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Nord & Süd | Nummer 2 | Energie - BLS

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<strong>Energie</strong><br />

<strong>Nummer</strong> 2 — 2013<br />

<strong>Nord</strong> & <strong>Süd</strong><br />

Leben, Arbeit, Wirtschaft in <strong>Süd</strong>tirol<br />

Toni Bernhart Michil Costa Wojciech Czaja Nicolò Degiorgis Alfred Dorfer Dieter Dürand<br />

Felice Espro Gustav Hofer Elisabeth Hölzl Judith Innerhofer Lenz Koppelstätter Alois Lageder<br />

Norbert Lantschner Ariane Löbert Waltraud Mittich Leoluca Orlando Donatella Pavan<br />

Hans Karl Peterlini Susanne Pitro Carlo Ratti Benjamin Reuter Gregor Sailer Ulrike Sauer<br />

Birgit Schönau Juliet Schor Something Fantastic Simone Treibenreif Alessandra Viola<br />

Ernst Ulrich von Weizsäcker


<strong>Nummer</strong> 2 — 2013 — <strong>Nord</strong> & <strong>Süd</strong> Leben, Arbeit, Wirtschaft in <strong>Süd</strong>tirol


<strong>Nummer</strong> 2 — 2013 — <strong>Nord</strong> & <strong>Süd</strong> Leben, Arbeit, Wirtschaft in <strong>Süd</strong>tirol<br />

<strong>Energie</strong>


Inhalt 10 Grün wachsen oder<br />

untergehen<br />

6<br />

23 Weltweit gefragter Lichtspezialist.<br />

Im Firmensitz von Ewo<br />

Der Co-Präsident des Club of Rome,<br />

Ernst Ulrich von Weizsäcker, plädiert für<br />

einen grünen Kapitalismus.<br />

Unternehmen<br />

13 Die Welle aus den Bergen<br />

Was <strong>Süd</strong>tirol zur grünen Vorzeigeregion<br />

Europas macht. Ein Ortsbesuch der<br />

Journalistin Judith Innerhofer klärt auf.<br />

18 Dolce Vita und Disziplin<br />

Dieter Dürand hat deutsche Unternehmer<br />

gefragt, warum es sie in Italiens nördlichste<br />

Provinz zieht.<br />

21 Junge <strong>Energie</strong><br />

Trotz Wirtschaftskrise vergeht jungen<br />

<strong>Süd</strong>tirolern nicht die Lust am Gründen,<br />

schreibt Wirtschaftsjournalist Felice Espro.<br />

23 Fest für die Sinne<br />

Für die Installationen des Lichtspezialisten<br />

Ewo begeistern sich Kunden in aller Welt.<br />

Ein Unternehmensporträt von Dieter Dürand.<br />

27 Habitat für innovative<br />

Technologien<br />

Die Wirtschaftsjournalistin Simone<br />

Treibenreif analysiert das kreative Umfeld<br />

für Hightechunternehmen.


7<br />

29 <strong>Energie</strong>riese ohne Regie<br />

Auch wenn es ein wenig chaotisch zugeht:<br />

Italiens <strong>Energie</strong>wende kommt voran, prophezeit<br />

die Italienkorrespondentin Ulrike Sauer.<br />

38 „Gegenseitiges Vertrauen<br />

wieder aufbauen“<br />

Im Gespräch mit „<strong>Nord</strong> & <strong>Süd</strong>“ verrät<br />

Palermos Bürgermeister Leoluca Orlando,<br />

wie Deutschland und Italien zum Motor des<br />

europäischen Fortschritts werden können.<br />

40 Wasser-Kraft<br />

Der Fotograf Gregor Sailer hat Schönheit<br />

und Urgewalt der sauberen <strong>Energie</strong>quelle<br />

eingefangen.<br />

Leben<br />

47 Die Möglichkeit einer Insel<br />

Der Journalist Lenz Koppelstätter über<br />

seinen Versuch, das Land ökologisch zu<br />

bereisen. Ein etwas anderer Reisebericht.<br />

50 Der Freigeist<br />

Der renommierte Weinproduzent Alois<br />

Lageder weiht die Journalistin Donatella<br />

Pavan in die Geheimnisse des<br />

biodynamischen Anbaus ein.<br />

54 Klassenprimus gegen<br />

Angsthase<br />

Italienkorrespondentin und Fußballexpertin<br />

Birgit Schönau erklärt, warum Deutschland<br />

im Fußball immer gegen Italien verliert.<br />

55 Heim zu Mutter<br />

Österreichs Mutterschmerz für <strong>Süd</strong>tirol aus<br />

der satirischen Perspektive des Kabarettisten<br />

Alfred Dorfer.<br />

57 Vom kürzeren Ende<br />

des Tages her<br />

Der Literat Toni Bernhart und die Fotografin<br />

Elisabeth Hölzl spüren der Frage nach, was<br />

die energieautarke Gemeinde Prad dem Rest<br />

der Welt voraushat.<br />

66 Stärkt die Kultur<br />

Italien kommt nur mit mehr statt<br />

weniger Kultur aus der Krise, meint der<br />

Dokumentarfilmer Gustav Hofer.<br />

68 Nachhaltige Architektur<br />

Mit welchen Ideen und Techniken <strong>Energie</strong><br />

ökologisch erzeugt werden kann, stellt das<br />

Berliner Architektentrio Something Fantastic<br />

grafisch dar.


8<br />

77 Die Seilbahn: Ein traditionell alpines<br />

Verkehrsmittel erobert Großstädte<br />

Wissen<br />

71 Grüne Bausteine<br />

Weit mehr als Wärmedämmung: Der<br />

Architekturjournalist Wojciech Czaja zeigt<br />

anhand von fünf Beispielen, wie nachhaltige<br />

Architektur auch ästhetisch Maßstäbe setzt.<br />

77 Die Renaissance des Seils<br />

Wie die Unternehmen Leitner und<br />

Doppelmayr mit Seilbahnen nun auch<br />

Stauprobleme in Großstädten lösen,<br />

erklärt die Journalistin Susanne Pitro<br />

in einem Porträt.<br />

80 Fest im Sattel<br />

Von schlicht bis aufgemotzt. Der<br />

Fotokünstler Nicolò Degiorgis zeigt die<br />

Vielseitigkeit des guten alten Radls.<br />

87 Sauber über den Brenner<br />

Geht alles glatt, fahren von 2016 an die<br />

ersten Wasserstoffautos von München nach<br />

Verona. Der Journalist Benjamin Reuter<br />

blickt voraus.


9<br />

90 Innovativ mobil in <strong>Süd</strong>tirol<br />

Vom Erdgas-Wasserstoff-Auto bis zum<br />

neuen Verkehrskonzept für Bozen –<br />

weitsichtige regionale Mobilitätskonzepte.<br />

91 Alte und neue Baustellen<br />

Wie mehr Gemeinsinn <strong>Energie</strong> bezahlbar<br />

und umweltverträglich macht, analysiert der<br />

Experte Norbert Lantschner.<br />

92 „Nur noch kurz die Welt<br />

retten“<br />

Der Journalist und Bildungswissenschaftler<br />

Hans Karl Peterlini erklärt, wie<br />

Wissen tatsächliche Veränderungen auslöst.<br />

Perspektiven<br />

96 Die intelligente Stadt<br />

Die Wissenschaftsjournalistin Alessandra<br />

Viola hat den Architekten Carlo Ratti gefragt,<br />

wie Smartphones und Sensornetzwerke die<br />

urbane Kommunikation revolutionieren.<br />

100 Vier Elemente<br />

Noch ist es für eine Umkehr nicht zu spät,<br />

glaubt der Hotelier und Umweltschützer<br />

Michil Costa, und plädiert für einen sanften<br />

Umgang mit der Natur.<br />

101 Grünes Label. Re-Bello aus <strong>Süd</strong>tirol<br />

101 Grün wirtschaften<br />

Die Green Economy schafft auch in <strong>Süd</strong>tirol<br />

viele neue Arbeitsplätze, so das Fazit von<br />

Journalistin Ariane Löbert.<br />

104 Energisch und energetisch<br />

Die vielen Facetten der <strong>Energie</strong>: Eine<br />

literarische Annäherung der Schriftstellerin<br />

Waltraud Mittich.<br />

106 Was uns wirklich reicher<br />

macht<br />

Die amerikanische Soziologieprofessorin<br />

Juliet Schor definiert Wohlstand neu: Soziale<br />

Kontakte werden wichtiger als Konsum, und<br />

wir sparen wertvolle Ressourcen.<br />

110 Bunt, vital, einfallsreich –<br />

warum unsere Zukunft<br />

voller Chancen steckt<br />

Abschließende Überlegungen von Dieter<br />

Dürand, Chefredakteur der diesjährigen<br />

Ausgabe von „<strong>Nord</strong> & <strong>Süd</strong>“.


Ernst Ulrich von Weizsäcker<br />

Grün wachsen<br />

oder untergehen


a<br />

u<br />

s<br />

b<br />

l<br />

i<br />

c<br />

k<br />

11<br />

Die Finanzkrise im Jahr 2008, die Notwendigkeit des Klimaschutzes und seit<br />

Fukushima Deutschlands Ausstieg aus der Kernenergie haben eine neue Diskussion<br />

über die Richtung des Fortschritts ausgelöst. Klar ist, dass wir an einem<br />

Scheideweg stehen: Entweder lernt die Menschheit, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten<br />

den Begrenzungen unseres Planeten anzupassen und nachhaltig mit ihm<br />

umzugehen, oder die Umwelt schlägt zurück. Dennoch halte ich nichts davon, die<br />

Litanei über die drohenden ökologischen Katastrophen unaufhörlich zu wiederholen.<br />

Auch sollten wir aufhören mit dem Gerede, wir müssten den Gürtel enger<br />

schnallen, um das Klima zu retten. Diese Rhetorik ist eine politische Totgeburt.<br />

Was wir stattdessen brauchen, ist ein Lösungsweg, der Klima- und Umweltschutz<br />

profitabel macht. Mein Kandidat dafür ist ein globaler Green New Deal:<br />

eine grüne technologische Revolution, die einen neuen Wachstumszyklus anstößt,<br />

der ohne zusätzlichen Verbrauch von <strong>Energie</strong>, Wasser und Rohstoffen auskommt,<br />

später sogar eine Minderung schafft. Vorbild für das Ergrünen des Kapitalismus<br />

wäre der Anstieg der Arbeitsproduktivität. Sie hat sich in den vergangenen 200<br />

Jahren verzwanzigfacht und war damit der entscheidende Motor für unseren<br />

Wohlstand. Doch jetzt bedarf es einer neuen Maßzahl – die Ressourcenproduktivität.<br />

Sie ließe sich schon mit den heute verfügbaren Technologien verfünffachen.<br />

Im Klartext würde das bedeuten: Wir können die Ressourcenplünderung und<br />

den CO -Ausstoß pro Einheit Wohlstand um 80 Prozent verringern. Ganz ohne<br />

2<br />

Verzicht. Und langfristig wäre auch eine Verzwanzigfachung erreichbar.<br />

Wie aber bekommen wir einen marktkonformen Umstieg auf ein grünes<br />

Wachs tumsmodell hin? Im Kern geht es um ein dauerhaftes sozial- und wirtschaftsverträgliches<br />

Preissignal. Man könnte die Preise für <strong>Energie</strong> und andere<br />

wichtige Rohstoffe jedes Jahr in dem Maße verteuern, wie sich die entsprechende<br />

Rohstoffproduktivität im Vorjahr verbessert hat. Dann würden die Ressourcen<br />

im Durchschnitt gleich viel kosten wie zuvor, doch diejenigen, die die Entwicklung<br />

verschlafen, leben teurer, die Geschwinden billiger.<br />

Dass solche Preissignale ein Feuerwerk an Innovationen auslösen können,<br />

hat Japan bewiesen. Unter dem Eindruck verheerender Umweltverschmutzung<br />

verteuerte die Regierung Anfang der 1970er-Jahre die Luftverschmutzung und den<br />

<strong>Energie</strong>verbrauch drastisch. Viele fürchteten damals eine De-Industrialisierung<br />

des Landes. Doch das Gegenteil trat ein: Die japanische Wirtschaft erfand Digitalkameras,<br />

Hochtechnologiekeramiken und den Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen<br />

– und entwickelte sich so zum technologisch führenden Land der Erde. Es ist<br />

höchste Zeit für einen neuen solchen Aufbruch. Grün und global.<br />

Ernst Ulrich von Weizsäcker (*1939), seit Oktober 2012 Co-Präsident des Club of Rome. Von 1991 bis 2000 Leiter des<br />

Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, <strong>Energie</strong>; von 1998 bis 2005 SPD-Abgeordneter im Bundestag.<br />

Ernst Ulrich von Weizsäcker


Unternehmen<br />

Vorgestürmt: <strong>Süd</strong>tirol ist Europas Primus bei der grünen<br />

<strong>Energie</strong>versorgung 13 Angekommen: Warum es<br />

deu tsche Unternehmen nach <strong>Süd</strong>tirol zieht 17 Lust -<br />

voll: Nie fanden junge <strong>Süd</strong>tiroler mehr Spaß am<br />

Gründen 21 Magisch: Die innovativen Lichtsysteme des<br />

Mittelständ lers Ewo sind weltweit gefragt 23 Innovativ:<br />

Forscher und Kreative gehen eine produktive<br />

Allianz ein 27 Improvisieren: Auch ohne exakten Plan<br />

boomen in Italien Windkraft, Sonnenstrom und Biomasse<br />

29 Nachgefragt: Leoluca Orlando, Bürgermeister von<br />

Palermo, über die Chancen im deutsch-italienischen<br />

Verhältnis 38 Ein gefangen: Die Kraft des Wassers in<br />

Bildern 40


Judith Innerhofer<br />

Die Welle<br />

aus den Bergen<br />

Fotografie — Ivo Corrà<br />

So kann man sich täuschen! Alle Welt<br />

hält Deutschland für den globalen<br />

Öko primus. Doch weit gefehlt: <strong>Süd</strong>tirol,<br />

die nördlichste Provinz Italiens, ist mit<br />

dem grünen Umbau der <strong>Energie</strong>versorgung<br />

längst weiter – und will seine<br />

Spitzenposition nicht nur halten, sondern<br />

noch ausbauen. Wie haben die<br />

Provinzler das nur geschafft? Ein Ortsbesuch<br />

klärt auf.<br />

Es gibt nur wenige deutsche Wörter, die den Sprung ins<br />

Englische, die Lingua franca unseres Jahrhunderts, geschafft<br />

haben. „Kindergarten“ war eines, „Angst“ ein anderes.<br />

Jetzt ist „<strong>Energie</strong>wende“ hinzugekommen. Seit die<br />

deutsche Bundesregierung im Juni 2011 nach der Reaktorkatastrophe<br />

im japanischen Fukushima den Ausstieg aus<br />

der Atomenergie verkündet hat, blicken viele Menschen<br />

neugierig auf das Land im Herzen Europas und warten auf<br />

den Ausgang eines der größten Experimente des Industriezeitalters:<br />

die Umstellung der <strong>Energie</strong>versorgung von<br />

Stahlwerken, Autofabriken und Millionenstädten auf grüne<br />

Quellen wie Sonne, Wind und Biomasse. Wenn die Deutschen<br />

mit ihrer Ingenieurkunst das hinbekommen, so die<br />

Überzeugung, dann funktioniert es überall auf der Welt.<br />

Seither subventionieren die deutschen Stromzahler<br />

mit Extraabgaben den massenhaften Aufbau von Solardächern<br />

und Windrädern. Auf weit mehr als 100 Milliarden<br />

Euro türmen sich die Zahlungsverpflichtungen bereits auf.<br />

Das Murren über die wachsenden Lasten schwillt unüber-<br />

13 Judith Innerhofer<br />

hörbar an – grünes Gewissen hin oder her. Aber immerhin:<br />

Auf 23 Prozent ist der Anteil des Ökostroms 2012 schon<br />

gestiegen.<br />

Was nach Rekord klingt, wird in <strong>Süd</strong>tirol locker<br />

überboten. Hier stammen 99 Prozent der verbrauchten<br />

Elektrizität aus erneuerbaren Quellen, vor allem der Wasserkraft.<br />

Beim Wärmebedarf sind es immerhin weit mehr<br />

als 25 Prozent. Damit ist nicht Deutschland, sondern <strong>Süd</strong>tirol<br />

die grüne Vorzeigeregion Europas. Wie es dazu kam,<br />

wer die wichtigsten Innovatoren sind und mit welchen<br />

Technologien <strong>Süd</strong>tirols grüne Pioniere Trends für die Zukunft<br />

setzen, zeigt ein <strong>Energie</strong>streifzug durchs Land.<br />

Wenn der Wind sich weiter dreht<br />

Es ist friedlich, verdächtig friedlich für einen Ort, an dem<br />

die grüne Revolution in vollem Gang sein soll. Und wie ein<br />

Radikaler sieht der Mann auch nicht aus, der da in schmal<br />

geschneidertem Jackett, blauer Jeans und roter Armbanduhr<br />

zur Tür hereineilt. Espressogeruch hängt zwischen<br />

Grünpflanzen, einer vollgeschriebenen Weißwandtafel und<br />

großformatigen Bildern von Eis- und Wüstenlandschaften,<br />

aus denen eigentümliche Masten aufragen. Das Fenster<br />

gibt den Blick auf frisch eingeschneite Alpengipfel frei,<br />

hinter Werkhallen und Bürokomplexen öffnet sich ein weites,<br />

grünes Talbecken. Es war nicht einfach, diesen Ort<br />

einer friedlichen Revolution zu finden. Nicht ein einziges<br />

Hinweisschild in diesem Bozner Gewerbegebiet weist den<br />

Weg. Erst ein vergilbtes Klingelschild mit der Aufschrift<br />

„Ropatec“ am Eingang eines unscheinbaren Gebäudes verriet:<br />

Ziel erreicht.<br />

Robert Niederkofler, Gründer und Geschäftsführer<br />

des Unternehmens, holt erst einmal eine der neuen Windrad-Broschüren<br />

für den brasilianischen Markt aus dem Karton.<br />

Das ist also der Mann, den der US-Starökonom Jeremy<br />

Rifkin in seine Liste der Revolutionäre aufgenommen hat:<br />

Akteure aus der Privatwirtschaft, die seiner Meinung nach<br />

beispielhaft die Wirtschaft der Zukunft vorwegnehmen.<br />

Grüne Vorzeigeregion: Blick auf das <strong>Süd</strong>tiroler Überetsch beim<br />

Kalterer See


Rifkin nennt seine Vision „Die dritte industrielle Revolution“:<br />

eine zukunftsfähige Form der Marktwirtschaft, die auf neue<br />

Informationstechnologien und den Umstieg auf ein grünes,<br />

demokratisches <strong>Energie</strong>system baut. Und mit Strom aus<br />

erneuerbaren Quellen kennt sich Robert Niederkofler aus.<br />

Das brachte ihm Rifkins Ritterschlag ein.<br />

Es war Mitte der 1990er-Jahre, als Niederkofler<br />

auf die Idee kam, eine kleine Windanlage zu bauen, deren<br />

Flügel sich parallel zum Erdboden drehen statt wie üblich<br />

horizontal. Der Vorteil dieser Konstruktion: Das Windrad<br />

rotiert fast lautlos, die Anlage braucht kaum Wartung und<br />

„sie produziert bei orkanartigen Sturmböen genauso Strom<br />

wie bei niedriger Windstärke oder bei wechselnder Windrichtung“,<br />

erläutert ihr Erfinder.<br />

Der ambitionierte Plan: Schon in<br />

knapp vier Jahrzehnten sollen 90 Prozent<br />

des gesamten <strong>Energie</strong>verbrauchs<br />

in <strong>Süd</strong>tirol aus regenerativen Quellen<br />

gespeist werden.<br />

<strong>Süd</strong>tirol setzt italienweit Standards im Bereich des energieeffizienten<br />

Bauens<br />

So viele Vorzüge überzeugen. Inzwischen liefern die in<br />

<strong>Süd</strong>tirol entwickelten und produzierten Kleinwindräder in<br />

24 Ländern der Erde Strom. Derzeit setzt der Unternehmer<br />

und gefragte Regierungsberater in Sachen Kleinwindkraft<br />

vor allem auf Wachstumsmärkte wie Brasilien. In den<br />

west lichen Industrienationen hingegen läuft der Ausbau<br />

der Kleinwindkraft insgesamt noch schleppend voran, was<br />

Branchenstudien zufolge vor allem an oft noch fehlenden<br />

staatlichen Anreizen liegt. Aber Niederkoflers Innovationsgeist<br />

tut das keinen Abbruch. Der einstige Quereinsteiger<br />

arbeitet weiter daran, die Leistungsfähigkeit seiner Produkte<br />

zu verbessern, um so neue Maßstäbe zu setzen.<br />

Jüngst hat er etwa eine Hybridversion als <strong>Energie</strong>container<br />

entwickelt, bei der Wind- und Solarkraft, Wasserbehandlung<br />

mit Pumpsystem und eine <strong>Energie</strong>speicherung mit<br />

14 Unternehmen Die Welle aus den Bergen<br />

Fernmonitoring integriert sind – eine Weltneuheit. Eine<br />

andere Variante nutzt seine auffälligen Windanlagen zugleich<br />

als Werbefläche.<br />

Die große Kraft der <strong>Süd</strong>tiroler Windräder steht<br />

exemplarisch für den weltweiten Aufbruch in eine neue<br />

Ära der <strong>Energie</strong>wirtschaft. Bis vor einigen Jahren kam der<br />

Strom für die meisten Menschen einfach aus der Steckdose.<br />

Ob er sauber oder dreckig war, gefährlich oder risikolos<br />

produziert wurde, interessierte kaum jemanden. Das<br />

hat sich spätestens seit der Kernschmelze in Fukushima<br />

grundlegend geändert. Öko und Nachhaltigkeit sind seither<br />

in aller Munde. Grün und erneuerbar soll die <strong>Energie</strong> auch<br />

in den Augen der Politik werden. Kaum eine zweite Branche<br />

erlebte in den vergangenen Jahren einen vergleichbaren<br />

Aufschwung. Doch mit Wirtschaftskrise und Billigkonkurrenz<br />

wird das Geschäft härter. Wer im globalen<br />

Wettbewerb bestehen will, tut daher gut daran, auf noch<br />

effizientere Technologien zu setzen. Denn ausgeschöpft<br />

sind die sauberen Quellen noch lange nicht, viele Zukunftssysteme<br />

stecken erst in den Kinderschuhen.<br />

Schwitzen in der Klimakammer<br />

Sie müssen daher erst einmal gründlich auf ihre Zuverlässigkeit<br />

und Wirksamkeit geprüft werden. Gute Voraussetzungen<br />

dafür finden <strong>Süd</strong>tirols grüne Pioniere im<br />

Bozner Institut für Erneuerbare <strong>Energie</strong>n vor, das an der<br />

Europäischen Akademie (Eurac) angesiedelt ist. Sein Leiter<br />

Wolfram Sparber setzt alles daran, die Neuerer zu unterstützen<br />

und den ökologischen Wandel voranzutreiben.<br />

„Technische Innovationen sind das A und O, wenn wir eine<br />

postfossile Zukunft wollen, die auch wirtschaftlich erfolgreich<br />

ist“, sagt er.<br />

Sparbers jüngste Anschaffung ist eine Klimakammer.<br />

In ihr können Unternehmen testen, ob neue Solarmodule,<br />

Elektronikkomponenten oder Wanddämmsysteme Kälte,<br />

Hitze und Nässe trotzen und die erhoffte Leistung erreichen.<br />

Die Forscher – 40 an der Zahl, die aus allen Teilen<br />

der Welt stammen – können in der schwarz schim mernden<br />

Kammer, die an einen gigantischen Hightech-Kühlschrank<br />

erinnert, Temperaturen von minus 50 bis plus 90 Grad<br />

Klimakammer der Denkfabrik Eurac


erzeugen und die Luftfeuchtigkeit variieren. Derart ausgefeilte<br />

Technik gibt es nicht oft auf der Welt. Das hat sich<br />

schnell herumgesprochen. Inzwischen erproben nicht nur<br />

<strong>Süd</strong>tiroler, sondern auch internationale Unternehmen ihre<br />

Produkte in der Klimakammer. Sie ist Teil des jüngst eröffneten<br />

Labors für Fotovoltaiktechnologien und Gebäudekomponenten,<br />

das wiederum zur Eurac gehört. Physiker<br />

Sparber, noch keine 40 Jahre alt und ein Mann mit ausgeprägtem<br />

Hang zur Praxis, muss selbst manchmal über das<br />

rasende Tempo des Fortschritts bei neuen Formen der<br />

<strong>Energie</strong>gewinnung staunen. Derzeit, so erzählt er, sei das<br />

Kühlen mit Sonnenenergie ein solches Thema, das stark im<br />

Kommen sei: „Der Markt dafür ist eindeutig da, aber noch<br />

steckt die Technologie in den Anfängen.“<br />

Was ihn besonders stolz macht: Nicht wenige Unternehmen<br />

aus Italiens nördlichster Provinz mischen beim<br />

Green-Tech-Boom kräftig mit. Seit 1990 hat sich die Zahl<br />

der Akteure mehr als vervierfacht. Schon knapp 500 Unternehmen<br />

sind im weiten Feld der sauberen <strong>Energie</strong> tätig.<br />

Darunter auch Stadtwerke und lokale Genossenschaften<br />

wie das Biomasse-Fernheizwerk Ritten, das dort anfallende<br />

Reste aus der Holzverarbeitung verbrennt und mit der<br />

Wärme zwei umliegende Ortschaften beheizt. Viele der<br />

Mittelständler gehen Kooperationen mit Partnern aus ganz<br />

Europa ein, um ihre Technologien voranzutreiben und lukrative<br />

Nischen zu besetzen. Grüne Gründer ziehen nach<br />

und verblüffen die Welt mit innovativen Lösungen: etwa<br />

einem Wasserstoffantrieb für die Bus-Boote, die Touristen<br />

in die Lagunenstadt Venedig übersetzen.<br />

Die vielen Aktivitäten haben <strong>Süd</strong>tirol den ersten<br />

Platz im Green-Economy-Index 2012 unter allen italienischen<br />

Regionen eingebracht. <strong>Energie</strong> aus erneuerbaren<br />

Ressourcen deckt schon heute 56 Prozent des Strom- und<br />

Heizkraftbedarfs der 510.000 <strong>Süd</strong>tiroler. Doch die Landes-<br />

15<br />

Judith Innerhofer<br />

Auf dem Flughafenareal in Bozen<br />

werden Fotovoltaikmodule<br />

verschiedener Hersteller auf Herz<br />

und Nieren geprüft<br />

regierung will mehr: Schon in knapp vier Jahrzehnten sollen<br />

90 Prozent des gesamten <strong>Energie</strong>verbrauchs aus regenerativen<br />

Quellen gespeist werden, so der ambitionierte<br />

Plan. Nicht alle Vorhaben stoßen auf ungeteilte Begeisterung.<br />

Besonders bei Windrädern ist die Sorge groß, sie<br />

könnten die Berglandschaft verschandeln. Schon gar nicht<br />

möchte man sie vor der Haustür stehen haben.<br />

Einmal ans Meer und wieder zurück<br />

Josef Gostner verfolgt solche Diskussionen eher am<br />

Rande. Sein Revier umfasst längst alle Kontinente. So ist<br />

es nicht weiter verwunderlich, dass der größte grüne<br />

Player der Region zum vereinbarten Termin weder im Öko-<br />

Flitzer angerauscht kommt noch auf dem Fahrrad. Er landet<br />

mit seinem Privatjet auf dem kleinen Bozner Flughafen<br />

und steuert die Maschine zielsicher in den Hangar. Aus<br />

dem Cockpit klettert ein hochgewachsener Mann in den<br />

Fünfzigern, stilsicherer Anzug, dezent gemusterte Krawatte.<br />

Beim Anflug, erzählt der Vollblutmanager wohlgelaunt,<br />

habe er wieder einmal beobachten können, wie dicht<br />

die Täler und Berghänge seiner Heimat inzwischen mit<br />

Solarmodulen bestückt sind: Auf je 1.000 Einwohner kommen<br />

410 Quadratmeter Sonnenkollektoren für die Warmwasserbereitung<br />

– das sind gut sieben Mal so viele wie im<br />

europäischen Durchschnitt und gar fünfzehn Mal mehr als<br />

in Italien. Ähnlich weit vorn liegt <strong>Süd</strong>tirol bei der installierten<br />

