

welt seine unabhängigkeit zu behaupten vermocht! Gleichwohl blieb<br />

Kritik. so erhob Pierre dubois († nach 1321), ein französischer Kronjurist,<br />

die forderung nach einer juristisch präzisen Trennung, daß der<br />

Papst, weil immer wieder in militärische und politische händel hineingezogen,<br />

seine weltliche herrschaft an fürsten abtreten und sich dafür<br />

eine Pension auszahlen lassen sollte 108 . der große humanist Erasmus<br />

von rotterdam († 1536) konnte nur höhnen: „wie [paßt] der hirtenstab<br />

zum schwert? wie das Evangelium zum schild?“ 109 die ›confessio augustana‹<br />

brandmarkte, daß „in unangemessener weise die Vollmacht der<br />

bischöfe mit der weltlichen machtausübung (urspr.: schwert) vermengt“<br />

sei 110 . Trotz aller Proteste steigerte sich die obrigkeitliche Kirchenherrschaft<br />

noch, bis dann die geistlichen fürstentümer 1803 revolutionär beseitigt<br />

wurden. der Kirchenstaat verschwand erst 1870.<br />

für die fragestellung nach Gewalt und Toleranz hat die Trennung<br />

von religion und staat eine kaum zu überschätzende bedeutung: Erst da-


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

durch verliert der staat seine sakralität, so daß religionsvergehen nicht<br />

länger obrigkeitlich verfolgt werden müssen, wie umgekehrt staatsvergehen<br />

nicht sofort auch die religion berühren. Vielmehr verhält sich der<br />

staat religionsneutral und schützt die jeweilige religion im rahmen der<br />

allgemeinen menschen- und Toleranz-rechte. der staat gibt die Gesinnung<br />

frei: „der zugriff auf die Gesinnung ist zeichen nicht seiner stärke,<br />

sondern seiner schwäche“ 111 . angesichts des islam gewinnt heute die<br />

Trennung von religion und staat wie aber auch die rechtliche Einhegung<br />

rechtlos gewordener religion höchste aktualität.<br />

4. Freiheit zur Selbstwerdung<br />

Von ‚langer dauer‘ war nicht nur die herausbildung des staates, sondern<br />

ebenso die damit verbundene Entwicklung der individuellen selbstwerdung.<br />

wie sich diese herausbildete und aus welchen bedingungen<br />

sie hervorging, verdeutlicht der münchener neuzeit-historiker Thomas<br />

nipperdey († 1992) an eben jenem seit dem 18. Jahrhundert zu beobachtenden<br />

freiheitsschub, den wir heute als den unsrigen begreifen: „die<br />

ordnungen des lebens lösen sich seit dem späteren 18. Jahrhundert zunehmend<br />

auf. der mensch hat sein leben nicht mehr traditionsgeleitet<br />

in seinem Geburtsstand, sondern er wird ‚innengeleitet‘, gewinnt ‚persönlichen<br />

stand‘, aus leistung und bildung. der Einzelne erhebt gegen<br />

die welt der vorgegebenen bindungen anspruch auf einen freien raum<br />

der betätigung wie der selbstvergewisserung, der zwecksetzung, der reflexion.<br />

der mensch stellt sich auf sich selbst. Er tritt aus den konkreten<br />

– und auch begrenzten – sozialen Gebilden seiner herkunftswelt heraus,<br />

an denen er sich orientiert hatte ... dieser Prozeß hatte mehrfältige ursachen<br />

und antriebe, religiöse und geistesgeschichtliche: den Pietismus,<br />

die ersten säkularisierungstendenzen, die aufklärung; sozialgeschichtliche<br />

und politische: die zunahme der neuen, von den ursprünglichen<br />

‚ständen‘ verschiedenen, ‚eximierten‘ schicht der bürgerlichen, und ihre<br />

förderung durch den sich bürokratisierenden staat; schließlich (und<br />

zumeist erst später) ökonomische ... all das stellt, seit beginn unseres<br />

zeitraums, einen deutlichen schub zur dekorporierung der Gesellschaft,<br />

damit zur individualisierung dar“ 112 . halten wir fest: Erst im 18. Jahrhundert<br />

setzt sich jenes individuelle Personbewußtsein voll durch, wie es<br />

uns heute eigen ist, das damals sofort auch größere freiheitsmöglichkeiten<br />

beanspruchte und sich einen entsprechenden spielraum erkämpfte.<br />

unsere Vorstellungen von freiheit und Toleranz sind also recht jung. Äl-<br />

45


46 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

tere lebensformen einfachhin als zwanghaft und intolerant zu bezeichnen,<br />

verkennt die Geschichtlichkeit der freiheit.<br />

für das seit dem 18. Jahrhundert neuartige Verlangen nach selbstverwirklichung<br />

hat der in Potsdam und am Erfurter max-weber-Kolleg lehrende<br />

christoph menke jüngst eingängige stichworte formuliert: vorneweg<br />

die freiheit zur Verwirklichung und Erfüllung des eigenen lebens;<br />

dafür autonomie mit selbstgegebenen und nicht von anderen aufoktroyierten<br />

regeln; selbstunterwerfung zwar unter sich selbst, nicht aber unter<br />

andere. so lauteten die Postulate seit ziemlich genau 1800, was sich dann<br />

in den vielberedeten sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts zur ‚authentizität‘<br />

steigerte, zur Vorstellung eines selbstständig zu entfaltenden inneren<br />

Kerns, zur ‚selbstverwirklichung durch das selbst und am selbst‘. die<br />

frage, wie sich diese Eigenbelange dann mit den fremdbelangen austarieren,<br />

ob hier nicht ‚kalifornischer selbstkult‘ betrieben werde, sei durch<br />

die Einsicht zu lösen, „daß wir gar nichts wären und hätten ohne die hilfe<br />

anderer“ 113 . so erhält die selbstverwirklichung eine synchrone und zugleich<br />

diachrone dimension, nämlich subjektwerdung sowohl aus selbstwerdung<br />

wie aus Tradition. die für die selbstverwirklichung formativen<br />

neuzeit-Phasen seien, wie es charles Taylor in seinem vielgelobten werk<br />

›Quellen des selbst. die Entstehung der neuzeitlichen identität‹ darstellt,<br />

eben auch mit dem mittelalter und der antike zu verbinden.<br />

die neue freiheit zur selbstverwirklichung verlangte Gestaltungsraum:<br />

Je kräftiger der eigene innenkern sich entfalten sollte, desto empfindlicher<br />

verletzten Eingriffe von außen. die neuen freiheiten wurden<br />

infolgedessen als freiheitsrechte deklariert, daß nämlich zum einen jeder<br />

einen anspruch darauf habe und zum anderen jeder in der wahrnehmung<br />

dieser rechte zu schützen sei. aus dieser neuen freiheit heraus<br />

sind die modernen menschenrechte formuliert worden. aber keineswegs<br />

waren sie sofort schon voll da; vielmehr ist von einer mehrfachen historisierung<br />

zu sprechen, von „drei menschenrechtsgenerationen“ 114 : die<br />

erste im 18. Jahrhundert mit den bürgerlichen und politischen Grundrechten,<br />

die zweite im 19. Jahrhundert mit den sozialen und wirtschaftlichen<br />

Grundrechten, die dritte nach dem zusammenbruch der Terrorsysteme<br />

mit den menschenrechten; anzufügen ist noch eine vierte am<br />

Ende des 20. Jahrhunderts mit den globalen und ökologischen Grundrechten.<br />

die zukunft wird weitere herausforderungen bringen, für die<br />

neue menschenrechtliche lösungen gefunden werden müssen. bemerkenswerterweise<br />

hatte schon immanuel Kant († 1804) davon gesprochen,<br />

daß bei aller boshaftigkeit der menschlichen natur doch „eine noch größere,<br />

obzwar zur zeit schlummernde, moralische anlage im menschen


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

anzutreffen sei“ 115 . die regungen und weckungen dieser schlummernden<br />

anlage sind weiterhin zu entdecken und herauszuarbeiten. stärker<br />

denn je wird challenge and response zur aufgabe.<br />

für den aufklärerischen freiheitsprozeß als ganzen bleibt festzuhalten:<br />

wenn wirklich erst spätphasen das neuzeitliche freiheitsverständnis<br />

ermöglichen, liegt das zum einen an den sozialgeschichtlichen Vorbedingungen.<br />

Einzelne oder auch Gruppen mußten sich aus dem religiöspolitischen<br />

Gemeinschaftsverband lösen, ja sich zu diesem in Gegensatz<br />

stellen, was historisch gesehen erstmals in der antike geschah und<br />

sich in der neuzeit verstärkte. zum anderen hat das aufkommen wie<br />

gerade auch das Pochen auf selbstverwirklichung geistig-aufklärerische<br />

Gründe. Es mußte eine Trennung der Philosophie von mythologie und<br />

mythographie erfolgen, also aufklärung und religionskritik aufkommen.<br />

zumal wissenschaftlich lief hier ein komplizierter Prozeß ab. um<br />

das christentum in seinem alleinanspruch zu enttabuisieren und in die<br />

allgemeine religionsgeschichte einordnen zu können, bedurfte es ethnologischer<br />

Erkundungsberichte, gedruckter bücher und bibliotheken,<br />

obendrein wissenschaftlicher betätigungsmöglichkeiten und des gelehrten<br />

austausches, bei nutzung noch des technischen buchdrucks und eines<br />

funktionierenden briefverkehrs.<br />

wie wenig an einen rein organischen wachstumsprozeß zu denken<br />

ist, zeigen gerade die anlässe von jeweils schrecklicher art: im 17. Jahrhundert<br />

die religionskriege, im 20. Jahrhundert die Terrorsysteme, in<br />

der Gegenwart sowohl Völkermord wie Terrorismus, obendrein die ökologische<br />

bedrohung. dementsprechend erfolgten und erfolgen fortlaufende<br />

ausweitungen an der definition der menschenrechte: anfangs nur<br />

zensus-wahlrecht und noch fehlendes frauen-stimmrecht; dann zwar<br />

Eigentumsgarantie, aber ohne sozialverpflichtung; derzeit ausweitung<br />

ins Globale mit universalen menschenrechten. daß zuweilen erst Katastrophen<br />

den fortschritt erzwangen, muß gesunde optimisten beschämen,<br />

ja tief verstören, wenn etwa der aus Jamaika stammende harvardsoziologe<br />

orlando Patterson über freiheit und sklaverei schreibt: „Es<br />

mußte sklaverei geben, bevor überhaupt die idee der freiheit als eines<br />

wertes entstehen konnte“ 116 . oder wie der berliner bischof wolfgang<br />

huber im blick auf auschwitz bekennt: „Erst nach den schrecken der<br />

schoa, des durch den nationalsozialistischen staat verordneten und von<br />

vielen menschen mitgetragenen mordes am europäischen Judentum, hat<br />

an dieser stelle ein umdenken begonnen“ 117 . so ist nochmals zu betonen:<br />

die freiheitsrechte haben ihre höchst komplexe findungs- und realisierungsgeschichte.<br />

47


48 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

III. Die staatsbürgerlichen Pflichten<br />

Kulturelle regeln beruhen auf eingeübten ethischen fertigkeiten, auf<br />

Tugenden. so oft diese schon für vermottet und verrottet erklärt worden<br />

sind, so unentwegt finden sie neue fürsprecher. wir sollten, sagt der<br />

ehemalige Kulturstaatsminister Julian nida-rümelin, „unter Tugenden<br />

Einstellungen und Verhaltensmuster verstehen, die unser handeln begleiten<br />

und formen. Tugenden können nicht unmittelbar gelehrt werden,<br />

sie lassen sich erwerben durch Praxis und Vorbild“ 118 . die konkrete<br />

‚Einübung‘ war zentrales Thema schon der antiken Philosophie,<br />

die als erstes, wie der französische Patristiker Pierre hadot schreibt, die<br />

herausbildung ethischer lebensformen erstrebte: um zu höherer lebensart<br />

zu gelangen, war zu ‚üben‘, oder in fachsprache: askese zu tun.<br />

ziel war „eine tiefgreifende umwandlung der denk- und seinsweise des<br />

individuums“ 119 . man kann dasselbe auch mit max weber ausdrücken,<br />

demzufolge die „Einübung des Guten“ einen der großen religions- und<br />

menschheitsgeschichtlichen Entwicklungsschübe hervorbringt, nämlich<br />

den „persönlichen Gesamthabitus“, wodurch „eine einheitlich methodisch<br />

orientierte lebensführung“ entstehe, die „naturgemäß nur durch<br />

rationale methodische richtung der Gesamtlebensführung, nicht durch<br />

einzelne zusammenhangslose handlungen erfolgen“ könne. das Ergebnis<br />

ist: „auf die religiöse arbeit an der eigenen Person kommt ... alles<br />

an“ 120 . für die moderne mit ihren ganz neuartigen anforderungen durch<br />

zivilisation, wirtschaft, Technik und intellektualität hat man sagen können:<br />

Es hätten dem ‚natürlichen menschen‘ erst durch askese die Knochen<br />

gebrochen werden müssen, um ihn den neuen anforderungen gefügig<br />

zu machen 121 . bestimmte ethische Qualitäten dienen speziell der<br />

Öffentlichkeit, so die persönliche Verantwortung wie ebenso das persönliche<br />

Engagement. beide entstammen aus heute oft kritisierten religionsphänomenen:<br />

die Verantwortung gegenüber welt und menschen<br />

resultiert aus dem Gottesgericht und das Engagement für öffentlich-positive<br />

belange aus dem opfer.<br />

1. Verantwortung<br />

Verantwortung wird derzeit als fundamentales Politwort gehandelt,<br />

ist zum beispiel feierlich deklariert in den Verfassungen der neuen<br />

bundesländer: als Verantwortung „vor dem Volke“, „vor der menschheit“,<br />

„vor der schöpfung“, „für die welt“ 122 . die juristische bedeutung ist


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

klar: „Jemand (der angeklagte) ist für etwas (seine Tat) vor einer instanz<br />

(dem Gericht) in bezug auf bestimmte normen (die Gesetze) verantwortlich“<br />

123 . wort- und begriffsgeschichtlich entspricht das ‚verantworten‘<br />

dem lateinischen respondere (antworten), mit der ehemals religiösen<br />

bedeutung, Gott im Gericht antworten zu müssen 124 . Erst das habe – wie<br />

der Philosoph Georg Picht († 1982) sagt – den „begriff der Verantwortung<br />

für die rechtfertigung vor Gottes richterstuhl“ 125 hervorgebracht.<br />

folglich handelt es sich beim heutigen Gebrauch – so der münsteraner<br />

systematiker william hoye – um ein theologisches säkularisat: „obwohl<br />

das gesamte recht ihn voraussetzt, ist er selbst kein rechtsbegriff “ 126 .<br />

Erst im 18. Jahrhundert drang der begriff in die Politik ein, etwa als Verantwortung<br />

vor dem König, dem Parlament, dem Volk.<br />

Tatsächlich artikuliert sich mit dem religiösen Gerichtsgedanken eine<br />

urmenschliche Erwartung: daß nichts ohne gerechte strafe bleibe 127 . die<br />

göttliche Gerechtigkeit bildete das positive hoffnungsbild zu den oft negativen<br />

Erfahrungen des irdischen lebens. die aussicht, daß alle rechtsbrecher<br />

einmal doch ihre gerechte strafe erfahren würden, war nicht<br />

nur persönlich trostvoll, sondern auch ermutigend für das festhalten an<br />

recht und Gerechtigkeit. Jan assmann hat auf diese bedeutung hingewiesen:<br />

„die Vorstellung vom Totengericht gehört zu den religiösen ideen<br />

des alten Ägypten, von denen sich im kulturellen Gedächtnis des westens<br />

eine besonders detaillierte Vorstellung erhalten hat“ 128 . die antike<br />

hat sich ihre Götter immer als vergeltende, strafende hüter der sittlichen<br />

ordnung vorgestellt, und die Erwartung ging dahin, daß, je talionsartiger<br />

die Vergeltung ausfalle, sie um so mehr den anforderungen genüge,<br />

die man an die göttliche Gerechtigkeit zu stellen gewohnt war. 129 die ‚Gerichtsprophetie‘<br />

des alten Testaments beruft sich auf den Tun-Ergehenzusammenhang:<br />

‚wie als mensch gelebt, so von Gott beurteilt‘ 130 . Jesus<br />

verkündete als Gottesgericht, daß „am Tag des Gerichts rechenschaft<br />

abzulegen ist“ (mt 12,76) und dabei „Gott – seinen zorn zurückstellend<br />

– allen als der Gnädige naht“ 131 . in der großen matthäischen Gerichtsrede<br />

stellen indes umgekehrt auch menschen fragen an den richtenden<br />

menschensohn und erwarten antwort (mt 25,37).<br />

wie sich im mittelalter von neuem die frage nach vergeltender Gerechtigkeit<br />

stellte, zeigt zum beispiel die Evangelienharmonie des mönches<br />

otfried von weißenburg († um 870): ihm zufolge geschieht das<br />

Gottesgericht nach art des damaligen Königsgerichtes, allerdings jetzt<br />

zug um zug ins ideale gewendet: kein feilschen um recht, kein Triumph<br />

der mächtigen, erst recht keine bestechung und auch keine stellvertretung<br />

in der strafableistung. denn Gott schaut bei seinem Gericht<br />

49


50 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

nicht auf rang und ansehen der Person, sondern allein auf das herz. insofern<br />

sind vor ihm alle gleich: reiche und arme, mann und frau, adeliger<br />

und sklave. 132 die so oft als Verängstigung kritisierte Gerichtspredigt<br />

proklamierte einen Gott, der keine sünde ungestraft läßt – in einer<br />

welt der willkür durchaus ein hoffnungsschimmer 133 .<br />

in der moderne wird „der bereich der Verantwortung immer größer“<br />

134 , ja Verantwortung bildet die „schlüsselkategorie ... neuerer philosophisch-ethischer<br />

ansätze“ 135 . max weber unterschied dabei ‚Verantwortungsethik‘<br />

und ‚Gesinnungsethik‘, wobei der Vertreter der<br />

Verantwortungsethik auf die realen handlungsmöglichkeiten schaue,<br />

dabei die folgewirkungen seines handelns sehr wohl einkalkuliere und<br />

auch persönlich dafür einstehe, freilich im ganzen auch etwas riskiere;<br />

ein Politiker müsse notwendig ein Verantwortungsethiker sein. demgegenüber<br />

bleibt für weber der Gesinnungsethiker konsequent im Grundsätzlichen,<br />

ohne sich von etwaigen handlungsfolgen oder nebeneffekten,<br />

ganz gleich ob positiv oder negativ, beeinflussen zu lassen. auf eine<br />

weitere stufe hat hans Jonas die diskussion angehoben in seinem ›das<br />

Prinzip Verantwortung‹. die nunmehr beklemmende macht menschlicher<br />

Eingriffsmöglichkeiten in die kosmische ordnung erfordere eine<br />

Verantwortung von bislang nicht gekannter Größenordnung: „der neue<br />

imperativ sagt eben, daß wir zwar unser eigenes leben, aber nicht das<br />

der menschheit wagen dürfen“ 136 . die vorausschauende Verantwortung<br />

wachse – so steigert Jonas noch – in einem nie gekannten ausmaß, denn<br />

„keine frühere Ethik hatte die globale bedingung menschlichen lebens<br />

und die ferne zukunft, ja Existenz der Gattung zu berücksichtigen“ 137 , ja<br />

„für eine solche Treuhänderrolle hat keine frühere Ethik (außerhalb der<br />

religion) uns vorbereitet – und die herrschende wissenschaftliche ansicht<br />

der Natur noch viel weniger“ 138 . was der kantische imperativ noch<br />

nicht kenne, sei jetzt gefordert: „handle so, daß die wirkungen deiner<br />

handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen lebens<br />

auf Erden“ 139 . letztlich weiß sich Jonas keinen anderen rat, als von<br />

neuem an das religiöse Tabu zu erinnern, „ob wir ohne die wiederherstellung<br />

der Kategorie des heiligen, die am gründlichsten durch die wissenschaftliche<br />

aufklärung zerstört wurde, eine Ethik haben können, die<br />

die extremen Kräfte zügeln kann, die wir heute besitzen und dauernd<br />

hinzuerwerben“ 140 . also ein Plädoyer für die rückkehr zur Kategorie des<br />

heiligen als einer Ehrfurchtshaltung vor der schöfpung!<br />

für heutige sicht gleichfalls befremdlich hat walter burkert die derzeit<br />

neu angeforderte ‚heilige scheu‘ ins spiel gebracht, nämlich religionshistorisch<br />

mit dem Verweis auf das opfer: hierin zeige sich die „be-


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

reitschaft zu wiedergutmachung und anerkennung einer ordnung“ 141 .<br />

schon der mensch der frühzeit habe scheu davor gehabt, die naturgaben<br />

nur zu verbrauchen und etwa Tierfleisch zu verzehren, habe deswegen<br />

die kosmischen mächte um Erlaubnis gebeten und ihnen im opfer<br />

eine rückerstattung des lebens, konkret des blutes, angeboten. zu bestürzend<br />

sei dem menschen bewußt geworden, daß er vom Töten lebe.<br />

diese Grunderfahrung ist für burkert fundamental: um leben zu können,<br />

töten zu müssen. „Von anfang an [stehen] blutvergießen und Töten<br />

im zentrum der Grundordnung menschlicher Gesellschaft“ 142 . das<br />

Erschrecken darüber habe den Verzehr von fleisch nur bei rückgabe<br />

des blutes als des eigentlichen lebensträgers an die Götter zugelassen<br />

– das blutopfer also als Ermöglichung des lebensnotwendigen Tötens 143 .<br />

Es gebe archaische Gruppen – so burkert weiter –, die fleisch nur im<br />

rahmen des opfers äßen. im alten Testament gelte, wer ein Tier ohne<br />

opferzeremoniell schlachte, lade blutschuld auf sich (lev 17,3f.). der<br />

ganzen antike sei es geläufig gewesen, „daß es um ein Töten geht und<br />

damit um eine bestätigung des lebens aus dem Tod“ 144 . am direktesten<br />

sei die Verbindung von zerstörung und aufbau des lebens im Vorgang<br />

des Essens bewußt gewesen 145 , das man darum immer religiös konnotiert<br />

habe. Tatsächlich war für die alte welt aller fleischverzehr sakral:<br />

„für den hebräer ... ebenso wie für den Griechen und römer wird mit<br />

der Tötung des haustieres ein Tabu gebrochen“ 146 . Erst die christen, so<br />

jetzt vorwurfsvoll, hätten das profane schlachten eingeführt: „diese umwertung<br />

hatte die revolutionäre folge, daß das schlachten der haustiere<br />

im christlichen abendland seinen religiösen charakter verlor“ 147 . nicht<br />

minder dringend ist die wiederherstellung der Kategorie heiligkeit gegenüber<br />

dem menschen. denn bis in die moderne zeigt sich, was an ungeheuerlichkeiten<br />

menschen ihren mitmenschen anzutun vermögen.<br />

die wiederherstellung der Kategorie heiligkeit gegenüber der welt<br />

knüpft an die menschliche urgeschichte an. aber kann das angesichts<br />

der vielberedeten Entzauberung unserer welt gelingen? bedarf es vielleicht<br />

einer „neuverzauberung“? 148 mit bestimmtheit ist der bereich der<br />

Verantwortung nicht nur größer geworden, sondern betrifft heute die<br />

menschheit insgesamt, deren sein und nichtsein. da die anstehenden<br />

Probleme wie Kommunikation, ressourcen, Ökologie und Krieg nur<br />

weltweit gelöst werden können, stellt sich folglich die aufgabe weltweiter<br />

Verantwortung. insofern ist Verantwortung eine Überlebensforderung<br />

für die ganze menschheit.<br />

51


52 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

2. Opfer für die ‚res publica‘<br />

den Ernstfall der Verantwortung bildet für hans Jonas die sorge für<br />

das allgemeinwohl: „daß das ‚über‘ zum ‚für‘ wird, macht das wesen<br />

der Verantwortung aus“ 149 . für die Politik leitet sich daraus die aufgabe<br />

her: „ungefragt, ‚ohne not‘, ohne auftrag und ohne abkommen ... bewirbt<br />

sich der anwärter um die macht, um sich Verantwortung aufbürden<br />

zu können. Gegenstand der Verantwortung ist die res publica, die<br />

öffentliche sache ... niemand ist formell verpflichtet, sich um die öffentlichen<br />

Ämter zu bewerben ... besonders die Gefahr des Gemeinwesens,<br />

zusammentreffend mit der Überzeugung, den weg zur rettung zu wissen<br />

und ihn führen zu können, wird zum mächtigen antrieb für den mutigen,<br />

sich anzubieten und zur Verantwortung zu drängen“ 150 . in diesem<br />

sinne spricht Jonas von der „dahingabe des eigenen lebens für die rettung<br />

anderer“ 151 , sogar mit der „religiösen Komponente der aufopferung<br />

seines eigenen Glücks“ 152 . dasselbe hat walter burkert als Grundzug<br />

des christentums angesprochen: „die christliche opfertheologie ist<br />

... das freiwillige, stellvertretende sterben, damit andere leben“ 153 . Jürgen<br />

habermas hält es für unausweichlich, „für allgemeine interessen opfer<br />

in Kauf zu nehmen“ 154 .<br />

damit sind wir religionsgeschichtlich erneut in die Geschichte des<br />

opfers zurückverwiesen. im Jahre 1972 erschienen dazu gleich zwei bücher,<br />

die von der damals vieldiskutierten aggressionstheorie Konrad lorenz’<br />

ausgingen, aber zu unterschiedlichen resultaten kamen. Es waren<br />

rené Girards ›le sacré et la violence‹ und walter burkerts ›homo necans‹.<br />

Girards These unterstellt eine ungestillte Gewalt, die sich ihr Ersatzopfer<br />

suche, nämlich den in reichweite greifbaren „sündenbock“ 155 ;<br />

hier geschehe eine kollektive Übertragung, die dem ausersehenen opfer<br />

das leben nehme und dadurch interne spannungen wie Groll, rivalitäten<br />

und aggression innerhalb der Gesellschaft abbaue 156 . in dem maße<br />

nun, wie im zuge historischer akkulturation ein verbindliches Gerichtswesen<br />

mit staatlichem Gewaltmonopol aufgebaut werde, erübrige sich<br />

das opfer des sündenbocks. Es verschwindet immer dort, „wo sich das<br />

Gerichtswesen entwickelt“ 157 ; daraus folge dann notwendig eine „Krise<br />

des opferkults“ 158 . Eine solche interpretation ist beste französische religionsschule,<br />

wie sie seit Emile durkheim († 1917) betrieben wird, nämlich<br />

religion in und mit Gesellschaftsentwicklung.<br />

historisch weitreichender ist die These von walter burkert, der als<br />

Grundformel für das opfer ‚leben um leben‘ ansieht. diese formel hat<br />

sich über alle Verwandlungen bis hin zur säkularen Gegenwart durch-


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

gehalten. die griechische Philosophie hat das opfer vergeistigt und erweitert:<br />

Gott sei allein mit reinem opfer und sittlicher Gutheit zu dienen,<br />

was nötigenfalls den Einsatz des eigenen lebens gebiete, demgegenüber<br />

die alten blutopfer nun als besudelung galten. heraklit († 480 v. chr.)<br />

spottete offen: „aber reinigung von (blutschuld) suchen sie, indem sie<br />

sich mit neuem blut besudeln“ 159 . seine neue forderung heißt: „bei den<br />

opfern sind zwei arten zu unterscheiden. die einen werden dargebracht<br />

von innerlich vollständig gereinigten menschen. die anderen aber sind<br />

materiell“ 160 . das immaterielle, eben das ‚geistige opfer‘, war nun zu vollziehen<br />

161 . die philosophische opferdeutung kulminierte in der ‚thysia<br />

logike‘, die die uralte formel ‚leben für leben‘ transformierte und ihr<br />

eine bis zur Gegenwart andauernde bedeutung vermittelte, nämlich aufopferung<br />

in personalem Einsatz. Von hieraus erinnert burkert an die<br />

christliche opfertheologie, „an das freiwillige, stellvertretende sterben,<br />

damit die anderen leben“ 162 . Tatsächlich führt Paulus im römer-brief<br />

ausdrücklich das „geistige opfer“ (röm 12,1: logike latreia) an. die heidelberger<br />

Theologin sigrid brandt deutet dieses als hingabe konsekrierten<br />

lebens, „von dem anderes leben ... lebt und wodurch ... lebenskraft<br />

freigesetzt und lebensfluß in Gang gesetzt wird“ 163 .<br />

darüber hinaus sind noch weitere opfervorstellungen einzubeziehen,<br />

vor allem die israelitischen. wie die griechische Philosophie verkündeten<br />

ebenso die Propheten ein vergeistigtes opferverständnis: statt der<br />

blut- und brandopfer forderten sie eine hör- und zeugnisbereitschaft<br />

für Gott und dessen wort, zusätzlich aber noch sozialbereitschaft gegenüber<br />

den armen. das hören des Gotteswortes erläutert etwa Psalm<br />

40: „an schlacht- und speiseopfern hast du kein Gefallen, brand- und<br />

sündopfer forderst du nicht. doch das Gehör hast du mir eingepflanzt;<br />

darum sage ich: Ja, ich komme ... deinen willen zu tun“ (Ps 40,7f.). für<br />

Gerechtigkeit gegenüber den witwen, waisen, armen und unterdrückten<br />

sei das Jesaja-buch zitiert: „das blut der stiere, der lämmer und<br />

böcke ist mir zuwider! sorgt für das recht! helft den unterdrückten!<br />

Verschafft den waisen recht, tretet ein für witwen!“ (Jes 1,11;17). Gefordert<br />

sind hörbereitschaft gegenüber Gott und sozialsinn gegenüber<br />

den menschen, wofür der Prophet hosea die prägnante formel bietet:<br />

„liebe will ich, nicht schlachtopfer, Gotteserkenntnis statt brandopfer“<br />

(hos 6,6). im neuen Testament wiederholt Jesus zweimal dieses<br />

wort (mt 9,13; 12,7). dadurch erweitert sich die prophetisch-neutestamentliche<br />

opferauffassung gegenüber der griechischen thysia logike zur<br />

zweidimensionalität: vertikal zum befolgen von Gottes wort und horizontal<br />

zur sozialverpflichtung. „so wie christi opfertod seine liebe zu<br />

53


54 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

den christen akzentuiert, so sollen auch die christen ein opfer bringen,<br />

nämlich in ihrer gegenseitigen liebe und in bestimmten ethischen Verzichtleistungen“<br />

164 .<br />

die Konsequenz dieses neuen opferverständnisses ist außerordentlich,<br />

setzt doch das vergeistigte und ethisierte opfer ein höchst bedeutsames<br />

Geistes- und sozialpotential frei. der schon erwähnte religionssoziologe<br />

Emile durkheim, der angesichts der laizistischen dritten<br />

republik frankreichs die bleibenden momente der religion festhalten<br />

wollte, nannte das opfer unaufgebbar, denn eine „aufopferung des Einzelnen<br />

für den anderen“ sei für jede Gesellschaft unabdinglich, etwa des<br />

forschers für die wissenschaft 165 . weiter noch geht der englische Kulturphilosoph<br />

arnold Toynbee († 1975): Ein mensch, der von einer hochreligion<br />

erleuchtet und inspiriert sei, verfüge über die geistige Kraft, seiner<br />

Gesellschaft als unabhängige sittliche macht gegenüberzutreten, ihr<br />

kritisch zu begegnen und äußerstenfalls ihren befehlen zu widerstehen.<br />

„wenn er sich seiner Gesellschaft widersetzt, muß er natürlich auf das<br />

martyrium gefaßt sein... diese geistige freiheit bis zum möglichen Preis<br />

des martyriums ist ... die Quelle der freiheit in jeder anderen sphäre,<br />

der politischen, der wirtschaftlichen, der ästhetischen“ 166 . Ähnlich<br />

urteilt der evangelische systematiker wolfhart Pannenberg: die märtyrer<br />

der alten Kirche hätten vor der welt die im Tode christi begründete<br />

freiheit des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft und dem staat<br />

bewiesen; durch das martyrium sei der Einzelne radikal unabhängig geworden<br />

von jedem absoluten anspruch der Gesellschaft oder des staates<br />

auf sein leben. „was man heute als Prinzip der individuellen freiheit<br />

kennt, hat hier seine historische wurzel“ 167 . ohne opfer, so kann<br />

gerade auch im blick auf die Terror-diktaturen des 20. Jahrhunderts gesagt<br />

werden, gebe es keinen widerstand: „wohl deshalb finden sich in<br />

allen liberalen Gesellschaften ... Erinnerungen an menschen, die opfer<br />

von Gewalt wurden, die mut bewiesen, die sich opferten oder den zumutungen<br />

derjenigen entgegenstellten, die macht ausübten und keine<br />

selbstbindungen akzeptierten: wilhelm Tell, Jan hus, anselm von canterbury,<br />