Fotovoltaikleistung.<br />

Mehr noch galt seine Aufmerksamkeit allerdings<br />

den fast tausend Wasserkraftwerken im Land. Denn mit<br />

der Wasserkraft begann vor fast 20 Jahren der kometenhafte<br />

Aufstieg Josef Gostners und seiner Brüder Thomas<br />

und Ernst als <strong>Energie</strong>produzenten und -verkäufer. Heute<br />

umfasst ihre Fri-El-Gruppe über 80 Unternehmen. Ihre


Kerngeschäfte sind inzwischen Windparks, Biogas- und<br />

Biomasse-Anlagen. Er komme gerade von der südlichsten<br />

Spitze des italienischen Stiefels zurück, berichtet Gostner,<br />

während er eiligen Schritts zum Auto stürmt. Dort unten<br />

baut die Gruppe einen 24 Megawatt starken Windpark mit<br />

der neuesten Turbinentechnologie des dänischen Marktführers<br />

Vestas. „Wir setzen dort die größten Windräder<br />

ein, die für italienische Verhältnisse geeignet sind“, sagt<br />

Gostner sichtlich stolz. „Schließlich gibt es hier weniger<br />

Wind als etwa an der <strong>Nord</strong>see.“<br />

Vom Flughafen geht es vorbei an einer fußballfeldgroßen<br />

Versuchsanlage. Hier prüft das Forschungsinstitut<br />

Eurac mit einem Partner aus der Wirtschaft Fotovoltaikmodule<br />

verschiedener Hersteller auf Herz und Nieren. Das<br />

Bürogebäude der Gostner-Brüder versteckt sich zwischen<br />

verwinkelten Gassen mitten im historischen Ortskern von<br />

Bozen: ein mittelalterliches Eckhaus mit dicken Mauerbögen<br />

und dunklen Holzstreben. Das Innere mit seinem edlen<br />

Mix aus Glas, Holz und Stahl würde sich gut als Titelbild<br />

einer Architekturzeitschrift machen. Warum residiert das<br />

Unternehmen, das in Italien zu den Marktführern gehört,<br />

ausgerechnet hier in <strong>Süd</strong>tirol, wo es nicht eine einzige<br />

Anlage betreibt? „Ist doch ganz klar“, sagt Josef Gostner<br />

und rückt die schmale Brille zurecht. „Unsere Industriepartner<br />

setzen auf <strong>Süd</strong>tirol als Scharnier in den italienischen<br />

Markt. Und dort wiederum hilft uns das Image <strong>Süd</strong>tirols<br />

als führende<br />

Ökoregion des Landes.“<br />

Ein Blick auf<br />

die Fakten unterfüttert<br />

die Einschätzung<br />

des Fri-El-Geschäftsführers.<br />

Gerade Wirtschaftsakteuresprechen<br />

<strong>Süd</strong>tirol in Studien<br />

die Rolle eines<br />

grünen Zugpferdes<br />

zu; in Sachen energieeffizienteBauweisen<br />

hat die Provinz<br />

mit ihrem KlimaHaus-<br />

Standard den Maßstab<br />

für ganz Italien<br />

gesetzt. Ein neuer<br />

Technologiepark in der Landeshauptstadt soll die Vorreiterrolle<br />

stärken und den Know-how-Transfer von der Theorie<br />

in die Praxis beschleunigen. Schon heute kooperieren<br />

Forschungseinrichtungen wie die Eurac, ein Fraunhofer-<br />

Institut, der TIS innovation park und die Freie Universität<br />

Bozen eng mit den regionalen Unternehmen und begleiten<br />

sie auf dem Weg ins postfossile Zeitalter.<br />

16<br />

Auch sauber muss sich rechnen<br />

Beherzt greift Thomas Brandstätter in den Bottich und<br />

lässt den Abfall genüsslich durch die Finger rieseln. Über<br />

ihm schwebt eine gigantische gelbe Trommel, gegenüber<br />

Unternehmen Die Welle aus den Bergen<br />

fauchen zwei Verbrennungsöfen. Die dichte weiße Rauchsäule,<br />

die über der Werkhalle besonders im Sommer hoch<br />

in den Himmel geblasen wird, passt eigentlich nicht zum<br />

sauberen Image des traditionsreichen Luft- und Trauben-<br />

Kurorts Meran. „Reiner Wasserdampf“, beruhigt Brandstätter<br />

beim Gang über das Gelände, auf dem es schwer und<br />

füllig nach reifem Obst riecht. Die Aromen stammen von<br />

den 180.000 Tonnen Frucht, welche die Zipperle AG jährlich<br />

zu Pürees und Konzentraten für Nahrungsmittelkonzerne<br />

wie Hipp, Nestlé, Rauch und Danone verarbeitet.<br />

Auf den ersten Blick hat das Geschäft des 1951 gegründeten<br />

Familienbetriebs mit <strong>Energie</strong> nicht wirklich etwas<br />

zu tun – und doch war Geschäftsführer Brandstätter<br />

schon früh mit dem Thema konfrontiert. Das liegt an dem<br />

Berg von 25.000 Tonnen Fruchtabfällen, die sich jährlich<br />

ansammeln. Schon vor gut 25 Jahren begann er sich über<br />

ihre energetische Nutzung Gedanken zu machen. Heute<br />

wird der Trester in der Trocknungs- und Verbrennungsanlage<br />

zu Dampf, der die thermische <strong>Energie</strong> ergänzt, die im<br />

Fernheizwerk auf der anderen Straßenseite erzeugt wird<br />

und per Direktverbindung in die Produktionsstätte fließt.<br />

Auch diese Anlage, betrieben vom kommunalen Versorger<br />

Etschwerke AG, entstand auf Betreiben des Fruchtverarbeiters.<br />

„Die Wirtschaft und die Menschen hier sind sehr<br />

sensibel für Umweltthemen. In dieser Beziehung sind wir<br />

wohl stärker<br />

deutsch als italienisch<br />

geprägt“,<br />

interpretiert<br />

Brandstätter die<br />

grüne Investitionslust,<br />

von der jedes<br />

dritte Unternehmen<br />

in der Region<br />

in den vergangenen<br />

Jahren gepackt<br />

worden ist.<br />

Aber der Manager<br />

stellt auch klar,<br />

dass sich die Investitionen<br />

am<br />

Ende auch finanziell<br />

auszahlen sollten:<br />

„Sicher, auch<br />

wir leben von einer gesunden Umwelt. Gerade sauberes<br />

Wasser und eine intakte Landschaft sind für uns und unser<br />

Unsere Industriepartner setzen auf <strong>Süd</strong>tirol<br />

als Scharnier in den italienischen<br />

Markt. Und dort wiederum hilft uns das<br />

Image <strong>Süd</strong>tirols als<br />

führende Ökoregion des Landes.<br />

Josef Gostner


Andreas Leitner, Juniorchef von Leitner Solar. Das Unternehmen<br />

gehört zu den Leadern im italienischen Solarmarkt<br />

Image ganz wesentlich. Aber am Ende muss die Rechnung<br />

einfach stimmen.“<br />

17<br />

Ein wenig Gülle für die Cola<br />

Die Kühe, die da am Straßenrand stehen und in aller Gemütlichkeit<br />

das Gras zermalmen, sehen zufrieden aus. Und<br />

die Tiere grasen zahlreich rund um St. Lorenzen, einem<br />

Örtchen im Pustertal kurz vor Bruneck. Es zählt 3.800 Einwohner,<br />

besitzt zwei auffallend ungleiche Kirchtürme und<br />

eine Menge Weiden und dichte Wälder. Sie machen mehr<br />

als die Hälfte des Dorfgebietes aus. Zufrieden sehen auch<br />

die vielen Urlaubsgäste aus, die an diesem Vormittag aus<br />

den Hotels strömen, um die Dolomiten zu erobern und<br />

sich zwischendurch mit frischer Bauernmilch und Käse zu<br />

stärken. Wegen so viel Idylle, nicht nur hier, zieht es Jahr<br />

für Jahr Millionen Touristen nach <strong>Süd</strong>tirol, das zu den wirtschaftlich<br />

stabilsten Regionen in Europa gehört.<br />

Doch so schön der Anblick der grasenden Kühe sein<br />

mag – sie verursachen auch ein stinkendes Problem. 80<br />

Liter Gülle hinterlässt jedes Tier pro Tag. Würden die enormen<br />

Mengen, die so zusammenkommen, auf die Felder<br />

gekippt, wären Böden und vor allem das Grundwasser gefährdet.<br />

Die örtliche Bioenergie-Genossenschaft hat eine<br />

bessere Verwendung: Neben einer der Weiden haben die<br />

Mitglieder zwei kuppelartige Gebäude errichtet, zu denen<br />

Judith Innerhofer<br />

knapp 90 Landwirte aus der Umgebung Mist und Grünabfall<br />

bringen. Aus der Biomasse wird Biogas gewonnen,<br />

das zu Strom und Wärme verbrannt wird. Zudem entsteht<br />

aus der übel riechenden braunen Masse ein geruchfreier<br />

Biodünger, der das Gras für die Milchkühe besonders saftig<br />

wachsen lässt.<br />

Die Anlage stammt vom Hersteller BTS, der seine<br />

Firmenzentrale nur wenige Landstraßenminuten weiter<br />

taleinwärts hat. Er ist Biogas-Marktführer in Italien, hat<br />

Niederlassungen in Deutschland und betreibt Anlagen<br />

in ganz Europa. Eigentlich läuft alles wie gewünscht für<br />

Michael Niederbacher. Der Mitbegründer der European<br />

Biogas Association leitet das zur T.S. Energy Group gehörende<br />

Unternehmen und hat das Wachstum der Branche<br />

Schub um Schub miterlebt. Aber nur immer mehr und<br />

immer größere Anlagen zu bauen, die mit immer mehr<br />

Rohstoffen gefüttert werden wollen, davon hält er wenig.<br />

„Wir müssen auf maximale Effizienz setzen“, lautet sein<br />

unternehmerisches Credo. Dafür haben Ingenieure im firmeneigenen<br />

Forschungslabor – dem einzigen für Biogas in<br />

Italien – zum Beispiel eine Aufbereitungsmethode für<br />

Landwirtschaftsabfälle entwickelt, die 35 Prozent mehr<br />

<strong>Energie</strong> aus der Biomasse herausholt als bisher. Das steigert<br />

zudem die Wirtschaftlichkeit.<br />

Doch der gelernte Agraringenieur Niederbacher will<br />

noch mehr erreichen. Wenn er über „seinen“ braunen Mist<br />

nachdenkt, kommt er schon einmal auf Ideen, die im ersten<br />

Moment etwas anrüchig klingen: etwa wenn er den Mist<br />

auch nutzen will, um daraus Sprudelbläschen für Limonaden<br />

zu gewinnen. „Biogas besteht ja zu 55 Prozent aus<br />

Methan, der Rest ist CO 2 “, erläutert Niederbacher. „Will<br />

man das Methan nun als Biotreibstoff nutzen, muss man<br />

das ganze Kohlendioxid vorab abpumpen. Und wenn es<br />

schon da ist, könnte man es doch gleich in der Getränkeindustrie<br />

zur Erzeugung von Kohlensäure verwenden.“<br />

Solartankstellen für Elektro-Fahrräder<br />

Wie Niederbacher sucht auch Hubert Leitner unermüdlich<br />

nach Lösungen, die <strong>Energie</strong>wende voranzubringen. Dass<br />

es noch an vielen Ecken Verbesserungspotenzial gibt,<br />

merkt er zum Beispiel, wenn er die Batterie seines luxuriösen<br />

Plug-in-Hybrids in der Garage seines Brunecker Einfamilienhauses<br />

auflädt. Den blank polierten Sportwagen hat<br />

er sich vor drei Jahren geleistet. Leitner hätte gerne, dass<br />

der Ladevorgang dann einsetzt, wenn der Strom gerade<br />

günstig angeboten wird. Doch solch ein intelligentes<br />

Stromnetz, bei dem der Wäschetrockner, die Tiefkühltruhe<br />

oder eben das Elektroauto auf Preissignale reagieren und<br />

bevorzugt dann elektrische <strong>Energie</strong> abnehmen, wenn sie<br />

reichlich vorhanden und daher billig ist, sei leider noch<br />

Zukunftsmusik, bedauert der Unternehmer. Er ist jedoch<br />

fest entschlossen, alles dafür zu tun, damit sich das bald<br />

ändert.<br />

Auf einer der Schutzhütten ganz weit oben in den<br />

Bergen, die sich rund um das Talbecken erheben, hat Leitner<br />

1987 die erste Solaranlage <strong>Süd</strong>tirols gebaut und den<br />

Elektro-Meisterfachbetrieb seines Vaters damit in eine


neue Ära geführt. Inzwischen ist sein eigener Sohn Andreas<br />

in die Geschäftsführung eingestiegen und es gibt<br />

zwei Geschäftszweige: Leitner Electro und Leitner Solar.<br />

Vor allem mit der Fotovoltaik ist das Unternehmen in<br />

den vergangenen Jahren enorm gewachsen; im italienischen<br />

Solarmarkt gehört der Mittelständler aus dem Pustertal<br />

heute zu den Leadern. Aber in der bequemen Rolle<br />

des Ökoprimus ausruhen will Hubert Leitner sich nicht.<br />

Im mittlerweile vollgeladenen Elektro-Hybrid geht es Richtung<br />

Firmenzentrale. Ein kleiner Umweg führt an der unentgeltlichen<br />

Solartankstelle für E-Bikes vorbei, die der<br />

Neuerer im Stadtzentrum errichtet hat.<br />

Im jüngst erweiterten Büro brütet sein Junior über<br />

den Plänen für eine 500 Wohnungen umfassende Pilotsiedlung,<br />

die gerade in Bozen entsteht. Das Konzept sieht vor,<br />

dass Solaranlagen und Erdwärme den gesamten <strong>Energie</strong>bedarf<br />

der Häuser decken. Damit entstünde ein CO 2 -neutrales<br />

Quartier. Intelligente IT-Schnittstellen zwischen den<br />

einzelnen Wohnungen sowie den Gemeinschafts- und Außenbereichen<br />

sollen sicherstellen, dass die <strong>Energie</strong> dann<br />

verbraucht wird, wenn die Anlagen gerade besonders viel<br />

davon erzeugen. Überschüssige Strom- und Wärmemengen<br />

werden für knappe Zeiten zwischengespeichert. Zudem<br />

haben die überzeugten Strom-Autofahrer natürlich E-Mobilität<br />

in das Siedlungsprojekt integriert. Und ganz im Sinne<br />

der demokratischen <strong>Energie</strong>revolution, die Jeremy Rifkin<br />

anstrebt, machen Vater und Sohn den Verbraucher zugleich<br />

zum <strong>Energie</strong>händler: Weil die Bewohner dank des schlauen<br />

Stromnetzes schon am Tag zuvor wissen, ob schönes Wetter<br />

vorhergesagt ist und ihre Fotovoltaikanlagen daher mehr<br />

<strong>Energie</strong> liefern, als sie selbst benötigen, können sie die<br />

Überschussmengen vorab an der Strombörse verkaufen<br />

und zu Geld machen.<br />

Schon träumt Leitners Sohn Andreas davon, dass<br />

die Bewohner solcher Siedlungen eines Tages ihren selbst<br />

erzeugten Strom komplett selbst verwalten und vermarkten.<br />

Dazu bedürfte es allerdings einer Gesetzesänderung.<br />

Noch muss das Geschäft von <strong>Energie</strong>produzenten und<br />

-händlern strikt voneinander getrennt sein. „Aber das wird<br />

sich sehr bald ändern“, ist der Juniorchef überzeugt. Und<br />

dann wollen Vater und Sohn wieder ganz vorne sein bei<br />

der nächsten Welle der grünen Revolution – und mit ihnen<br />

die anderen <strong>Energie</strong>pioniere aus <strong>Süd</strong>tirol.<br />

Judith Innerhofer (*1983), bis 2012 Redakteurin beim <strong>Süd</strong>tiroler<br />

Wochenmagazin „ff“, heute als freie Journalistin unter anderem<br />

für „ff“ und „Profil“ tätig.<br />

18<br />

Dieter Dürand<br />

Dolce Vita und<br />

Disziplin<br />

Was zieht deutsche Unternehmen nach<br />

<strong>Süd</strong>tirol? Der Autor hat sich umgehört<br />

– hier seine Bilanz.<br />

Besuch bei einem Altstar. Fleißige Hände packen Schrauben,<br />

Haken, Klemmen und Bohrmaschinen in Kisten und<br />

stellen sie bereit zum Versand. Fast 6.000 Aufträge verlassen<br />

jeden Werktag die Hallen an der Brennerautobahn. Die<br />

Ware geht an Handwerker und Industriebetriebe in <strong>Nord</strong>italien.<br />

Dutzende Lkws karren Nachschub heran. Hier in Neumarkt<br />

hat die Würth Italia ihren Hauptsitz, Tochtergesellschaft<br />

des deutschen Schraubenkönigs Reinhold Würth,<br />

dessen Gruppe 2012 weltweit knapp zehn Milliarden Euro<br />

umsetzte. Mehr als 400 Mitarbeiter arbeiten in dem Zentrallager<br />

und der Hauptverwaltung. Nur wenige Unternehmen<br />

in <strong>Süd</strong>tirol beschäftigen mehr Menschen. Zugleich ist<br />

Würth Italia einer der größten Arbeitgeber, der seinen<br />

Stammsitz in Deutschland hat. Weitere Unternehmen deutscher<br />

Provenienz, die ähnlich viele Jobs anbieten, sind<br />

Miele, Kässbohrer Geländefahrzeug AG, der Baustoffproduzent<br />

Stound und der Türgriffspezialist Hoppe.<br />

Unternehmen Die Welle aus den Bergen Dolce Vita und Disziplin


Dieses Jahr feiert Würth sein 50-jähriges Jubiläum<br />

am <strong>Süd</strong>tiroler Standort – und blickt damit auf fast ebenso<br />

viel Erfahrung zurück wie die Urgesteine des Rocks: die<br />

Rolling Stones. Doch während die 1962 zusammenfanden,<br />

um ihre Träume vom schwarzen Blues zu verwirklichen,<br />

trieben Reinhold Würth 1963 profanere Gründe nach Bella<br />

Italia: Der aufstrebende Unternehmer aus Schwaben sah in<br />

Italien einen wichtigen Zukunftsmarkt. Und <strong>Süd</strong>tirol schien<br />

ihm wegen der Nähe zum Mutterhaus und der Zweisprachigkeit<br />

die ideale Startrampe für dessen Eroberung zu<br />

sein. Die Zentrale konnte mit der Belegschaft auf Deutsch<br />

kommunizieren – und die wiederum mit den Kunden auf<br />

Italienisch. Perfekt!<br />

Verblüffend, aber wahr: An diesen Motiven, sich in<br />

<strong>Süd</strong>tirol anzusiedeln, hat sich seither nichts wesentlich<br />

geändert. Auch die heutigen Neuankömmlinge nennen sie<br />

an vorderster Stelle, ob der Lichtspezialist Gifas, der Messtechnik-Anbieter<br />

AfM Technology, das <strong>Energie</strong>technikunternehmen<br />

Agnion oder der Hersteller von Wohnraumbelüftungssystemen<br />

Pluggit. Die gemeinsame Sprache erleichtert<br />

nicht nur die Verständigung. Mehr noch schätzen<br />

deutsche Investoren, dass sie ihre Bilanzen und Steuererklärungen<br />

auf Deutsch verfassen können. So laufen sie<br />

weniger Gefahr, sich im komplizierten italienischen Steuerrecht<br />

zu verheddern. „Die Furcht ist groß, ungewollt zum<br />

Steuerhinterzieher zu werden“, sagt Agnion-Geschäftsführer<br />

Stephan Mey.<br />

Gefragt sind Kreativität, Leichtigkeit und der<br />

Sinn fürs Schöne<br />

Und noch etwas anderes machen sich die Unternehmer<br />

aus Germania gerne zunutze. Sie finden in Italiens nördlichster<br />

Provinz Beschäftigte und Geschäftspartner vor, die<br />

19 Dieter Dürand<br />

so arbeiten, wie sie es daheim kennen: fleißig, zuverlässig,<br />

effektiv. Zugleich bringen diese jedoch jenen Schuss an<br />

Kreativität, Leichtigkeit und Improvisation mit, der ihnen<br />

mitunter abgeht. Hinzu tritt der italienische Sinn fürs<br />

schöne Design. Das alles hat kräftig auf <strong>Süd</strong>tirol abgefärbt.<br />

Diese Erfahrung hat jedenfalls Thomas Wiedermann<br />

gemacht, Geschäftsführer der Gifas Holding in Neuss, der<br />

in Bozen eine Vertriebsgesellschaft und ein technisches<br />

Entwicklungsbüro aufbaut. „Von dieser einmaligen Kombination<br />

möchten wir profitieren.“ Roland Rauch, AfM-Vertriebsleiter<br />

in Italien und in Bozen geboren, weiß aus Kontakten<br />

zu den Autobauern VW und Porsche, dass die Mischung<br />

der Mentalitäten zum Beispiel die Entwicklung<br />

neuer Ideen beflügeln kann. „Die Italiener gehen damit<br />

unbeschwerter um und legen einfach mal los.“<br />

Dass dies mehr als Einzelmeinungen sind, zeigt eine<br />

Umfrage der deutsch-italienischen Handelskammer (AHK)<br />

unter deutschen Unternehmen, die schon auf dem Stiefel<br />

aktiv sind. Fast jedes fünfte kann sich vorstellen, sich in<br />

<strong>Süd</strong>tirol niederzulassen oder seine Präsenz dort auszubauen.<br />

Dieses Interesse an einer Provinz, die nur knapp<br />

2 Prozent zum italienischen Außenhandel beisteuert, sei<br />

außergewöhnlich, urteilt AHK-Expertin Luisa Glaesmer.<br />

„<strong>Süd</strong>tirol ist weiterhin ein gefragter Brückenkopf zwischen<br />

<strong>Nord</strong> und <strong>Süd</strong>.“<br />

<strong>Süd</strong>tirols Image kann sich sehen lassen: Fast 70<br />

Prozent der am Standort interessierten Investoren loben<br />

das „erfolgreiche Unternehmensumfeld“, jeweils mehr als<br />

60 Prozent schätzen kurze Wege und schnelle Entscheidungen,<br />

die Betreuung durch zweisprachige Steuerberater,<br />

Rechtsanwälte und Notare sowie die öffentliche Förderung<br />

für Forschung und Entwicklung. Immerhin jeder<br />

zweite Befragte nennt <strong>Süd</strong>tirols Vorreiterrolle als grünste<br />

Region Italiens als Vorteil. Für diese Vorzüge nehmen die<br />

Investoren loben das „erfolgreiche<br />

Unternehmensumfeld“<br />

in <strong>Süd</strong>tirol. Hier ein Blick auf<br />

das Bozner Gewerbegebiet, in<br />

dem sich auch ausländische<br />

Unternehmen niedergelassen<br />

haben


Unternehmen in Kauf, dass an Etsch und Eisack auch die<br />

höchsten Löhne Italiens gezahlt werden.<br />

Der Mangel an Industrie erweist sich mitunter<br />

als Bremsklotz<br />

Attraktiv ist <strong>Süd</strong>tirol vor allem als Vertriebsbasis für den<br />

norditalienischen Markt. Würth hat inzwischen in Bologna<br />

und Rom weitere Logistikzentralen eingerichtet, um die<br />

Kunden rasch beliefern zu können. „Die Entfernungen von<br />

Neumarkt aus wären viel zu weit“, sagt Marketing-Chef<br />

Norman Atz. Als Produktionsstandort hingegen ist die Alpenprovinz<br />

weniger interessant. Landwirtschaft, Dienstleistungen,<br />

Tourismus und Handwerk prägen das Wirtschaftsleben,<br />

Industrie ist rar. Das wird manchmal selbst<br />

für Gutwillige wie Johann Hofer, Chef der Hofer Powertrain<br />

aus Oberboihingen bei Stuttgart, zum Problem. Der gebürtige<br />

<strong>Süd</strong>tiroler, der mehr als 400 Ingenieure und Techniker<br />

beschäftigt, hätte gerne auch in seiner Heimat expandiert.<br />

Doch der Mangel an Auftraggebern für das auf<br />

den Auto-Antriebsstrang spezialisierte Engineering-Unternehmen<br />

erwies sich als unüberwindliche Hürde: Mehr als<br />

drei Mitarbeiter hatte<br />

die Niederlassung nie,<br />

nun droht sogar die<br />

Schließung.<br />

Nicht jeden<br />

schreckt die industrielle<br />

Diaspora. Die vier <strong>Süd</strong>tiroler<br />

Gründer des auf<br />

Leistungselektronik<br />

spezialisierten Start-ups<br />

Alpitronic, die vorher<br />

etwa für BMW oder den<br />

Elektronikentwickler<br />

SilverAtena arbeiteten,<br />

wollten unbedingt zurück<br />

in ihre Heimat.<br />

Dass viele Kunden Hunderte<br />

Kilometer entfernt in Deutschland sitzen, stört sie<br />

nicht. Sie sind dort oft vor Ort, und im Zeitalter von Internet<br />

und Videoschaltungen spielten Distanzen keine große<br />

Rolle mehr, findet Mitgründerin Sigrid Zanon. Sie lobt das<br />

Förderkonzept der Landesregierung als „stimmig“ und<br />

freut sich über erste Auftraggeber aus der Region: Mit dem<br />

LED-Pionier Ewo aus Kurtatsch (siehe Seite 19 ff.) hat Alpitronic<br />

ein Steuergerät für dessen Leuchten entwickelt.<br />

Dennoch ist es kein Zufall, dass sich die Neuansiedlungen<br />

vor allem auf den Bau- und <strong>Energie</strong>sektor konzentrieren.<br />

Dort setzen <strong>Süd</strong>tiroler Unternehmen und Initiativen<br />

20 Unternehmen Dolce Vita und Disziplin<br />

Standards für ganz Italien – sei es bei der Nutzung von<br />

Biomasse, Wasserkraft oder Solaranlagen. „Wir finden hier<br />

attraktive Geschäftspartner“, sagt Agnion-Chef Mey, der in<br />

Auer bei Bozen eine erste Anlage mit seiner innovativen<br />

Technik zur Holzverbrennung betreibt. Auch das Projekt<br />

KlimaHaus macht als Vorbild für energieeffizientes Bauen<br />

inzwischen bis hinunter nach Sizilien die Runde. Der gute<br />

Ruf hat auch Spartherm aus Melle bei Osnabrück angelockt.<br />

Der europaweit führende Hersteller von Kamin- und<br />

Kachelöfen ist vergangenes Jahr beim Bozner Kachelproduzenten<br />

Arcadia eingestiegen. Die <strong>Nord</strong>deutschen wollen<br />

von <strong>Süd</strong>tirol aus nicht nur den italienischen Markt aufrollen,<br />

sondern auch nach Serbien, Slowenien, Frankreich und<br />

Kroatien vorstoßen. „Dafür finden wir hier ideale Voraussetzungen<br />

vor“, betont Arcadia-Geschäftsführer Alfred Kohlegger.<br />

Die haben sich 2010 mit dem Zuzug des Fraunhofer<br />

Innovation Engineering Centers (IEC) nach Bozen noch<br />

einmal verbessert. Die Fraunhofer-Experten schließen die<br />

Lücke bei anwendungsnaher Forschung. Neben neuartigen<br />

Dienstleistungskonzepten etwa für Banken konzentrieren<br />

sie sich auf Bauprojekte. Ein Schwerpunkt ist die bessere<br />

Es ist kein Zufall, dass sich die Neuansiedlungen vor allem auf den Bau- und<br />

<strong>Energie</strong>sektor konzentrieren. Dort setzen <strong>Süd</strong>tiroler Unternehmen und Initiativen<br />

Standards für ganz Italien.<br />

Abstimmung zwischen<br />

Bauherr, Architekt,<br />

Zulieferer und Bauunternehmer,<br />

um die<br />

Prozesse am Bau<br />

schlanker und wirtschaftlicher<br />

zu machen.<br />

IEC-Projektleiter<br />

Daniel Krause ist begeistert<br />

vom Enthusiasmus,<br />

auf den er<br />

stößt. „Es herrscht<br />

eine große Offenheit<br />

für neue Ideen.“ Und<br />

schon bald, so seine<br />

Erwartung, könne<br />

Deutschland etwas<br />

von den Lösungen aus <strong>Süd</strong>tirol lernen. „Was wir hier<br />

ent wickeln, taugt auch als Vorbild für die dortige Bauindustrie.“<br />

Wenn das keine Perspektive ist.<br />

Dieter Dürand (*1955), seit 1991 Redakteur der „WirtschaftsWoche“,<br />

von 1994 bis 2010 stellvertretender Leiter<br />

des Ressorts Technik und Wissen. Derzeit zuständig für<br />

Dossiers und Sonderpublikationen vor allem im Bereich<br />

Nachhaltigkeit und grüne Technologien.


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Felice Espro<br />

Junge<br />

<strong>Energie</strong><br />

In <strong>Süd</strong>tirol ist eine <strong>Energie</strong> spürbar, die<br />

schwer messbar ist: die Lust der jungen<br />

Generation zur Unternehmensgründung.<br />

In einem Wirtschaftsmodell wie dem<br />

italienischen, das seine Jugend von<br />

Schultagen an häufig hin zu einem abhängigen,<br />

vermeintlich sicheren Arbeitsverhältnis<br />

gelenkt hat, stellt <strong>Süd</strong>tirol eine<br />

positive Anomalie dar: Jahr für Jahr wird<br />

der Boden, auf dem die Unternehmer<br />

von morgen heranwachsen, durch die<br />

duale Ausbildung im Land und die Kombination<br />

von Schule und Arbeit in verschiedenen<br />

Wirtschaftszweigen gedüngt.<br />

Zu diesem Trend tragen auch das<br />

traditionelle Schulsystem, bei dem Betriebssimulationen<br />

durch Schülerwettbewerbe<br />

gefördert werden, sowie der Einsatz<br />

der <strong>Süd</strong>tiroler Handelskammer und<br />

der Wirtschaftsverbände bei.<br />

Eine Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts<br />

(WIFO) der Handelskammer<br />

Bozen verdeutlicht die Fähigkeit<br />

des Landes, der Wirtschaftskrise gegenzusteuern.<br />

Zwar ist die Arbeitslosenquote<br />

von 2,4% im Jahr 2008 auf 4,3%<br />

Ende 2012 gestiegen, ein Anstieg auf<br />

vergleichsweise niedrigem Niveau. 2009,<br />

im Jahr der ersten starken Auswirkungen<br />

der Krise, wurden in <strong>Süd</strong>tirol 2.948 Unternehmen<br />

neu angemeldet, während<br />

3.036 Betriebe geschlossen wurden: Der<br />

Gründungssaldo war mit einem Minus<br />

von 0,2% negativ, aber nur ein Jahr später<br />

hat sich der Trend gedreht. 2010 stehen<br />

3.315 Neugründungen 2.656 Schließungen<br />

gegenüber (+1,1%). 2011 gab es<br />

3.029 Neueinschreibungen ins Handelsregister<br />

und 2.633 Abmeldungen (+0,7%).<br />

Die vorhandenen Daten für das Jahr 2012<br />

listen bis zum Monat September 2.462<br />

neue Unternehmen auf, während 2.098<br />

ihre Aktivität beendet haben (+0,6%).<br />

Junge und ältere Unternehmer<br />

Georg Lun, Direktor des WIFO, liest<br />

diese Zahlen so: „Der positive Saldo zwischen<br />

Gründungen und Schließungen<br />

zeigt, dass der Wirtschaftsstandort <strong>Süd</strong>tirol<br />

gesund und stabil ist. Es gibt viele<br />

Gründe, um ein Unternehmen an- oder<br />

abzumelden. Nicht immer steht dies in<br />

Verbindung mit einer schwierigen Konjunkturlage.<br />

Hingegen wirkt sich die<br />

wirtschaftliche Entwicklung direkt auf<br />

die Zahl der gerichtlichen Ausgleichsverfahren<br />

und der Konkurse aus, bei denen<br />

kein Anstieg zu verzeichnen war.“<br />

Aber wie viele der 58.086 Unternehmen<br />

in <strong>Süd</strong>tirol (Stand 2012) werden<br />

von unter 30-Jährigen geführt, und wie<br />

viele Betriebsinhaber sind hingegen über<br />

70 Jahre alt? Auch in diesem Fall gibt die<br />

Analyse des WIFO Auskunft. Im Jahr<br />

2009 stellten die Jungunternehmer 5,3%<br />

aller Betriebsleiter. 2010 waren es 5,4%,<br />

2011 dann 5,2% und im vergangenen Jahr<br />

schließlich 5% – der Wert blieb stabil. In<br />

denselben vier Jahren ist diese Quote auf<br />

gesamtitalienischer Ebene von 7 auf<br />

6,5% gesunken. Die Krise hat also die<br />

21 Felice Espro<br />

12 %<br />

10 %<br />

8 %<br />

6 %<br />

4 %<br />

2 %<br />

unter 30 Jahre,<br />

bis 30.9.2012<br />

Landwirtschaft<br />

Handwerk<br />

Baugewerbe<br />

Handel<br />

Transportwesen<br />

Service<br />

Gastgewerbe,<br />

Restaurants, Bar<br />

Total<br />

Davon nicht<br />

landwirtschaftliche<br />

Unternehmen<br />

unternehmerische Initiative junger Menschen<br />

in ganz Italien etwas gebremst.<br />

Die gesamt italienischen Zahlen liegen<br />

leicht über den <strong>Süd</strong>tiroler Werten, doch<br />

sind in <strong>Süd</strong>tirol beispielsweise im Handwerkssektor<br />

mehr Jungunternehmen als<br />

im italienischen Durchschnitt tätig (5,6%<br />

gegenüber 4,3%). Die meisten jungen Betriebsinhaber<br />

in <strong>Süd</strong>tirol finden sich im<br />

Dienstleistungssektor (8,1%), etwas weniger<br />

im Baugewerbe (6,3%), im Tourismus<br />

(6,3%), im Handwerk (5,6%) und im<br />

Transportwesen (5%). Das Schlusslicht<br />

bildet die Landwirtschaft mit 2,3%.<br />

Die andere Seite der Medaille<br />

stellt die Zahl der über 70-jährigen Unternehmer<br />

dar, die sich zwar oft noch<br />

bester Gesundheit erfreuen, sich aber<br />

0 % 0 % 10 % 20 % 30 %<br />

über 70 Jahre,<br />

bis 30.9.2012<br />

Anteil der Unternehmer und Geschäftspartner unter 30 und über 70 Jahren nach Sektoren<br />

bis zum 30.09.2012 in Prozent Ausarbeitung: WIFO; Quellen: Infocamere<br />

auch zwangsläufig dem Karriereende<br />

nähern und häufig vor dem Problem der<br />

Nachfolge stehen. Zwischen 2009 und<br />

2012 ist der Anteil der über 70-Jährigen<br />

von 9,7% auf 10,9% gewachsen. Italien<br />

verzeichnet im selben Zeitraum eine<br />

Zunahme von 9,1% auf 9,8%. Der Sektor<br />

mit der höchsten Quote älterer Unternehmer<br />

ist die Landwirtschaft (15,6%),<br />

gefolgt von Tourismus (13,2%), Handwerk<br />

(8,6%), Tertiärsektor (8,2%),<br />

Handel (7,6%), Transport (6,9%) und<br />

Bausektor (3,2%).


„Das vielseitige Panorama steht in<br />

Zusammenhang mit den unterschiedli-<br />

chen historischen Entwicklungsphasen“,<br />

erklärt Studienleiter Georg Lun. „Im Tourismus<br />

zum Beispiel finden wir eine höhere<br />

Zahl reifer Inhaber, weil das Wachstum<br />

der Branche auf die 1970er- und<br />

1980er-Jahre zurückgeht. Gegenwärtig<br />

befinden wir uns in einer Periode vieler<br />

Unternehmensübergaben, die aber keine<br />

Neugründungen mit sich bringen. Im<br />

Handwerk und in den Dienstleistungen<br />

hingegen verzeichnen wir die größte<br />

Zahl neuer Unternehmen. Das ist nicht<br />

zuletzt der Arbeit des TIS innovation<br />

park zu verdanken, der Start-up-Initiativen<br />

mit seinem Gründerzentrum unterstützt.<br />

Insgesamt ist diese Tendenz auch<br />

ein Zeichen des Strukturwandels in der<br />

<strong>Süd</strong>tiroler Wirtschaft: Die Jungen schlagen<br />

jenen Kurs ein, der eine erfolgreiche<br />

Zukunft verspricht.“<br />

Die Autonome Provinz Bozen trägt<br />

ihren Teil bei, um das Entstehen neuer<br />

Unternehmen zu fördern. Das Maßnahmenpaket<br />

für die Wirtschaft, das von der<br />

Landesregierung Ende 2012 geschnürt<br />

wurde und seit Januar dieses Jahres in<br />

Kraft ist, sieht für neue Unternehmen<br />

die Annullierung der Wertschöpfungssteuer<br />

Irap für die ersten fünf Jahre<br />

ebenso vor wie Begünstigungen bei der<br />

Immobilienmiete (75% im ersten und<br />

Jahr für Jahr wird der<br />

Boden, auf dem die Unternehmer<br />

von morgen heranwachsen,<br />

durch die<br />

duale Ausbildung im Land<br />

und die Kombination von<br />

Schule und Arbeit in verschiedenenWirtschaftszweigen<br />

gedüngt.<br />

50% im zweiten Betriebsjahr), einen<br />

Risikokapitalfonds für technologieorien-<br />

tierte Unternehmen zur Finanzierung<br />

innovativer Ideen sowie Darlehen für<br />

Neugründer und Betriebsnachfolger. Die<br />

Handelskammer hat ihren Dienst zur<br />

Unternehmensgründung mit der kostenlosen<br />

Anfangsberatung weiter ausgebaut.<br />

Gesunde Wirtschaft<br />

Hat <strong>Süd</strong>tirol also einen fruchtbaren Boden<br />

geschaffen, damit sich das kreative<br />

Potenzial der jungen Unternehmer entfalten<br />

kann? „Ja“, ist Georg Lun überzeugt<br />

und nennt Gründe dafür: „Das<br />

Land kann auf das sehr hohe Schul- und<br />

Ausbildungsniveau der Jugend ebenso<br />

zählen wie auf eine dynamische Universität,<br />

die sich auf die Stärken <strong>Süd</strong>tirols<br />

konzentriert. Zudem leben wir in einer<br />

gesunden Wirtschaft.“ Auch das breite<br />

Netz öffentlicher Einrichtungen, die das<br />

Land bereitstellt, mache <strong>Süd</strong>tirol zum<br />

idealen Standort für den Beginn einer<br />

neuen unternehmerischen Tätigkeit. Zu<br />

diesen Organisationen, die das Wachstum<br />

der Unter nehmen Schritt für Schritt<br />

begleiten, gehören das TIS, wenn es um<br />

die Entwicklung und Umsetzung innovativer<br />

Ideen geht, die Standortagentur<br />

<strong>BLS</strong> (Business Location <strong>Süd</strong>tirol – Alto<br />

Adige) in allen Ansiedlungsbelangen<br />

und die Handelskammer in Bezug auf<br />

rechtliche und bürokratische Fragen. Im<br />

Export unterstützt die EOS (Export Organisation<br />

<strong>Süd</strong>tirol) Unternehmen, während<br />

die Eurac (Europäische Akademie<br />

Bozen) im Auftrag der Wirtschaft<br />

forscht.<br />

Dass es gerade in dieser Zeit der<br />

wirtschaftlichen Krise schwieriger geworden<br />

ist, eine Festanstellung im öffentlichen<br />

oder privaten Sektor zu erhalten,<br />

ist für Wirtschaftsforscher Lun kein<br />

Geheimnis. Aber darin erblickt er auch<br />

Chancen. „Die unternehmerische Selbstständigkeit<br />

bietet eine Alternative, um<br />

sich den eigenen Arbeitsplatz selbst zu<br />

schaffen“, sagt Lun und weist auf eine<br />

weitere Möglichkeit hin: die Übernahme<br />

eines bereits existierenden Unternehmens,<br />

das gegenwärtig von einem Inhaber<br />

höheren Jahrgangs mit Nachfolgeproblemen<br />

geführt wird. Dabei, erklärt<br />

Lun, handle es sich vor allem um Einzelunternehmen,<br />

die den Verlust von Humankapital,<br />

angesammeltem Know-how<br />

und ihrem Unternehmenswert riskieren,<br />

wenn innerhalb der Familie ein Nachfolger<br />

fehlt. Die Richtung, in die es also<br />

gehen muss, liegt für Georg Lun klar auf<br />

22 Unternehmen Junge <strong>Energie</strong><br />

der Hand: „Wir müssen den kleinen und<br />

jungen Unternehmen ein Wachstum hin<br />

zu einer Betriebsstruktur ermöglichen,<br />

die auch in Abwesenheit des Inhabers<br />

weiter funktioniert. Denn nachhaltiges<br />

Wachstum bedeutet höhere Innovationsund<br />

Exportfähigkeit.“<br />

Zwei Punkte gehen also aus der<br />

Untersuchung des Wirtschaftsforschungsinstituts<br />

hervor: Die Unternehmensgründung<br />

in <strong>Süd</strong>tirol ist vital und<br />

wird von den öffentlichen Stellen gut<br />

unterstützt. Zugleich gibt es viele Betriebe,<br />

in denen ein Nachfolger gesucht<br />

wird. Ein Unternehmen zu gründen<br />

oder zu übernehmen bedeutet, die unternehmerische<br />

<strong>Energie</strong> des Landes zu erneuern.<br />

Felice Espro (*1972), Leiter des Wirt-<br />

schaftsressorts des „Corriere dell’Alto<br />

Adige“ (Lokalausgabe des „Corriere<br />

della Sera“) in Bozen.<br />

Übersetzung: Silvia Oberrauch<br />

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Dieter Dürand<br />

Fest für die<br />

Sinne<br />

Fotos — Ewo<br />

Frontfrau und Schattenmann – Flora Kröss ist das Gesicht von<br />

Ewo und machte das Unternehmen weltweit bekannt; ihr Gatte<br />

Ernst Wohlgemuth ist der technische Genius hinter dem<br />

Projekt Foto: Ivo Corrà<br />

23 Dieter Dürand<br />

Künstliche Beleuchtung kann Wohlbehagen<br />

und Aggressionen wecken, aktiv<br />

oder träge machen, Schönes hervorheben<br />

und Hässliches in gnädiges Licht<br />

tauchen. Mit der neuen LED-Technik<br />

geht das kreativer, vielseitiger und sparsamer<br />

denn je. Der Mittelständler Ewo<br />

hat es dabei zu besonderer Perfektion<br />

gebracht – seine Installationen sind von<br />

Kopenhagen bis Dubai gefragt.<br />

Es gibt Orte voller Magie – und andere, an denen niemand<br />

Außergewöhnliches vermutet. In diese Kategorie fällt das<br />

Gewerbegebiet an der Brennerautobahn von Bozen nach<br />

Verona, das sich zwischen Apfelbaumwiesen versteckt.<br />

Reisende, die an der Ausfahrt Neumarkt abbiegen, interessieren<br />

sich womöglich für die Weingüter rund um den<br />

nahe gelegenen Kalterer See. Wohl niemand jedoch würde


die Industriegebäude ansteuern, die zur Gemeinde Kurtatsch<br />

gehören und sich neben dem Fluss Etsch in den<br />

Schatten der Berge ducken.<br />

Dabei könnte ein Abstecher durchaus aufregend<br />

werden. Zumindest für jene, die Licht fasziniert und die<br />

gerne historischen Momenten beiwohnen. Denn in einem<br />

der mehrstöckigen Gebäudekomplexe residiert Ewo: ein<br />

Unternehmen, das ambitioniert wie kein zweites den<br />

Sprung ins digitale Zeitalter der Beleuchtung vorantreibt.<br />

Der Übergang ist so spektakulär wie gut 30 Jahre zuvor die<br />

Ablösung der Transistoren in Computern durch Halbleiter.<br />

Er katapultiert die Beleuchtungstechnik auf eine neue Leistungsstufe<br />

und eröffnet bisher undenkbare Gestaltungsmöglichkeiten<br />

mit Licht – vor allem im Außenbereich, auf<br />

den sich Ewo spezialisiert hat. Für die Installationen der<br />

<strong>Süd</strong>tiroler begeistern sich Kunden in aller Welt: im arabischen<br />

Dubai ebenso wie im dänischen Kopenhagen oder<br />

im australischen Melbourne.<br />

Jene, die sich also schon mal ins Kurtatscher<br />

Gewerbegebiet verirrt haben, könnten<br />

an dem Firmensitz mit der auffälligen Glasfront<br />

und den Wasserbecken lernen, wie die<br />

Seiteneinsteiger es schaffen, obgleich nicht<br />

einmal 20 Jahre im Geschäft, Traditionskonzerne<br />

wie die Siemens-Tochter Osram oder die<br />

niederländische Philips bei Ausschreibungen<br />

regelmäßig auszustechen. Zudem würden sie<br />

erfahren, warum gerade Mittelständler häufig<br />

so viel kreative Kraft entfalten. Und als wäre all<br />

dies nicht genug, begegneten sie einer äußerst<br />

bemerkenswerten Frau, die das Unternehmen<br />

mit eben so viel Fantasie wie Tatkraft und Geschick<br />

zu seiner heutigen Bedeutung aufgebaut<br />

hat – parallel zu ihrem Job als dreifache<br />

Mutter. Daneben findet sie noch die Zeit, sich<br />

als Win zerin zu betätigen.<br />

Licht ist Psychologie und Wahrnehmung<br />

Doch der Reihe nach. Im gleichen Jahr, als Flora Kröss und<br />

Ernst Wohlgemuth 1984 im 20 Kilometer nördlich von Bozen<br />

gelegenen Sarnthein loslegen, regiert in den USA Ronald<br />

Reagan und zahlen wir noch mit D-Mark und Lira. Die<br />

Eheleute führen einen Metallverarbeitungsbetrieb, und<br />

bald bedrängen Architekten Wohlgemuth, die Beleuchtung<br />

für die Türen und Gitter mitzuentwerfen. Für seine Frau<br />

Flora ist es das Signal, einer inneren Berufung nachzugeben.<br />

„Ich war die treibende Kraft“, erinnert sie sich. Licht!<br />

Das ist für sie „Psychologie und Wahrnehmung“. Kröss<br />

fasziniert die Möglichkeit, Schönes mit der rechten Beleuchtung<br />

noch grandioser erscheinen zu lassen, Hässliches<br />

hingegen in gnädiges Licht zu tauchen. Sie beobachtet,<br />

wie Licht Wohlbehagen auslösen oder Aggressionen<br />

wecken kann, Menschen aktiver oder träger werden lässt.<br />

„Kein zweites Element ist in der Lage, unsere Stimmung<br />

ähnlich stark zu beeinflussen“, sagt sie.<br />

Mit ihrem Mann war sie sich einig: Wenn wir in das<br />

Geschäft einstiegen, dann richtig. Dann wollten sie nicht<br />

24 Unternehmen Fest für die Sinne<br />

nur Hauseingänge und Gartenwege illuminieren. Nein, dann<br />

wollten sie Straßen, Plätzen, am liebsten ganzen Ortschaften<br />

zu neuem Glanz verhelfen – mit formschönen Leuchten<br />

und perfektem Licht. Dazu wollten sie, die Neulinge, die<br />

beste Beleuchtungstechnik entwickeln und besser, kreativer,<br />

innovativer sein als die etablierte Konkurrenz. „Mit<br />

Nachäffen hätten wir keine Chance gehabt“, betont Kröss.<br />

Ihr Mann machte sich mit den neuesten Technologien<br />

vertraut: Lampentypen, Elektronik, Materialien, entwarf<br />

die ersten Produkte. Die Aufträge wurden rasch so<br />

zahlreich, dass Flora Kröss, die gelernte Bankkauffrau, entschied:<br />

Wir brauchen einen einprägsamen Markennamen.<br />

Sie gründeten 1996 Ewo. Sie wechselten aus dem Sarntal<br />

an den jetzigen Standort. Fortan galt ihre ganze Leidenschaft<br />

dem Licht.<br />

Individueller Glanz – in Kaltern betonen schief stehende Laternen<br />

den verwinkelten Charakter des Weinorts<br />

Als Erstes entwickelten sie raffinierte Lichtlenksysteme.<br />

Es genügt nämlich nicht, einen Platz, eine Straße<br />

oder ein Gebäude irgendwie zu erhellen. Die Kunst besteht<br />

vielmehr darin, das Licht mithilfe von Reflektoren exakt<br />

dorthin fallen zu lassen, wo es benötigt wird. Die hohe<br />

Lichtausbeute ermöglicht es, Lampen mit niedriger Wattzahl<br />

einzusetzen und den <strong>Energie</strong>verbrauch klein zu halten.<br />

Die Reflektoren sitzen entweder im Gehäuse, oder die<br />

Lampen strahlen spezielle Spiegelfelder an, die das Licht<br />

be sonders großräumig und punktgenau verteilen. Die<br />

Grenze von hell zu dunkel wirkt wie mit dem Lineal gezogen.<br />

Der Effekt: Straßenlaternen beleuchten wirklich nur<br />

Fußwege und Straßen und nicht die Schlafzimmer angrenzender<br />

Wohnhäuser.<br />

Schiefe Laternen und eine künstliche Sonne<br />

Um sich von der Konkurrenz abzuheben, setzen Kröss und<br />

Wohlgemuth neben Spitzentechnik auf Individualität. Die<br />

Kunden sagen, was sie wollen – Ewo entwickelt passende<br />

Lösungen: hochwertige, langlebige, originelle und dennoch


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Solide Handarbeit statt Massenproduktion – der Mittelständler<br />

konnte seinen Umsatz zuletzt um 30 Prozent steigern<br />

wirtschaftliche. „Diese Ideenvielfalt ist unsere eigentliche<br />

Stärke“, glaubt Flora Kröss. Für den <strong>Süd</strong>tiroler Weinort<br />

Kaltern bauten die Lichtspezialisten schiefe Straßenlaternen,<br />

die den verwinkelten Charakter des Ortskerns betonen.<br />

Für ein Einkaufszentrum im österreichischen Graz<br />

integrierten sie die Beleuchtung der Parkplätze in die gläsernen<br />

Aufzugtürme zu den Geschäften. Und auch das<br />

norwegische Finanzunternehmen Storebrand bekam ein<br />

Unikat: Die <strong>Süd</strong>tiroler realisierten für das Atrium am Osloer<br />

Firmensitz eine Art künstliche Sonne, die die Beschäftigten<br />

während der düsteren Wintermonate in fröhliche<br />

Stimmung versetzen soll.<br />

Maßgeschneiderte Toptechnik – mit dieser Kombination<br />

schlagen Kröss und Wohlgemuth ein ums andere Mal<br />

die Konkurrenz aus dem Feld. Bei einer Ausschreibung des<br />

Münchner Flughafens setzten sie sich gegen mehr als 100<br />

Mitbewerber durch. „Der kleine Italiener hat es wieder einmal<br />

geschafft“, freut sich Kröss über den Coup und strahlt<br />

übers ganze Gesicht. Ewo bot als einziges Unternehmen<br />

Lichtmasten an, die die Parkplätze für die Flugzeuge in<br />

zwei Richtungen ausleuchten. Der Flughafen braucht so<br />

weniger Fluter anzuschaffen und der Installationsaufwand<br />

reduziert sich. Bei Stückpreisen von bis zu 200.000 Euro<br />

sinken die Kosten merklich, zumal der <strong>Süd</strong>tiroler Mittelständler<br />

seine Systeme ausschließlich mit Licht emittierenden<br />

Dioden ausrüstet, kurz LED genannt. Die Technik läutet<br />

eine neue Ära ein: Licht lässt sich damit fast beliebig<br />

va riieren und integrieren, ob in Fassaden, Tapeten, Möbel<br />

oder in neuartige Lampentypen. Das eröffnet Architekten<br />

und De signern eine Fülle zusätzlicher Gestaltungsoptionen.<br />

Und wichtiger noch: Erstmals seit der Mensch mit<br />

dem Feuer Licht in die Dunkelheit brachte, ist er mit den<br />

Leuchtdioden in der Lage, sein Leben auf ziemlich nachhaltige<br />

Weise zu erhellen.<br />

25 Dieter Dürand<br />

Wie groß der Fortschritt ist, wird im Rückblick klar:<br />

Kerzen, Öllampen und Fackeln erzeugten vor allem eines<br />

– Wärme. Das Licht war ein Nebenprodukt, das flackerte,<br />

wie es wollte. In seinem Schein zu arbeiten, ist mühsam<br />

und es strengt die Augen an. Die Glühbirne, die Thomas<br />

Edison 1880 patentieren ließ, spendet zwar konstantes und<br />

helles Licht. Doch der Strom, der ihren Wolfram-Faden<br />

zum Glühen bringt, setzt zu 95 Prozent gleichfalls vor allem<br />

Wärme frei. Und der Faden ist nach wenigen hundert Betriebsstunden<br />

durchgebrannt. Heutige <strong>Energie</strong>sparlampen,<br />

die ein Gemisch aus Edelgasen zünden, halten zwar deutlich<br />

länger und produzieren die gleiche Menge Lichtstrom<br />

mit rund einem Fünftel weniger <strong>Energie</strong>. Doch auch das<br />

verblasst gegen die Eigenschaften der Leuchtdioden. Ihre<br />

Halbleiter-Kristalle, die bei Stromdurchfluss aufleuchten,<br />

spenden einige tausend Stunden Helligkeit. Und sie wandeln<br />

fast die Hälfte der zugeführten <strong>Energie</strong> in Licht um.<br />

Der Effekt: Eine 3-Watt-LED ersetzt eine 11-Watt-<strong>Energie</strong>sparlampe<br />

oder eine 60-Watt-Glühbirne. Überdies geben<br />

die Leuchtdioden Farben am naturgetreuesten wieder, ihre<br />

Lichtanteile und Farbtöne können variiert werden, sie sind<br />

nach dem Einschalten sofort hell, können gedimmt werden<br />

und sind winzig wie der Fingernagel eines Neugeborenen.<br />

Bodenständigkeit und Weltläufigkeit,<br />

gepaart mit dem Mut, ständig Neues<br />

zu wagen – diese Pole haben Ewo groß<br />

gemacht.<br />

Auf dem neuesten Stand der Technik – mit seinen elektronischen<br />

Steuergeräten konkurriert Ewo gegen den Multi Philips<br />

Siegeszug der leuchtenden Halbleiter<br />

In Displays, Fernsehgeräten und Autoscheinwerfern haben<br />

die leuchtenden Halbleiter ihren Siegeszug schon angetreten.<br />

Ernst Wohlgemuth und seine Frau Flora erschließen<br />

ihr Potenzial für die Außenbeleuchtung. Vor sechs Jahren<br />

begannen sie mit dieser Lichtquelle zu experimentieren;<br />

seit vier Jahren haben sie alle Produkte darauf umgestellt.<br />

Heute sind sie Vorreiter in der grünen Lichttechnologie.