Jeanne d’arc, Paul reverse, simon bolivar, mahatma Gandhi,<br />

in deutschland das spektrum von arminius über luther bis zum Prinzen<br />

von homburg“ 168 .<br />

aus der umwandlung des alten opferbegriffs zum wahrheitszeugnis<br />

und zur sozialverpflichtung lebt gerade auch die moderne welt: sowohl<br />

die demokratie wie der wissenschaftsbetrieb, die berufsarbeit ebenso<br />

wie die sozialtätigkeit. hier überall sieht sich der mensch ‚verantwortlich‘<br />

und zur ‚aufopferung‘ verpflichtet. andererseits ist sofort anzufü-


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

gen, daß opferbereitschaft auch ganz ungeheuerlich mißbraucht werden<br />

kann. Gerade die modernen Terrorsysteme haben dank einer todesbereiten<br />

Einsatzwilligkeit ihrer Gefolgsleute so viel unheil anrichten können.<br />

Von der opferbereitschaft her ist darum weiter auf das Gewissen<br />

zu verweisen.<br />

3. Das Gewissen<br />

der oxforder Patristiker henry chadwick eröffnet seinen artikel<br />

‚Gewissen‘ im ›reallexikon für antike und christentum‹ mit einer erstaunlichen<br />

Vorbemerkung: für die neuzeitliche Gewissensdeutung in<br />

Europa und für die heutige Verwendung des begriffs dürfe kein genaues<br />

Gegenstück in der griechischen und lateinischen antike erwartet werden.<br />

Syneidesis und conscientia hätten jeweils ‚mitwissen‘ und ‚bewußtsein‘<br />

bedeutet, ohne daß darin aber notwendig ein spezifisch moralisches<br />

Element mitgeschwungen habe; es sei zunächst das Überdenken einer<br />

begangenen handlung gewesen, zumal einer solchen von bosheit mit<br />

schmerzender Erinnerung. der schmerz werde immer dann zur Qual<br />

des Gewissens, wenn das urteil der Gesellschaft vom missetäter selbst<br />

geteilt werde und dessen Gefühl der schande sich in schuld verwandle.<br />

„im griechischen denken und schreiben entwickelt sich die Vorstellung<br />

vom Gewissen gemeinsam mit der ausbildung der persönlichen Verantwortlichkeit<br />

im sinne von selbstbestimmung und annahme individueller<br />

schuld. die Verlagerung des akzentes von schande zu schuld markiert<br />

den Übergang von der furcht vor dem urteil anderer zur furcht<br />

vor der selbstverurteilung“ 169 .<br />

so ist zunächst einmal zur Kenntnis zu nehmen, daß das Gewissen<br />

nicht einfach gegeben ist, vielmehr geweckt und aufgebaut werden muß.<br />

den entscheidenden schritt verdeutlicht die bekannte These des Engländers<br />

Eric dodds († 1979), der zunächst von einer ‚shame-culture‘ spricht,<br />

verstanden als äußerer Gruppendruck, und weiter dann von einer ‚guiltculture‘,<br />

verstanden als persönliches schuldbewußtsein 170 . Es geht jeweils<br />

darum, ob man dem sozialdruck der umgebenden Gruppe oder aber<br />

dem eigenen Gewissen folgt. so empfand der homerische mensch die<br />

öffentliche hochschätzung seitens anderer als höchsten wert und umgekehrt<br />

die öffentliche mißachtung als größten unwert 171 . wie in Griechenland<br />

liefen auch in israel vergleichbare Prozesse ab. die ‚shame-culture‘<br />

wurde dort bei der Entwicklung der Eschatologie überwunden, als nämlich<br />

„die Verantwortung vor dem göttlichen richter anstelle der Emp-<br />

55


56 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

findlichkeit gegenüber der öffentlichen meinung in den Vordergrund<br />

trat“ 172 . die neue forderung hieß: mehr noch als den menschen sei Gott<br />

zu gehorchen.<br />

dem neuen Testament zufolge ist das Gewissen allen menschen gemein,<br />

so daß auch bei den heiden „das Gewissen zeugnis ablegt“ (röm<br />

2,15). Paulus bewahrte – so henry chadwick – in einer von spannungen<br />

und auseinandersetzungen geprägten Kirche dadurch deren Einheit,<br />

daß er voneinander abweichende Gewissensentscheidungen zuließ: Jeder<br />

Einzelne ist zuerst gegenüber Gott verantwortlich. daraus folgt das<br />

besondere paulinische interesse an sittlich indifferentem: Ehe oder Ehelosigkeit,<br />

sklaverei oder freiheit, beschneidung oder unbeschnittensein,<br />

Genuß von Götzenopferfleisch oder Enthaltung. „all das ist weder gut<br />

noch böse; der moralische wert hängt ab von dem (unterschiedlichen)<br />

urteil des Gewissens. was für den einen recht ist, mag falsch sein für den<br />

anderen“ 173 . wie vor Gott ist der Einzelne aber auch vor den anderen<br />

verantwortlich. die rücksicht auf das Gewissen des anderen (vgl. 1Kor<br />

10,28f.) gebietet, daß kein christ anmaßend über den nächsten urteilen<br />

darf. auf diese weise ist jedem menschen ein freiheitsraum überantwortet,<br />

der von Gott selbst gesetzt ist, aber durch die belange des nächsten<br />

eingeschränkt wird.<br />

das Gewissen war und blieb christliches Erstthema. Thomas von<br />

aquin († 1274) spricht ausdrücklich vom bindenden und doch möglicherweise<br />

irrenden Gewissen, wobei auch das irrende zu befolgen sei<br />

(conscientia erronea invincibilis) 174 . das kann zu paradoxen situationen<br />

führen: „im falle eines irrenden Gewissens ist es einem nicht nur erlaubt,<br />

das falsche zu tun; man ist dazu sogar verpflichtet; hier gestattet Thomas<br />

keine Kompromisse, auch nicht wenn der irrtum selbst verschuldet<br />

ist“ 175 . so ist das Gewissen des Einzelnen die verpflichtende Primärinstanz:<br />

wo kirchliche autoritäten zu gegenteiligen urteilen kommen,<br />

bleibt doch der Gewissensspruch des Einzelnen. martin luther verweigerte<br />

1521 auf dem reichstag zu worms den vom Kaiser erwarteten<br />

widerruf und begründete dies von seinem Gewissen her: „und solange<br />

mein Gewissen in Gottes worten gefangen ist, kann und will ich nichts<br />

widerrufen“ 176 . der Erfurter religionssoziologe hans Joas deutet den von<br />

luther hierbei geäußerten satz: ‚hier stehe ich; ich kann nicht anders.<br />

Gott helfe mir. amen‘ als „Gründungsmythos des protestantischen individualismus“:<br />

„indem er der stimme seines Gewissens folgte, Verfolgung<br />

und möglicherweise Tod in Kauf nahm, blieb der rebell oder reformator<br />

mit sich selbst im reinen“ 177 . die „mittelalterliche Gewissensreligion“<br />

gehört nach Thomas nipperdey mit zu jenen wichtigen Gegebenheiten,


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

die das mittelalter an die neuzeit weitergegeben hat 178 . obwohl das Gewissen<br />

jedem menschen zukommt, steht für heinz Kittsteiner in seiner<br />

›Entstehung des modernen Gewissens‹ außer zweifel, daß der begriff<br />

des Gewissens „immer von einer gebildeten schicht verwaltet und<br />

gehandhabt worden“ ist 179 . das Gewissen bedarf also der bildung, und<br />

die dafür „normsetzende schicht“ waren für Jahrhunderte die Theologen<br />

180 , später die Philosophen, sie nun mit einer „befreiung vom religiös<br />

determinierten Gewissen“ 181 und mit einem „wiederaufstieg des moralischen<br />

Gewissens“ 182 .<br />

fürs Ganze ist festzuhalten: das Gewissen ist, obwohl verbindlich<br />

urteilend, keine von vornherein fixierte instanz, sondern ein offenes,<br />

niemals abgeschlossenes Phänomen. Es „bleibt ... zugänglich für neue<br />

Erfahrungen und Problemlagen“ 183 . heute stellt sich die aufgabe einer<br />

ausformung des welt-Gewissens.<br />

4. Zivilcourage<br />

der begriff zivilcourage ist nach dem Ersten weltkrieg und erst richtig<br />

nach dem zweiten aufgekommen, wiewohl die gemeinte Einstellung<br />

bereits antik ist, nämlich die politische Tapferkeit und der bürgerliche<br />

mut (andreia politike). hinzuzunehmen ist die antike Epikie, die ‚angemessenheit‘<br />

oder ‚billigkeit‘, verstanden als ‚erlaubte abweichung vom<br />

Gesetz‘: Geboten sei immer dann eine solche abweichung, wenn sie für<br />

ein höheres Gut geschehe, nämlich im sinne selbstverantwortlicher Gewissenhaftigkeit<br />

wie zugleich im sinne des eigentlich vom Gesetzgeber<br />

intendierten. Jeweils dann solle sich der Einzelne aufgefordert sehen,<br />

das Gesetz zu überschreiten, wenn sich dieses im konkreten fall als lükkenhaft<br />

oder überhaupt als unzureichend erweise, so wie man etwa einem<br />

aggressiven irrsinnigen die waffe (die doch sein rechtmäßiger besitz<br />

ist) aus der hand reiße 184 . Epikie setzt ein optimistisches zutrauen<br />

in die Verantwortlichkeit und Gewissenhaftigkeit des Einzelnen, daß er<br />

das Gesetz nicht ausnutzt, sondern im sinne des Gesetzgebers über den<br />

buchstaben hinaus erfüllt – also nicht als unter-Erfüllung, sondern als<br />

Über-Erfüllung.<br />

im christentum artikulierte sich dieses ‚mehr‘ auf charakteristisch<br />

andere weise, nämlich als berufung: Gott rufe den Einzelnen je individuell,<br />

den einen so und den anderen anders. Paulus hielt manches für<br />

„besser“ (1Kor 7,38), wollte und konnte solches aber nicht allen gebieten<br />

(1Kor 7,6), weil es persönliche berufung war. schon Jesus gab demjeni-<br />

57


58 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

gen, der alle Gebote erfüllt hatte, einen zusätzlichen rat: „wenn du vollkommen<br />

sein willst, dann verkaufe deinen besitz und gib das Geld den<br />

armen, dann komm und folge mir nach“ (mt 19,21). so gibt es die berufung<br />

zur besonderen nachfolge. folglich ist von zwei verschieden hohen<br />

anforderungsniveaus zu sprechen: „das unbedingte minimum (praecepta<br />

[Gebote]) und die wünschenswerten ‚werke der Übergebühr‘ (consilia<br />

[räte])“ 185 . die christentumsgeschichte ist voll solcher berufungen, zu<br />

sehen etwa an franziskus, an luther oder auch an mutter Teresa. säkular<br />

gesprochen ist es der zugewinn, den jeweils die ‚Großen‘ erbringen.<br />

der selbstverantwortete mut hat im Terror des 20. Jahrhunderts neue<br />

bedeutung erlangt. in ›widerstand und Ergebung‹ schrieb dietrich bonhoeffer<br />

(† 1945): „wir haben in diesen Jahren viel Tapferkeit und aufopferung,<br />

aber fast nirgends civilcourage gefunden ... civilcourage aber<br />

kann nur auf der freien Verantwortlichkeit des freien mannes erwachsen.<br />

die deutschen fangen erst heute an zu entdecken, was freie Verantwortung<br />

heißt. sie beruht auf einem Gott, der das freie Glaubenswagnis<br />

verantwortlicher Tat fordert und der dem, der darüber zum sünder<br />

wird, Vergebung und Trost zuspricht“ 186 . der Jesuit max Pribilla († 1956)<br />

schrieb nach dem Krieg zunächst noch über ‚Tapferkeit‘, änderte dann<br />

aber um in ›mut und zivilcourage‹, gedeutet als charakterliche Entschiedenheit<br />

für wahrheit und recht sowohl gegen obrigkeit wie gegen<br />

eine irregeleitete menge, bei Einsatz jeweils der eigenen Person 187 .<br />

weltweit sprach John f. Kennedy von zivilcourage, und seit 1964 gibt es<br />

einen Theodor-heuss-Preis dafür. die 68er-bewegung wandelte in ‚zivilen<br />

ungehorsam‘ ab, den Jürgen habermas als ‚Testfall‘ für den demokratischen<br />

rechtsstaat bewertete 188 . der ddr-bürgerrechtler richard<br />

schröder sucht zivilcourage davor zu schützen, auch noch das letzte<br />

Tabu brechen zu wollen; wichtiger sei der widerspruch gegen die veröffentlichte<br />

meinung und gegen bedenkliche Praktiken der lieben mitbürger:<br />

„also bitte: Erst überlegen, dann protestieren“ 189 . der Philosoph<br />

odo marquard verweist auf ‚mut zur bürgerlichkeit‘: „Es ist nicht jede xbeliebige<br />

aufmüpfigkeit zivilcourage. man braucht sie überhaupt nicht<br />

nur für das nein, sondern auch und gerade für das Ja. ich meine: zivilcourage<br />

ist vor allem der mut, zivil – also ein civis, ein polites, ein bürger<br />

– zu sein; oder kurz gesagt: zivilcourage ist der mut zur bürgerlichkeit“ 190 .<br />

umgekehrt kann aber auch, wie jetzt täglich zu sehen ist, der selbstverantwortete<br />

bzw. indoktrinierte mut zu Terror werden, so bei den derzeitigen<br />

selbstmord-attentätern. zivilcourage, die sich nicht strikt an humanität<br />

und frieden bindet, wird selbstherrlich.


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

IV. Die Toleranz in der Moderne<br />

1. Die Aufklärung<br />

unser erster Teil will die menschliche uraufgabe von Toleranz und<br />

Gewalt in ihrer geschichtlichen Entwicklung darstellen, in der longue<br />

durée bis zur moderne. die für diese historische rekapitulation tiefste<br />

zäsur bildet die aufklärung. der Grund ist ein doppelter: die aufklärung<br />

proklamierte die autonomie des menschen, forderte dafür freiheit<br />

und entwarf dementsprechende politische systeme: die Gewaltenteilung<br />

und die demokratie. weiter sah die aufklärung, wenigstens zum Teil, in<br />

der religion ein hindernis dieser neuen autonomie und freiheit, und<br />

das weckte weltanschauliche Polemik. oft genug ist die aufklärung als<br />

denkkonstrukt christentumsfeindlicher rationalisten hingestellt worden,<br />

die sich zwar auf anzuerkennende fortschritte der naturwissenschaften<br />

stützten, aber insgesamt in Verkennung des Geheimnisses der<br />

religion verharrten 191 .<br />

schlägt man ein heutiges buch über aufklärung auf, etwa das der<br />

münsteraner neuzeit-historikerin barbara stollberg-rilinger 192 , erscheinen<br />

dort zuerst die sich wandelnden rahmenbedingungen, zumal<br />

die großen naturwissenschaftlichen Entdeckungen und die dadurch geweckten<br />

hoffnungen. man begreift sofort, daß es nicht so sehr einzelne<br />

denker waren als vielmehr der überwältigende Einbruch neuer Erkenntnisse,<br />

die nun zu ungeahnten Perspektiven beflügelten und zuvoriges<br />

obsolet machten. Erfaßt wurden alle Gebiete: Politik und wirtschaft, Gesellschaft<br />

und Geselligkeit, Technik und wissenschaft, lesekultur und<br />

Erziehung, zentral auch religion und christentum. wie schon naturwissenschaftliche<br />