„Den Großen eine gute Nasenlänge voraus“, sagt Wohlgemuth<br />

selbstbewusst. Zum Beispiel mit ihrer zertifizierten<br />

Leuchteneinheit, bestehend aus drei Linsenoptiken für die<br />

Lichtlenkung, dem Gehäuse und der LED-Platine. Sie ist<br />

der Grundbaustein, aus dem die <strong>Süd</strong>tiroler Lichtschöpfer<br />

ihre Systeme flexibel der jeweiligen Aufgabe anpassen. Sie<br />

können die Platine mit drei oder sechs Leuchtdioden bestücken<br />

und zwischen vier Optiken wählen. Die Standardisierung<br />

erhöht die Zuverlässigkeit der Lampen und senkt zugleich<br />

deren Herstellungskosten. Dank des modularen Aufbaus<br />

können die Ewo-Techniker Leuchten in fast jeder beliebigen<br />

Größe konstruieren – vom Straßenpoller bis zum<br />

Hochlichtmast. Defekte Teile lassen sich leicht austauschen<br />

und die langlebigen Systeme können immer auf dem<br />

neuesten Stand der Technik gehalten werden.<br />

Seit Kurzem baut Ewo auch die elektronischen Steuergeräte<br />

für die Leuchten selbst – das Kernstück jedes<br />

Lichtsystems. Vorher hatten die <strong>Süd</strong>tiroler diese sogenannten<br />

Driver von Philips bezogen. Die Steuergeräte können so<br />

programmiert werden, dass sie die Lichtstärke abhängig<br />

von der natürlichen Helligkeit regulieren. Ewos Entwicklung<br />

kann besonders hohe Spannungen schalten, was die<br />

Lichtausbeute bei sinkendem Stromverbrauch laut Wohlgemuth<br />

nochmals um rund 10 Prozent erhöht. Seine<br />

Leuchten sind wahre Sparwunder: In manchen Projekten<br />

erreichen die Kurtatscher Stromeinsparungen von 60 Prozent<br />

und mehr gegenüber der Ausgangssituation. Heute<br />

wird weltweit noch jede fünfte Kilowattstunde für die Beleuchtung<br />

verbraucht. Der flächendeckende LED-Einsatz<br />

würde allein in Deutschland zwei Großkraftwerke überflüssig<br />

machen; innerhalb der EU würde die Stromrechnung<br />

laut einer Studie der Unternehmensberatung McKinsey um<br />

nahezu 15 Milliarden Euro im Jahr sinken. Um die Spartechnik<br />

voranzubringen, verkaufen Wohlgemuth und Kröss<br />

ihre Innovationen über die Tochtergesellschaft cor light<br />

auch an die Konkurrenz.<br />

26<br />

Unternehmen Fest für die Sinne<br />

Die Welt ist die Bühne<br />

Die Kunst guter Beleuchtung<br />

– das Licht soll einen<br />

Platz nicht einfach irgendwie<br />

erhellen, sondern genau<br />

dorthin fallen, wo es<br />

benötigt wird<br />

Den Driver haben die beiden Lichtpioniere mit dem Bozner<br />

Elektronikspezialisten Alpitronic entwickelt. Die Kooperation<br />

ist ein Beispiel dafür, wie ernst sie das Nachhaltigkeitsmotto<br />

„Think global, act local“ nehmen. Zum Lokalen gehört,<br />

dass sie ihre Montagehalle direkt neben die Fabrik der<br />

Lodola GmbH gesetzt haben. Verbunden über einen Tunnel,<br />

schicken sie Masten und Gehäuse zum Beschichten an<br />

das Partnerunternehmen. „Auf diese Weise bleibt ein großer<br />

Teil der Wertschöpfung in der Region“, sagt Flora<br />

Kröss. Beim Verkaufen ist die Welt ihre Bühne. Dann geht<br />

Arabische Morgenröte – für die Festival City von Dubai kreierte<br />

Ewo mit dem US-Designstudio Visual Terrain Masten mit eigenwilliger<br />

Formensprache


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das Ehepaar mit führenden Lichtgestaltern in Klausur, um<br />

ungewöhnliche und herausragende Lösungen zu erarbeiten.<br />

Die Ergebnisse machen oft genug Schlagzeilen. So<br />

war es, als die <strong>Süd</strong>tiroler für den Retortenstadtteil Festival<br />

City von Dubai am Persischen Golf mit dem amerikanischen<br />

Licht-Designstudio Visual Terrain aus Los Angeles<br />

Masten mit einer eigenwilligen Formensprache entwickelten:<br />

Die Straßenlaternen sind wie eine Helix gestaltet, halten<br />

gleich vier Lampengehäuse und verleihen dem Stadtteil<br />

mit ihrem markanten Stil einen unverwechselbaren Charakter.<br />

Ähnlich viel Aufsehen weckte das Lichtsystem, das Ewo<br />

mit dem dänischen Architekturbüro 3XN und dem britischen<br />

Lichtkünstler Steven Scott für die Weltklimakonferenz<br />

2009 in Kopenhagen entwarf: Integrierte Solarzellen<br />

erzeugen einen Teil der benötigten <strong>Energie</strong> selbst.<br />

Bodenständigkeit und Weltläufigkeit, gepaart mit<br />

dem Mut zu Neuem – diese Pole haben Ewo groß gemacht.<br />

Weil sie die Fäden in der Hand halten, können Kröss und<br />

ihr Mann wendiger als Großunternehmen auf neue Entwicklungen<br />

reagieren. Und die Zukunft sieht rosig aus.<br />

Nach McKinsey-Schätzungen wächst der weltweite LED-<br />

Markt bis 2020 auf 64 Milliarden Euro – gegenüber 9 Milliarden<br />

Euro 2011. Am meisten von dem Boom profitieren<br />

werden nach Meinung der Berater von A. T. Kearney Unternehmen,<br />

die drei Erfolgsfaktoren erfüllen: gutes Design,<br />

hohes Innovationstempo und Technologieführerschaft.<br />

Klingt nach Ewo. Tatsächlich konnten die Kurtatscher 2012<br />

das erfolgreichste Jahr ihrer Unternehmensgeschichte feiern:<br />

Der Umsatz stieg um 30 Prozent und knackte erstmals<br />

die 10-Millionen-Euro-Marke. Statt einst 2 beschäftigt der<br />

Mittelständler heute mehr als 50 Menschen.<br />

27<br />

Erfüllung eines Lebenstraumes<br />

Doch Kröss will nicht um jeden Preis wachsen. Solide Finanzen<br />

sind ihr wichtiger. Statt eine Produktion in industriellem<br />

Maßstab aufzuziehen, setzt sie lieber auf handwerklich<br />

hochwertige Einzelanfertigungen. Als Kind träumte<br />

Kröss davon, Ärztin zu werden. Mit Ewo hat sie sich einen<br />

anderen Lebenstraum erfüllt. Sich als Frau in diesem technisch<br />

geprägten Metier durchgesetzt zu haben, darauf ist<br />

sie stolz. Und auch wenn Tochter Verena und Sohn Hannes<br />

in den nächsten Jahren in die Führungsrolle schlüpfen sollen:<br />

Noch hat die Fast-Mittfünfzigerin große Pläne. Ob historische<br />

Gebäude, Straßen, Plätze, Häfen, Flugplätze, Stadien,<br />

U-Bahnen oder Tunnel – überall wittert sie Chancen,<br />

diese mit der passenden Beleuchtung zu einem Fest der<br />

Sinne zu machen. Eine dieser Herausforderungen, die sie<br />

reizen, wäre es, Mekka, wo die höchsten islamischen Heiligtümer<br />

stehen, mit Leuchten aus <strong>Süd</strong>tirol zu erhellen. Um<br />

bei der Ausschreibung berücksichtigt zu werden, hat sie<br />

sich sogar mit der Niqab verhüllt. Anders wäre sie nach<br />

Saudi-Arabien nicht hineingekommen. Doch schon allein,<br />

dass die Scheiche eine Frau als Verhandlungspartner akzeptierten,<br />

war ein Triumph. Flora Kröss hat ihren Kopf wieder<br />

einmal durchgesetzt. So zeigt sich am Ende: Auch unscheinbare<br />

Orte können magische Geheimnisse bergen.<br />

Dieter Dürand Simone Treibenreif<br />

Simone Treibenreif<br />

Habitat für<br />

innovative<br />

Technologien<br />

Als Einzelexemplar in einer kargen Landschaft<br />

zu bestehen, ist für Tiere und<br />

Pflanzen schwer – ebenso wie für Unternehmen:<br />

Ein innovatives und kreatives<br />

Umfeld kann die eigene Entwicklung vorantreiben<br />

und Neues hervorbringen. Dass<br />

<strong>Süd</strong>tirol gerade auch für technologiegetriebene<br />

Unternehmen ein geeignetes<br />

Habitat bietet, zeigt ein Blick ins Land.<br />

Audi hat „Vorsprung durch Technik“<br />

mit Spoilern und Heckflügeln aus<br />

<strong>Süd</strong>tirol, Roboter aus <strong>Süd</strong>tirol bereiten<br />

rund um den Erdball Chemotherapeutika<br />

zu und Steuerungssysteme für die adaptive<br />

Optik von Teleskopen der US-Raumfahrtbehörde<br />

NASA stammen aus <strong>Süd</strong> tirol<br />

– die Unternehmen, die das Know-how für<br />

diese hoch entwickelten Produkte haben,<br />

sind der Automobil zulieferer Autotest<br />

(Lana), der Medizintechnik-Experte Health<br />

Robotics und das Elektronikunternehmen<br />

Microgate (beide Bozen). Es sind nur drei<br />

Beispiele aus einer Vielzahl von <strong>Süd</strong>tiroler<br />

Hightech-Firmen, deren Erzeugnisse international<br />

sehr gefragt sind. 24 solcher<br />

Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen<br />

haben sich zum Exzellenznetzwerk<br />

Leaders zusammengeschlossen, um den<br />

Wissensaustausch untereinander zu fördern<br />

und Synergien zu erzeugen. Was die<br />

Leaders-Mitglieder eint? Sie sehen sich<br />

als Unternehmen der Zukunft, die vorausschauend<br />

handeln, innovativer sind als<br />

von ihren Kunden erwartet, global erfolgreich<br />

sowie revolutionär sind und sich


Das Know-how in den Bereichen grüne <strong>Energie</strong><br />

und <strong>Energie</strong>effizienz, das sich in den vergangenen<br />

Jahren in <strong>Süd</strong>tirol entwickelt hat, lockt auch innovative<br />

Unternehmen von außerhalb an.<br />

nachhaltig für die Gesellschaft engagie-<br />

ren. Andere Unternehmen und interes-<br />

sierte Private auf ihr Innovationspotenzial<br />

aufmerksam gemacht und Kooperationsmöglichkeiten<br />

ausgelotet haben auch jene<br />

100 <strong>Süd</strong>tiroler Firmen, die das erste Innovationsfestival<br />

im Land mitgestaltet haben.<br />

Das dreitägige Festival unter dem<br />

Motto „Neue <strong>Energie</strong>n“ fand im September<br />

2012 in und um Bozen statt: An 14<br />

Standorten ging es in 50 Veranstaltungen<br />

um Forschung, neue Technologien und<br />

Wirtschaftsethik; 25.000 Besucher wurden<br />

gezählt.<br />

Mehrere Forschungseinrichtungen<br />

Das Know-how in den Bereichen grüne<br />

<strong>Energie</strong> und <strong>Energie</strong>effizienz, das sich in<br />

den vergangenen Jahren in <strong>Süd</strong>tirol entwickelt<br />

hat, lockt auch innovative Unternehmen<br />

von außerhalb an. So wird der<br />

international tätige <strong>Energie</strong>riese Enel<br />

Green Power in Bozen ein Forschungszentrum<br />

errichten. In diesem sollen neue<br />

Technologien zur Nutzung erneuerbarer<br />

<strong>Energie</strong>n getestet und zur Serienreife<br />

gebracht werden – in engem Kontakt zu<br />

heimischen Forschungseinrichtungen<br />

und Unternehmen.<br />

Es gibt in <strong>Süd</strong>tirol mehrere Forschungseinrichtungen,<br />

die die Innovationskraft<br />

der ansässigen Unternehmen<br />

unterstützen und ergänzen: Zu nennen<br />

sind das Fraunhofer Innovation Engineering<br />

Center (IEC), eines von weltweit insgesamt<br />

60 Instituten der Fraunhofer-<br />

Gesellschaft, der größten Einrichtung für<br />

angewandte Forschung in Europa; weiters<br />

die Europäische Akademie Bozen<br />

(Eurac), die besonders für den Sektor<br />

<strong>Energie</strong> ein potenzieller Partner für Unternehmen<br />

ist; aber natürlich auch die<br />

Freie Universität Bozen, die Netzwerkinstitution<br />

TIS innovation park, das landund<br />

forstwirtschaftliche Versuchszentrum<br />

Laimburg sowie der Schadstoffspezialist<br />

Eco-Research. TIS, Fraunhofer,<br />

Eurac, Universität Bozen, das Institut für<br />

innovative Technologien (arbeitet am<br />

<strong>Süd</strong>tiroler Wasserstoffprojekt) und die<br />

KlimaHaus-Agentur (ist im Bereich nachhaltiges<br />

Bauen tätig) sollen demnächst<br />

in einem in Bozen geplanten Technologiepark<br />

näher zusammenrücken. Auch<br />

private Unternehmen haben die Möglichkeit,<br />

dort ihre F&E-Einrichtungen unterzubringen.<br />

Die Landesregierung hat die<br />

Umsetzung des Parks auf einer Fläche<br />

von 12 Hektar beschlossen. Erste Büros<br />

und Labors werden voraussichtlich ab<br />

Herbst 2015 bezogen.<br />

Schwerpunkt der Einrichtung wird<br />

der Sektor Green, dazu gehören <strong>Energie</strong>,<br />

Lebensmittel und nachhaltige Technologien.<br />

Passend zum Schwerpunkt ist das<br />

energetische Konzept des Technologieparks,<br />

nämlich nachhaltige Architektur.<br />

Die historischen Gebäude des Komplexes,<br />

in dem der Park untergebracht wird,<br />

werden so saniert, dass sie gute <strong>Energie</strong>sparwerte<br />

erzielen können. Das neue Gebäude<br />

hingegen ist als Net Zero Energy<br />

Building (NZEB) konzipiert, was bedeutet,<br />

dass es im Grunde das konsumiert,<br />

was es auch produziert.<br />

Das gemeinsam von Eurac, Provinz<br />

Bozen, dem Bozner Architekturbüro Claudio<br />

Lucchin und internationalen Partnern<br />

initiierte Projekt erhielt durch das 7. europäische<br />

Forschungsrahmenprogramm<br />

eine EU-Förderung von 1,2 Millionen Euro<br />

und wurde als eines der besten vier Projekte<br />

auf EU-Ebene bewertet.<br />

Innovative und junge Köpfe<br />

Dass den <strong>Süd</strong>tirolern die Ideen und das<br />

Interesse für Forschung und Innovation<br />

nicht ausgehen, stellt auch der Nachwuchs<br />

immer wieder unter Beweis. So<br />

durften im Januar 2013 Valentin Kager,<br />

Patrik Rosanelli, David Gamberoni und<br />

Alessandro Mich – die Gruppe setzt sich<br />

aus einem Entwickler, zwei Unternehmern<br />

sowie einem Studenten zusammen,<br />

alle im Alter von 26 bzw. 27 Jahren – ihr<br />

Projekt Eco-Farming in Rom der Regierung<br />

und potenziellen Investoren aus der<br />

Wirtschaft vorstellen. Eco-Farming ba-<br />

28 Unternehmen Habitat für innovative Technologien<br />

siert auf einer neuen Technologie, durch<br />

die Garnelen auf biologische Weise unter<br />

Verwendung von Mikroorganismen und<br />

ohne Zusatz von Medikamenten und<br />

Chemikalien gezüchtet werden können.<br />

Diese neue Technologie wurde mithilfe<br />

der Erfahrungen von Garnelenexperten in<br />

Italien, Mexiko, den Niederlanden und<br />

Belgien entwickelt.<br />

Die Möglichkeit der Präsentation<br />

in Rom sicherten sich die jungen <strong>Süd</strong>tiroler<br />

bei „ItaliaCamp“, einem gesamtstaatlichen<br />

Wettbewerb für Forscher, Entwickler<br />

und Tüftler, bei dem ihr Projekt unter<br />

700 eingereichten Ideen ausgewählt<br />

wurde.<br />

Auch Unternehmen von außerhalb<br />

werden in das Innovationsnetzwerk <strong>Süd</strong>tirol<br />

eingebunden, das bestätigt zum Beispiel<br />

Aldo Longana, Geschäftsführer des<br />

EDV-Entwicklers AceIT srl in Bozen, eines<br />

Spin-offs eines Unternehmens aus<br />

der Lombardei. „Dank der Networking-<br />

Fähigkeiten des TIS hatten wir innerhalb<br />

kürzester Zeit nach der Unternehmensgründung<br />

bereits Kontakte mit mehreren<br />

<strong>Süd</strong>tiroler Firmen, die in unseren Kompetenzen<br />

Entwicklungspotenzial für ihre<br />

eigene Tätigkeit gesehen haben“, so Longana.<br />

Es sind dies nur einige Momentaufnahmen<br />

des Innovations-Ökosystems in<br />

<strong>Süd</strong>tirol, doch sie zeigen auf, wie aktiv es<br />

sich weiterentwickelt und welche Chance<br />

es bietet.<br />

Simone Treibenreif (*1977), seit 2010<br />

Redakteurin der „<strong>Süd</strong>tiroler Wirtschafts-<br />

zeitung“.<br />

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29<br />

Ulrike Sauer<br />

Italien: <strong>Energie</strong>riese<br />

ohne Regie<br />

Infografik — Simone Vollenweider<br />

Autor


Arbeiter des Unternehmens Soleto Città del Sole auf einem<br />

12 Hektar großen Fotovoltaikfeld in der süditalienischen Provinz<br />

Lecce<br />

In 60 Metern Höhe schwebt die 340.000 Tonnen schwere<br />

Stahlbrücke über dem Mittelmeer. Sie überspannt die<br />

Straße von Messina zwischen Sizilien und der Stiefelspitze<br />

auf 3,3 Kilometern Länge – allerdings nur im Werbefilm.<br />

Das gigantische Prestigeprojekt von Silvio Berlusconi,<br />

Phantom vieler Wahlkämpfe, ist endgültig begraben. Dafür<br />

wird ein anderer Brückenschlag Realität. Das weltweit<br />

längste verlegte Unterseekabel zum Transport von Wechselstrom<br />

bindet künftig das Wind- und Sonnenkraft-Dorado<br />

Sizilien ans Festland an. 700 Millionen Euro investiert<br />

der römische Netzbetreiber Terna gerade in die „Brücke der<br />

<strong>Energie</strong>“, die modernste elektrische Infrastruktur Italiens.<br />

Die neue Stromtrasse auf dem Meeresgrund ist nur<br />

ein kleiner Teil der Modernisierungsvorhaben von Terna.<br />

Mit insgesamt sieben Milliarden Euro soll Italiens Netz<br />

hochgerüstet werden. Viele Projekte befinden sich in der<br />

Planung – zum Beispiel der Bau von zwei Hochspannungsleitungen<br />

auf Sizilien. Keine Frage: Der Ökostromboom hat<br />

Italien unter Zugzwang gesetzt. Denn der rapide ansteigende<br />

Beitrag des grünen Stroms sorgt für Probleme, etwa<br />

in der Weiterleitung. Italien steht in den kommenden Jahren<br />

vor enormen Veränderungen, prophezeit darum die<br />

Aufsichtsbehörde für <strong>Energie</strong> in Rom. „Bislang war die<br />

stürmische und unplanmäßige Entwicklung der erneuerbaren<br />

<strong>Energie</strong>n der wesentliche Driver des Strommarktes“,<br />

konstatieren die Aufseher. Nun stößt das unkoordinierte<br />

Wachstum an seine Grenzen.<br />

Denn auf eine nationale <strong>Energie</strong>strategie wartet man<br />

in Italien wie bei Samuel Beckett auf Godot. Ein längst in<br />

Vergessenheit geratener Industrieminister legte vor einem<br />

Vierteljahrhundert die Grundsätze der <strong>Energie</strong>politik fest.<br />

Qualitätskontrolle in einer Barilla-Fabrik. Nudelkönig Guido Barilla:<br />

„Die exorbitanten <strong>Energie</strong>preise sind unser größtes Handycap.“<br />

Das war 1988. Seither drückt sich Rom vor der Planung.<br />

Zwar versprach jede italienische Regierung in der Vergangenheit,<br />

die Säumnis schleunigst zu beenden. Doch nichts<br />

geschah.<br />

30 Unternehmen Italien: <strong>Energie</strong>riese ohne Regie<br />

Für seine notorische Zukunftsvergessenheit bezahlt<br />

Italien einen hohen Preis – auch in der <strong>Energie</strong>versorgung.<br />

Das rohstoffarme Mittelmeerland ist extrem abhängig vom<br />

Import: 84 Prozent des <strong>Energie</strong>bedarfs werden durch Einfuhren<br />

aus dem Ausland gedeckt. Der EU-Durchschnitt<br />

liegt bei 53 Prozent. So kostet eine Megawattstunde Strom<br />

in Italien 41 Prozent mehr als in Deutschland. „Die exorbitanten<br />

<strong>Energie</strong>preise sind unser größtes Handicap“, sagt<br />

Nudelkönig Guido Barilla. Die Klage des Weltmarktführers<br />

aus Parma teilen viele Unternehmer auf dem Apennin. Inzwischen<br />

ist der Leidensdruck so hoch, dass sich die Politik<br />

dem Handlungsbedarf nicht mehr entziehen kann. Boxt<br />

nicht ein Aufschwung das Land aus zwei Jahrzehnten Stagnation<br />

und Rezession, gibt es für Italien kein Entrinnen<br />

aus der Schuldenkrise. Godot ante portas also?<br />

Ambitionierter Plan<br />

Die Notregierung von Wirtschaftsprofessor Mario Monti<br />

unternahm im Herbst 2012 einen Anlauf, dem vergeblichen<br />

Warten ein Ende zu bereiten. Industrieminister Corrado<br />

Passera legte im Oktober eine Nationale <strong>Energie</strong>strategie<br />

(SEN) vor. Erklärtes Ziel: Bis 2020 soll sich Italien von den<br />

überhöhten Stromtarifen befreien. Die Verbraucher zahlen<br />

im Schnitt 25 Prozent mehr für <strong>Energie</strong> als ihre europäi-


schen Nachbarn. Die Rechnung für <strong>Energie</strong>importe<br />

soll um 14 Milliarden Euro im<br />

Jahr fallen.<br />

Erreichen wollte die Regierung<br />

Monti die Nivellierung der Stromkosten<br />

mit Liberalisierungen, der Steigerung<br />

der <strong>Energie</strong>effizienz, der Erhöhung der<br />

Erdöl- und Gasförderung im eigenen<br />

Land und dem weiteren Ausbau des<br />

Ökostroms. Man nahm sich vor, den Anteil<br />

der regenerativen <strong>Energie</strong>n am Bruttoendkonsum<br />

bis 2020 auf 20 Prozent<br />

zu verdoppeln. In der Stromerzeugung<br />

sollen grüne <strong>Energie</strong>quellen mit 38 Prozent<br />

den wichtigsten Beitrag leisten. So<br />

ließe sich die Emission von Treibhausgasen<br />

bis 2020 um 19 Prozent senken. Die<br />

Umsetzung des <strong>Energie</strong>konzepts soll<br />

Investitionen von mindestens 180 Milliarden<br />

Euro anschieben. Fatih Birol, Chef<br />

der Internationalen <strong>Energie</strong>agentur<br />

(IEA), lobte: „Der Plan ist ambitioniert<br />

und geht über die europäischen Klimaziele<br />

hinaus. Seine Erfüllung hängt von<br />

der Durchsetzung adäquater Governance-Strukturen<br />

und von angemessenen<br />

Fördermaßnahmen ab, vor allem im<br />

Gebäudesektor.“ Birols Fazit: Der Plan<br />

sei ehrgeizig, aber realisierbar.<br />

Monti und Passera priesen ihre<br />

<strong>Energie</strong>strategie als ein Schlüsselprojekt<br />

zur Modernisierung des krisengebeutelten<br />

Landes. Nachhaltiges Wachstum sei<br />

nur über eine grundlegende Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit<br />

des italienischen Wirtschaftssystems zu<br />

erreichen. „Die <strong>Energie</strong>branche ist sicher einer der entscheidenden<br />

Wachstumsfaktoren“, hieß es in dem Strategieplan<br />

der Regierung, dem ersten nach 25 Jahren. Man wollte ihn<br />

Anfang 2013 verabschieden und als „bindendes Vermächtnis“<br />

hinterlassen. Doch als Monti die Mehrheit im Parlament<br />

verlor, weil Silvio Berlusconi ihm die Gefolgschaft aufkündigte,<br />

trat er kurz vor Weihnachten zurück. So blieb die<br />

<strong>Energie</strong>strategie auf der Strecke. Wieder einmal.<br />

In Deutschland zog die schwarz-gelbe Koalition da<br />

gerade eine Zwischenbilanz ihrer <strong>Energie</strong>wende. Zwei Tage<br />

vor dem Abtritt Montis legten die federführenden Minister<br />

in Berlin den ersten Regierungsbericht zu ihrer wichtigsten<br />

innenpolitischen Herausforderung vor. Anderthalb Jahre<br />

nach dem Doppelbeschluss über den Atomausstieg und<br />

den Abschied von fossilen <strong>Energie</strong>trägern stellten sie sich<br />

beste Noten aus – das Urteil hochrangiger Experten fiel<br />

weniger schmeichelhaft aus. Doch die Kluft in der <strong>Energie</strong>politik<br />

beider Länder manifestierte sich anschaulich: Im<br />

<strong>Nord</strong>en sind die Planer und Organisatoren am Zug – im<br />

<strong>Süd</strong>en die Improvisation. In Italien gibt es keine öffentliche<br />