Erkenntnisse einwirkten, so auch religionswissenschaftliche;<br />

man lese nur eines der werke von Kant, wie darin wilde, Eskimos<br />

und schamanen oder auch china und nippon vorkommen; das heißt:<br />

wie stark hier religions- und völkervergleichend argumentiert wird. Erst<br />

dank solchen materials konnten europäische und auch christliche Vorstellungen<br />

in frage gestellt werden. Tatsächlich hat die aufklärung eine<br />

so tiefgreifende wie auch bleibende zäsur bewirkt, daß der leipziger<br />

Kirchenhistoriker Kurt nowak († 2001) seine ›Geschichte des christentums<br />

in deutschland‹ nicht mehr mit dem ‚magischen Epochendatum<br />

1789‘ beginnt, sondern mit den aufklärerischen Jahrzehnten zuvor, denn<br />

„dauerthema wurde in der christentums- und Kirchengeschichte der<br />

neueren und neuesten zeit das Verhältnis zur aufklärung des 17./18.<br />

Jahrhunderts“ 193 . und doch war und ist die aufklärung nur wieder re-<br />

59


60 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

sultat jenes Prozesses, den das christentum selber in Gang gesetzt hat:<br />

höhere bildung mitsamt gesteigerter zivilisation, dadurch auch das Erwachen<br />

von Kritik, zuletzt am christentum selbst. „der Prozeß gegen<br />

das christentum beherrschte das denken des 18. Jahrhunderts in einem<br />

maße, wie das in der säkularisierten Gesellschaft kaum noch vorstellbar<br />

ist“ 194 .<br />

Kritik am christentum hat es immer gegeben, nämlich als Eigenkritik<br />

an der jeweiligen Verwirklichung. alle reformbewegungen der christentumsgeschichte<br />

rechtfertigten sich mit dem schlagwort der immerfort<br />

zu reformierenden Kirche (ecclesia semper reformanda). in dieser<br />

linie steht auch die aufklärung: sie gab dem christentum anstöße zu<br />

vertiefter bewußtheit und effektiverer Ethik. so vielfältig die Gründe und<br />

umstände sowohl für das aufkommen wie für die argumentationsweise<br />

der aufklärung auch waren, sie sind vom ansatz her gutenteils christlich:<br />

bildungsziel war der mündige mensch. zu keiner zeit, schreibt der<br />

Göttinger neuzeit-historiker rudolf Vierhaus, „ist der begriff der Erziehung<br />

so extensiv ausgelegt worden wie im zeitalter der aufklärung“ 195 .<br />

wenn es dabei heißt, die aufklärung „macht zusammenhänge sichtbar,<br />

beseitigt Vorurteile und aberglauben, schafft klare begriffe“, steht<br />

sie in einer linie mit der Theologie seit ihrem frühchristlichen beginn.<br />

Tatsächlich zeigte sich die aufklärung, zumal in deutschland, „als reformbewegung<br />

mit dem ziel vernünftiger aneignung der geoffenbarten<br />

christlichen wahrheit“ 196 . zu verarbeiten war indes völlig neuartiges:<br />

die fortschritte in der Erforschung der naturgesetze, die differenziertere<br />

Einsicht in die historie, die aufdeckung philologischer und philosophischer<br />

ungereimtheiten der bibel, die zunehmende Kenntnis auch<br />

der nichtchristlichen religionen. mußten nicht die christliche dogmatik<br />

und moral revidiert, ja um der wissenschaftlichen Einsicht wie auch<br />

des politischen fortschritts willen korrigiert oder gar beseitigt werden?<br />

das erklärt den heftigen impetus. den aufklärern nur jeweils religions-<br />

und Kirchenfeindschaft vorzuhalten, geht fehl.<br />

umstürzend wirkte die Kopernikanische wende. der nunmehr als<br />

unendlich angesehene Kosmos machte den menschen ortlos. Goethe<br />

hat die religiösen Konsequenzen beschrieben: „doch unter allen Entdeckungen<br />

und Überzeugungen möchte nichts eine größere wirkung<br />

auf den menschlichen Geist hervorgebracht haben, als die lehre des Kopernikus.<br />

Kaum war die welt als rund anerkannt und in sich selbst abgeschlossen,<br />

so sollte sie auf das ungeheure Vorrecht Verzicht tun, der<br />

mittelpunkt des weltalls zu sein. Vielleicht ist noch nie eine größere forderung<br />

an die menschheit geschehen: denn was ging nicht alles durch


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

diese anerkennung in dunst und rauch auf: ein zweites Paradies, eine<br />

welt der unschuld, dichtkunst und frömmigkeit, das zeugnis der sinne,<br />

die Überzeugung eines poetisch-religiösen Glaubens; kein wunder,<br />

daß man dies alles nicht wollte fahren lassen ..., [was] denjenigen, der sie<br />

annahm, zu einer bisher unbekannten, ja ungeahnten denkfreiheit und<br />

Großheit der Gesinnungen berechtigte und aufforderte“ 197 .<br />

die auswirkungen reichten bis in den alltag. Vergegenwärtigen wir<br />

uns die wirkung des 1750 erfundenen blitzableiters. bis dahin waren<br />

blitz und donner der sichtbare beweis für Gottes zorn, für seine donnerstimme<br />

und sein strafhandeln; zu schützen suchte man sich mit Gebet<br />

und guter lebensführung. nun aber vermochte sich auch ein ausgemachter<br />

bösewicht einen blitzableiter aufs dach zu setzten und war<br />

dadurch salviert. Ein uraltes religionselement wurde säkularisiert: keine<br />

Gottesstimme mehr und nicht länger ein anlaß zu besonderer frömmigkeit<br />

198 . hinzu kam ein allgemein erschütterndes Ereignis, das Erdbeben<br />

von lissabon im Jahre 1755, bei dem Tausende von der sich öffnenden<br />

Erde verschlungen wurden. die Güte Gottes stand in zweifel, und dadurch<br />

steigerte sich das Theodizee-Problem zu bislang nicht gekannter<br />

schärfe. dem mittelalter war hier nie ein bedenken gekommen 199 . selbst<br />

apokalyptische Katastrophen wie 1348 in Kärnten, als mit der großen<br />

Pest gleichzeitig noch ein Erdbeben eintrat, bewirkten keinen Glaubensbruch,<br />

sondern die besinnung auf den zorn Gottes, wie der Konstanzer<br />

mediävist arno borst feststellt: „Gottes zorn schickte den zeitgenossen<br />

Katastrophen ... doch in der strafe selbst lag auch die Gnade“ 200 . anders<br />

nun beim Erdbeben von lissabon; es stürzte schon das Kind Goethe<br />

in zweifel: „der Knabe, der alles dieses wiederholt vernehmen mußte,<br />

war nicht wenig betroffen. Gott, der schöpfer und Erhalter himmels<br />

und der Erden, den ihm die Erklärung des ersten Glaubensartikels so<br />

weise und gnädig vorstellte, hatte sich, indem er die Gerechten mit den<br />

ungerechten gleichem Verderben preisgab, keineswegs väterlich bewiesen.<br />

Vergebens suchte das junge Gemüt sich gegen diese Eindrücke herzustellen“<br />

201 .<br />

Es waren besonders die protestantischen länder deutschlands, die<br />

sich dem christlichen aufklärungsimpuls öffneten, und sie gewannen<br />

dabei „einen kulturellen und politischen Vorsprung vor den katholischen“<br />

202 . aber dieser Gewinn hatte – und das war gegenüber allem zuvorigem<br />

neu – einen hohen Preis: die aufklärung drang in die Transzendenz<br />

der offenbarung ein und begann hier zerstörerisch zu wirken.<br />

das betraf zuallererst schon das herzstück protestantischer Theologie,<br />

die bibel-Exegese. für deutschland ist am bekanntesten der hamburger<br />

61


62 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

Gymnasial-Professor hermann s. reimarus († 1768), ein hochreputierter<br />

Gelehr ter, der aus universaler humanität zu radikaler bibelkritik vorstieß<br />

und – ohne es nach außen zu bekunden – die christliche Theologie<br />

fundamental bekämpfte, vor allem mit der betrugstheorie des raubes<br />

von Jesu leichnam statt dessen auferstehung. die ›wolfenbütteler fragmente‹,<br />

Exzerpte G. E. lessings aus dem von reimarus selbst nicht publizierten<br />

hauptwerk ›apologie oder schutzschrift für die vernünftigen<br />

Verehrer Gottes‹, wurden zum „Prototyp radikaler bibelkritik“ 203 , und<br />

diese sollte nie mehr verstummen. Tatsächlich bewirkte die bibelkritik<br />

einen „Erdrutsch“ 204 . aber konnte man sich deswegen dem anspruch<br />

der aufklärung entziehen? Kant warnte davor, die Vernunft aus den religionsdingen<br />

herauszuhalten oder sie im namen der religion bekämpfen<br />

zu wollen: „Eine religion, die der Vernunft unbedenklich den Krieg<br />

ankündigt, wird es auf die dauer gegen sie nicht aushalten“ 205 . die folge<br />

war die herausstellung des christentums als „Vernunft- und schöpfungsreligion“,<br />

als „vernunft- und naturgemäßes humanes Ethos“ 206 . der<br />

Katholizismus allerdings blieb der aufklärung gegenüber zurückhaltender,<br />

ließ sich zwar auf deren pädagogischen und pastoralen Postulate<br />

ein, zeigte aber sonst „aufklärungsresistenz“ 207 . wegen möglicher infragestellung<br />

der Transzendenz sprachen schon zeitgenossen von guter<br />

und gefährlicher aufklärung, wobei die katholische Kirchengeschichtsschreibung<br />

des 19. Jahrhunderts zumeist von gefährlicher und erst die<br />

aufbruchsbewegung des zweiten Vatikanischen Konzils von vorwiegend<br />

positiver aufklärung sprach, jeweils mit der frage nach der Transzendenz<br />

im mittelpunkt 208 .<br />

was der aufklärung auf lange sicht ein unwiderlegbares Prestige<br />

einbrachte, war ihre Verbindung mit der modernen wissenschaft, zumal<br />

den naturwissenschaften. was in ländern geschieht, die sich dieser<br />

breiten bewegung verschließen, zeigt etwa der erstmals 2002 und dann<br />

jährlich von arabischen sachverständigen im auftrag der Vereinten nationen<br />

vorgelegte ›arab human development report‹, der ein „Plädoyer<br />

für die revolutionierung“ darstellt, weil er „eine massive zunahme<br />

von unterentwicklung offenbart“ 209 . in der rangliste der Volkswirtschaften<br />

kommt als erste die Türkei, die mit 64 millionen Einwohnern an<br />

23. stelle steht, zwischen Österreich mit 7,5 millionen Einwohnern und<br />

dänemark mit 5 millionen. das bruttoinlandsprodukt aller arabischen<br />

länder lag 1999 unter dem vergleichsweise kleinen schweden 210 . als zurückbleibend<br />

erweist sich ebenso die wissenschaftlich-technische leistung;<br />

von 1980 bis 2000 meldeten die arabischen länder etwa 370 Patente<br />

in den usa an, hingegen israel 8.000 und Korea sogar 16.000 211 .


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

Ein blick auf die buchproduktion ist „noch desolater“ 212 ; in den arabischen<br />

ländern wurden 1996 gerade 1945 bücher gedruckt, was 0,8 Prozent<br />

der weltproduktion ausmacht, bei fünf Prozent arabischem anteil<br />

an der weltbevölkerung 213 . während die usa 466.211 in wissenschaften<br />

tätige Personen zählen, sind es in Ägypten gerade knapp 4.000 und in<br />

saudi-arabien 2.000. nicht zuletzt wird ein ‚chronischer mangel an demokratie‘<br />

beklagt, daß „die arabischen staaten die weltweit niedrigsten<br />

Quoten dessen auf[weisen], was unter dem Gut der freiheit zu verstehen<br />

ist“ 214 . bernard lewis resümiert: „der abstand zum westen – und inzwischen<br />

auch zum fernen osten – ist höchst beunruhigend“ 215 . der dekan<br />

der islamisch-Theologischen fakultät von istanbul erklärte 2005: „mit<br />

offenheit müssen wir erklären, dass die muslimischen staaten für die<br />

bedürfnisse des 21. Jahrhunderts noch nicht genug aufgeklärt sind“ 216 .<br />

2. Die französische Radikalaufklärung<br />

radikaler als in deutschland verlief die aufklärung in frankreich und<br />

erzielte, bei freilich stark angelsächsischem Einfluß, epochale durchbrüche,<br />

so mit der Erklärung der menschenrechte von 1789 und der Etablierung<br />

der demokratie. das moderne Europa, ja die moderne welt sind<br />

ohne die französische revolution nicht denkbar. zugleich aber gebärdete<br />

sich die französische aufklärung kirchenfeindlich, ja religionskritisch.<br />

sie stand von vornherein – wie wiederum Vierhaus sagt – unter dem<br />

Vorzeichen des „antiklerikalismus und antijesuitismus“ 217 . der religionsfanatismus<br />

– so programmatisch die ›Enzyklopädie‹ – „hat weitaus<br />

mehr unglück über die welt gebracht als die Gottlosigkeit“ 218 . wiederum<br />

begegnet uns das schema von willkürgewalt und rechtlicher Gegengewalt,<br />

aber nun aufklärerisch gewendet: von religionsfanatismus und<br />

gegensteuernder Erziehungsdiktatur. die aufklärer haben erstmals die<br />

vom christentum ausgeübte Gewalt aufgerechnet und zu gegenchristlicher<br />

argumentation benutzt, und dafür wurde Voltaires berühmt-berüchtigtes<br />

„rottet sie aus, die infame Kirche“ zum Posaunenstoß.<br />

diese stoßrichtung wirkt bis heute nach, denn allzu leicht ließ und<br />

läßt sich hier eine drohkulisse aufbauen. Vorgestellt seien drei französische<br />

radikalaufklärer, und zwar anhand von Texten, wie sie einer der<br />

derzeit publikationswirksamsten Kritiker von christentum und Kirchen<br />

zusammengestellt hat, nämlich Karlheinz deschner, Verfasser einer inzwischen<br />

vielbändigen ›Kriminalgeschichte des christentums‹ 219 . im<br />

rückgriff auf die radikalaufklärung möchte er die im und vom chri-<br />

63


64 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

stentum begangenen Verbrechen bestätigen, anhand von millionen von<br />

opfern religiöser Gewalt und intoleranz.<br />

Vornan steht françois-marie arouet († 1778), alias Voltaire. Erzogen von Jesuiten,<br />

entwickelte er sich zum entschiedenen feind der Kirche. seine Polemik<br />

ist immer überspitzt, zieht möglichst ins ironische oder gar absurde. so etwa<br />

über die Taufe: „was für eine seltsame, vom waschen abgeleitete idee, daß ein<br />

Topf mit wasser von allen Verbrechen reinigt!“ ausgerechnet bei Kindern eine<br />

solche waschung wegen der Erbsünde, „weil sie auf Grund einer nicht weniger<br />

absurden Vorstellung alle für schuldig befunden werden; zuletzt dann der irrwahn:<br />

Töten wir sie so schnell wie möglich, um ihnen das Paradies zu sichern!“<br />

zwar könne von allen religionen die christliche „am meisten den Geist der<br />

Toleranz einflößen“, denn Juden wie christen hätten „sehr viel von brüderlicher<br />

nächstenliebe geredet“. in wirklichkeit aber herrsche Geistesdespotismus,<br />

nämlich „seine meinung für den willen Gottes auszugeben unter androhung<br />

der Todesstrafe und unter ewigen seelenqualen anderen aufzuzwingen“. infolgedessen<br />

war „die zwietracht die wiege der christlichen religion und sie wird<br />

wahrscheinlich ihr Grab sein“. für die Geschichte insgesamt gelte: wenn man<br />

die morde zähle, die der fanatismus seit den zänkereien zwischen athanasius<br />

und arius bis heute begangen habe, werde klar, „daß diese wortgefechte mehr<br />

dazu beigetragen haben, die Erde zu entvölkern, als die kriegerischen auseinandersetzungen“;<br />

demgegenüber hätten die römer „nie den aberwitz der religionskriege<br />

gekannt“. der herrschaft der Prälaten seien „dokumentarisch belegte<br />

massaker, ströme von blut“ anzulasten, so „in den Kreuzzügen gegen die<br />

albigenser“, und „in der schrecklichen bartholomäusnacht“. „die Geschichte<br />

der Kirche“ sei „eine ununterbrochene folge von Konflikten, Verleumdungen,<br />

Torturen, betrügereien, morden und rauben“. Gleichwohl sei den Prälaten<br />

und ihren helfershelfern immer bewußt gewesen, daß ihre macht ausschließlich<br />

auf der unwissenheit des einfachen Volkes beruhe, weswegen sie auch immer<br />

wieder die lektüre des einzigen buches verboten hätten, das ihrer religion<br />

zugrundeliege, der bibel. dadurch habe alles widerwärtige verborgen bleiben<br />

können, wie etwa aussprüche von Jesus: ,ich spreche zu ihnen in Gleichnissen,<br />

damit sie sehen, ohne zu hören, ohne zu verstehen‘; oder ,ich bin nur zur herde<br />

israels gesandt worden‘ – ein Gipfel des monströsen und lächerlichen, wo<br />

doch der Gott des universums alle menschen erleuchten wolle. speziell verheerend<br />

habe das Papsttum gewirkt, wobei es doch „fast hundert Jahre lang unter<br />

den christen überhaupt keine hierarchie“ gegeben habe und „der begriff Papst<br />

von keinem autor der ersten Jahrhunderte erwähnt“ werde, ja Petrus „niemals<br />

nach rom gekommen“ sei. und doch habe die römische Kurie „den menschlichen<br />

Geist am stärksten unterjocht und die urteilskraft am meisten zerstört“.<br />

helfershelfer waren vor allem die mönche, denn „jeder mönch schwingt eine<br />

Kette [die Geißel], zu der er sich verurteilt hat“, wie er andererseits „in unterirdischen,<br />

weitverzweigten Gefängnissen menschen den grausamsten martern


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

unterwirft“. solches alles und mehr mußte am Ende den ruf unausweichlich<br />

machen: rottet sie aus, diese Kirche.<br />

bei claude-adrien helvetius († 1771) ist religion reiner Priesterbetrug. die<br />

riten sind nur „zeremoniös vorgetragene wortklaubereien“ und die scholastische<br />

metaphysik „im lande der chimären ständig hinter seifenblasen herlaufend“.<br />

denn ehrgeizig und eitel sind die Priester, „die sich mit ,monsignore‘,<br />

,Eminenz‘, ,Euer Gnaden‘ anreden lassen“; habsüchtig ist die möncherei, die<br />