<strong>Energie</strong>debatte, dafür ein ständiges Stop-and-Go, große<br />

Unsicherheit und viele Hürden. Doch siehe da: Der Umbau<br />

der Stromversorgung ist trotzdem in vollem Gange –<br />

31 Ulrike Sauer<br />

typisch Italien. Und die Chancen auf eine effizientere Gestaltung<br />

des <strong>Energie</strong>wandels stehen jetzt besser denn je.<br />

Die EU-Richtlinien für den Klimaschutz verlangen<br />

von Italien, dass bis 2020 erneuerbare <strong>Energie</strong>n 17 Prozent<br />

des gesamten <strong>Energie</strong>verbrauchs decken. Beim Strom<br />

steigt dieser Anteil auf 26 Prozent. Diese Ziele erfüllt das<br />

Land bereits heute. Im Wettlauf um saubere <strong>Energie</strong>n stieß<br />

das spät gestartete Italien ins Spitzenfeld vor, auf Platz<br />

zwei hinter Deutschland. Dank der großzügigsten Fördersätze<br />

Europas kam der Ausbau der Erneuerbaren 2007<br />

kräftig in Schwung.<br />

Besonders rasant entwickelte sich die Fotovoltaikbranche.<br />

2011 etwa schnellte die Solarstromproduktion von<br />

weniger als 2.000 Gigawattstunden auf 10.700 Gigawattstunden<br />

(GWh) hoch. Das war ein Plus von 463 Prozent. Es<br />

brachte den Sonnenfängern erstmals einen Vorsprung vor<br />

der Windkraft.<br />

Die Erneuerbaren kommen insgesamt gut voran.<br />

Zwischen 2008 und 2011 stieg die Produktion von grünem<br />

Strom um 45 Prozent auf 84.000 GWh. Sonne, Wind und<br />

Biomasse liegen mit jeweils mehr als 10.000 GWh in etwa<br />

gleichauf. Noch ist der Anteil der traditionell stark genutz-<br />

Biogasanlage zur Stromherstellung in der Nähe der norditalienischen<br />

Stadt Treviso<br />

ten Wasserkraft viermal so hoch. Nach Angaben der Behörde<br />

für die Förderung grüner <strong>Energie</strong>n GSE in Rom<br />

deckten die Erneuerbaren 2011 bereits 24 Prozent des<br />

Stromverbrauchs. So wird die Branche auch in Italien zunehmend<br />

zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor. Anfang<br />

2012 beschäftigten 100.289 Unternehmen in der<br />

Ökostrombranche 369.231 Mitarbeiter, meldet die italienische<br />

Handwerkskammer Confartigianato. Man rechnet<br />

weiterhin mit einem enormen Wachstumspotenzial. Allein<br />

im Bereich der Gebäudesanierung und -effizienz erwartet<br />

die italienische Ingenieurkammer 2020 die Beschäftigung<br />

von 600.000 Menschen.<br />

Erfolg trotz Mangel an Regie<br />

Vorreiter waren schon vor 20 Jahren am Werk. In Varese<br />

Ligure zum Beispiel. In diesem abgelegenen Winkel Liguriens<br />

begann die <strong>Energie</strong>wende in den 1990er-Jahren. Lokalpolitiker<br />

entschieden sich für eine kombinierte Nutzung


„Alle Möglichkeiten nutzen“. Michela Marcone, Bürgermeisterin<br />

von Varese Ligure. Die <strong>Energie</strong>wende im Apenninendorf begann<br />

schon in den 1990er-Jahren<br />

von Wind, Wasser und Sonne. So wurde Varese Ligure<br />

zur Avantgarde im Kampf gegen den Klimawandel. „Wir<br />

glaubten hier, dass es fahrlässig wäre, nicht alle Möglichkeiten<br />

zu nutzen“, sagt die Bürgermeisterin Michela Marcone.<br />

Varese Ligure produziert seither ein Vielfaches der<br />

<strong>Energie</strong>, die es verbraucht. 2004 zeichnete die EU-<strong>Energie</strong>kommissarin<br />

Loyola de Palaciodas das mittelalterliche<br />

Apenninendorf mit dem Preis „100 Prozent erneuerbar“<br />

in der Kategorie ländliche Gemeinden für sein <strong>Energie</strong>konzept<br />

aus. Heute überrascht Italien mit der breiten Streuung<br />

der 500.000 Anlagen zur alternativen Stromerzeugung,<br />

die in über 95 Prozent der italienischen Gemeinden<br />

betrieben werden.<br />

Der Erfolg der erneuerbaren <strong>Energie</strong>n überdeckt<br />

den Mangel an Regie. Planlosigkeit prägt die Entwicklung<br />

in Italien. Koordination und Kooperation finden kaum statt.<br />

Das macht sich sehr nachteilig bemerkbar in den Bereichen<br />

<strong>Energie</strong>effizienz, Netzausbau und Speicherung – den<br />

großen Herausforderungen der Zukunft. Unentwegt klagt<br />

die Ökostrombranche über bürokratische Hürden, die mit<br />

starken Verzögerungen beim Anschluss neuer Anlagen<br />

den Markt hemmen und hohe Zusatzkosten erzeugen.<br />

Hinzu kommen unklare Rahmenbedingungen. So wurden<br />

die nationalen Leitlinien für die erneuerbaren <strong>Energie</strong>n nur<br />

lückenhaft von den Regionen übernommen. Allein Apulien,<br />

Umbrien und die Provinz Bozen haben sich bislang ein<br />

vollständiges Regelsystem für alle grünen <strong>Energie</strong>quellen<br />

zugelegt. „Der Status der rechtlichen Unsicherheit und<br />

Unvollkommenheit charakterisiert bis heute die Branche“,<br />

bemängelte eine Studie des italienischen Umweltschutzbundes<br />

Legambiente im vergangenen Herbst. Das mache<br />

Investitionen in Italien teurer und ungewisser als anderswo.<br />

Es fehle an einer Zukunftsperspektive.<br />

32<br />

Unternehmen Italien: <strong>Energie</strong>riese ohne Regie<br />

„100 Prozent erneuerbar“. Maurizio Caranza, ehemaliger und mittlerweile<br />

verstorbener Bürgermeister von Varese Ligure, hat das<br />

<strong>Energie</strong>konzept in die Wege geleitet<br />

Die Aussichten auf einen Paradigmenwechsel haben<br />

sich nun aber verbessert. Bei den Wahlen im Februar hat<br />

Italien nach zwei Jahrzehnten den Berlusconismus überwunden.<br />

Der verbissene Lagerkampf zwischen dem milliardenschweren<br />

Medienmagnaten und seinen Widersachern<br />

hatte die Sachpolitik nach 1994 ins Abseits gedrängt. Mit<br />

Berlusconi an der Macht verabschiedete sich Europas drittgrößte<br />

Volkswirtschaft komplett aus der Industriepolitik.<br />

Heute scheinen die dominierenden Kräfte im neuen Italien<br />

die Zeichen der Zeit erkannt zu haben. Und so sieht es danach<br />

aus, als könnte auch in der <strong>Energie</strong>politik eine Wende<br />

eintreten.<br />

Italien ist für alle Firmen interessant, die<br />

effiziente Technologien für Produktion<br />

und Serviceleistungen zu bieten haben.<br />

Die Lage ist paradox: In den 1990er-Jahren privatisierte<br />

Rom den Staatsmonopolisten Enel und trieb die Liberalisierung<br />

des Strommarktes voran. Der Produktionsanteil<br />

von Enel fiel 2011 auf 30 Prozent bei einer Pluralität<br />

großer und kleiner Anbieter. „Der Preis an der italienischen<br />

Strombörse spiegelt den gestiegenen Wettbewerb aber<br />

nicht vollständig wider“, kritisiert die römische Regulierungsbehörde<br />

für <strong>Energie</strong> und Gas. Enel-Aufsichtsratschef<br />

Paolo Colombo entschuldigt das überhöhte Preisniveau mit<br />

strukturellen Nachteilen. „Italien hängt von fossilen Importen<br />

ab. Es setzt keinen Atomstrom ein, vergleichsweise<br />

wenig Kohle und dafür mehr teures Gas.“ Gegenwärtig


sieht der italienische <strong>Energie</strong>-Mix in der Stromerzeugung<br />

so aus: Kohle ist 2011 auf 14,6 Prozent gestiegen, die Erneuerbaren<br />

auf 36,7 Prozent, Gas fiel auf 40 Prozent, Erdöl auf<br />

1,2 Prozent. 1,8 Prozent des Stroms stammen aus importierter<br />

Atomkraft.<br />

Preistreibend wirkt auch die geringe Auslastung der<br />

italienischen Elektrizitätswerke. Durch die Inbetriebnahme<br />

neuer Gas- und die Umstellung der Erdöl-Kraftwerke auf<br />

Kohle stieg die Kapazität im vergangenen Jahrzehnt nach<br />

Angaben des Netzbetreibers Terna auf 78.000 Megawatt.<br />

Hinzu kommen in Spitzenzeiten 45.000 Megawatt aus<br />

erneuerbaren Quellen. Das ist sehr viel für ein Land mit<br />

einem täglichen Spitzenkonsum von 56.822 MWh. Dennoch<br />

befinden sich sechs neue Kraftwerke im Bau, und es<br />

laufen 38 Genehmigungsverfahren.<br />

33<br />

Alte und neue Regierungen<br />

Die Wahlen im Februar haben zwar keine klaren Mehrheitsverhältnisse<br />

geschaffen. Doch erstmals dominieren im<br />

Parlament jene Kräfte, die sich für die <strong>Energie</strong>wende starkmachen.<br />

Beppe Grillo setzt sich mit seiner jungen Fünf-<br />

Sterne-Bewegung für einen radikalen Umbau der Stromversorgung<br />

und für die Green Economy ein. Und auch die<br />

sozialdemokratische PD hat sich den Erneuerbaren verschrieben<br />

– und das nicht erst gestern.<br />

PD-Chef Pier Luigi Bersani ist der Vater<br />

des Überraschungserfolgs grüner <strong>Energie</strong><br />

in Italien. Als Industrieminister der Prodi-<br />

Regierung löste er 2007 mit einem Gesetz<br />

zur Einspeisevergütung für Ökostrom<br />

Italiens Solarboom aus. Die Subventionierung<br />

sei eine „weitsichtige Entscheidung“<br />

zur Unterstützung unternehmerischer<br />

Initiativen und zur Schaffung von Arbeitsplätzen<br />

gewesen, sagte Bersani gegenüber<br />

dem Fachblatt „Le Scienze“. Leider<br />

hätten es die nachfolgenden Rechtsregierungen<br />

Berlusconis versäumt, die Förderung<br />

der Entwicklung anzupassen.<br />

Im Wahlkampf bekannte sich der<br />

Sozialdemokrat zu einer„integralen ökologischen<br />

Industriepolitik“. <strong>Energie</strong>effizienz<br />

und die Diversifikation der <strong>Energie</strong>versorgung durch Förderung<br />

aller erneuerbaren <strong>Energie</strong>n seien Hauptachsen der<br />

PD-Politik. Um italienische Technologien international<br />

wettbewerbsfähig zu machen, versprach er, der vernachlässigten<br />

Spitzenforschung zu helfen.<br />

Bersani ist für die deutsche Ökostrombranche ein<br />

alter Bekannter. Vor sechs Jahren verwandelte der Sohn<br />

eines Tankstellenpächters die wolkenarme Mittelmeerhalbinsel<br />

über Nacht in ein Mekka der Fotovoltaikbranche.<br />

Deutsche Solarunternehmen stürzten sich begeistert in<br />

den Markt. Die großzügigen Subventionen befeuerten damals<br />

eine „unglaubliche Entwicklung“, bilanziert Roberto<br />

Pera von der Beratungsgesellschaft Rödl & Partner in Rom.<br />

Die überhöhten Fördersätze lockten viele Investoren an.<br />

Renditen von 12 bis 15 Prozent gab es schließlich sonst<br />

Ulrike Sauer<br />

nirgends, sagt Pera. Alle großen deutschen Hersteller<br />

drängten damals ins neue Dorado der grünen <strong>Energie</strong>. Wenige<br />

Schritte vom Petersdom entfernt installierte Solar-<br />

World sogar auf dem Dach der päpstlichen Audienzhalle<br />

2.000 Module. Die Goldgräberstimmung hielt bis 2011 an.<br />

Dann kam das böse Erwachen.<br />

An der Macht in Rom saß Berlusconi, der 2009 eine<br />

Wiederbelebung der Atomindustrie angeordnet hatte, aus<br />

der sich die Italiener 22 Jahre zuvor per Volksentscheid<br />

verabschiedet hatten. Für erneuerbare <strong>Energie</strong>n hatte er<br />

nichts übrig. Den Treibhauseffekt erklärte seine Regierung<br />

zur reinen Erfindung. So begann in Italien eine sehr konfuse<br />

Zeit. Der eigentliche Grund für das Ende des Marktes<br />

sei weniger die drastische Kürzung der Einspeisevergütung<br />

gewesen, sagt Berater Pera. Vielmehr habe die Ungewissheit<br />

den deutschen Rückzug ausgelöst. Als Montis Technokraten-Kabinett<br />

im vergangenen Sommer erneut die<br />

Fördersätze für Sonnenfänger beschnitt, waren die Investoren<br />

längst weg. Zudem deckelte Rom die Subventionierung<br />

nun auf 6,7 Milliarden Euro. Im vergangenen Dezember<br />

hatten die Förderanträge das Volumen bereits ausgeschöpft.<br />

Für Fabio Tognetti, Experte für erneuerbare <strong>Energie</strong>n<br />

bei Legambiente, heißt das: „Von jetzt an muss die<br />

Fotovoltaik auf eigenen Füßen stehen – ohne Förderung.“<br />

Die Rentabilitätsgrenze sei bei größeren Anlagen in <strong>Süd</strong>italien<br />

in Einzelfällen<br />

bereits<br />

erreicht. Die<br />

Fachwelt ist<br />

sich einig: In<br />

Italien ist die<br />

gridparity – die<br />

wirtschaftliche<br />

Konkurrenzfähigkeit<br />

von<br />

Solarstrom<br />

– zum Greifen<br />

nahe.<br />

Unternehmensberater<br />

Pera rechnet<br />

noch 2013<br />

mit dem Erreichen<br />

des Ziels. „Damit wandelt sich der Markt endlich von<br />

einem finanziellen in einen wirtschaftlich-industriellen“,<br />

sagt der Anwalt. Das wird grundlegende Veränderungen<br />

bringen. Wachstumspotenzial ergibt sich für Pera künftig<br />

daraus, dass sich der Direktverkauf von Strom an Dritte<br />

heute noch nicht rechnet, weil der Transport zu teuer ist.<br />

Um Sonnenenergie aus Sizilien an Fiat in Turin zu verkaufen,<br />

muss der Erzeuger übers Stromnetz gehen – und das<br />

rentiert sich nicht. „Dieses Szenario wird sich in den kommenden<br />

Jahren ändern“, erwartet Pera. Er rechnet schon<br />

bis 2015 mit der Einführung finanzieller Anreize für die<br />

Direktvermarktung, wie man sie aus Deutschland mit dem<br />

Marktprämiensystem kennt. „Lokale Erzeuger werden sich<br />

zusammenschließen, um ihren Strom gemeinsam an Großhändler<br />

zu verkaufen“, sagt er.


Prozentanteil der erneuerbaren <strong>Energie</strong>n am Gesamtenergieverbrauch 2012 und 2020*<br />

Italien<br />

2012 • 8,2%<br />

Italien<br />

2020 • 14,3%<br />

60<br />

55<br />

50<br />

45<br />

40<br />

35<br />

30<br />

25<br />

20<br />

15<br />

10<br />

5<br />

0<br />

%<br />

20<br />

Piemont<br />

2012 • 11,1%<br />

2020 • 15,1%<br />

FR<br />

1 2<br />

Aosta<br />

2012 • 51,8%<br />

2020 • 52,1%<br />

Wasserkraftleistung pro Jahr in Italien<br />

Bioenergieleistung pro Jahr in Italien<br />

Windenergieleistung pro Jahr in Italien<br />

Fotovoltaikleistung pro Jahr in Italien<br />

19<br />

Ligurien<br />

2012 • 6,8%<br />

2020 • 14,1%<br />

18<br />

Toskana<br />

2012 • 9,6%<br />

2020 •16,5%<br />

17<br />

Umbrien<br />

2012 • 8,7%<br />

2020 • 13,7%<br />

16<br />

Latium<br />

2012 • 6,5%<br />

2020 • 11,9%<br />

14<br />

Kampanien<br />

2012 • 8,3%<br />

2020 • 16,7%<br />

AF<br />

CH<br />

Lombardei<br />

2012 • 7%<br />

2020 • 11,3%<br />

Sardinien<br />

2012 • 8,4%<br />

2020 • 17,8%<br />

Sizilien<br />

2012 • 7%<br />

2020 • 15,9%<br />

34 Rubrik Titel<br />

1<br />

20<br />

19<br />

15<br />

2<br />

15<br />

13<br />

6<br />

18<br />

Alle Angaben in Megawatt (MW)<br />

2.018,6<br />

2.351,5<br />

2.825,3<br />

4.897,9<br />

5.814,3<br />

6.936,1<br />

3<br />

5<br />

17<br />

16<br />

1.144<br />

3.469,9<br />

12.773,4<br />

AT<br />

4<br />

7<br />

SI<br />

HR<br />

8<br />

13<br />

3<br />

Trentino-<br />

<strong>Süd</strong>tirol<br />

Provinz Bozen<br />

2012 • 33,8%<br />

2020 • 36,5%<br />

Trentino-<br />

<strong>Süd</strong>tirol<br />

Provinz Trient<br />

2012 • 30,9%<br />

2020 • 35,5%<br />

4<br />

Friaul Julisch<br />

Venetien<br />

2012 • 7,6%<br />

2020 • 12,7%<br />

5<br />

Venetien<br />

2012 • 5,6%<br />

2020 • 10,3%<br />

0 5.000 10.000 15.000 20.000<br />

9<br />

14<br />

11<br />

BA<br />

10<br />

17.721,5<br />

17.876,2<br />

18.092,3<br />

12<br />

6<br />

Emilia<br />

Romagna<br />

2012 • 4,2%<br />

2020 • 8,9%<br />

7<br />

Marken<br />

2012 • 6,7%<br />

2020 • 15,4%<br />

Abruzzen<br />

2012 • 10,1%<br />

2020 • 19,1%<br />

10<br />

Apulien<br />

2012 • 6,7%<br />

2020 • 14,2%<br />

11<br />

8<br />

9<br />

Molise<br />

2012 • 18,7%<br />

2020 • 35%<br />

Basilikata<br />

2012 • 16,1%<br />

2020 • 33,1%<br />

12<br />

Kalabrien<br />

2012 • 14,7%<br />

2020 • 27,1%<br />

ME<br />

2009<br />

2010<br />

2011<br />

* Die Daten beziehen sich auf erneuerbare <strong>Energie</strong>n am Gesamtenergieverbrauch für Strom, Wärme und Kälte, die auch in<br />

Italien produziert werden. Der Bereich Transport (Biotreibstoff, Biogas und Biomethan) sowie die Importe aus dem Ausland<br />

konnten auf regionaler Ebene nicht erfasst werden. Quellen: GSE / Gazzetta Ufficiale della Repubblica italiana


5.000<br />

0<br />

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800<br />

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2.000<br />

0<br />

2.000<br />

0<br />

2.000<br />

0<br />

2.500<br />

0<br />

2.500<br />

0<br />

2.500<br />

0<br />

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20<br />

AOS<br />

0,8 0,9<br />

0,9<br />

882,1<br />

901,5<br />

899,5<br />

0<br />

13,9 0<br />

4,7 0<br />

1<br />

Aosta<br />

35<br />

LOM<br />

4.987,8 5.015,9<br />

4.951,2<br />

655,4<br />

525,1<br />

460,5<br />

0<br />

0<br />

0<br />

1.321,6<br />

372<br />

126,3<br />

Lombardei<br />

Alle Angaben in Megawatt (MW)<br />

TRE<br />

SÜD<br />

3.183,9<br />

3.138,3<br />

3.112,5<br />

70,6<br />

47,5<br />

26,6<br />

3,1<br />

3,1<br />

3<br />

299,8<br />

169,8<br />

63,7<br />

FRI<br />

Trentino/<strong>Süd</strong>tirol<br />

494,8<br />

491,1<br />

473,6<br />

76,3<br />

23,3<br />

18,9<br />

0<br />

0<br />

0<br />

295,8<br />

92,9<br />

29,1<br />

Friaul Julisch<br />

Venetien<br />

VEN<br />

1.113,8<br />

1.105,9<br />

1.100,2<br />

209,7<br />

142,3<br />

121,9<br />

1,4<br />

1,4<br />

1,4<br />

1.157,4<br />

329,7<br />

78,3<br />

Venetien<br />

EMI<br />

307,7<br />

289,9<br />

296,5<br />

477,5<br />

423,2<br />

370,8<br />

18,1<br />

17,9<br />

16,3<br />

1.267<br />

364<br />

95<br />

Emilia<br />

Romagna<br />

MAR<br />

Wasserkraftleistung nach Regionen und Jahr<br />

238,5<br />

236,2<br />

232,7<br />

0,7<br />

0<br />

0<br />

786,6<br />

184,3<br />

62<br />

Marken<br />

ABR<br />

1.002,4<br />

1.002,6<br />

1.001,9<br />

220,4<br />

218,4<br />

190,4<br />

451,5<br />

67,2<br />

25,3<br />

Abruzzen<br />

MOL<br />

86,2<br />

86,3<br />

48,3<br />

367,2<br />

367,2<br />

237<br />

117<br />

15,9<br />

8,5<br />

Molise<br />

APU BAS<br />

1,6<br />

0,6<br />

0<br />

215 683,4 2.186,2 1.151,8<br />

1.287,6<br />

1.393,5<br />

183<br />

220,6<br />

228,6<br />

Apulien<br />

132,2<br />

132,1<br />

129,3<br />

29,2 49,7 221,9 227,5<br />

279,9<br />

301,9<br />

32<br />

32,2<br />

32,7<br />

Basilikata<br />

Autor<br />

KAL<br />

738,1<br />

728,6<br />

722,1<br />

29,1 58,7 237,2 443,3<br />

671,5<br />

783,9<br />

119,9<br />

121,9<br />

130,6<br />

Kalabrien<br />

SIZ<br />

151,3<br />

151,3<br />

152,2<br />

45,4 155,9 865,7 1.147,9<br />

1.435,6 1.680,9<br />

25,4<br />

42,2<br />

53,9<br />

Sizilien<br />

KAM<br />

Bioenergieleistung nach Regionen und Jahr<br />

24<br />

18,4<br />

16,8<br />

10,3<br />

6,4<br />

6,2<br />

42,2<br />

40,7<br />

40,7<br />

Windenergieleistung nach Regionen und Jahr<br />

Fotovoltaikleistung nach Regionen und Jahr<br />

346,4<br />

344,7<br />

343,7<br />

31,7 84,4 376 797,5<br />

803,3<br />

1.067,1<br />

202,7<br />

214,8<br />

210,3<br />

Kampanien<br />

SAR<br />

468,3<br />

466,2<br />

466,2<br />

41,4 101,6 403,2 606,2<br />

638,9<br />

962,2<br />

71,5<br />

74,3<br />

77,6<br />

Sardinien<br />

LAT<br />

401,3<br />

400<br />

399,9<br />

85,1 244,3 861,3 9<br />

9<br />

51<br />

83,8<br />

128<br />

16,2<br />

Latium<br />

UMB<br />

511,3<br />

510,4<br />

510<br />

33,9 73,3 318,6 1,5<br />

1,5<br />

1,5<br />

27,7<br />

27,7<br />

10,3<br />

Umbrien<br />

TOS<br />

343,1<br />

337,1<br />

332,4<br />

54,8 137,4 468,5 36,1<br />

45,4<br />

45,6<br />

118,9<br />

125,3<br />

134,2<br />

Toskana<br />

LIG<br />

84,3<br />

77,2<br />

74,8<br />

7,8 14,9 53,6 16,6<br />

19<br />

23,1<br />

16,8<br />

17<br />

19,6<br />

Ligurien<br />

PIE<br />

2.571,6<br />

2.479,4<br />

2.455,8<br />

81,3 265,9 1.070,5 12,5<br />

14,4<br />

14,4<br />

74,5<br />

119,9<br />

175,4<br />

Piemont<br />

2011<br />

2010<br />

2009<br />

2011<br />

2010<br />

2009<br />

2011<br />

2010<br />

2009<br />

2011<br />

2010<br />

2009


Durch eine Förderung der Grossisten werde die Kostendeckung<br />

in der Übertragung sichergestellt. Zuversichtlich ist<br />

Pera auch, dass die Regierung den Wettbewerb zwischen<br />

den Grossisten und mächtigen Oligopolisten wie Enel, Eon<br />

oder Acea beflügeln wird. So werde sich auf neuer Basis die<br />

schwungvolle Entwicklung erneuerbarer <strong>Energie</strong>n fortsetzen.<br />

„Die Zukunft ist vorgezeichnet“, sagt er.<br />

36<br />

Vier Haupttrends<br />

Auch wenn ein konkretes Szenario schwer vorhersehbar<br />

bleibt, sind doch vier Haupttrends erkennbar:<br />

1. Die Förderung wird sich weg von Solaranlagen und<br />

weg von großen Windparks hin zu einer dezentralen Produktion<br />

bewegen.<br />

2. Neu ist die Förderung von E-Wärme. Umweltminister<br />

Corrado Clini stellte im November ein System finanzieller<br />

Anreize für Investitionen von Privathaushalten und<br />

Kleinunternehmen in der Wärmeerzeugung mit erneuerbaren<br />

Ressourcen vor. Gefördert werden Heizungen, Wärmepumpen<br />

und Heizöfen mit maximal 500 Kilowatt Kapazität.<br />

Das Programm deckt im Schnitt 40 Prozent der Kosten.<br />

Ein weiteres Novum: Der Staat greift den klammen Gemeinden<br />

unter die Arme, um Effizienzsteigerungen im<br />

öffentlichen Sektor voranzutreiben. Auf lokaler Ebene besteht<br />

wegen der Ausgabensperre und rigiden Sparauflagen<br />

ein gewaltiger Nachholbedarf. Den Kommunen, denen das<br />

Bezahlen ihrer <strong>Energie</strong>rechnungen zunehmend schwerfällt,<br />

waren durch den Investitionsstopp oft die Hände gebunden.<br />

Die Regierung stellte knapp 900 Millionen Euro im<br />

Jahr zur Verfügung.<br />

3. Der Ausbau der Stromnetze wird auch in Italien<br />

zum großen Zukunftsthema. Neue Stromtrassen sind erforderlich,<br />

um den Ökostrom aus den Windparks und Solarfeldern<br />

des <strong>Süd</strong>ens in die Industrieregionen des <strong>Nord</strong>ens zu<br />

Unternehmen Italien: <strong>Energie</strong>riese ohne Regie<br />

<strong>Energie</strong> aus Abfällen. Im Innenbereich<br />

einer Müllverbrennungsanlage in der<br />

Nähe von Bergamo<br />

transportieren. An sonnigen, windigen<br />

Feiertagen decken die Erneuerbaren<br />

auf Sizilien fast den<br />

Bedarf. 2012 erzielte die Fotovoltaik<br />

im Monat August mit 2240<br />

GWh einen neuen Rekord. Das<br />

entsprach 9 Prozent des erzeugten<br />

Stroms in Italien, stellt Stefan<br />

Prosch vom Beratungsunternehmen<br />

enyvo/greenvision in Brixen<br />

fest. Der Erfolg ist jedoch zunehmend<br />

ein Problem. Er führt zur<br />

Überlastung der Stromleitungen<br />

und zu Zwangsabschaltungen.<br />

Im Strategieplan 2012–<br />

2021 kündigte der Netzbetreiber<br />

Terna Investitionen von 7 Milliarden<br />

Euro in die Modernisierung<br />

des Netzes an. Umgesetzt werden derzeit Projekte mit einem<br />

Volumen von 2,9 Milliarden Euro, die Terna in die Errichtung<br />

neuer Verbundsysteme und Hochspannungsleitungen<br />

sowie in die Rationalisierung der Stromnetze in den<br />

Ballungsräumen steckt.<br />

Beim überfälligen Netzausbau wird es auf die Verbindung<br />

von Produktions-, Netz- und Kommunikationstechnologien<br />

ankommen. Intelligente Stromnetze – sogenannte<br />

smart grids – werden eine große Rolle spielen. Es<br />

steht eine kommunikative Vernetzung und Steuerung von<br />

Erzeugern, Speichern, Betreibern und Verbrauchern an. Der<br />

Trend zur dezentralen Erzeugung und der zügige Ausbau<br />

des Ökostroms setzen Italien stark unter Druck. „In<br />

Deutschland existiert ein großes Know-how auf diesem<br />

Gebiet“, sagt Petra Seppi, Leiterin der Geschäftsanbahnung<br />

bei der Business Location <strong>Süd</strong>tirol (<strong>BLS</strong>) in Bozen.<br />

4. Last but not least hat Italien in der <strong>Energie</strong>einsparung<br />

viel vor sich – sowohl durch Effizienzsteigerungen<br />

im Gebäudebereich als auch in der Industrieproduktion.<br />

Alle wirtschaftlichen Analysen zeigen, dass dies der einfachste<br />

und billigste Weg zur <strong>Energie</strong>wende ist. Die europäischen<br />

Klimaziele schreiben dem Land bis 2020 eine<br />

Verbesserung der <strong>Energie</strong>effizienz um 20 Prozent vor. Jedes<br />