„den größten Teil des Grundbesitzes eines standes an sich gerissen hat; und eben<br />

demselben mönch werden deswegen von einer unzahl von betrogenen Geldopfer<br />

gespendet“. schlimmer noch: „in Europa haben sich die Priester gegen Galilei<br />

erhoben [und] vormals alle großen männer wegen magie angeklagt; [so] beschuldigen<br />

sie noch heute des atheismus und materialismus alle diejenigen, die<br />

sie früher als hexenmeister verbrannt hätten“. am Ende steht der dann so oft<br />

wiederholte slogan ,der gute Jesus und die böse Kirche‘: „Jesus haßte die lüge –<br />

die Kirche hingegen ... erklärt die frommen betrugsmanöver für heilig“; „Jesus,<br />

Gottes sohn, war bescheiden – sein hocherfahrener stellvertreter maßt sich an,<br />

den herrschern zu befehlen, nach belieben das Verbrechen zu rechtfertigen“.<br />

den schritt zum atheismus vollzog der im pfälzischen Edesheim geborene<br />

und in frankreich geadelte baron von holbach († 1789). Er verstand sich<br />

als Entlarver eines despotischen Gottes. das angebliche wunder sei „ein Vorgang,<br />

der den vorgeblich von Gott selbst festgelegten Gesetzen zuwiderlaufe“;<br />

wollte Gott die menschen wirklich überzeugen, „braucht er nur zu wollen, daß<br />

sie überzeugt sind“. der christengott „habe sich nur einer kleinen anzahl von<br />

menschen zu erkennen geben wollen“ und die anderen „alle nur Gegenstand<br />

seines zornes“ werden lassen. das so hassenswerte dogma von der Prädestination<br />

mache aus der Vorsehung „eine ungerechte stiefmutter, die für einige ihrer<br />

Kinder, zum nachteil aller übrigen, eine blinde Vorliebe hat“; so zu denken vermöge<br />

nur „ein despotistischer Gott“. der Glaube an ihn diene „einzig und allein<br />

einigen menschen, die sich des Glaubens bedienen, um die menschheit zu<br />

unterjochen“. die sinnlose lehre von einem künftigen leben hindere die menschen<br />

daran, „sich mit ihren wahren stärken zu befassen und auf die Vervollkommnung<br />

ihrer institutionen, ihrer Gesetze, ihrer moral und ihrer Kenntnisse<br />

bedacht zu sein“. so gesehen seien „die Priester sehr gefährliche menschen“,<br />

weil „feinde der wissenschaft und der Vernunft“; sie trügen „nur lächerliche,<br />

ungehörige, widerspruchsvolle, verbrecherische Erzählungen vor“. dem entgegen<br />

gelte allein: „in der Vernunft und in unserer eigenen natur werden wir führer<br />

haben, die viel sicherer sind als die Götter“. atheismus sei die wirkliche befreiung:<br />

„wenn ein atheist richtig geurteilt und seine natur zu rate gezogen hat,<br />

so hat er Prinzipien, die zuverlässiger und immer menschlicher sind als die des<br />

abergläubischen, der durch eine finstere oder schwärmerische religion entweder<br />

zur Torheit oder zur Grausamkeit geführt wird“. aufzurufen sei zum Göttersturz:<br />

„wenn man sich um das Glück der menschen wirklich verdient machen<br />

will, so muß die reform bei den Göttern des himmels beginnen“.<br />

65


66 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

so sehr die hier präsentierte auswahl anschärft und dabei berechtigt<br />

auch kritisiert, so bleibt sie doch evident einseitig und lückenhaft.<br />

ihre Kritik heute noch in allem für bare münze zu nehmen, vermittelt<br />

ein falsches bild: längst ist vieles von den anwürfen widerlegt, so zu<br />

mönchtum, Papsttum, Priesterbetrug, mystik und ritualität. daß beispielsweise<br />

den Klöstern für religion, zivilisation, Kultur und Kunst<br />

eine schlechthin überragende bedeutung zukommt, hat in den letzten<br />

Jahren wieder der mediävist friedrich Prinz († 2003) hervorgehoben 220 .<br />

und nur ein nebenaspekt: die abendländische Kunst von vor 1100 ist<br />

mönchische leistung und heute in vielem sogar welthistorisches Erbe.<br />

max weber († 1920) nannte den mönch den ersten ‚rationalen‘ menschen:<br />

„aus der weltabgewendeten Klosterzelle heraus tritt ... der asket<br />

als Prophet der welt gegenüber. immer aber wird es eine ethisch rationale<br />

ordnung und disziplinierung der welt sein, die er dabei, entsprechend<br />

seiner methodisch rationalen selbstdisziplin, verlangt“ 221 . oder<br />

auch das Papsttum, das neuerdings geradezu gefeiert wird als eine institution<br />

der initialzündungen für Europa 222 , als ein „religionsgeschichtlich<br />

einmaliges Phänomen“, wie es der wiener sozialhistoriker michael<br />

mitterauer in seinem soeben mit dem deutschen historiker-Preis ausgezeichneten<br />

buch ›warum Europa?‹ hervorhebt, denn viele der für Europa<br />

als grundlegend zu bezeichnenden Eigenheiten hätten „ihren ursprung<br />

in der Papstkirche“ 223 . oder weiter auch zum Priesterbetrug; ein<br />

solcher – so der althistoriker walter burkert – sei überall möglich, wo<br />

religion existiere; „doch kann er nicht aus eigener Kraft religion erschaffen“<br />

224 . das Phänomen mystik, so lange als irrationale Exzentrik<br />

verspottet, erlebt derzeit einen forschungsboom; im ersten band seiner<br />

›Geschichte der abendländischen mystik‹ spricht der Germanist Kurt<br />

ruh († 2002) persönlich von „meinem mystik-Verständnis ..., um den<br />

weg zu den Texten zu finden“ 225 . zu der von der aufklärung so rüde behandelten<br />

ritualität arbeiten derzeit in deutschland gleich mehrere sonderforschungsbereiche.<br />

weiter vermitteln die oben angeführten zitate auch insofern ein falsches<br />

bild, als sie die neu geschaffenen Vorurteile und die offenbaren<br />

blindstellen der aufklärung ausblenden. als unumstößliches dogma<br />

galt der aufgeklärten naturwissenschaft zum beispiel die oft in bewußtem<br />

Gegensatz zur biblischen Erschaffung der welt durch Gott herausgestellte<br />

Ewigkeit des Kosmos, bis dann der ‚urknall‘ aufkam 226 . oder<br />

ein beispiel aus der historie: soeben hat Gerd althoff ein neues buch<br />

über ›heinrich iV.‹ vorgelegt, in dem die in zeitgenössischen Quellen geschilderten<br />

düsteren charakterzüge und gewalttätigen Vorgehensweisen


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

dieses Königs referiert sind, der aber bislang immer nur als „Verteidiger<br />

der rechte einer starken zentralgewalt“ und als Kämpfer gegen die<br />

„übermächtigen Kräfte der gregorianischen Papstkirche“ gefeiert wurde<br />

227 . lücken von erschreckender und sogar gefährlicher art betreffen<br />

die ureigensten ziele der aufklärung selbst, nämlich Toleranz und Gewaltfreiheit.<br />

Voltaire wollte, daß „nicht nur atheisten von der Toleranz<br />

im staat ausgeschlossen werden, sondern auch potenziell diejenigen, die<br />

den weg zur aufklärung blockieren“ 228 . rainer forst spricht von einem<br />

„fanatismus der Toleranz“ 229 . Peter sloterdijk sieht es nur unter aufklärerischen<br />

Vorzeichen für möglich geworden, daß „die rache zu einem<br />

epochalen motiv aufstieg“ 230 . rousseau († 1778) empfahl für alle, die einer<br />

aufgeklärten herrschaft nicht zu folgen bereit waren, die Todesstrafe<br />

231 . wenig erstaunlich, daß heute der aufklärung sogar eine nähe zum<br />

Terror der französischen revolution zugesprochen wird, so daß es in<br />

›Geschichtliche Grundbegriffe‹ heißt: „das historische schreckensregiment<br />

[zehrt] von der aufklärung“ 232 . als ‚naiv‘ bezeichnet deswegen<br />

reinhart Koselleck († 2006) die Vorstellung, die aufklärung habe absolute<br />

Toleranz geschaffen 233 .<br />

3. Die Religionskritik<br />

die aufklärung stellte sich nicht insgesamt gegen religion. aber sie<br />

stufte und wertete nach ihren ‚vernünftigen‘ maßstäben. für das große<br />

deutsche dreigestirn, für Kant, fichte und hegel, stand das christentum<br />

als religion obenan, allerdings dessen protestantische Version.<br />

demgegenüber galten die außerchristlichen religionen oft als primitiv,<br />

waren zu überwinden zugunsten eines aufgeklärten christentums.<br />

„Von Kant über fichte bis hegel gibt es eine reihe von systematischen<br />

und geschichtsphilosophischen beweisen der alleinigen wahrheit und<br />

moralischen Vollkommenheit des christentums“, wie der münsteraner<br />

Philosoph ludwig siep feststellt; es ist letztlich „das protestantische Gewissen“<br />

234 . die französische radikalaufklärung konnte hier weitergehen.<br />

holbach wandte sich gegen die religion als solche; denn religion sei immer<br />

nur fanatismus und darum zu vernichten, was allein der atheismus<br />

zu gewährleisten vermöge. rainer forst hat dies als „Ende der Toleranz<br />

für bestehende religionen“ bezeichnet 235 .<br />

Geradezu vernichtend fiel das urteil mancher aufklärer über Juden<br />

und muslime aus. nehmen wir zum beispiel Voltaires urteil über die Juden,<br />

womit er zugleich die aus dem Judentum hervorgegangenen chri-<br />

67


68 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

sten treffen wollte: „in Voltaires werk lassen sich unzählige hinweise<br />

auf seine Judenfeindschaft finden“, so daß ihm vorzuhalten ist, „die<br />

Grundzüge einer rhetorik des säkularen antisemitismus bereitgestellt“<br />

zu haben 236 . doppeldeutig war auch sein urteil über den islam, nämlich<br />

das „einer bewundernden Verachtung“. in der Gestalt mohammeds<br />

sollte zugleich auch das christentum getroffen werden, speziell sogar<br />

das päpstliche rom. „Jesus ist für Voltaire stets ‚besser‘ als das christentum;<br />

bei mohammed ist es umgekehrt: Er ist schlimmer als der islam“<br />

237 . nicht also wollte Voltaire pauschal alle muslime verurteilen, von<br />

denen er den sultan saladin sogar als leuchtendes Gegenbeispiel zum<br />

christlichen Kreuzzugsfanatismus präsentierte. dieses positiv gewendete<br />

bild hat dann lessing ins deutsche transferiert 238 . wie so oft bei der<br />

neuzeitlich-europäischen beschäftigung mit dem islam resultierte auch<br />

Voltaires motiv aus einem „unbehagen am christentum“ und überhaupt<br />

aus einer „hämischen Geringschätzung des Eigenen“ 239 . umgekehrt argumentierte<br />

Goethe; bei ihm, dem „ersten dezidierten nicht-christen in<br />

deutschland“ 240 , wird der islam „zum inbegriff eines lauteren, durch keinerlei<br />

historische ausprägung belasteten monotheismus, zu einer kultlosen<br />

religion des herzens“ 241 . die im 19. Jahrhundert aufkommende<br />

orientalistik begann das bild zu verobjektivieren, so daß der islam heute<br />

als religion hohe achtung erfährt. im Grunde hat die aufklärung die<br />

frage, was nun zu tolerieren und was zu bekämpfen sei, nicht eigentlich<br />

gelöst, sondern neu aufgeworfen.<br />

Trotz aller Einwände ist die aufklärung als solche keineswegs erledigt.<br />

im Gegenteil, die aufklärung bewies und beweist in vielem eine<br />

unwiderlegliche durchschlagskraft. die radikalversion ist nur die eine<br />

seite, die in vielem kritisierbare, der aber eine andere gegenübersteht,<br />

die weltgeschichtliche folgen herbeiführte, nämlich einen zugewinn an<br />

wissen und Emanzipation, was bereicherte und humanisierte. der Politologe<br />

dolf sternberger († 1989) stellt in ›Gerechtigkeit für das neunzehnte<br />

Jahrhundert‹ eine „chronologie der bedrückungen und befreiungen“<br />

auf, nämlich der sklaven, der untertänigen bauern, der Proletarier,<br />

der frauen und der Juden 242 . solches und anderes verleiht der aufklärung<br />

ein bleibendes ansehen, ja eine verklärende aura. Verständlich,<br />

daß man ihr Potential auch für heutige Positionen in anspruch nimmt.<br />

strittig allerdings blieb und bleibt der Einspruch gegen die religion:<br />

„seit dem 18. Jahrhundert [setzt] der universale Prozeß der säkularisierung<br />

ein“ 243 . religions- und christentumskritik avancierten zum<br />

dauerthema. was während des 19. Jahrhunderts zutiefst ins europäische<br />

Kollektivbewußtsein einging, war die Überzeugung, daß aller fortschritt


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

aus aufklärung und französischer revolution entspringe, daß obendrein<br />

die religion nichts mit werten wie Gleichheit, freiheit und Vernunftgeleitetheit<br />

zu tun habe, ja daß jeder Gläubige sich überhaupt dem<br />

Verdacht aussetze, kein freier denker zu sein. „wir – die bürger westeuropäischer<br />

staaten – stehen noch immer“, so sieht es der berliner neuzeithistoriker<br />

Paul nolte, „im banne der säkularisierung, die seit der<br />

aufklärung als ein quasi naturgesetzlicher Prozeß der Verdrängung von<br />

religion aus öffentlichen institutionen und allgemeiner Kultur, als ein<br />

bedeutungsverlust nicht nur der Kirchen, sondern auch religiös begründeter<br />

argumente und Überzeugungen, als eine Einkapselung von religion<br />

in Privatheit“ gewirkt hat 244 .<br />

dieser streit geht weiter, ja eskaliert noch. Jürgen habermas spricht<br />

die befürchtung aus, „dass die abendländische säkularisierung eine Einbahnstraße<br />

sein könnte, die die religion am rande liegen lässt“ 245 .<br />

die doppelgesichtigkeit zumal der französischen radikalaufklärung<br />

sahen die Konservativen sofort schon durch die französische revolution<br />

zum negativen entschieden. Vor allem die Terror-Phase führte zu<br />

totaler Gegenkritik: hier habe die im Grunde zerstörerische aufklärung<br />

ihr wahres Gesicht gezeigt. und in der Tat, während der schreckensherrschaft,<br />

so der französische revolutionshistoriker michel Vovelle, „haben<br />

50.000 offizielle und summarische hinrichtungen stattgefunden, das<br />

heißt, es wurden ungefähr 0,2 % der bevölkerung getötet“ 246 . besonders<br />

traf es den adel und den Klerus; allein 1792 bei den berüchtigten september-morden<br />

wurden 1.500 Gefangene niedergemacht, darunter über<br />

300 Priester 247 . in der gegenrevolutionären Vendée wüteten Totenkopfkommandos<br />

(têtes de morts); hier hat man sogar von einem Genozid gesprochen;<br />

das Gebiet verlor 15 % seiner bevölkerung (117.257 gegenüber<br />

815.029) und 20 % der wohnhäuser (10.309 gegenüber 53.273) 248 .<br />

bis heute verbinden sich mit der französischen revolution, so Vovelle,<br />

„eine fast zweihundertjährige hoffnung sowie ein oftmals bedrückendes<br />

Erbe“ 249 – die hoffnung nämlich auf die in der revolution begonnene<br />

Geschichte von freiheit, Verfassung und demokratie, wie andererseits<br />

das bis zur Gegenwart andauernde Entsetzen über das wüten des Terrors.<br />

daß sich inzwischen wesentliches von dieser hoffnung durchgesetzt<br />

hat, entlastet die aufklärung gutenteils: sie ist nicht grundsätzlich<br />

für die Entgleisungen verantwortlich zu machen.<br />

69


70 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

4. Mit oder ohne Christentum?<br />

nach 1815 – so Thomas nipperdey – war die szene in deutschland<br />

bereits wieder eine andere: „stimmung und zeitgeist scheinen wieder religiös“<br />

250 . aber es war nicht die wiederkehr des Vorigen, gerade nicht in<br />

der religion. auf die große Eruption folgten nachbeben, ja neue revolutionen.<br />

mag man für die Politik gemäß einem wort des englischen historikers<br />

Eric hobsbawm vom ‚langen 19. Jahrhundert‘ reden, so führten<br />

die weltanschauungen zu tiefen Verwerfungen. lager bildeten sich<br />

mit höchstmöglicher selbstidentifikation und kämpferischer außenwehr.<br />

der streit um die religion bzw. Konfession stand dabei obenan.<br />

weltanschauliche fronten bekämpften sich, ob nun Kirchen oder Parteien,<br />

wissenschaft oder Politik. deutschland hat seine politische spaltung<br />

überwunden, aber nicht die der weltanschauungen.<br />

Protestantischerseits erhob sich gegen die aufklärung und insbesondere<br />

gegen die leugnung der Transzendenz die Erweckungsbewegung,<br />

die sich nicht selten aus bekehrten aufklärern rekrutierte 251 . sie<br />

breitete sich international aus, besonders im angelsächsischen bereich,<br />

dem Entstehungsgebiet des aufklärerischen deismus. anders als bei<br />

den heilungswundern im Katholizismus, ging es vornehmlich um beweiswunder<br />

für die wahrheiten der bibel 252 . der in deutschland bekannteste<br />

fall wurde die 1843 im württembergischen möttlingen geschehene<br />

heilung einer jungen frau, die ärztlicherseits zur besessenen<br />

erklärt worden war, aber vom Erwecker Johann christoph blumhardt<br />

(† 1880), ganz der bibel entsprechend, der „macht der finsternis“ entrissen<br />

wurde 253 .<br />

doch erfolgte evangelischerseits auch eine positiv auf die aufklärerische<br />

herausforderung eingehende antwort: der Kulturprotestantismus,<br />

verstanden als brücke „zwischen reformatorischer Tradition und<br />

moderner, in der aufklärung entstandener Kultur“, vollzogen „im Geiste<br />

evangelischer freiheit und im Einklang mit der gesamten Kulturentwicklung“<br />

254 . dem ob seiner Gelehrsamkeit wie seiner werbenden<br />

darstellung überragenden adolf von harnack († 1930) ging es darum,<br />

daß sich „der wert der ganzen menschheit steigere“; dem sollte gerade<br />

auch die religion dienen, zumal die christliche, denn sie ist „die religion<br />

selbst“ 255 , und deren Verkündiger Jesus hat „das Tiefste und Entscheidende<br />

in vollkommener Einfachheit ausgesprochen“ 256 , anhand von nur<br />

vier Punkten: „Gott der Vater, die Vorsehung, die Kindschaft, der unendliche<br />

wert der menschenseele“ 257 . das übrige war ihm dogma, jeweils<br />

nur zeitbedingter ausdruck des christlichen.