EU-Land muss eine eigene Roadmap ausarbeiten. „Italiens<br />

Politik weist nicht klar in diese Richtung“, monierte<br />

Legambiente im November in einem Positionspapier zur<br />

<strong>Energie</strong>strategie Montis. Ein 2011 aufgelegtes Programm,<br />

das durch steuerlich geförderte Gebäudesanierungen eine<br />

Senkung des <strong>Energie</strong>verbrauchs von Immobilien anstößt,<br />

läuft am 30. Juni aus.<br />

Doch auch auf diesem Markt tut sich einiges. Die<br />

Messegesellschaft in Verona lädt die Anbieter von Effizienztechnologien<br />

im Oktober erstmals zum Branchentreff<br />

Smart Energy Expo ein. „Ziel der Expo ist die Gründung<br />

eines Netzes, das alle wesentlichen Akteure zur Schaffung


von Innovation und Wertschöpfung einbezieht“, sagt<br />

Messe-Chef Ettore Riello. Verona will eine Plattform für<br />

Aussteller aus ganz Europa schaffen, die Stromspartechniken<br />

für Anwendungen in der Industrie, im Transportwesen,<br />

in der Landwirtschaft, im öffentlichen Dienst und in Privathaushalten<br />

anbieten.<br />

Biogasanlage in Italien. Die Biomassevergasung wird zur Stromund<br />

Wärmegewinnung sowie zur Herstellung von Synthesegas für<br />

die Produktion von Chemikalien und Kraftstoffen verwendet<br />

37<br />

Der <strong>Energie</strong>markt ist reif<br />

Für <strong>BLS</strong>-Mitarbeiterin Seppi liegt die Attraktivität Italiens<br />

als Investitionsstandort jenseits jeglicher Förderprogramme.<br />

„Die Chancen liegen im Markt selbst. Italien hat die höchsten<br />

<strong>Energie</strong>preise Europas“, argumentiert sie. Das bedeute:<br />

Es muss investiert werden. In allen Bereichen. In die Produktion.<br />

In effizientere Technologien. In alles, was hilft zu<br />

sparen. „Das wird vom Markt verlangt – sowohl seitens<br />

der Hersteller als auch seitens der Verbraucher“, sagt Seppi.<br />

Beobachtungen der Forschungsgruppe Energy &<br />

Strategy an der Polytechnischen Hochschule in Mailand<br />

untermauern diese Einschätzung. Die Wissenschaftler sehen<br />

in der <strong>Energie</strong>effizienz „ein grundlegendes Instrument“,<br />

das Problem der hohen <strong>Energie</strong>kosten und der daraus resultierenden<br />

erheblichen Wettbewerbsdefizite der italienischen<br />

Unternehmen auf den internationalen Märkten anzugehen<br />

und zu lösen. Die öffentliche Diskussion über die<br />

Erneuerbaren verdecke noch eine neue Strategie der Unternehmen.<br />

„Sie widmen der <strong>Energie</strong>effizienz als Geschäftschance<br />

wachsende Aufmerksamkeit“, konstatierte Forschungsdirektor<br />

Vittorio Chiesa im Energy Efficiency Report<br />

(November 2012).<br />

Das eröffnet neue Felder der Zusammenarbeit. „Italien<br />

ist für alle Firmen interessant, die effiziente Technologien<br />

für Produktion und Serviceleistungen zu bieten haben“,<br />

Ulrike Sauer<br />

meint Seppi. In Deutschland solle man sich aber darüber im<br />

Klaren sein, dass der italienische <strong>Energie</strong>markt trotz des<br />

Nachholbedarfs keine rückständige Veranstaltung ist. „Der<br />

Markt ist nicht satt, aber schon reif“, sagt Seppi. Gefragt<br />

Bahnbrechend. Das Unternehmen Archimede Solar Energy, im Bild<br />

CEO Federica Angelantoni, entwickelt mit Flüssigsalzen gefüllte<br />

Spezialrohre für Solarkraftwerke<br />

seien intelligente Spitzentechnologien und nicht irgendetwas.<br />

Wichtig sei oft ein spezieller Zusatznutzen, der in Partnerschaften<br />

eingebracht werden könne.<br />

In der Tat: Die Italiener haben nicht geschlafen. Man<br />

sieht das vielerorts. Zum Beispiel im umbrischen Massa<br />

Martana, wo das Familienunternehmen Angelantoni nicht<br />

nur den Eistresor für die Gletschermumie Ötzi herstellte.<br />

Der Tochterfirma Archimede Solar Energy gelang die bahnbrechende<br />

Entwicklung der mit Flüssigsalzen gefüllten<br />

Spezialrohre, die in Solarkraftwerken zum Einsatz kommen.<br />

Oder in Crescentino im Piemont, wo kürzlich nach fünf Jahren<br />

Forschungsarbeit eine revolutionäre Bioraffinerie in<br />

Betrieb ging. Sie gewinnt grünen Sprit nicht aus Lebensmitteln<br />

wie Mais oder Zuckerrohr, die als Tankfüllung<br />

schwer in Verruf geraten sind. Bei Mossi & Ghisolfi verwandelt<br />

man ausschließlich Abfälle vom Acker, Schilfrohr, Laub<br />

und Reisig in Benzin – eine Weltpremiere. Schon klopfen<br />

in Crescentino Techniker aus Japan, Korea, den USA, Brasilien,<br />

Russland und Malaysia an, um in Italien ein Stück<br />

<strong>Energie</strong>zukunft zu besichtigen.<br />

Ulrike Sauer (*1964), Wirtschaftskorrespondentin der „<strong>Süd</strong>deutschen<br />

Zeitung” in Rom.


Leoluca Orlando<br />

Gegenseitiges<br />

Verständnis<br />

wieder aufbauen<br />

Illustration — Ika Künzel<br />

Leoluca Orlando, 66, ist vor allem als Berlusconi-Widersacher<br />

und Mafia-Jäger <strong>Nummer</strong> eins bekannt geworden. Im<br />

Mai 2012 wurde der langjährige Mitte-links-Parlamentarier<br />

und Juraprofessor, der in Heidelberg studiert hat, zum vierten<br />

Mal Bürgermeister von Palermo. Orlando im Interview<br />

mit „<strong>Nord</strong> & <strong>Süd</strong>“ über Italiens Weg aus der Krise, das zuletzt<br />

belastete deutsch-italienische Verhältnis, darüber, wie<br />

beide Länder von einander profitieren können und über den<br />

grünen <strong>Energie</strong>boom in <strong>Süd</strong>italien.<br />

N & S (<strong>Nord</strong> & <strong>Süd</strong>) — Herr Orlando, Italien sucht verzweifelt<br />

einen Ausweg aus einer tiefen wirtschaftlichen, politischen<br />

und sozialen Krise. Kann 2013 zu einem Jahr des<br />

Neustarts werden?<br />

L O (Leoluca Orlando) — Die Parlamentswahlen im<br />

Februar haben ganz klar gezeigt, dass die Italiener<br />

eine Wirtschaftspolitik ohne Seele und ohne soziale<br />

Sensibilität nicht länger akzeptieren. Ob 2013 also<br />

einen Neubeginn bringen kann, hängt wesentlich von<br />

der Fähigkeit der politischen Klasse ab, zu einer ethischen<br />

Haltung zurückzufinden und zugleich konkrete<br />

Antworten zu geben, die nicht populistisch<br />

sind und keine Scheinlösungen darstellen.<br />

N & S — Wie stehen vor diesem Hintergrund die Chancen<br />

für eine starke deutsch-italienische Wirtschaftsachse?<br />

L O — Das ist nach dem Wahlausgang schwer zu<br />

sagen. Viele deutsche Politiker haben ja zu Recht mit<br />

großer Skepsis reagiert. Das Verhältnis Italiens zu<br />

Deutschland – und generell zu seinen internationalen<br />

Partnern – ist in den vergangenen Jahren stark gestört<br />

gewesen. Auf ihm lastete das eigennützige und<br />

unmoralische Verhalten Berlusconis.<br />

N & S — Die Regierung Monti hat doch alles unternommen,<br />

Italiens Glaubwürdigkeit wiederherzustellen.<br />

L O — Gewiss. Leider ist diese Rehabilitierung jedoch<br />

nicht mit der Rekonstruktion des Vertrauens der Italiener<br />

in Europa und in unsere ausländischen Partner<br />

einhergegangen. Italien aber kann eine Schlüsselrolle<br />

bei der Vertiefung und Erweiterung der internationalen<br />

Beziehungen spielen. Es kann eine Brückenfunktion<br />

einnehmen in den beiden M-Regionen: dem<br />

Mittelmeerraum und Mitteleuropa. Es existiert also<br />

nicht nur Raum, sondern es existiert der Bedarf für<br />

eine Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen<br />

<strong>Nord</strong> und <strong>Süd</strong>. Doch sie kann nur funktionieren,<br />

wenn sie auch kulturelle und soziale Beziehungen<br />

mit einschließt. Und wenn die Wirtschaftsachse auf<br />

der Herstellung von Waren und Dienstleistungen<br />

gründet. Denn der Mammon hat in vielen Gegenden<br />

des <strong>Süd</strong>ens das Antlitz der Mafia, der Korruption und<br />

der Steuerhinterziehung.<br />

N & S — Was muss sich im deutsch-italienischen Verhältnis<br />

ändern, um die Beziehung zu stärken? Was müssen<br />

beide Seiten dafür an gegenseitigen Vorurteilen über Bord<br />

werfen?<br />

L O — Wesentlich ist, dass Italiener und Deutsche<br />

das gegenseitige Vertrauen wieder aufbauen. Das<br />

geht nicht, ohne dieselbe Sprache zu sprechen und<br />

gemeinsame Grundwerte zu teilen. Deshalb sind<br />

direkte Beziehungen zwischen den Bürgern, deshalb<br />

sind Begegnungen und ein Kultur- und Wissensaus-<br />

38 Unternehmen Gegenseitiges Verständnis wieder aufbauen


tausch so wichtig. Neben dieser „positiven Ansteckung“<br />

ist es von grundlegender Bedeutung, Partnerschaften<br />

und wirtschaftliche Beziehungen aufzubauen.<br />

N & S — Wie kann das geschehen?<br />

L O — Voraussetzung für diesen Prozess der Wiederannäherung<br />

ist natürlich die Reetablierung fruchtbarer<br />

Regierungskontakte nach dem Ende einer burlesken<br />

Phase, die durch Berlusconis Verhalten, seine<br />

gigantischen Interessenkonflikte und seine Politik<br />

geprägt wurde. Die lokalen Regierungen in den Rathäusern<br />

können dabei dank ihrer engen Verbindung<br />

zu den Bürgern eine wichtige Rolle spielen.<br />

N & S — In welcher Weise könnten Deutschland und Italien<br />

voneinander profitieren?<br />

L O — Der EU-Kommissionspräsident Romano Prodi<br />

pflegte während seiner Amtszeit zu sagen: „Europa<br />

ist stark als Union vieler Minderheiten.“ Ich glaube,<br />

dieser Grundsatz muss in dem Miteinander von Bürgern<br />

und Mitgliedsländern wiederentdeckt und hervorgehoben<br />

werden. Italien ist heute darauf angewiesen,<br />

seine Beziehungen zu Deutschland, zu dessen<br />

Bürgern und zur deutschen Wirtschaft neu zu knüpfen<br />

und zu intensivieren.<br />

N & S — Und was erwarten Sie von den Deutschen?<br />

L O — Es ist offenkundig, dass die Deutschen sich<br />

nicht in dem Glauben wiegen dürfen, sie könnten in<br />

einer seligen Isolation leben. Die Alarmglocke der<br />

wirtschaftlichen und moralischen Krise Italiens läutet<br />

auch für sie. Die Ansteckungsgefahr besteht.<br />

Die Krise, die gestern nur Griechenland getroffen hat<br />

und heute in unterschiedlicher Form und in unterschiedlichem<br />

Ausmaß alle Länder Europas erfasst,<br />

wirkt sich selbstverständlich auch auf die Wirtschaft<br />

und auf die Bürger in Deutschland aus. Der Wiederaufbau<br />

gleichberechtigter Beziehungen ist daher<br />

nicht nur Sache der Politiker und Bürokraten, der<br />

Banken und Unternehmen. Er ist vielmehr eine Notwendigkeit<br />

der gesamten Nation.<br />

N & S — Welche Auswirkungen hat der Boom der erneuerbaren<br />

<strong>Energie</strong>n in <strong>Süd</strong>italien gehabt?<br />

L O — Leider hat die Wirtschaftspolitik der Regierung<br />

Monti in den vergangenen Monaten zu einem<br />

einschneidenden Rückgang der Investitionen in dieser<br />

strategisch wichtigen Branche geführt. Nach<br />

einigen Jahren des Booms durch die staatliche Förderung<br />

alternativer <strong>Energie</strong>quellen erleben wir nun<br />

einen Rückgang. Unternehmern und Bürgern fällt es<br />

schwer zu investieren, wenn die Banken ihrer Rolle<br />

bei der Finanzierung nicht gerecht werden.<br />

39 Leoluca Orlando<br />

N & S — Rechnen Sie mit einem weiteren Wachstum der<br />

Ökostrombranche in Sizilien?<br />

L O — Das ist eines der Felder, auf dem sich die<br />

Weitsicht und Zukunftsorientierung der neuen italienischen<br />

Regierung zeigen wird. Das Ergebnis der<br />

Wahlen im Februar hat die Chancen für die Bildung<br />

einer verantwortungsbewussten Regierung stark<br />

beeinträchtigt.


Gregor Sailer<br />

Wasser-Kraft<br />

Wasser ist Träger von <strong>Energie</strong>. Es treibt Mühlen und Turbinen an, welche die Bewe-<br />

gungsenergie zunächst in Rotationsenergie und schließlich mithilfe von Generatoren<br />

in Strom umwandeln. Wasserkraftwerke liefern weltweit den größten Anteil an Elektrizität<br />

aus erneuerbaren <strong>Energie</strong>n. In <strong>Süd</strong>tirol gibt es derzeit 960 Wasserkraftanlagen,<br />

allein längs des Flusses Eisack steht durchschnittlich alle acht Kilometer ein Produktionswerk.<br />

Zusammen produzieren sie fast doppelt so viel Elektrizität, wie von der Provinz<br />

gebraucht wird.<br />

Der Fotograf Gregor Sailer hat im Vinschgau im Westen des Landes dem <strong>Energie</strong>träger<br />

nachgespürt. Beim Wasserkraftwerk in Glurns sowie bei den Stauseen im Martelltal<br />

und am Reschenpass, dem vor über 60 Jahren ein ganzes Dorf weichen musste, hat er<br />

das Innenleben der Produktionsstätten samt Druckrohren und Zuleitungen sowie die<br />

unterschiedlichen Fließ- und Speicherformen des Wassers fotografisch festgehalten.<br />

D<br />

u<br />

r<br />

c<br />

h<br />

q<br />

u<br />

e<br />

r<br />

e<br />

n


41 Gregor Sailer


42 Unternehmen Wasser-Kraft<br />

D<br />

u<br />

r<br />

c<br />

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e<br />

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n


43 Gregor Sailer


44 Unternehmen Wasser-Kraft


45 Gregor Sailer


Leben<br />

Urlauben: Kann man ökologisch korrekt Ferien machen?<br />

47 Biodynamisch: Die etwas anderen Weine des Alois<br />

Lageder 50 Ausgetrickst: Warum Deutschland im Fußball<br />

gegen Italien immer verliert 54 Nachgetrauert:<br />

Österreichs Muttergefühle für <strong>Süd</strong>tirol 55 Fokussiert:<br />

Was die energieautarke Gemeinde Prad dem Rest der<br />

Welt voraus hat 57 Kahl geschlagen: Warum es falsch<br />

ist, in der Krise die Mittel für die Kultur zu kürzen<br />

66 Weitergedacht: Methoden, Techniken und Ma terialien<br />

für eine nachhaltige <strong>Energie</strong>versorgung 68


Lenz Koppelstätter<br />

Die Möglichkeit<br />

einer Insel<br />

Illustration — Svenja Plaas<br />

<strong>Süd</strong>tirol, das idyllische Tourismusland. Aber was bietet<br />

die Region dem Ökotouristen? Ein Selbstversuch. Der<br />

Deal: Anreise, Übernachtung, Tagesprogramm. Möglichst<br />

umweltbewusst, biologisch und nachhaltig. Der Anspruch:<br />

Der Kurzurlaub soll nicht in Stress ausarten und gleichzeitig<br />

das ökologische Gewissen ruhig halten. Ist diese<br />

Balance möglich?<br />

Alles beginnt, wie bei einer zeitgemäßen Urlaubsplanung<br />

üblich, mit einer Google-Recherche: Gibt man die<br />

Begriffe „Öko“, „Nachhaltigkeit“, „Urlaub“ und „<strong>Süd</strong>tirol“<br />

in die Suchmaske ein, dann erscheinen rund 800.000 Treffer.<br />

Mit Urlaub in <strong>Süd</strong>tirol haben die meisten nichts zu tun,<br />

sie preisen Reisedestinationen irgendwo in der Welt an<br />

– mit so klingenden Begriffen wie „Naturhotel“, „Vitalhotel“,<br />

„Ferien mit Mehrwert“, „Urlaub für Allergiker“, „Tourismus<br />

2 .0“. Ökotourismus, das merkt man schnell, ist ein überreiztes<br />

George-Orwell-Wort. Laut Wikipedia ist Ökotourismus<br />

eine auf die Belange von Umwelt und ansässiger<br />

47 Lenz Koppelstätter<br />

Bevölkerung besonders Rücksicht nehmende Form des<br />

Tourismus. Aber seitdem mir einmal ein Zimmervermieter<br />

in Hongkong ein Sechsbettzimmer mit vergammelten Matratzen<br />

und einem kleinen Fenster zu einer stinkenden Geflügelfarm<br />

hinaus als Ökounterkunft andrehen wollte, bin<br />

ich da skeptisch.<br />

<strong>Süd</strong>tirol ökologisch bereisen heißt erst einmal, sich<br />

durch ein Potpourri im Netz kämpfen. Erst nach einer Weile<br />

stößt man auf Angebote wie die „Alpine Pearls“. Der gleichnamige<br />

Verein vergibt das Qualitätssiegel an <strong>Süd</strong>tiroler<br />

Gemeinden wie Ratschings, Villnöß, Tiers, Karneid-Steinegg,<br />

Moos in Passeier, Welschnofen oder Deutschnofen,<br />

die Ideen für einen nachhaltigen Tourismus entwickelt<br />

haben. Es ist ein Angebot, das vor allem einen möglichst<br />

autofreien Urlaub mit Shuttle-Service bietet. Ein weiteres<br />

Fundstück ist das Qualitätssiegel „Roter Hahn“. Es steht<br />

für Urlaub auf dem Bauernhof mit hauseigenen Produkten.<br />

Und dann trifft man beim Googeln noch auf Sand<br />

in Taufers im Pustertal. 2008 wurde das Dorf im Osten<br />

<strong>Süd</strong>tirols zur ersten Agenda-21-Gemeinde <strong>Süd</strong>tirols gekürt.<br />

Die Agenda wurde bei der UNO-Konferenz 1992 in Rio<br />

de Janeiro entwickelt und bietet einen Leitfaden für nachhaltige<br />

Entwicklung. Sand in Taufers möchte außerdem die<br />

erste CO 2 -neutrale Gemeinde <strong>Süd</strong>tirols werden. Es geht<br />

dabei darum, <strong>Energie</strong>einsparung durch Wasserkraft zu<br />

erlangen, KlimaHaus-Standards bei Gebäuden umzusetzen<br />

oder Fotovoltaik bei der Straßenbeleuchtung zu nutzen.<br />

<strong>Süd</strong>tirol ökologisch bereisen<br />

Anreise von Verona aus, eingepfercht in einem überfüllten<br />

Zugabteil. Ein Herr mit Skiern steht neben mir. Eine italienische<br />

Familie mit Kindern und Nonna. Sie tragen Weihnachtsmützen<br />

und wollen zum Christkindlmarkt. Reise in<br />

Richtung <strong>Nord</strong>en, Blick zum Fenster hinaus, auf den kilometerlangen<br />

Stau auf der Brennerautobahn. Über die Autobahn<br />

in die Berge, mit dem Sessellift über abgeholzte<br />

Hänge auf die Gipfel – sind „Öko“ und „Urlaub“<br />

und „<strong>Süd</strong>tirol“ nicht alles Widersprüche in<br />

sich? In Bozen leert sich das Abteil, endlich ein<br />

Sitzplatz, in Franzensfeste, einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt<br />

im Brennerverkehr, klappt das<br />

Umsteigen problemlos. Aber das ist es ja nicht,<br />

was mich die ganze Zeit gestresst hat. Es war die<br />

Unge wissheit, die Befürchtung, dass das Umsteigen<br />

nicht klappen könnte. Bei meiner Ankunft im<br />

Design hotel Feldmilla ist es schon längst dunkel.<br />

<strong>Süd</strong>tirol ökologisch bereisen heißt: langsam<br />

reisen, mögliche Umwege und Verzögerungen<br />

gelassen in Kauf nehmen. „Urlaub mit gutem<br />

Gewissen“, so steht es in den Prospekten von Feldmilla.<br />

2011 zum ersten klimaneutralen Hotel <strong>Süd</strong>tirols<br />

ausgezeichnet. Seit 1939 im Besitz eines<br />

hauseigenen Wasserkraftwerks. Das Heizsystem<br />

basiert auf Wärmepumpen und Biomasse aus dem Fernheizwerk.<br />

Die nicht vermeidbaren CO 2 -Emissionen werden<br />

durch Emissionszertifikate ausgeglichen. Zudem wird der<br />

Bau eines Wasserkraftwerks in Guatemala unterstützt.


Die Zimmer sind mit Nussholz<br />

aus dem Tal ausgestattet<br />

und außerdem die ersten<br />

Clean-Air-Zimmer Italiens:<br />

Das sind Zimmer mit einer<br />

von Schadstoffen unbelasteten<br />

Raumluft. Abendessen<br />

im Speisesaal. Die Küche<br />

setzt auf regionale Produkte,<br />

sagt die Juniorchefin Ruth<br />

Leimegger. Äsche statt<br />

Thunfisch. Milch aus <strong>Süd</strong>tirol<br />

statt aus Österreich<br />

– auch wenn das teurer ist.<br />

Das Lamm, das ich esse,<br />

kommt von einem Bauern<br />

aus dem Ahrntal. Und wenn<br />

der Seniorchef Wild schießt,<br />

dann kommt es hier auf<br />

den Teller.<br />

Schwierig ist es gewesen<br />

am Anfang, sagt<br />

Leim egger. Einigen Stammgästen<br />

hat es nach dem Umbau<br />

nicht mehr gefallen. Zu<br />

modern. Zu wenig dem Klischee<br />

des urigen <strong>Süd</strong>tirol<br />

entsprechend. Ob viele mit dem Zug anreisen? Ach, sagt<br />

sie. Vor einem halben Jahr hat sie mit einem solchen Angebot<br />

locken wollen. Wer mit dem Zug anreist und mindestens<br />

zwei Nächte bleibt, bekommt eine Nacht geschenkt.<br />

Und? Ein Anruf, sonst nichts. <strong>Süd</strong>tirol ist nach wie vor ein<br />

Autofahrerland.<br />

Schlaflos im Bett. Nachdenken: Nachhaltige Ökourlaube<br />

sind die Inszenierung eines Traums. Aber ist Urlaub<br />

das nicht immer? Wenn man in Ägypten am Strand<br />

liegt, während in Kairo der Kulturkrieg tobt? Man strandet<br />

auf einer kleinen, oft teuren Insel, abgeschirmt von der<br />

Wirklichkeit. Im Traum kann man das Ökogewissen baumeln<br />

lassen. Drumherum wartet die Massenabfertigung,<br />

neben dem Zug fährt die Autobahn, neben dem Biorestaurant<br />

steht die Frittenbude.<br />

Wirtschaftlich rentabel<br />

Der nächste Morgen. Die Sonne scheint. Eigentlich bestes<br />

Skifahrwetter. 98 Prozent der <strong>Süd</strong>tiroler Skigebiete, so<br />

steht es im Netz, werden mit Strom aus Wasserkraft betrieben.<br />

Auch das Wasser für den Kunstschnee gelangt in<br />

den natürlichen Kreislauf zurück. Zum Beispiel das Skigebiet<br />

Schnalstaler Gletscher. Ein Blockheizwerk und ein<br />

Wasserkraftwerk liefern den für die Lifte nötigen Strom,<br />

in Spitzenbetriebszeiten wird nur erneuerbare <strong>Energie</strong> dazugekauft.<br />

Ein bisschen Skifahren in den Alpen in Zeiten,<br />

in denen in Dubai oder Gelsenkirchen Skihallen stehen,<br />

das kann doch nicht so schlimm sein?<br />

<strong>Süd</strong>tirol ökologisch bereisen heißt: Abwägen. Kompromisse<br />

schließen. Die Balance halten. Auch mal ver-<br />

48 Leben Die Möglichkeit einer Insel<br />

zichten. Das Schnalstal ist<br />

weit weg. Zumindest wenn<br />

man kein Auto hat. Es muss<br />

auch gar nicht Skifahren<br />

sein. „Schauen Sie sich unsere<br />

Wasserfälle an“, sagt<br />

die Juniorchefin. Ich stapfe<br />

durch den Schnee, den<br />

Wald hinauf. Plötzlich, der<br />

Weg biegt um die Ecke, ich<br />

stehe auf einer schmalen<br />

Holzbrücke. Die Gischt<br />

weht mir ins Gesicht, rundherum<br />

ist alles in meterdickes<br />

Eis erstarrt, weit und<br />

breit kein Mensch. Die Wasserfälle<br />

grollen, ich mittendrin.<br />

Ich beneide sie nicht,<br />

die Skifahrer, die sich jetzt<br />

durch den Pistenverkehr<br />

zwängen, ich beneide sie<br />

nicht, die Christkindlmarkt-<br />

Besucher, die sich jetzt in<br />

der Glühweinschlange auf<br />

die Zehen treten.<br />

<strong>Süd</strong>tirol ökologisch<br />

bereisen heißt auch: Orte<br />

ent decken, an denen man mit dem Auto wohl vorbeigefahren<br />

wäre. Zum Abschluss noch mit dem Bus ins nahe Städtchen<br />

Bruneck. Die Wasserfälle haben hungrig gemacht. Ein<br />

bisschen herumfragen. Im Geschäftslokal „PUR <strong>Süd</strong>tirol“<br />

gebe es ausschließlich <strong>Süd</strong>tiroler Produkte, sagt man mir.<br />

Wieder so eine Insel. Hier gibt es Käse, Salami, Wurzen und<br />

Ragout vom Schaf aus der Gemeinde Villnöß, Topflappen<br />

und Flaschenkühler aus der Wolle derselben Schafe. Die<br />

Geschenkkörbe sind umweltfreundlich verpackt in Holzkisten,<br />

die in der Sozialwerkstatt von Latsch bei Meran gefertigt<br />

wurden. Bestellt man ein Marende-Brettl, dann fließt<br />

das Geld in ein Hilfsprojekt nach Ostafrika. Das Glas Wein<br />

ist getrunken, der Bauerntoast gegessen.<br />

Ein Resümee: eine Zugfahrt im überfüllten Waggon,<br />

eine erholsame Nacht im klimaneutralen Hotel, eine idyllische<br />

Wanderung, eine <strong>Süd</strong>tiroler Marende. Feldmilla, Sand<br />

in Taufers oder die „Alpine Pearls“-Gemeinden sind Beispiele,<br />

die zeigen, dass sich Ökotourismus in <strong>Süd</strong>tirol<br />

durchaus wirtschaftlich rentiert. Was fehlt, ist ein regional<br />

übergreifendes Konzept, das die Marke „<strong>Süd</strong>tirol“ um den<br />

Aspekt „Ökologisches Reiseland <strong>Süd</strong>tirol“ erweitert, das<br />

dem ökologisch gesinnten Reisenden das Angebot auf einen<br />

Blick nahelegt und ihm die naturgemäß erschwerte<br />

Anreise- und Aufenthaltsplanung erleichtert. Und: das ihn<br />

in naher Zukunft vergessen macht, dass <strong>Süd</strong>tirol einmal<br />

ein Reiseland für Autofahrer war.<br />

Lenz Koppelstätter (*1982), Journalist in Berlin, schreibt vor<br />

allem für das Stadtmagazin „zitty“ und den „Tagesspiegel“.