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

der Katholizismus sah sich von der romantik bestätigt, die an der<br />

aufklärung das religiös unzureichende und menschlich unbefriedigende<br />

kritisierte. zu dieser, als „der weniger subjektiven, rationalen, zweifelnden<br />

ausprägung des christentums“ 258 , fühlten sich viele, und unter<br />

ihnen nicht wenige enttäuschte aufklärer, hingezogen. clemens brentano<br />

(† 1842), vom aufgeklärten berlin herkommend, reiste ins münsterländische<br />

dülmen, setzte sich an das Krankenbett der stigmatisierten<br />

anna Katharina Emmerick († 1824) und benutzte sie – wie es der<br />

Germanist wolfgang frühwald ausgedrückt hat – als „sakrometer“, als<br />

visionäres medium, um die von der rationalistischen bibelkritik aufgedeckten<br />

lücken der bibel aufzufüllen und mit hilfe von reliquien das<br />

wunderbare zu demonstrieren 259 . fürs weitere 19. und 20. Jahrhundert<br />

gewannen im Katholizismus wunder und Visionen, marien-Erscheinungen<br />

und wallfahrten eine gerade beim einfachen Volk tief motivierende<br />

bedeutung, wie es beispielhaft der süd-französische wallfahrtsort<br />

lourdes zeigt; insgesamt lassen sich 179 marien-Erscheinungen von<br />

1928 bis 1958 aufzählen 260 . Gleichwohl setzte sich hier nicht einfach unaufgeklärtheit<br />

fort. mit religionsunterricht und Predigt, mit Volksbüchereien<br />

und Presseerzeugnissen agierte dieser Katholizismus durchaus<br />

zeitgemäß und aufgeklärt, verteidigte aber aufs entschiedenste die Transzendenz.<br />

durch das ganze weitere 19. Jahrhundert verschärften sich die von<br />

der aufklärung aufgerissenen Gegensätze: der wachsende Einblick in<br />

die naturgesetzlichkeit und die biblischen wunder, die präzisierende<br />

Philologie und der geoffenbarte bibeltext, die Völkerkunde mit ausblick<br />

auf die Erden-menschheit und die doch nur begrenzte christenheit, die<br />

überwältigenden fortschritte der wissenschaftlichen forschung und<br />

demgegenüber das kirchliche beharren im vorgeblich mittelalterlichen<br />

aberglauben. zunehmend steigerte sich diese Problematik, in der Theodizee-frage<br />

noch bis zu den Katastrophen des 20. Jahrhunderts: wo war<br />

Gott in auschwitz? Thomas nipperdey, historiker und studierter Philosoph,<br />

zeichnet die große linie: ludwig feuerbach († 1872) mit seiner<br />

Verdächtigung der religion als nur einer Projektion, Karl marx († 1883)<br />

und arthur schopenhauer († 1860) mit einer pessimistischen Philosophie<br />

und dem weltzugewandten atheismus, allgemein die aufklärerisch<br />

durchsetzte Kritik seitens der naturwissenschaft – alles argumente für<br />

die dezidierte abwendung vom christentum. weiter wirkte schockierend<br />

charles darwin († 1882) mit seinem Evolutionismus allen lebens<br />

und so auch des menschen, ideologisch popularisiert in deutschland<br />

durch Ernst haeckel († 1919). sigmund freud († 1939) betrachtete re-<br />

71


72 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

ligion als Versuch, „sich Glücksversicherung und leidensschutz durch<br />

wahnhafte umbildung der wirklichkeit zu schaffen“ 261 . Politisch agitierte<br />

die linke mit einem, wie nipperdey sagt, „ordinären atheismus“ 262 ,<br />

daß die opposition gegen die ‚offizielle‘ religion „manchmal geradezu<br />

als hauptmerkmal des selbstverständnisses sozialdemokratischer arbeiter<br />

erschien“ 263 . am Ende des Jahrhunderts wähnte friedrich nietzsche<br />

(† 1900) den „tollen menschen“ unterwegs und unaufhörlich schreiend:<br />

„,ich suche Gott! ich suche Gott! ... wohin ist Gott?‘ rief er, ‚ich will es<br />

euch sagen! wir haben ihn getötet‘“ 264 . Thomas nipperdey sieht einen religiösen<br />

Paradigmenwechsel: „die praktische interpretation des lebens<br />

gerät unter andere letzte werte als die des christentums“ 265 .<br />

angesichts der im 19. Jahrhundert angeschwollenen religionskritik<br />

wirkt um so erstaunlicher die kultur- und religionsgeschichtliche wende,<br />

wie sie sich für die zeit um 1900 abzeichnet: ein „neuer sinn für mythos<br />

und mystik, für Gott, für die Tiefe der welt oder des seins“ 266 , wobei<br />

religion als „anthropologisches urphänomen“ erscheint 267 . Von der<br />

Geschichte der religionen erhoffte man sich „verläßliche informationen<br />

über das menschliche leben“ 268 . religionsgeschichte und religionssoziologie<br />

wurden als neue disziplinen etabliert 269 . allen voran ist max weber<br />

(† 1920) zu nennen mit seiner These von der religion als stärkster<br />

sozialformativer Kraft, die, zumal im westlichen christentum, einmalige<br />

Kulturleistungen hervorgebracht habe, wie die Vollentwicklung einer<br />

systematischen Philosophie und Theologie im hellenistisch beeinflußten<br />

christentum, obwohl es wissen von außerordentlicher sublimierung<br />

auch anderswo gegeben habe; sodann das rationale Experiment,<br />

das zum beispiel in den überaus entwickelten indischen naturwissenschaften<br />

gefehlt habe; eine rationale chemie sei außerhalb des okzidents<br />

überhaupt nicht entwickelt worden, ebensowenig eine rationale, harmonische<br />

musik mit ihrem zubehör an noten, instrumenten und orchestern;<br />

als ebenso einmalig müsse man das politische und soziale Gebiet<br />

ansehen: das fachbeamtentum und der staat als politische anstalt, zuletzt<br />

noch der Kapitalismus 270 . religion also gerade nicht als ablenkung<br />

und opium, sondern nun als furios schöpferische Kraft! der mit weber<br />

befreundete Ernst Troeltsch († 1923) deduzierte als eines der klarsten<br />

Ergebnisse von religionsgeschichte und religionspsychologie, „daß das<br />

wesentliche in allen religionen nicht dogma und idee, sondern Kultus<br />

und Gemeinschaft ist“ 271 . die mystik folge als sekundäres; sie sei „im<br />

weitesten sinne des wortes nichts anderes als das drängen auf unmittelbarkeit,<br />

innerlichkeit und Gegenwärtigkeit des religiösen Erlebnisses 272 .<br />

Ähnlich sah der 1933 emigrierte Philosoph Ernst cassirer († 1945) den


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

geistigen Gehalt jeder religion „vollständig erst in ihren Kultformen“ 273<br />

und definierte mystik anschließend als „reine dynamik des religiösen<br />

Gefühls ..., die alle starre und äußere Gegebenheit abzustreifen und aufzulösen<br />

bestrebt ist“ 274 . noch 1998 eröffnete der zürcher religionshistoriker<br />

walter burkert sein buch über die biologischen Grundlagen<br />

der religion mit der historischen Tiefenperspektive, daß die Ethnologie<br />

keine Gesellschaft ohne religion kenne; religion bestehe mindestens<br />

seit dem Jungpaläolithikum, also seit rund 40.000 Jahren. „offenbar ist<br />

religion, wenn überhaupt, nur einmal und kein zweites mal erfunden<br />

worden: sie war überall und immer schon da“ 275 . der Kontrast zur aufklärerischen<br />

radikalkritik ist augenfällig: religion mit der ihr eigenen<br />

ritualität nun nicht mehr als afterdienst, ebenso wenig mystik nur als<br />

illusionistischer wahn, sondern religion als schöpferische lebenskraft.<br />

um die religion ging es und innerhalb derer um das christentum als<br />

eine besonders kreative Variante.<br />

die situation des Katholizismus im 20. Jahrhundert muß in mehrfacher<br />

hinsicht überraschen. Einmal schon deswegen, weil die religiöse<br />

Praxis europaweit extrem auseinanderfiel. so gab es im katholischen<br />

spanien dörfer, wo von 18.000 Pfarrmitgliedern am sonntäglichen Gottesdienst<br />

200 frauen und 10 männer teilnahmen und 1913 ein Viertel<br />

der Kinder ungetauft blieb. demgegenüber wies die niederländische industrie-stadt<br />

Tilburg im Jahre 1950 bei der osterkommunion eine Versäumnisquote<br />

von nur 3 % auf; in der ersten hälfte des 20. Jahrhunderts<br />

stellten die niederländischen Katholiken weltweit ein Viertel aller katholischen<br />

missionare 276 . Ebenso ist in deutschland eine Kirchlichkeit von<br />

weitgehend lückenloser Praxis zu verzeichnen 277 ; nach dem Ersten weltkrieg<br />

übertraf die Kirchenbesucher-zahl in der arbeiter-Großstadt bochum<br />

die des konservativen münster 278 . der Katholizismus habe sich in<br />

deutschland – so Thomas nipperdey – im zeitalter der modernen massen-<br />

und industriegesellschaft sehr wohl zu behaupten vermocht, sei sogar<br />

mit einem latenten aufbruchspotential ins 20. Jahrhundert und 1918<br />

in die weimarer republik eingetreten 279 .<br />

besonders erstaunlich ist die attraktivität, die dieser zuvor allgemein<br />

als unaufgeklärt gescholtene Katholizismus nach dem Ersten weltkrieg<br />

intellektuell auszuüben begann: „zahlreiche intellektuelle fanden den Katholizismus<br />

anziehend“ 280 . die liste ist lang: der historiker, Exeget und<br />

Publizist Karl otto Thieme († 1963); der bonner Exeget und bultmannschüler<br />

heinrich schlier († 1978); der Essayist Theodor haecker († 1945);<br />

der ranke-schüler ludwig dehio († 1963), sohn des berühmten Kunsthistorikers<br />

und erster herausgeber der ›historischen zeitschrift‹ nach<br />

73


74 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

1948; der historiker fritz Kern († 1950); der Kunsthistoriker und deutsche<br />

unesco-Vertreter otto von simson († 1993); der heute hochgefeierte<br />

Kunsthistoriker aby warburg ließ sich noch auf dem sterbebett taufen 281 .<br />

zu nennen sind ebenso die religiösen Prägeerlebnisse, die von den abteien<br />

beuron und maria laach ausgingen. der weit über den Katholizismus<br />

hinaus bekannte romano Guardini († 1968) ist nach eigenem bekenntnis,<br />

„von beuron angeregt, an die liturgischen dinge gekommen“ 282 . der<br />

1899 getaufte max scheler († 1928) fand in dem beuroner maler-mönch<br />

Verkade, einem konvertierten Gauguin-schüler, seinen beichtvater 283 ; die<br />

Konvertitin Edith stein († 1942) verbrachte hier Tage und wochen geistig-geistlicher<br />

Einkehr 284 . noch martin heidegger († 1976), geboren im<br />

benachbarten meßkirch, hatte sein beuron-Erlebnis, nämlich bei einem<br />

nächtlichen stundengebet: „in der complet ist noch da die mythische<br />

und metaphysische urgewalt der nacht, die wir ständig durchbrechen<br />

müssen, um wehrhaft zu existieren“ 285 . Ähnliches ist von maria laach zu<br />

berichten. zu Gast kam hier der im und nach dem Ersten weltkrieg als<br />

junger ‚katholischer‘ Philosoph gefeierte max scheler, in seinem Gefolge<br />

weiter der 1919 konvertierte otto Klemperer († 1973), damals Kapellmeister<br />

in Köln, wie ebenso der romanist Ernst robert curtius († 1956) 286 .<br />

Vor allem auch versammelte dort der junge, seit sommer 1913 amtierende<br />

abt ildefons herwegen († 1946) 287 studenten und akademiker, vornehmlich<br />

aus straßburg, metz und bonn, die später den Europa-Gedanken<br />

realisieren sollten, so der lothringer robert schumann († 1963) und<br />

der rheinländer Konrad adenauer († 1967) 288 .<br />

Es war ein „katholischer frühling“ 289 , und nicht nur in deutschland.<br />

in der reformatorischen schweiz wandelte sich die zuvor negativ gemeinte<br />

wendung ‚Es ist zum Katholischwerden‘ auf einmal ins Positive:<br />

„dass die katholische Kirche in imponierender Grösse und stärke<br />

dastand, dass sie manches, was im Protestantismus defizitär war, überzeugend<br />

darzustellen wußte“ 290 . der französische renouveau catholique<br />

ist als „morgenröte“ bezeichnet worden 291 , und das 1997/99 erschienene<br />

›siècle des intellectuels‹, welches das intellektuelle frankreich des 20.<br />

Jahrhunderts darstellt, bringt ein eigenes Kapitel über „die rückkehr<br />

der Katholiken“ 292 . in der Gesamtkirche erreichten Klerus und orden<br />

höchstzahlen. am Vorabend des zweiten Vatikanums zählte der katholische<br />

weltklerus 260.000 mitglieder, dazu fast ebenso viele ordenspriester,<br />

weiter die orden mit 600.000 männlichen und 1.000.000 weiblichen<br />

mitgliedern 293 .<br />

neben der Geschichte der inneren bewegungen in der christenheit<br />

des 20. Jahrhunderts steht dann aber ebenso eine Geschichte brutalster


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

Verfolgungen von außen. zu gewalttätigen und wiederum blutigen Exzessen<br />

kam es zumal in kommunistischen ländern, ebenso im nationalsozialistischen<br />

deutschland, wo jeweils Kirchen und Klerus, wie schon<br />

im Terror der französischen revolution, als fortschrittshindernd liquidiert<br />

wurden. stalin († 1953) betrieb konsequent die ausschaltung und<br />

beseitigung: Von 100.000 Gottesdienern, die in mehr als 80.000 Gotteshäusern<br />

dienst getan hatten, war zu beginn des zweiten weltkriegs nur<br />

noch ein minimum übrig geblieben, bis dann wegen des Vaterländischen<br />

Krieges eine lockerung erfolgte, wonach aber chruschtschow († 1971)<br />

die Kirchenzahl wieder von 22.000 auf 7.500 reduzierte. im kommunistischen<br />

ostblock wurde nach 1945 die Verdrängung aus dem öffentlichen<br />

leben in unterschiedlichen Graden fortgesetzt 294 . fürs nationalsozialistische<br />

deutschland wird von ‚Kirchenkampf ‘ gesprochen, mit<br />

Verhaftungen, Kz-Einweisungen und auch hinrichtungen 295 . der bielefelder<br />

neuzeit-historiker hans-ulrich wehler resümiert: „insgesamt<br />

kann die Katholische Kirche auf eine ebenso beklemmende wie stolze<br />

leidens- und opferbilanz verweisen, die sie mit dem reichskonkordat<br />

unstreitig hatte verhindern wollen ... die anzahl der opfer und das<br />

ausmaß der willkürakte übertrifft die belastung protestantischer Pfarrer<br />

und der ‚bekennenden Kirche‘ bei weitem“ 296 . Von ns-maßnahmen<br />

wurden im deutschen reich 11.497 und im sudetenland 608 Geistliche<br />

betroffen, wobei 232 durch Justiz oder Terror zu Tode kamen. 296a weltweit<br />

verzeichnet die katholische Kirche für das 20. Jahrhundert mehr als<br />

12.000 Glaubenszeugen 297 .<br />

nach 1945 glaubten die beiden großen Kirchen in deutschland, auf<br />

rechristianisierung setzen zu können. Tatsächlich aber kam es umgekehrt;<br />

binnen kürzestem lösten sich die religiös-konfessionellen milieus<br />

auf, sowohl die letzten evangelischen wie ebenso die regional oft noch<br />

geschlossen katholischen 298 , und zwar nicht nur im nazi-geschädigten<br />

deutschland, sondern ebenso in der schweiz 299 , in belgien und den niederlanden<br />

300 . wie die massen sich von den Kirchen abwandten, so auch<br />

einzelne. der zunächst noch als katholischer Essayist hervorgetretene<br />

rudolf Krämer-badoni († 1989) führte heftige anklage, so ob der Judenmorde,<br />

angestiftet von den mit antisemitismus verseuchten Kirchen 301 ,<br />

ebenso ob der jahrhundertelangen frauenmorde mit mehreren millionen<br />

umgebrachter hexen 302 , überhaupt gegen die vermeintlich heilige<br />

Kirche mit ihrem in wirklichkeit scheußlichen foltern und blutvergießen<br />

– alles vorgebliches befolgen des willens Gottes 303 : „ablehnung,<br />

das ist das einzige, was wir dem christentum schulden“ 304 . derzeit gibt<br />

sich das öffentliche Klima zunehmend distanziert oder auch feindlich.<br />

75


76 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

der Philosoph michael naumann, zeitweilig als Kultur-beauftragter der<br />

deutschen bundesregierung tätig, sprach 1999 von einem „gottlos gewordenen<br />

nachkriegsdeutschland“, weil eine göttliche Gnadeninstanz<br />

nicht mehr in frage komme 305 . andere hingegen beharren auf zuversicht.<br />

der Postmoderne folge ein Post-christentum, wie der italienische<br />

Philosoph Gianni Vattimo vorschlägt: Es könnten ‚postchristlich‘ und<br />

‚postmodern‘ durchaus als verträglich angesehen werden, denn endlich<br />

müsse „man sich die wirklichkeit nicht mehr als eine fest in einem einzigen<br />

fundament verankerte struktur denken“ 306 : ja eine neue chance<br />

gebe es, den christlichen Glauben wiederzuentdecken, „nämlich als Gemeinschaft<br />

von Gläubigen, die in der liebe als caritas frei den sinn der<br />

christlichen botschaft hören und interpretieren“ 307 .<br />

Trotz solch optimistischen zuspruchs schaut die situation der Kirchen<br />

derzeit wenig verheißungsvoll aus. wohl sind 83 Prozent der deutschen<br />

registrierte Kirchenmitglieder und 6 Prozent muslime. aber nach<br />

einer umfrage vom herbst 2002 bezeichneten sich nur 19 Prozent der befragten<br />

Katholiken als gläubig und kirchenverbunden, als kritisch kirchlich<br />

35 Prozent; für die hälfte bedeutet die Kirche wenig oder nichts 308 .<br />

anders und eher positiv zeigt sich das religionsverhalten in den Vereinigten<br />

staaten von amerika. den religionsstatistiken zufolge liegen<br />

Religiosität<br />

frage: „Einmal abgesehen davon, ob sie in die Kirche gehen oder<br />

nicht – würden sie sagen, sie sind ein religiöser mensch, kein<br />

religiöser mensch oder ein atheist?“ (november 2001)<br />

deutschland<br />

%<br />

frankreich<br />

%<br />

Großbritannien<br />

%<br />

usa<br />

Ein religiöser mensch 43 42 51 77<br />

Kein religiöser mensch 35 40 37 20<br />

Ein überzeugter atheist 8 12 9 1<br />

unentschieden 14 6 3 2<br />

nach: rüdiger schulz, religiosität und religiöse Praxis von Katholiken<br />

in deutschland. aktuelle allensbach-daten, in: wilhelm damberg,<br />

anto nius liedhegener (hgg.), Katholiken in den usa und deutschland.<br />

Kirche, Gesellschaft und Politik, münster 2006, s. 296–320, s. 302.<br />

%


Glaubensinhalte<br />

Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

frage: „ich möchte ihnen nun verschiedenes vorlesen, und sie sagen<br />

mir bitte jeweils, ob sie daran glauben oder nicht.“ (november 2001,<br />

antworten in auszügen)<br />

deutschfrankGroß-<br />

usa<br />

landreichbri<br />

insges. west ost<br />

tannien<br />

Es glauben an: % % % % % %<br />

Gott 61 71 25 52 65 94<br />

ein leben<br />

nach dem Tod<br />

40 46 15 34 47 71<br />

die auferstehung<br />

der Toten<br />

29 33 10 20 29 58<br />

Engel 33 37 16 27 38 76<br />

den Teufel 16 19 7 24 34 68<br />

nach: rüdiger schulz, religiosität und religiöse Praxis von Katholiken<br />

in deutschland. aktuelle allensbach-daten, in: wilhelm damberg,<br />

anto nius liedhegener (hgg.), Katholiken in den usa und deutschland.<br />

Kirche, Gesellschaft und Politik, münster 2006, s. 296–320, s. 303.<br />

die entsprechenden werte „hoch, sogar sehr hoch“, wie hartmut lehmann<br />

schreibt, der für viele Jahre direktor des deutschen historischen<br />

instituts in washington war 309 . Jeremy rifkin, amerikanischer berater<br />

der Europäischen Kommission und leiter eines wirtschaftsinstituts<br />

in washington d.c., stellt umstandslos fest: „wir sind das entschieden<br />

religiöseste Volk unter allen fortgeschrittenen industrienationen der<br />

welt“ 310 . die statistiken belegen es: Gegen 60 Prozent beten einmal oder<br />

gar mehrmals täglich; ebenso viele besuchen mindestens ein- oder zweimal<br />

im monat den Gottesdienst; 82 Prozent glauben an den himmel,<br />

und 63 Prozent halten sich dessen auch für würdig. Genau entgegengesetzt<br />

verhält es sich in Europa, wo die hälfte der bevölkerung so gut wie<br />

nie die Kirche besucht. in deutschland halten rund 20 Prozent religion<br />

für sehr wichtig, in Großbritannien 16, in frankreich 14, in Tschechien<br />

11, in schweden 10 und in dänemark 9 Prozent. rifkin zufolge<br />

leben in seinen landsleuten „unbändige hoffnung und Enthusiasmus,<br />

der optimismus, der manchmal überwältigend ist“ 311 . infolgedessen ist<br />

zum beispiel der anteil der freiwillig-ehrenamtlich geleisteten sozialar-<br />

77


78 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

beit erheblich höher, wenn auch in wirklichkeit nicht flächendeckend.<br />

demgegenüber sei die zivilgesellschaft Europas „weit weltlicher und weniger<br />

an das christliche ideal der nächstenliebe gebunden, sondern eher<br />

an die sozialistische Vorstellung von kollektiver Verantwortung für das<br />

wohlergehen der Gemeinschaft“ 312 .<br />

5. Das ‚elende‘ und ‚kriminelle‘ Christentum<br />

Vor dem speziell deutschen hintergrund sind zwei autoren anzusiedeln,<br />

die seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine überragende<br />

publizistische wirkung erzielten: Joachim Kahl und Karlheinz deschner.<br />

Kahl kam von der evangelisch-kirchlichen Jugendarbeit zur Theologie,<br />

promovierte 1967 darin und trat anschließend aus seiner Kirche aus;<br />

über marburg und frankfurt wurde er bekennender marxist. sein 1968<br />

publiziertes ›Elend des christentums‹ zitiert vorweg das marx-wort ‚die<br />

Kritik der religion ist die Voraussetzung aller Kritik‘. das buch wollte<br />

ein aufschrei sein und wurde es auch, erreichte 1976 in neunter auflage<br />

die zahl von 116.000 Exemplaren, erfuhr Übersetzungen ins Englische,<br />

holländische, italienische und Japanische. nicht ohne stolz vermeldet<br />

Kahl die aufnahme in unterrichtseinheiten zur religionskritik, ja „daß<br />

es manchen zum Kirchenaustritt oder zur nichtaufnahme eines bis dahin<br />

geplanten Theologiestudiums veranlaßt habe“. seine „realbilanz des<br />

christentums“ ist ein pures „sündenregister“: das neue Testament als<br />

manifest der menschenverachtung, das urchristentum als agentur einer<br />

repressiven Gesellschaft, das Kreuz als inbegriff sadomasochistischer<br />

schmerzverherrlichung, die Kirche als sklavenhalterin, die Päpste als finanzakteure,<br />

luther als bauernfeind und fürstenknecht, das sozialversagen<br />

der Kirchen im 19. Jahrhundert mit nicht einmal einem Protest gegen<br />

Kinderarbeit, mit insgesamt nur der Verfestigung gesellschaftlicher<br />

Gewaltverhältnisse; vor allem dann die dogmatik als Entmündigung des<br />

Gewissens und als Erzeugung von sündenbewußtsein. am Ende steht<br />

das zündende schlagwort: „Jahrhundertelang hat die kirchliche Predigt<br />

damit untertanenmentalität, minderwertigkeitsgefühle und autoritarismus<br />

erzeugt“ 313 .<br />

für all das folgen ‚historische beweise‘: die blutige Verfolgung der<br />

heiden, durchgeführt nach dem Typus Kreuzzug; die indios in südamerika<br />

ausgerottet, mit dem segen der Kirche gepfählt, gehängt und geröstet;<br />

die blutige Verfolgung der Juden 314 , gerechtfertigt mit dem bereits<br />

im Johannes-Evangelium unüberbietbaren antisemitismus und mit der


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

päpstlich dekretierten jüdischen sklavenschaft; vor allem auch die inquisition<br />

als eine der grausigsten Terrormaschinerien der weltgeschichte,<br />

gleichsam als Vorgeschichte des nationalsozialistischen wahns 315 ; nicht<br />

minder die Verfolgung der Ketzer, angeordnet schon im neuen Testament<br />

und als staatlicher zwang von augustinus gerechtfertigt; die Verteufelung<br />

der sexualität und die diffamierung der frau; das neue Testament<br />

generell als Produkt neurotischer spießer 316 , der marienkult als<br />

größte schmach der frauen 317 , der hexenwahn als grausiger höhepunkt<br />

der frauenfeindlichkeit 318 . Geantwortet hätten die offiziellen Kirchen allenfalls<br />

mit summarischen Eingeständnissen und sofortiger bagatellisierung,<br />

oder geschickter noch: mit der unterscheidung des wahren wesens<br />

des christentums und der schlechten Verwirklichung. zum ziel<br />

erklärte Kahl den reinen marxismus: „der organisierte atheismus oder<br />

Gedanken zur rekonstruktion der freidenkerbewegung“ 319 . der wiener<br />

historiker und Essayist friedrich heer († 1983), zur Kontroverse eingeladen,<br />

antwortete Kahl mit einem prophetischen wunsch: „in diesem<br />

sinne wünsche ich ihnen – im interesse ihres sozialismus und atheismus<br />

– eine gelingende fortschreitende häutung“ 320 . Eine solche ist tatsächlich<br />

zu vermelden, nennt sich doch der Kritisierte heute „freiberuflicher<br />

Philosoph“ 321 .<br />

weitaus kenntnisreicher und breiter angelegt sind die inzwischen<br />

zahlreichen bücher von Karlheinz deschner, basierend auf Quellenkenntnis<br />

sowie ausgedehnter fachlektüre. die neuauflagen erfolgten zuweilen<br />

im monatsrhythmus. indes blieb eine rezeption in die fachliteratur<br />

– so weit zu sehen – verwehrt; weder findet sich von deschner ein<br />

beitrag in historischen zeitschriften noch eine beteiligung an Kongressen<br />

und sammelbänden; auch fehlt bei ihm fast ganz die außerdeutsche<br />

forschungsliteratur. den gleichwohl erzielten Erfolg bestätigen zahlreiche<br />

Ehrungen, so ›der alternative büchner-Preis 1993‹, wobei die vorgesehenen<br />

10.000 dm noch von einem mäzen auf 60.000 aufgestockt wurden<br />

und der münstersche (katholische) Ex-Theologe horst herrmann<br />

die laudatio hielt: „deschner entschied sich, uns gegen klerikale zumutung<br />

mit beweisen zu verteidigen... Geweihte zumal, dürfen wir nicht<br />

anders als scharf sehen“ 322 . Tatsächlich präsentiert deschner seine Ergebnisse<br />

allesamt ‚scharf ‘; herausgefiltert wird, was – wie es der untertitel<br />

eines seiner bücher besagt – „für einen götterlosen himmel und eine<br />

priesterfreie welt“ spricht. Gegenläufiges wird nicht einmal angesprochen,<br />

geschweige denn diskutiert. für die christliche Geschichte zählt<br />

deschner insgesamt eine blutspur von neun millionen opfern 323 .<br />

79


80 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

nehmen wir als beispiel das Kapitel über den „sogenannten Karl den Großen“,<br />

und daraus nur einige der Überschriften mit jeweils einem der zahlreich<br />

in den folgetext eingestreuten Trendsetter: ›Kriminalexzesse am päpstlichen<br />

hof beim machtwechsel im frankenreich‹: wahrheiten sind im heiligen rom<br />

unbeliebt 324 ; ›stephan iii. treibt zu einem weiteren langobardenkrieg‹: Überdeutlich,<br />

was der heilige Vater will: Krieg, Krieg, Krieg 325 ; ›widerrechtliche alleinherrschaft<br />

Karls und beginnender Krieg für den Papst‹: denn Gewalt geht<br />

vor recht, gerade auch und stets für den hohen Klerus 326 ; ›[Papst] hadrians<br />

besitzgier und Karls raub des langobardenreiches‹: Gedrängt vom unersättlichen<br />

Papst 327 ; ›Ein unechtes martyrium und eine fast echte Kaiserkrönung‹:<br />

sein ganzes leben hatte Karl Krieg geführt. und nichts tat er lieber 328 ; ›die blutige<br />

‚missionierung‘ der sachsen‹: für die herrschende Klasse die größten Vorteile<br />

von der religion der liebe 329 ; ›der sachsenschlächter, und ‚ein paar nullen<br />

zuviel‘‹: man stellte sich vor: 4.500 menschen mit abgehackten Köpfen 330 ; ›,wie<br />

nun überall friede war ...‘‹: das Großverbrechen des christlichen herrschers 331 .<br />

Vor Jahren schon hat wiederum friedrich heer auch dem „lieben<br />

Karlheinz deschner“ vorgehalten: „ihre beschränkung des Glaubens vorzüglich<br />

auf zwei menschengruppen, auf ‚die herrscher‘ und ‚die Priester‘<br />

stimmt einfach nicht“ 332 . und überhaupt: „die bald zweitausendjährige<br />

Geschichte, geschichtliche wirklichkeit der europäischen christentümer<br />

besteht nicht nur aus den narren, Verbrechern, mördern, halb-wahnsinnigen,<br />

die uns Karlheinz deschner mit recht vorführt, sondern auch<br />

dem wirken ..., aus den Taten und leiden christlicher Existenzen, die<br />

ganz hervorragende, höchst aktive wandlungsprozesse waren“ 333 . mehrfach<br />

noch hat heer sein ‚das stimmt einfach nicht‘ wiederholt: „Ein blick<br />

in meine mittelalter-arbeit und in andere kann ihnen zeigen: unser tausendjähriges<br />

europäisches mittelalter besitzt alle formen von freiheiten<br />

und unfreiheiten, die heute menschen haben“ 334 . besonders auch erregte<br />

ihn deschners herabwürdigung der Theresa von avila († 1582). heer als<br />

dem am wiener institut für österreichische Geschichtsforschung ausgebildeten<br />

mediävisten wird man zuzustimmen haben: „das stimmt einfach<br />

nicht“, wenn deschner immer nur auf machtgier der herrschenden<br />

und zumal der Prälaten deutet.<br />

was in solch negativen deutungen und Polemiken deutlich wird,<br />

steht in nicht wenigen Punkten jenseits der wissenschaftlichen daten<br />

und fakten, rechnet wohl eher zur Psychologie des abschieds vom christentum.<br />