49 Lenz Koppelstätter


Donatella Pavan<br />

Der Freigeist<br />

Fotos — Claudia Corrent<br />

Alois Lageder produziert internationale<br />

Spitzenweine und ist Präsident des Ökoinstituts<br />

in Bozen. Der Weinbauer lebt<br />

und arbeitet naturnah, er betreibt biodynamischen<br />

Weinanbau. Der Kunstförderer<br />

hat „<strong>Nord</strong> & <strong>Süd</strong>“ verraten, warum<br />

das so ist, warum er die Synthese zwischen<br />

Wein, Musik und Nachhaltigkeit<br />

zum Leitmotiv seines Lebens gemacht<br />

hat und was guten Wein ausmacht.<br />

50 Leben Der Freigeist<br />

Es ist ein kleines Paradies auf Erden, wo sich die Kunst mit<br />

der Musik und mit der Sorge um Nachhaltigkeit vereint.<br />

Dessen Lebenselixier, der Qualitätswein, entsteht aus der<br />

Liebe für das Land und aus der Achtung für Mensch und<br />

Natur, ganz so, wie Rudolf Steiner es lehrte. Der Sitz des<br />

Weingutes Alois Lageder – alle erstgeborenen Söhne heißen<br />

seit fünf Generationen Alois – befindet sich in Margreid<br />

südlich des Kalterer Sees in der Provinz Bozen. Wie lebendig<br />

der Einfluss der Familie Lageder auf das kleine mittelalterliche<br />

Dorf ist, zeigt sich in der geglückten Verschränkung<br />

von dessen gotisch-barocken Gebäuden und Gassen mit<br />

der modernen, in Glas und Holz gebauten Kellerei, die dank<br />

einer 250 Quadratmeter großen Fotovoltaikanlage seit 1996<br />

energieautark ist. Das Wechselspiel zwischen sorg fältig<br />

ausgewählten Kunstwerken und moderner Architektur<br />

macht das Gutsgebäude einzigartig: Von Rolf Disch, dem<br />

Gestalter von Heliotrop im Stadtviertel Vauban in Freiburg,<br />

ist der Wintergarten mit dem gläsernen Dach, das in der<br />

warmen Jahreszeit geöffnet werden kann. Eine zentral im<br />

Gebäude gelegene, von Christian Philipp Müller konzipierte<br />

Installation besteht aus drei Glasquadern, die das Erdreich<br />

und die natürlich darin vorkommenden Pflanzen von den<br />

drei Weinbergen Löwengang, Römigberg und Lindenburg<br />

enthalten. Ebenso eindrucksvoll ist die Gestaltung des Kellers,<br />

dessen Hightech-Standard zwar an Cape Canaveral<br />

erinnert (1 Million Flaschen werden hier im Jahr produziert),<br />

dessen poetische Ausdruckskraft aber dennoch fasziniert.<br />

In jenem Teil des Kellers, in dem die Weine zur Reifung<br />

lagern, ertönt immer dann eine musikalische Klangfolge,<br />

wenn draußen der Wind ein winziges Windrad bewegt: Es<br />

ist eine Installation von Matt Mullican mit dem Titel „Wiegenlied<br />

für Barrique und Streicher“. Das Gut ist einen Besuch<br />

wert und mit ein bisschen Glück führt Sie vielleicht<br />

Alois Lageder persönlich durch sein Weingut. Für „<strong>Nord</strong> &<br />

<strong>Süd</strong>“ hat sich der Hausherr Zeit für ein Interview genommen.<br />

D P (Donatella Pavan) — Sie sind die fünfte Generation eines<br />

Winzergeschlechts. Woher kam der Wunsch, auf Biodynamie<br />

umzustellen?<br />

A L (Alois Lageder) — Das ist eine natürliche Entwicklung;<br />

jedes Familienmitglied beschreitet sein<br />

Stück des Weges. Die Richtung ist mir von meinen<br />

Eltern mitgegeben worden. Meine Mutter hat bei<br />

der Gartenarbeit immer die Grundsätze des Philosophen<br />

Rudolf Steiner und jene von Maria Thun,<br />

die für ihren Saatkalender im Jahreslauf der Gestirne<br />

berühmt ist, berücksichtigt. Für sie war das ganz<br />

selbstverständlich. Als ich dann an der Reihe war,<br />

begriff ich, dass der herkömmliche Weinbau nicht<br />

meine Welt sein konnte. Vorher waren die Weinberge<br />

verstreut und ich habe sie danach um Margreid herum<br />

zusammengelegt. 1990 haben wir mit den ersten<br />

Experimenten begonnen: Wir haben chemische<br />

durch biodynamische Stoffe ersetzt, wobei die ersten<br />

Alois Lageder: „Der herkömmliche Weinbau konnte nicht meine<br />

Welt sein."


Einblicke in das Innenleben des historischen Ansitzes des Weingutes Alois Lageder<br />

51<br />

Donatella AutorPavan<br />

Der biodynamische Anbau<br />

Die biodynamische Anbaumethode geht<br />

auf die 1920er-Jahre und auf Rudolf Steiner,<br />

den Begründer der Anthroposophie,<br />

zurück und ist Teil einer philosophischen<br />

Denkordnung. Bei der Biodynamie geht<br />

es um eine ganzheitliche Sichtweise des<br />

Betriebes: Er steht in einer Wechselbeziehung<br />

mit der Erde und mit dem Kosmos.<br />

Alles wird in Beziehung zueinander<br />

angesehen, wobei jedes Element ein<br />

lebendiger Organismus ist: die Pflanze,<br />

der Boden, das Tier ebenso wie der landwirtschaftliche<br />

Betrieb selbst. Große<br />

Bedeutung haben die Mondphasen und<br />

die Dynamisierung der Produkte. Es gelten<br />

ähnliche Prinzipien wie in der Homöopathie:<br />

Es geht darum, die vitalen<br />

Kräfte zu bündeln und sie dem Produkt<br />

zuzuführen. Man verwendet winzige Dosen<br />

einer Substanz, löst sie in Wasser<br />

auf und versprüht sie. Um den Produkten<br />

Vitalität zu verleihen, verwendet man<br />

auch Präparate, die die drei Welten enthalten:<br />

die tierische, die pflanzliche und<br />

die mineralische. Der Kuhhorndünger<br />

zum Beispiel ist Kuhmist, der in ein Kuhhorn<br />

gefüllt wird und nach dem 23. September<br />

in der Erde vergraben wird. Wenn<br />

er im April wieder aus dem Boden geholt<br />

wird, werden damit in homöopathischen<br />

Dosen – 90 g für 130 ml Wasser – die<br />

Pflanzen gedüngt.


Ergebnisse enttäuschend waren. Mit der Zeit haben<br />

wir verstanden, dass die Lösung in der natürlichen<br />

Beschaffenheit des Habitats besteht, dass es wichtig<br />

ist, jenes Saatgut zu verwenden, das bereits in der<br />

Natur vorhanden und mit ganz eigenen Funktionen<br />

ausgestattet ist, die wir für unsere Pflanzen nutzen<br />

können: die Brennnessel, um das Gleichgewicht des<br />

Bodens wieder herzustellen, die Gerste, um den Boden<br />

trocken zu halten. 2007 war die Umstellung aller<br />

Böden abgeschlossen. Wir bewirtschaften circa 50<br />

Hektar an Weingütern und zusätzlich einige Obstgüter<br />

– alles biodynamisch.<br />

D P — Der Wein wird zum Teil aus eigenen Trauben und<br />

zum Teil aus jenen von kleinen lokalen Weinbauern gekeltert.<br />

Wie muss man sich das vorstellen?<br />

A L — Unsere Kellerei wird von circa 100 kleineren<br />

Weinbauern beliefert; mein Traum ist es, dass sie alle<br />

den Weg des biodynamischen Anbaus einschlagen.<br />

Ein Dutzend ist bereits umgestiegen, woraus Apollonia<br />

entstanden ist, ein Blauburgunder, der erste biodynamische<br />

Alois Lageder, der zu 100 Prozent nicht<br />

aus eigenen Trauben<br />

besteht. Die<br />

Leute haben erkannt,<br />

dass unsere<br />

Reben anders sind:<br />

Sie haben mehr<br />

Kraft, mehr Lebensund<br />

Leuchtkraft.<br />

Ich bin ein Anhänger<br />

der anthroposophischenPhilosophie<br />

und will mich<br />

auch gerne dafür<br />

verwenden, diese<br />

Lehre zu verbreiten.<br />

Seit ich mich mit<br />

dem biologisch-dynamischen<br />

Anbau<br />

beschäftige, spüre im <strong>Süd</strong>tiroler Unterland<br />

ich, dass ich etwas<br />

tiefer in das Unterbewusstsein und in die göttliche<br />

Schöpfung eingetaucht bin, und empfinde eine große<br />

Genugtuung, mich mit den Da seinsgründen des Menschen<br />

auf dieser Erde auseinanderzusetzen. Seit 1.<br />

Januar 2013 arbeitet Georg Meissner, ein junger Experte<br />

für Biodynamie aus Deutschland, mit uns; mit<br />

ihm werden wir ein neues Standbein schaffen, und<br />

zwar das der Fortbildung.<br />

D P — Wie ist die Zusammenarbeit mit den kleinen Produzenten<br />

geregelt?<br />

A L — Wir halten uns an eine althergebrachte Praxis:<br />

Bis vor nicht allzu langer Zeit besaßen viele Bauern<br />

nur wenig Grund und gaben deshalb ihre Trauben<br />

52<br />

zum Keltern dem größeren Nachbarn, der die nötigen<br />

Geräte hatte und der wiederum den Wein an die<br />

Gast häuser der Umgebung verkaufte. Wenn die<br />

Leute im Sommer in die Sommerfrische kamen und<br />

in den Gasthäusern einkehrten, begann der „Weinritt“,<br />

die Runde bei den einzelnen Kunden, um das<br />

Geld zu kassieren. Man setzte sich rund um einen<br />

Tisch und rechnete ab. Auch wir machen das noch<br />

so, im gegenseitigen Vertrauen zueinander, die Bauern<br />

uns gegenüber, weil wir sie bezahlen, sobald wir<br />

selbst kassiert haben, und wir ihnen gegenüber, weil<br />

wir davon überzeugt sind, dass sie alles tun, was in<br />

ihren Möglichkeiten steht, um uns qualitativ hochwertige<br />

Trauben zu liefern. Bezahlt wird an vier festgelegten<br />

Tagen: am 2. Februar zu Maria Lichtmess,<br />

am 23. April zum heiligen Georg, am 25. Juli zum<br />

heiligen Jakob; saldiert wird am 11. November, dem<br />

Martinstag.<br />

D P — Das Leitmotiv Ihres Lebens ist eine Synthese aus<br />

Wein, Kunst/Musik und Nachhaltigkeit. Warum die Verbindung<br />

dieser drei Bereiche?<br />

A L — Ich habe nicht<br />

bewusst versucht,<br />

diese drei Bereiche<br />

miteinander zu verbinden,<br />

sondern das Interesse<br />

für das eine<br />

führte wie selbstverständlich<br />

zum anderen.<br />

Man sagt ja, dass<br />

der Wein eine Kunst<br />

ist, weil es viel Sensibilität<br />

im Umgang<br />

damit erfordert. Die<br />

Kunst und die Architektur<br />

helfen uns, unsere<br />

Kreativität zu<br />

erkennen und nachzudenken,<br />

aber auch<br />

Freude zu empfinden:<br />

Ein Kunstwerk, das<br />

uns gefällt, schenkt uns Harmonie. Ich umgebe mich<br />

mit schönen Dingen, weil ich ihre Harmonie spüre,<br />

das ist wichtig, es ist die Grundlage von allem, und es<br />

ist auch das, was beim konventionellen Anbau vernachlässigt<br />

worden ist, während der biodynamische<br />

Anbau von der Harmonie der Pflanze und zwischen<br />

den Pflanzen spricht. Nachhaltigkeit hat immer mit<br />

Harmonie zu tun, mit der Harmonie zwischen<br />

Mensch und Natur.<br />

Das Weingut des erfolgreichen Weinproduzenten liegt im idyllischen Margreid<br />

Leben Der Freigeist<br />

D P — Wann haben Sie begonnen, sich mit Kunst zu beschäftigen?<br />

A L — Die Dinge entwickeln sich nach und nach, der<br />

Grundstein für das Interesse an der Musik oder der


Kunst wird in der Familie gelegt. Ich erinnere mich an<br />

die ersten Konzerte mit meinem Vater, das erste war<br />

„Peter und der Wolf“ – noch heute trällere ich die<br />

Melodie, wenn ich guter Dinge bin. Den Zugang zur<br />

bildenden Kunst hat mir mein Schwiegervater eröffnet,<br />

der ein großer Sammler ist. Vor rund zehn Jahren,<br />

als die Kunst immer mehr zu einem Statussymbol<br />

wurde und man nicht mehr über Kunst, sondern<br />

nur mehr über Geschäfte sprach, habe ich mich mehr<br />

der Musik, meiner ersten großen Leidenschaft, zugewandt.<br />

Seit vielen Jahren organisieren wir im Sommer<br />

im Innenhof unserer Vinothek Paradeis Konzerte.<br />

VIN-o-TON etwa ist den jungen Komponisten gewid-<br />

In der hauseigenen Vinothek Paradeis finden auch Konzerte statt<br />

met, wobei wir jedes Jahr einen Komponisten mit<br />

einem neuen Werk beauftragen, dessen Uraufführung<br />

dann im Weingut stattfindet.<br />

53<br />

Donatella Pavan<br />

D P — Ihr Umgang mit dem Weinberg, mit der Kunst, mit<br />

der Musik erinnert an die Ambitionen eines Renaissancefürsten.<br />

Wie würden Sie sich bezeichnen: als Künstler, als<br />

Unternehmer oder als Freigeist?<br />

A L — Freigeist gefällt mir am besten. Wichtig ist, alle<br />

Lebensbereiche einzubeziehen, sich der Wechselwirkung<br />

zwischen Mensch, Tier, Landwirtschaft und<br />

Technik bewusst zu sein. Dadurch erfahren wir das<br />

Leben in seiner Vollständigkeit, in einer erweiterten<br />

Perspektive.<br />

D P — Sie arbeiten an einem Wein ohne Sulfate?<br />

A L — Das ist noch im Werden, wir haben erste Versuche<br />

gemacht. Unser Ziel ist es, Weine ohne Sulfate<br />

zu produzieren, die aber die Charakteristika unserer<br />

Weine beibehalten. Ein Aspekt, der mich sehr interessiert,<br />

ist die heilende Wirkung des Weins, daher<br />

könnte es statt dem mit Alkohol vergorenen Saft der<br />

Traubensaft selbst sein, an dem es sich zu experimentieren<br />

lohnt. Der Traubensaft ist ein Nektar und<br />

so war es am Anfang des 20. Jahrhunderts sehr beliebt,<br />

zur Vernatsch-Traubenkur nach Meran zu fahren.<br />

Der Alkohol ist zwiespältig, sowohl positiv als<br />

auch negativ. In früheren Zeiten trank man nur zu<br />

seltenen Anlässen, um sich zu berauschen, um die<br />

Zukunft vorauszusehen, erst später begann man, ihn<br />

übermäßig zu konsumieren. Diese Dinge sollte man<br />

wissen. Den Geist des Weines muss man hoch schätzen,<br />

er ist wertvoll. Und auf die wertvollen Dinge<br />

muss man gut achten und sie sparsam einsetzen.<br />

D P — Kürzlich hat Ihr Betrieb einige wichtige Anerkennungen<br />

erhalten, unter anderem die höchste Auszeichnung des<br />

Weinführers Slow Wine sowie fünf Sterne des Falstaff-<br />

Weinguide Österreich/<strong>Süd</strong>tirol 2012. Was macht einen guten<br />

Wein aus?<br />

A L — Unter dem önologischen Gesichtspunkt spielen<br />

jene Weine in der ersten Liga, die einen starken<br />

Charakter haben, zum Beispiel eine kräftige Duftnote.<br />

Zum Essen schätzen wir eher solche Weine, deren<br />

Flaschen bei Tisch leer werden, das heißt, von denen<br />

man gern noch ein zweites Glas trinkt und die einem<br />

trotzdem nicht den Mund oder den Gaumen verschließen,<br />

weil sie harmonisch sind. Die biodynamischen<br />

Weine sind nicht unbedingt besser als andere<br />

Weine, doch sie haben eine positive <strong>Energie</strong>, die wir<br />

unbewusst wahrnehmen, davon bin ich überzeugt.<br />

Donatella Pavan (*1960), freie Journalistin mit Schwerpunkt<br />

Umwelt, schreibt unter anderem für die Tageszeitungen „Il Fatto<br />

Quotidiano” und „La Repubblica” sowie „Io Donna” (Beilage<br />

„Corriere della Sera”).<br />

Übersetzung: Alma Vallazza


Birgit Schönau<br />

Klassenprimus<br />

gegen<br />

Angsthase<br />

Illustration — Gino Alberti<br />

Wenn man Nationaltrainer Cesare Pran-<br />

delli fragt, ob die Squadra Azzurra eigent-<br />

lich noch italienisch spielt, erntet man<br />

einen erstaunten Blick. „Wir spielen modernen<br />

Fußball“, sagt Prandelli dann. Und<br />

die Deutschen? „Die natürlich auch. Mehr<br />

noch, die Deutschen sind Fußball-Avantgarde.“<br />

Also offensiv und risikobereit, mit<br />

kurzen Bällen und langem Atem. Wem<br />

das spanisch vorkommt, der hat Recht.<br />

Denn Spanien ist im globalisierten Fußball<br />

für alle das Modell, und die nationalen<br />

Schulen sind von gestern. Schließlich<br />

geht es nicht darum, auf dem Platz folkloristische<br />

Traditionen zu zeigen, sondern<br />

man will gewinnen. Genauso wie Holland<br />

keinen „Totaalvoetbal“ mehr zelebriert,<br />

hat Italien den „Catenaccio“ in die Mottenkiste<br />

gepackt. Und England? Nun,<br />

England hatte mit Fabio Capello sogar<br />

einen italienischen Nationaltrainer. Es ist<br />

eben im Fußball wie im richtigen Leben,<br />

alles verändert sich und wird immer ein<br />

bisschen schneller. Nur die Klischees, die<br />

kommen da offensichtlich nicht mit.<br />

Und im Fußball halten sie sich besonders<br />

hartnäckig. „Catenaccio“ ist im<br />

Deutschen so gebräuchlich wie „Spaghetti“<br />

und „Cappuccino“, ein Wort, das<br />

zu jedem Länderspiel zwischen Deutsch-<br />

land und Italien wieder hervorgeholt wird.<br />

Und natürlich auch beim Pokalfinale – zuletzt<br />

2010 beim Champions-League-Endspiel<br />

zwischen Bayern München und Inter<br />

Mailand. Die Deutschen pflegen gegen<br />

italienische Mannschaften gemeinhin zu<br />

verlieren, da garantiert ihnen der Griff in<br />

die Klischeekiste wenigstens die Illusion<br />

eines moralischen Siegs. Denn der „Catenaccio“<br />

ist in deutschen Augen eine<br />

moralisch verwerfliche Spieltaktik, eine<br />

Art „Angsthasenfußball“, unmännlich und<br />

unehrlich. Hinten alles abriegeln und nur<br />

darauf lauern, wann man gegen den wacker<br />

kämpfenden Gegner hinterlistig kontern<br />

kann – das hat der liebe Gott mit<br />

Fußballspielen nicht gemeint, wie es einmal<br />

ein deutscher Fernsehkommentator<br />

formulierte. Manchmal scheint es, als sei<br />

der Fußball für die Deutschen eine moralische<br />

Anstalt: Haben unsere Jungs auch<br />

genug gegeben? Schön gespielt? Bis zum<br />

Schluss gekämpft? Hätten sie nicht eigentlich<br />

verdient zu gewinnen? Ach was,<br />

verdient … Italiener haben den Spruch<br />

geprägt: „Der Gegner hinterließ einen<br />

hervorragenden Eindruck und drei<br />

Punkte.“<br />

Auf dem Platz arbeitet sich<br />

Deutschland an Italien ab<br />

Deutsche neigen zu romantischem Ehrgeiz:<br />

Sie wollen nicht nur immer die Besten<br />

sein, sondern dafür vom Gegner noch<br />

bewundert werden. In vielen Bereichen<br />

gelingt das, vor allem in der Wirtschaft.<br />

Italienern hingegen ist die Romantik<br />

ebenso fremd wie der Ehrgeiz, immer<br />

Klassenbester zu sein. Sie sind anpassungsfähige<br />

Pragmatiker. Ihre Wirtschaft<br />

hat im Moment Probleme, die Politik ist<br />

auch nicht so richtig vorbildlich. Aber im<br />

Fußball, da kann es der italienische Pragmatismus<br />

immer noch weit bringen.<br />

In Deutschland betrachtet man<br />

dieses Paradox mit Argwohn. Über Jahrzehnte<br />

regten sich Presse und Vereinspräsidenten<br />

darüber auf, dass sich die<br />

italienischen Klubs nur dank ihrer kreativen<br />

Buchführung tolle Mannschaften mit<br />

Spitzenspielern leisten konnten. Als die<br />

Uefa das Finanz-Fair-Play einführte,<br />

lehnten sich die Deutschen zurück: Seht<br />

her, wir haben schon immer unsere Hausaufgaben<br />

gemacht. Die Italiener werden<br />

jetzt sehen, was sie von ihrer Prasserei<br />

haben.<br />

54 Leben Klassenprimus gegen Angsthase<br />

Zum guten alten Catenaccio gesellten<br />

sich flugs die Wörter „Krise“ und<br />

„Abgrund“: Italiens Fußball in der Krise,<br />

der Calcio am Abgrund. Überschuldete<br />

Klubs und marode Stadien, Schiedsrichtermanipulation,<br />

Wettskandale und Hooligans-Randale<br />

– die Medien in Deutschland<br />

übertrafen sich mit apokalyptischen<br />

Szenarien. In keinem anderen europäischen<br />

Land befasst man sich derart eingehend<br />

mit den Problemen des italienischen<br />

Fußballs. Um nicht zu sagen: genüsslich.<br />

Denn ein bisschen Schadenfreude<br />

ist immer dabei.<br />

Nur auf dem Platz, da wollen die<br />

Italiener partout nicht untergehen. Sicher,<br />

es gab da einmal ein Juventus–Bayern 1:4,<br />

2009, in der Champions-League-Gruppenphase.<br />

Aber für die deutsche Nationalmannschaft<br />

folgte auf das WM-Halbfinale<br />

2006 das EM-Halbfinale 2012. Und die<br />

Bayern verloren nach dem Finale gegen<br />

Inter mit dem portugiesischen Trainer<br />

Mourinho das Finale gegen Chelsea mit<br />

dem italienischen Trainer Di Matteo. Aller<br />

Fleiß und Einsatz halfen wieder nichts.<br />

Im Fußball arbeitet sich also<br />

Deutschland an Italien ab. Ansonsten gilt<br />

das Gegenteil. Nicht zuletzt deshalb werden<br />

Siege auf dem Fußballplatz über die<br />

als übermächtig empfundenen Nachbarn<br />

als besonders erhebend empfunden. Nach<br />

dem Motto: Wir sind kleiner, wir sind ärmer,<br />

aber auch flexibler und schneller und<br />

damit schaffen wir die crucchi immer<br />

noch (crucchi ist das Kosewort für Deut-


Ü<br />

b<br />

e<br />

r<br />

s<br />

e<br />

T<br />

z<br />

e<br />

n<br />

sche). Die Kunst des Sich-Arrangierens<br />

ist den Italienern, was das Streben nach<br />

Perfektion den Deutschen ist: Klischee,<br />

Mythos und Antrieb zugleich.<br />

55<br />

Integrationskraft der<br />

Nationalmannschaft<br />

Und natürlich können beide voneinander<br />

lernen. Der italienische Klubfußball ist<br />

noch immer feudalistisch organisiert –<br />

mit Klubpräsidenten, die sich wie Fürsten<br />

aufführen. Sie leisten sich eine Mannschaft,<br />

um ihr eigenes Ego und ihre Popularität<br />

zu stärken und behandeln ihre<br />

Fans nicht wie Kunden, sondern wie Untertanen.<br />

Deshalb halten sie es für unnötig,<br />

etwa in moderne Stadien zu investieren.<br />

Was dazu führt, dass Italiens Fußballarenen<br />

zu gespenstisch anmutenden<br />

Kulissen mit leeren Rängen degenerieren.<br />

Aber der Ruf nach familienfreundlichen<br />

Stadien „wie in Deutschland“ wird unter<br />

Trainern, Spielern und Tifosi immer lauter.<br />

Juventus Turin hat mit dem neuen<br />

Juventus-Stadion einen Anfang gemacht<br />

und siehe da: Die Arena des Rekordmeisters<br />

ist immer ausverkauft.<br />

Umgekehrt führt Italien Deutschland<br />

gerade vor, wie stark die Integrationskraft<br />

einer Nationalmannschaft sein<br />

kann. Nicht nur, weil hier wie dort Fußballer<br />

mit Migrationshintergrund spielen – in<br />

Italien etwa der aus Ghana stammende<br />

Mario Balotelli und der Italo-Ägypter Stephan<br />

El Shaarawy. Die Squadra Azzurra<br />

hat mit einer Vielzahl von Aktionen gesellschaftlich<br />

Stellung bezogen. Mal trainierte<br />

sie auf einem Platz, der vormals<br />

einem Mafiaboss gehört hatte, mal protestierte<br />

sie gegen die Gewalt gegen<br />

Frauen. Und Trainer Cesare Prandelli verurteilt<br />

öffentlich Rassismus und Homophobie,<br />

für das Buch eines Homosexuellen-Aktivisten<br />

verfasste er das Vorwort.<br />

Zu zeigen, dass eine Nationalmannschaft<br />

mehr sein kann als ein kommerzieller<br />

Werbeträger, dass die Spieler mehr soziale<br />

Verantwortung haben als auf dem<br />

Platz zu gewinnen – das ist das Verdienst<br />

der Azzurri, fern aller Klischees.<br />

Birgit Schönau (*1966), Italienkorrespon-<br />

dentin für die „<strong>Süd</strong>deutsche Zeitung” und<br />

„Die Zeit“. Buchveröffentlichung zum<br />

Thema: „Calcio – Die Italiener und ihr<br />

Fußball“, Kiepeneuer & Witsch, 2005.<br />

Birgit Schönau Alfred Dorfer<br />

Alfred Dorfer<br />

Heim zu<br />

Mutter<br />

Illustration — Laura Jurt<br />

Mütter haben es oft schwer. Manche Kinder machen Sorgen,<br />

andere werden unartig oder lösen sich gar ab. So<br />

schmerzvoll diese Trennung ist, eine gute Mutter sieht das<br />

nach und wird wohl immer für den Sprössling da sein. In<br />

einer ähnlichen Rolle sieht sich Österreich im Verhältnis zu<br />

<strong>Süd</strong>tirol. Nun kann man nicht behaupten, <strong>Süd</strong>tirol wäre<br />

unartig gewesen, aber ein Teil von Italien ist es aus österreichischer<br />

Sicht natürlich nicht. Ein historischer Irrtum<br />

will es, dass es südlich des Brenners plötzlich Schilder in<br />

italienischer Sprache gibt oder Carabinieri auf der Autobahn<br />

ihr Unwesen treiben. Natürlich schmeckt uns Österreichern<br />

der Kaffee und der Wein, doch das kann uns nicht<br />

davon abhalten, uns in Tirol zu wähnen, das lei oans isch.<br />

Jüngst traf es das Mutterherz gewaltig, als ein italienischer<br />

Politiker verlautbarte, diese Heimatprovinz der Kaiserjäger<br />

bedürfe nicht mehr der Schutzmacht Österreichs. Sofort<br />

warf sich in Wien der Bundeskanzler mit seiner typischen<br />

Verve in die Bresche und versicherte, <strong>Süd</strong>tirol könne immer<br />

auf Österreich zählen. Es werde seine Autonomie schützen,<br />

jawohl! Große Erleichterung in Bozen war die Folge. Wohl<br />

wissend, dass das österreichische Bundesheer zu den<br />

gefürchtetsten Armeen in Europa zählt. Im Inland auf jeden<br />

Fall, da jedes Manöver höchste Gefahr für die Bevölkerung<br />

bedeutet. Zudem soll, Berufsheer hin oder her, mehr<br />

Professionalität in diese Elitetruppe einkehren.<br />

Aber was, wenn nun italienische Soldateska, ihre<br />

blutrünstige Fratelli d'Italia-Nationalhymne auf den Lippen,<br />

in das heimliche zehnte Bundesland einfiele? Da wären<br />

plötzlich unsere Streitkräfte bitter nötig. Eine Wehrmacht,<br />

die auch in der Lage wäre, die frechen Invasoren wieder<br />

aus den idyllischen Bergdörfern zurück in die öde Ebene<br />

des Po zu jagen. Vielleicht müssten starke Garnisonen eine<br />

Zeit lang an den Alpengrenzen stationiert bleiben, um neuerliche<br />

Aggressionen schon im Keim zu ersticken. Denn<br />

wer weiß, wonach es hinterlistige Eidgenossen gelüstet?<br />

Oder gar das expansionswütige Liechtenstein? Da wird das


Freiwilligen-Kontingent der Tiroler Schützen, bei allem<br />

Sandwirt-Mut, allein nicht ausreichen. Jetzt mehren sich<br />

allerdings die Gerüchte, wonach die Italiener längst in <strong>Süd</strong>tirol<br />

eingedrungen wären. Das hat unser Bundeskanzler<br />

nicht bedacht. Doch wir wissen seit den Staatsvertragsverhandlungen<br />

mit den Russen, dass die List auf unserer Seite<br />

ist. Wenn es mit militärischen Mitteln nicht gelingen soll,<br />

dann eben anders. Romantiker meinen ja, gerade <strong>Süd</strong>tirol<br />

wäre ein ideales Land, um Italienisch richtig zu lernen. Aufgrund<br />

der zweisprachigen Beschriftungen. So liest man<br />

auch etwas ausgefalleneres Vokabular wie seggiovia (Sessellift)<br />

oder bastoncino degli sci (Skistock). Zwei Wörter,<br />

deren Be deutung etwa der Kalabrese im italienischen <strong>Süd</strong>en<br />

nicht einmal in der eigenen Sprache kennt. Aber eben<br />

diese Zweisprachigkeit ist unsere Chance. Klingt paradox,<br />

ist aber wahr. Man braucht dazu nur eine große Menge<br />

Filzstifte, die locker aus Wien über das ungesicherte <strong>Süd</strong>tiroler<br />