Tatsächlich möchte der französische religionsphilosoph rené<br />

Girard die richtung der heute gängigen argumentation direkt umkehren,<br />

und zwar anhand der von ihm vielbehandelten sündenbock-Theorie,<br />

der zufolge die eigenen Vergehen immer einem anderen aufgeladen


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

werden, eben dem sündenbock. wir seien nun dabei, erklärte Girard<br />

im märz 2005 in einem interview mit der zeit, „alle Übel dieser welt<br />

den biblischen religionen aufzubürden, und das tun wir ziemlich gut...<br />

so entlasten wir uns selbst ... wenn das christentum an allem schuld ist,<br />

dann müssen wir uns unsere heimliche Komplizenschaft mit der Gewalt<br />

nicht mehr eingestehen“ 335 .<br />

81


82 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

V. Zur Hermeneutik der Freiheitsgeschichte<br />

im Ganzen ist klar: menschenwürde, freiheit und Toleranz basieren<br />

auf einer fülle von Voraussetzungen, die nicht einfachhin ‚natürlich‘ sind,<br />

die sogar einer widerstrebenden menschennatur erst abgerungen werden<br />

müssen, aber sich dann doch bestens als der menschennatur förderlich<br />

erweisen. zu überwinden ist das Primärverhalten, vor allem die primär-reaktiv<br />

aufwallende Emotion bzw. Gewalt. hierhin gehört freuds<br />

„Triebsublimierung“, die ihm als „besonders hervorstechender zug der<br />

Kulturentwicklung“ erscheint 336 . aufzubauen sind sowohl eine überlegte<br />

Ethik wie eine rechtliche staatskunst. die religion hat den Übergang<br />

von der Primär- zur sekundärreligion zu bewältigen, vom stammesgott<br />

zum universalgott, von der Volksreligion zur menschheitsreligion.<br />

die schritte weg von den Primär- und hin zu den sekundärsystemen<br />

verlangen eine ‚unnatürliche‘ umstrukturierung, sie müssen erarbeitet<br />

und anerzogen werden, sind immer anstrengend und bleiben irgendwie<br />

künstlich. die zukunft politischer autonomie – so Ernst-wolfgang<br />

böckenförde – lebe aus „vorrationalen Quellen“, die deswegen aber keine<br />

„irrationalen“ seien, nämlich „eingelebte mentale Traditionen, praktizierte<br />

sitten und lebensformen, auch mythen, religöse Überzeugungen,<br />

nicht zuletzt gemeinsame sprache und ein bestimmtes kulturelles<br />

bewußtsein; sie bewirken eine auch emotionale zugehörigkeit und Gemeinsamkeit“<br />

337 . humanität, gleich welchen intensitätsgrades, ist mittels<br />

kultureller regeln aufgebaut.<br />

insgesamt blicken wir auf einen so langwierigen wie außerordentlichen<br />

Geschichtsprozeß zurück. historisch gesehen ist es darum absurd,<br />

heutige menschenrechts- und Toleranz-Vorstellungen bereits vollständig<br />

in jeder früheren Epoche und ihren damaligen Gesellschaften erwarten<br />

zu wollen. schon damit erledigen sich zahlreiche Kritiken und mißverständnisse:<br />

sie sind zu oft unhistorisch. Einstmalige spielräume von Toleranz<br />

und Gewalt lassen sich nur aus den jeweils vorgegebenen zeitbedingungen<br />

verstehen und beurteilen, dürfen darum nicht sofort mit heutigen<br />

maßstäben bemessen und als zu kurzgreifend verurteilt werden. Ebenso<br />

erweisen sich die mentalen Vorbedingungen als historisch. der amerikanische<br />

Kulturwissenschaftler clifford Geertz († 2006) erinnert in seiner<br />

vielzitierten ›dichte beschreibung‹ an ein speziell ‚sonderbares‘ Ergebnis<br />

der abendländischen Kulturgeschichte: „die abendländische Vorstellung<br />

von der Person als einem fest umrissenen, einzigartigen, mehr oder weniger<br />

integrierten motivationalen und kognitiven universum, einem dynamischen<br />

zentrum des bewußtseins, fühlens, urteilens und handelns,


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

das als unterscheidbares Ganzes organisiert ist und sich sowohl von anderen<br />

solchen Ganzheiten als auch von einem sozialen und natürlichen<br />

hintergrund abhebt, erweist sich, wie richtig sie uns auch scheinen mag,<br />

im Kontext der anderen weltkulturen als eine recht sonderbare idee“ 338 .<br />

wenn aber die christlich-europäische Person-idee „sonderbar“ ist, dann<br />

gilt das konsequenterweise auch für die damit verbundene freiheits- und<br />

Toleranzidee. obendrein führt diese sonderbarkeit direkt zu einem der<br />

zentralen Probleme unserer welt: sind menschenrechte für alle Kulturen,<br />

rassen und religionen gleicherweise akzeptabel und kompatibel?<br />

für die Entwicklungsgeschichte gerade auch der religiösen Toleranz<br />

sei ein Vorschlag des salzburger religionshistorikers wolfgang speyer<br />

wiederholt: die intoleranz gehöre mehr einer objektiven und einer mythisch-religiös<br />

bestimmten Epoche an, die Toleranz mehr einem subjektiven<br />

und entsakralisierten zeitalter; generell sei Toleranz „an geistige<br />

Prozesse gebunden, die innerhalb der hochkulturen in spätphasen<br />

auftauchten“ 339 . Vorrausgesetzt werden bei solcher unterscheidung bereits<br />

moderne Phänomene, nämlich subjektivierung und individualisierung,<br />

daß sich der Einzelne seiner selber bewußt ist und individuell<br />

entscheidet.<br />

nicht also ist ein selbstläuferischer fortschritt zu unterstellen, bei<br />

dem es allein nur darauf angekommen wäre, mutig Tabus zu brechen<br />

und weiter voranzustürmen. Vielmehr sind die je gewandelten situationen<br />

und historischen Konstellationen in augenschein zu nehmen und<br />

die hierbei sich eröffnenden möglichkeiten zu eruieren. so zu verfahren<br />

impliziert, daß „es einen zeitlos gültigen Katalog aller menschenrechte<br />

wohl niemals geben kann“ 340 . und zwar deswegen nicht geben kann und<br />

nie geben wird, weil jeweils die sich verändernden historischen rahmenbedingungen<br />

das daß und wie mitbestimmen.<br />

die geschichtliche Entwicklung nachzuzeichnen ist mehr als nur historische<br />

neugier. wie erst auf diese weise die schwierige Genese deutlich<br />

wird, so mehr noch die allzeit drohende Gefährdung. stets kann der<br />

rückfall in ‚natürliche‘ reaktionen drohen. der aus deutschland vertriebene<br />

Philosoph Ernst cassirer, der 1945 wenige wochen vor Kriegsende<br />

in den usa verstarb, sprach von einem vulkanischen boden: „in<br />

der Politik leben wir immer auf vulkanischem boden. wir müssen auf<br />

abrupte Konvulsionen und ausbrüche vorbereitet sein ... diese stunde<br />

kommt, sobald die anderen bindenden Kräfte im sozialen leben des<br />

menschen aus dem einen oder anderen Grunde ihre Kraft verlieren und<br />

nicht länger imstande sind, die dämonischen mythischen Kräfte zu bekämpfen“<br />

341 . wir leben auf einem vulkanischen boden!<br />

83


84 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

wo immer die kulturellen regeln und dabei auch Toleranz Geltung<br />

erlangen, können sie eine aus sich heraus beflügelnde Kraft entfalten. sobald<br />

sie einmal vorliegen und wirklich erfahren worden sind, gibt es kein<br />

zurück mehr; zu sehr überzeugen sie aus sich selbst. für den Politologen<br />

dolf sternberger († 1989) hat der Gedanke der menschenwürde, ob aus<br />

christlicher oder aus vernünftiger aufklärungswurzel erwachsen, „eine<br />

unwiderstehliche Kraft erwiesen“ 342 . Gleichwohl waren es nicht selten<br />

Katastrophen, die zu ihrer herausarbeitung antrieben. „wir wissen erst,<br />

was auf dem spiele steht“ – sagt hans Jonas –, „wenn wir wissen, daß es<br />

auf dem spiele steht“. so sei es nun einmal mit uns bestellt: „die Erkennung<br />

des malum ist uns unendlich leichter als die des bonum ...; die bloße<br />

Gegenwart des schlimmen drängt sie uns auf, während das Gute unauffällig<br />

da sein und ohne reflexion ... unerkannt bleiben kann. Über das<br />

schlimme sind wir nicht unsicher, wenn wir es erfahren; über das Gute<br />

gewinnen wir sicherheit meist erst auf dem umweg über jenes ... was<br />

wir nicht wollen, wissen wir viel eher als was wir wollen“ 343 .<br />

Eigens ist zu betonen, daß eine rein geisteswissenschaftliche argumentation<br />

nicht hinreicht. oft genug waren längst schon die richtigen<br />

Theoreme ausgesprochen und sogar gesetzlich festgelegt, ohne daß sich<br />

aber wirkungen gezeigt hätten. Ein eklatantes beispiel ist die sklaverei.<br />

der transatlantische handel von schwarzafrikanern nach amerika<br />

erreichte zwischen 1750 und 1850 seinen höhepunkt, wurde aber<br />

zur selben zeit ob der brutalen unmenschlichkeit so stark ins bewußtsein<br />

gehoben, daß endlich Verbote erfolgten, wie sie alle europäischen<br />

mächte auf dem wiener Kongreß 1815 aussprachen. das war eine historisch<br />

einmalige Good-will-Erklärung: „Erstmals in der Geschichte<br />

des abendlandes wurde eine internationale Erklärung unterzeichnet,<br />

deren erklärtes ziel nicht der nutzen eines bestimmten landes,<br />

sondern die Verteidigung einer sache war“ 344 . dennoch wurden zwischen<br />

1811 und 1872 an die 2 millionen sklaven verschifft, nunmehr<br />

durch Piraten und schmuggler, die auszuschalten die englische Übersee-flotte<br />

noch Jahrzehnte benötigte 345 . wenn also selbst die moderne<br />

ungewöhnliche anstrengungen aufbieten mußte, wie sollte da in<br />

weniger organisierten Perioden freiheitsberaubung unterbunden werden,<br />

wo es weder eine spezialisierte Polizei noch angesichts allgemeiner<br />

unwegsamkeit eine flächendeckende Kontrolle gab? dies nur als ein<br />

beispiel für die zahlreichen Erfordernisse in Gesetzgebung und deren<br />

durchführung. Thomas nipperdeys untertitel zu seinem band ›deutsche<br />

Geschichte 1800–1866‹, „bürgerwelt und starker staat“, zeigt eben<br />

diese dialektik: obwohl sich die bürgerrechte gegen den allmächti-


Die ‚lange Geschichte‘ von Toleranz und Gewalt<br />

gen staat definierten, brauchten sie zur durchsetzung eben doch diesen<br />

starken staat.<br />

unser blick ist aber nicht nur in die historie zurückzulenken. seit wir<br />

in der moderne eine ‚beschleunigte Geschichte‘ (reinhart Koselleck) registrieren,<br />

drängt sozusagen alles in die zukunft. dabei stellen sich wiederum<br />

fragen. so sehr sich einerseits das neue als weiterführend und<br />

als ‚menschengerecht‘ präsentiert, so kann es andererseits gefährdend<br />

und korrumpierend wirken. den bewohnern der westlichen welt hat<br />

beispielsweise die moderne medizin das leben erleichtert und fast aufs<br />

doppelte verlängert, ein fortschritt, der nun infolge des menschenrechtlichen<br />

Gleichheitsprinzips allen zugänglich gemacht werden muß, was<br />

eine zuvor nie gekannte humanität bedeutet. Gleichzeitig sind aber mit<br />

diesem medizinischen fortschritt auch die technischen Vernichtungsmöglichkeiten<br />

gestiegen, etwa mittels moderner Gifte und Gase millionen<br />

zu töten. oder: seit der enormen steigerung der lebensmittelproduktion<br />

müßte eigentlich niemand mehr hungern, und von daher<br />

nun das anrecht auf hinreichende Ernährung; andererseits können gezielt<br />

– so 1930 durch stalin in der ukraine – ganze millionen ausgehungert<br />

werden. für die zukunft haben die kulturellen regeln – dazu<br />

braucht man kein Prophet zu sein – die chance, weiter anzuwachsen.<br />

nur bleibt am Ende die bittere Einsicht, daß zugleich eine erhöhte Gefährdung<br />

auftritt, daß die menschheit sich in gesteigerter Grausamkeit<br />

zerstören kann.<br />

für die Geschichte der humanität und menschenwürde ergibt sich<br />

aus alldem eine ganz bestimmte hermeneutik: Toleranz und Gewalt bilden<br />

ein urproblem seit menschengedenken. die zur bewältigung nötigen<br />

kulturellen regeln sind nicht einfach angeboren, müssen vielmehr<br />

aufgebaut werden. ziel allen humanismus sei – so bestätigend Julian<br />

nida-rümelin –, „den menschen vom naturwesen möglichst weit wegzuführen<br />

und ihn zu einem Kulturwesen zu machen“, um „die brutalität<br />

der natürlichen anlagen des menschen zu zähmen“ 346 . diese zähmung<br />

ist langfristig aufgebaut worden, bildet – wie freud sagt – „die Erbschaft<br />

vieler Generationen“ 347 . die kulturellen regeln sind immer das Elaborierte,<br />

das nachträgliche, das Künstliche und vor allem das anstrengende.<br />

in der gängigen argumentation wird dies allzu oft verkannt, ja kann<br />

sogar genau umgekehrt beurteilt werden: humanitätsvorstellungen unserer<br />

art seien das normale und selbstverständliche und ein entgegengesetztes<br />

Verhalten unbegreiflich. dem ist entgegenzuhalten, daß unsere<br />

humanitätsvorstellungen sich historisch entwickelt haben und allzeit<br />

gefährdet sind.<br />

85


86 1. Toleranz und Gewalt als menschliche Erstaufgabe<br />

wenn gesagt worden ist, man könne, ohne die wirklichkeit zu verzeichnen,<br />

eine Kirchengeschichte schreiben als „Geschichte der menschlichen<br />

intoleranz“ 348 , so ist zu antworten: Ja, man kann. denn Gewalt<br />

und intoleranz sind allgegenwärtig, und das betrifft auch christentum<br />

und Kirchengeschichte, überhaupt religion insgesamt. demgegenüber<br />

erweisen sich Gewaltlosigkeit und Toleranz immer als sonderleistung,<br />

womit Gewalt und intoleranz gewissermaßen das normale wären. wenn<br />

es sich so verhält, wird dabei auch über eine mögliche bewertung entschieden.<br />

nur aufzuzählen, was jeweils intolerant ist, bleibt ‚normal‘. die<br />

wirkliche Geschichte der Toleranz erscheint erst dort, wo leistungen in<br />

der abwehr von Gewalt und intoleranz vollbracht werden: das jeweils<br />

positive Potential und dessen jeweils erfolgreiche realisierung. dementsprechend<br />

wäre auch die Kirchengeschichte zu betrachten: welche Potenzen<br />

wurden aufgeboten, um die anforderungen von menschenwürde,<br />

freiheit und Toleranz zu befördern oder umgekehrt zu blockieren?<br />

insofern ist nach der spezifischen rolle von religion und christentum<br />

zu fragen: welche Potenzen boten sich hier, um die anforderungen<br />

von menschenwürde, freiheit und Toleranz zu bestärken oder aber zu<br />

behindern? weiter, ist die idee der menschenrechte allein Erkenntnis der<br />

aufklärung? fehlte es allen Vorherigen nur an Verstand und mut? oder<br />

gibt es neben dem aufklärerischen ansatz noch andere, gerade auch religiöse<br />

beweggründe? Vereinigen sich hier gar vielerlei wege zur grossen<br />

straße der freiheit? in diesen erweiterten Kontext möchte sich das<br />

buch einordnen: der lange weg der aufgebauten und in zukunft weiter<br />

aufzubauenden wie aber immer auch kritisch zu sichernden humanität,<br />

und darin die rolle des christentums. heute steht hier eine universalmenschliche<br />

herausforderung an, nicht zuletzt im nötigen widerstand<br />

gegen die neuartige barbarei, wie sie sich im 20. Jahrhundert überdimensional<br />

gezeigt hat.

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