Pustertal eingeschmuggelt werden. Als deutsche Urlauber<br />

verkleidete österreichische Zivildiener – also mit<br />

Schnauzbart, Bauch und Bierflaschen – werden zunächst<br />

kleine Änderungen in den italienischen Aufschriften der<br />

Schilder anbringen: Zum Beispiel über malen sie mit weißem<br />

Abdeckstift am Wortende eines Ortes jedes O, wie bei<br />

Brennero oder Merano. Brunico wird zu Brunic. Wobei man<br />

hier aufpassen muss, dass nicht der Slowene plötzlich Ansprüche<br />

auf diesen Ort erhebt und auf Brunitsch pocht.<br />

56<br />

Leben Heim zu Mutter<br />

Als deutsche Urlauber verkleidete<br />

österreichische Zivildiener übermalen<br />

auf den Hinweisschildern mit weißem<br />

Abdeckstift am Wortende eines<br />

Ortes jedes O, wie bei Brennero oder<br />

Merano. Brunico wird zu Brunic.<br />

Wobei man hier aufpassen muss, dass<br />

nicht der Slowene plötzlich<br />

Ansprüche auf diesen Ort erhebt und<br />

auf Brunitsch pocht.<br />

Und schließlich aufgrund der reichhaltigen Erfahrung, die<br />

wir Österreicher aus Kärnten haben, erfolgt ein nächtlicher<br />

Austausch hin zu einsprachigen deutschen Ortstafeln oder<br />

Hinweisschildern. Der Italiener, gewöhnlich kein Frühaufsteher,<br />

wird die Veränderung erst zu Mittag bemerken.<br />

Danach folgt die typisch italienische Mittagspause. Wenn<br />

man diese Aktion im Winter macht, ist es zu dieser Tageszeit<br />

bereits finster. Und dann passiert gar nichts mehr. Am<br />

nächsten Tag dasselbe Spiel. Bald werden sich alle Italiener<br />

in diesem nur auf Deutsch ausgeschilderten Land<br />

nicht mehr zurechtfinden und <strong>Süd</strong>tirol verlassen.<br />

Und höchstens zur Zeit der Weihnachtsmärkte zurückkehren.<br />

Wo sie mit ihren Pelzkragenkapuzen samt Daunenjacken<br />

durchgeschleust werden, um überteuerten Speck<br />

oder Lebkuchen zu kaufen. Da wiederum wäre eine zweisprachige<br />

Beschilderung wegen des Profits allerdings<br />

anzuraten. Zum Schluss, nach einem kleinen „Obstlero“,<br />

wieder ab in den Bus in Richtung Vicenza oder so. Danach<br />

ist wieder Ruhe im deutschen <strong>Süd</strong>tirol und man kann entspannt<br />

darüber reden, wann es endlich wieder ein Teil<br />

Österreichs wird. Heim zu Mutter quasi. Das ist doch sicher<br />

der größte Wunsch im ehemaligen Alto Adige, oder?<br />

Alfred Dorfer (*1961), österreichischer Kabarettist und Schau-<br />

spieler, Kolumnist für „Die Zeit“. Aktuelle Buchveröffentlichung:<br />

„Wörtlich. Satirische Texte“, Karl Blessing Verlag, 2007.


Toni Bernhart<br />

Vom kürzeren Ende des<br />

Tages her<br />

Fotografie — Elisabeth Hölzl


Die Bewohner der 3.350-Seelen-<br />

Gemeinde Prad im Vinschgau am Fuß<br />

des Stilfser Joch versorgen sich schon<br />

seit Jahrzehnten selbst mit grünem<br />

Strom – und zahlen für die Kilowattstunde<br />

weniger als andere italienische<br />

Stromkunden. Und auch jetzt wollen<br />

sie wieder Pioniere sein: Als erste italienische<br />

Gemeinde bauen sie ein intelligentes<br />

Stromnetz auf, das die örtliche<br />

Nachfrage an elektrischer <strong>Energie</strong> darauf<br />

abstimmt, was Wasserkraft und<br />

Biogas gerade produzieren. Was macht<br />

diese Gemeinde und diese Menschen<br />

so besonders? Ein literarischer und fotografischer<br />

Blick auf Prad klärt auf.<br />

Ich sitze mit dir auf dem Berg. Du wickelst zwei dickwandige<br />

Punschgläser aus einem blau-weiß-karierten Geschirrtuch.<br />

Wir trinken den Punsch, den du in der Thermosflasche<br />

im Rucksack zusammen mit den Punschgläsern<br />

auf den Berg getragen hast. Es ist Winter, aber nicht kalt.<br />

Den Charakter eines Menschen kann man nicht<br />

ändern, sagst du, das geht nicht. Wer das will, kommt mit<br />

keinem mehr aus. Wir sitzen auf dem Berg und trinken<br />

Punsch, im Rücken die Mittagssonne, die tief am Himmel<br />

steht. Deshalb, sagst du, ist es dir wichtig, dass du reisen<br />

kannst und dein Hobby der Vogelbeobachtung pflegen, verschiedene<br />

ferne Weltgegenden hast du schon bereist und<br />

unterschiedliche Vögel gesehen und gehört. Es ist erstaunlich,<br />

sagst du, wie unterschiedlich sie singen, zwitschern<br />

oder schreien, als sprächen sie verschiedene Sprachen und<br />

verstünden sich trotzdem.<br />

Prad ist ein prächtiges Dorf, sagst du, während du<br />

uns ein zweites Glas Punsch aus der Thermosflasche in<br />

die Gläser gießt. Prad hat das größte Theater weitum. Das<br />

Publikum kommt von weither, in Bussen und mit der Bahn,<br />

aus dem ganzen Land und aus dem Ausland. Hier gibt<br />

es Theater nach jedem Geschmack, Opern, Musicals, die<br />

großen Dramen der Weltliteratur und avantgardistische<br />

Performances. Der Wettbewerb ist außerordentlich, sagst<br />

du, seitdem es zwei Ensembles gibt, deren Spielpläne<br />

den Vergleich mit den großen Bühnen Europas nicht zu<br />

scheuen brauchen. Die dänische Regisseurin, sagst du,<br />

hat ein kluges Händchen gezeigt, als sie das letzte Stück<br />

im Herbst nicht auf der großen Bühne, auch nicht im<br />

Studio, sondern im Apfelkühlhaus gezeigt hat. Du hältst<br />

dein Punschglas in das Licht der Sonne, das das Getränk<br />

glitzern lässt. Der Raum im Kühlhaus ist, sagst du, wie<br />

58<br />

Leben Vom kürzeren Ende des Tages her


59<br />

<strong>Energie</strong>autarkes Prad. Weder Unternehmen noch der italienische Staat zeigten jemals Inter-<br />

esse daran, eine <strong>Energie</strong>versorgung in diesem abgelegenen Ort aufzubauen. So nahmen die<br />

Bewohner das selbst in die Hand. Mitte der 1920er-Jahre wurde das erste Wasserkraftwerk<br />

eröffnet, betrieben von einer kleinen Genossenschaft<br />

Daran sind heute fast alle Familien und Betriebe des Dorfes beteiligt. Mittlerweile versorgt ein<br />

grüner Mix aus Wasserkraft, Biomasse, Biogas und Sonnenenergie die Gemeinde komplett mit<br />

Strom und Wärme. Produktionsüberschüsse werden verkauft, der Erlös fließt zurück in die<br />

lokalen wirtschaftlichen Kreisläufe. Die Strompreise liegen derzeit 25 Prozent unter dem nationalen<br />

Durchschnitt. Der ausgeklügelte rein regenerative <strong>Energie</strong>mix bescherte Prad 2010<br />

den Sieg in der Champions-League europäischer Gemeinden bis zu 5.000 Einwohner<br />

Toni Bernhart und Elisabeth Hölzl


Elisabeth Pichler-Wellenzohn ist seit über 30 Jahren Sekretärin der „<strong>Energie</strong>-Werk-<br />

Prad Genossenschaft“. Sie verwaltet auch die Schlüssel jener Mitglieder, denen<br />

neben einem haushaltsüblichen auch ein stärkerer 350-Volt-Stromanschluss zur<br />

Verfügung gestellt wird. Bei Bedarf wird der Schlüssel abgeholt, die zusätzliche<br />

<strong>Energie</strong>kraft genutzt, der Verbrauch abgelesen, der Anschluss verplombt und der<br />

Schlüssel wieder im E-Werk abgegeben<br />

gemacht für Theater, ein weißer Kubus ohne Fenster, fünfzehn<br />

mal fünfzehn Meter in der Fläche und fünfzehn Meter<br />

hoch, so ein Würfel ohne Fenster passt für jedes Stück,<br />

egal, ob es ein altes oder neues ist, wie es ja auch ganz<br />

egal ist, ob man ein neues oder altes Stück spielt, sofern<br />

es mit der Zeit, in der es spielt, und mit der Zeit, in der wir<br />

leben, und du sagst, du meinst das ganz allgemein, klar<br />

und deutlich zu tun hat. Da spielt es überhaupt keine Rolle,<br />

ob die Banken und die Wirtschaft klar und deutlich angesprochen<br />

sind, auch die gegenwärtigen politischen und<br />

landwirtschaft lichen Krisen spielen keine Rolle, weil die<br />

Gegenwart immer eine Krise ist. Du wunderst dich, sagst<br />

du, warum die Menschen verzweifeln, wenn der Strom<br />

ausfällt, du bist gerüstet mit Taschenlampen und Kerzen in<br />

jedem Raum. Es ist nicht gut, wenn jemand abhängig ist.<br />

Wer auf etwas wartet, ist abhängig. Nur wer nicht wartet,<br />

ist unabhängig. Und dann sagst du, vor dem Strom sind<br />

60<br />

Leben Vom kürzeren Ende des Tages her<br />

alle Menschen gleich. Dann schweigen wir ein Weilchen<br />

und lassen die Stille der Berge auf uns wirken. Wir hören<br />

nichts hier oben, weil Winter ist und die Murmeltiere<br />

schlafen.<br />

Prad hat den billigsten Strom in ganz Italien und<br />

Europa, und er ist deshalb kein schlechter, sagst du, ganz<br />

im Gegenteil. Er eignet sich vorzüglich zum Kochen und<br />

Backen, auch in der vegetarischen und sogar der veganen<br />

Küche, die vom progressiveren Flügel des Bäuerinnenverbandes<br />

vertreten wird, auch zum Güllerühren oder für das<br />

Betreiben von Betonmischanlagen ist der Prader Strom bestens<br />

geeignet. Was sein Temperament und seine Eleganz<br />

betrifft, sagst du, steht der Prader Strom dem Strom zum<br />

Beispiel aus sizilianischer oder südspanischer Pro duktion in<br />

nichts nach, in gar nichts, ganz im Gegenteil, er übertrifft<br />

ihn noch um ein Vielfaches. Man hört das sofort, wenn man<br />

zum Beispiel Vorschlaghämmer, Schlag bohr maschinen


Arbeiter in der Vergärungsanlage. Hier wird aus Gülle, Mist und Abfallobst Biogas gewonnen. Dieses gelangt über eine unterirdische<br />

Leitung zu zwei Fernwärmezentralen, wo es in Strom und Wärme umgewandelt wird<br />

61 Toni Bernhart und Elisabeth Hölzl


Macher und Visionäre. Toni Angerer (links oben) gehört zum Technikerteam, Martin Niederegger (Mitte unten) treibt die <strong>Energie</strong>wende<br />

technisch voran. Georg Wunderer, dessen Großvater zu den <strong>Energie</strong>pionieren des Dorfes gehört, ist der Geschäftsführer<br />

und Visionär der <strong>Energie</strong>genossenschaft. Sein Rat ist international gefragt. Wunderers neuestes Projekt: Ein intelligentes<br />

Stromnetz, das jederzeit weiß, wie viel Strom gerade produziert wird und die Nachfrage daran anpasst<br />

62 Leben Vom kürzeren Ende des Tages her


oder Druckluftkompressoren betreibt, man sieht das sofort.<br />

Es ist ein Genuss, sagst du. Wir trinken darauf, stoßen<br />

mit den Gläsern aber nicht an, um die Bergesruhe nicht zu<br />

stören.<br />

Auch wenn das Theater hier in Prad vom Publikum<br />

gefeiert und von der Presse hoch gelobt wird, wenn es aber<br />

um die gesellschaftliche Relevanz geht, sagst du, wenn es<br />

also darum geht, was zählt in Prad und in der Welt, und du<br />

sagst, dass das ein für alle Mal gesagt sein muss, dann<br />

hat≈der Müll die größere Bedeutung. Der Müll fördert den<br />

Gemeinschaftssinn, sagst du. Das ist ein Phänomen, das<br />

es kein zweites Mal gibt, im ganzen Tal nicht, über das<br />

wir blicken, während wir sitzen, hier oben auf dem Berg,<br />

kein zweites Mal. Auch vor dem Müll sind alle Menschen<br />

gleich, sagst du. Wenn du jemanden treffen willst, sagst<br />

du, bringst du samstags deinen Müll zur Sammelstelle,<br />

da triffst du jeden, den du treffen willst, alle sind da, jeder<br />

63<br />

Heißes Wasser für die Waschküche des Campingplatzes Kieferhain. Mit Abfallholz aus Sägewerken und<br />

Hackholz, das zum Teil aus den umliegenden Wäldern stammt, werden drei Öfen beheizt. Das heiße Wasser<br />

fließt über ein rund 20 Kilometer langes Fernwärmenetz zu den angeschlossenen Gebäuden<br />

Toni Bernhart und Elisabeth Hölzl<br />

bringt den Müll auf seine Weise, jeder bringt ihn so, wie er<br />

es am besten kann, manche mit dem Fahrrad, manche zu<br />

Fuß, die meisten im Auto oder mit dem Traktor. Auch eine<br />

Frau im Lamborghini war schon da, sagst du, sie hat drei<br />

Saftflaschen in die Glastonne geworfen. Es geht hier nicht<br />

um das Trennen oder Sammeln von Müll, das ist eine monastische<br />

und private Angelegenheit in den eigenen vier<br />

Wänden unter Ausschluss der Öffentlichkeit, was zählt,<br />

sagst du, ist das Hinbringen des Mülls, das Zusammenströmen<br />

der ganzen Dorfgemeinschaft auf dem Müllsammelplatz,<br />

der jeweils donnerstags am Nachmittag und samstags<br />

am Vormittag geöffnet hat. Du kannst dir vorstellen,<br />

sagst du, dass das ähnlich ist wie früher auf dem Kirchplatz,<br />

Menschen stehen zusammen in Gruppen und sprechen<br />

miteinander, die ganze Woche wird verhandelt, niemand<br />

ist eigentlich da wegen des Mülls allein oder der<br />

Sonntagsmesse, sagst du, und gießt uns heißen Punsch


nach, der in der Wintersonne dampft. Du bringst gerne<br />

deinen Müll zur Sammelstelle. Manchmal, sagst du, bist du<br />

mehrere Stunden dort, ohne Müll wären wir allein, wir wären<br />

einsam und verlassen in unseren vier Wänden und hätten<br />

nichts, was wir mit den anderen teilen könnten.<br />

Wer es urbaner mag, sagst du, bringt seinen Müll<br />

nach Glurns. Die Sammelstelle dort ist rund um die Uhr<br />

geöffnet, an allen Tagen der Woche. Es ist dort alles wie in<br />

Prad, nur größer, heller und freundlicher. Es gibt Container<br />

für Flach- und Rundglas, differenziert nach vier Farben,<br />

für Hohlkörper mit oder ohne Deckel, Alteisen, Papier, Karton,<br />

Schaumstoffe, Hecken- und Rasenschnitt extra, altes<br />

Bratöl und Motorenöl, Fungizide, Herbizide, Pestizide, Kosmetika<br />

und Waschmittel, die auf einer besonderen mobilen<br />

Waage gewogen werden, Elektroschrott, Waschmaschinen,<br />

Kühlschränke und Röhrenbildschirme haben eigene separate<br />

Abstellflächen, Bauschutt, Holzmüll mit oder ohne<br />

Eisenanteil und an drei Tagen in der Woche auch Tierkadaver.<br />

Auch die Müllsammelstellenmitarbeiter sind dort<br />

64<br />

Lebendes Geschichtsbuch. Peppi Stecher betreibt seit 1946 ein Gemischtwarengeschäft an der Hauptstraße.<br />

Als das erste Wasserkraftwerk in Betrieb genommen wurde, war die heute über 90-Jährige vier<br />

Jahre alt<br />

Leben Vom kürzeren Ende des Tages her<br />

netter. Sie vermitteln allen das Gefühl, dass alle herzlich<br />

willkommen sind mit ihrem Müll und als Person. Das ist<br />

auch der tiefere Grund, sagst du, warum die Menschen den<br />

Müll lieber nach Glurns bringen statt nach Prad. Sonst<br />

könnte man den Müll ja einfach der Müllabfuhr überlassen,<br />

was aber niemand gerne macht. Auch du, sagst du, bringst<br />

lieber deinen Müll nach Glurns. Dort fehlt noch ein Café. Es<br />

ist sehr still hier oben auf dem Berg. Es wäre schön, wenn<br />

es bei der Müllsammelstelle ein Café gäbe, sagst du, man<br />

könnte sich noch besser unterhalten. Café Desire, sagst du,<br />

sollte es heißen, und zeichnest mit dem Punschglas in der<br />

Hand den Namen in großen Lettern in den Winterhimmel.<br />

Trotzdem, Prad ist schön, sagst du, denn der Gemeinsinn<br />

ist hier ausgesprochen ausgeprägt, ebenso die<br />

Liebe zu Gemeinsamkeit, Gemeinschaft und zu allem<br />

Gemeinsamen, auch wenn du lieber, wie du sagst, ferne<br />

Weltengegenden bereist und die Stimmen der Vögel hörst,<br />

die du verstehen kannst als weltumspannendes Netz. Alle<br />

ziehen gemeinsam am gleichen Strang, alle machen alles


gemeinsam hier in Prad, das ist schön, sagst du, man kann<br />

hier in Prad gar nichts machen, ohne dass immer alle<br />

gleich helfen wollen, auch wenn es darum geht, die Farbe<br />

der Vorhänge an den Fenstern der Hinterseite des Hauses<br />

zu wählen, immer sind alle da und denken mit. Deshalb<br />

treffen sich auch alle gerne beim Müll, sei es in Prad oder,<br />

weil es dort herzlicher zugeht, im urbaneren Glurns, und<br />

bald auch im Café Desire, das du eröffnen wirst.<br />

Weißt du, sagst du, während wir unser viertes Glas<br />

Punsch aus den dickwandigen Gläsern trinken, und blickst<br />

zu mir herüber, manchmal möchtest du auch im Sommer,<br />

wenn es sehr heiß ist, dampfenden Punsch aus dick wandigen<br />

Gläsern trinken. Dann blickst du wieder geradeaus,<br />

während du weitersprichst. Es kann schon sein, sagst<br />

du, dass dann so etwas wie eine doppelte Hitze eintritt,<br />

Hitze von außen von der Sonne und Hitze von innen vom<br />

Punsch. Diese doppelte Hitze steigert sich zur Glut, die<br />

ei nen frösteln macht. Dann ist es plötzlich wieder kühl.<br />

Dann sagst du eine Weile nichts.<br />

65<br />

Wochenmarkt in Prad. „Prad ist schön, sagst du, denn der Gemeinsinn ist hier ausgesprochen ausgeprägt,<br />

ebenso die Liebe zu Gemeinsamkeit.“<br />

Toni Bernhart und Elisabeth Hölzl<br />

Wir haben noch die Gläser voll, sagst du. Wir trinken<br />

aus. Die Thermosflasche ist leer, sagst du, nachdem wir<br />

das vierte Glas Punsch getrunken haben. Du wickelst die<br />

zwei dickwandigen Gläser, die jetzt klebrig sind, in das<br />

blau-weiß-karierte Geschirrtuch und steckst sie zusammen<br />

mit der leeren Thermosflasche in den Rucksack zurück.<br />

Die Sonne steht noch am Himmel, aber schon tief, an diesem<br />

frühen Winternachmittag auf dem Berg.<br />

Toni Bernhart (*1971), Literaturwissenschaftler und Theaterautor<br />

in Berlin, seit 2008 Koordinator der Graduiertenschule<br />

für die Künste und die Wissenschaften an der Universität<br />

der Künste Berlin. Aktuelle Veröffentlichtung: „Das Laaser<br />

Spiel vom Eigenen Gericht“, Folio, 2010.


Gustav Hofer<br />

Stärkt die<br />

Kultur<br />

Illustration — Gino Alberti<br />

„Rettungsroutine“ – dieser seltsame Be-<br />

griff wurde von der Gesellschaft für deut-<br />

sche Sprache zum „Wort des Jahres“ ge-<br />

kürt, mit der Rechtfertigung, … es stehe<br />

für die immer wiederkehrenden Maßnahmen<br />

zur Rettung des Finanzsystems.<br />

Nun mag dieser Begriff für den<br />

deutschen Sprachgebrauch eine Neuigkeit<br />

darstellen, für Kulturschaffende in<br />

Italien ist die „Rettungsroutine“ jedoch<br />

eine gute alte Bekannte, deren Portemo n-<br />

naie allerdings in den Jahren immer dün-<br />

ner geworden ist. Tatsächlich sind die<br />

Förderungen im Mutterland der abendländischen<br />

Kultur in den vergangenen<br />

Jahren dahingeschmolzen wie Schnee in<br />

der Frühlingssonne. „Kultur macht nicht<br />

satt“, hat es der ehemalige Meister der<br />

kreativen Bilanzen Ex-Finanzminister<br />

Giulio Tremonti einmal auf den Punkt<br />

gebracht, als er die erneuten Kürzungen<br />

im Kulturhaushalt rechtfertigen sollte.<br />

Dabei bestätigten eine Reihe von<br />

Untersuchungen, dass gerade in Italien<br />

der Weg aus der Krise über die Kultur<br />

laufen müsste. Ein investierter Euro in<br />

Kultur bringt drei Euro Gewinn – so das<br />

Resultat einer Mailänder Studie. Die Realität<br />

schaut aber bisher anders aus, und<br />

daran hat auch die Übergangsregierung<br />

von Mario Monti nichts geändert. Den<br />

Kahlschlag im Kulturbereich hat die Regierung<br />

der Techniker weitergeführt.<br />

Positive Lichtblicke<br />

2012 hat es trotz der finanziellen Schwierigkeiten<br />

durchaus auch positive Lichtblicke<br />

gegeben. Das Filmjahr 2012 hat mit<br />

einem unerwarteten Comeback begonnen:<br />

Die über 80-jährigen Gebrüder Taviani<br />

gewannen mit „Cesare deve morire“<br />

den Goldenen Bären auf der Berlinale.<br />

Auch in Cannes ging das italienische<br />

Qualitätskino nicht leer aus: Matteo Garrones<br />

„Reality“ heimste den Grand Prix<br />

ein und auf internationalen Festivals rund<br />

um den Globus füllten italienische Spielund<br />

Dokumentarfilme die Kinosäle.<br />

Bringt das Weniger an Ressourcen<br />

also ein Mehr an Kreativität? Bewahrheitet<br />

sich das Klischee „Not macht erfinderisch“?<br />

Blickt man etwa auf den italienischen<br />

Dokumentarfilm, erlebt man eine<br />

lebendige Szene, mit Filmemachern, die<br />

neue dramaturgische Wege einschlagen,<br />

auf unkonventionelle und frische Art<br />

66 Leben Stärkt die Kultur<br />

Geschichten des Lebens erzählen und<br />

ohne Komplexe die Grenze zwischen Fiktion<br />

und Realität verschwimmen lassen.<br />

Das Fehlen an Geldgebern gibt den Filmemachern<br />

die künstlerische Freiheit,<br />

sich nicht klassischen Formatvorgaben<br />

anpassen zu müssen. Finanzielle Mittel<br />

Dabei bestätigten<br />

eine Reihe von Untersuchungen,<br />

dass gerade<br />

in Italien der Weg aus der<br />

Krise über die Kultur<br />

laufen müsste. Ein in Kultur<br />

investierter Euro<br />

bringt drei Euro Gewinn.<br />

von Fernsehsendern oder dem Kulturmi-<br />

nisterium sind in Italien Mangelware und<br />

so trifft man auf den internationalen Filmmärkten<br />

und Pitchings reihenweise italienische<br />

Kollegen, die im Ausland jene finanzielle<br />

Unterstützung suchen, die ihnen<br />

in ihrer Heimat verwehrt bleibt. Italienische<br />

Produzenten von Dokumentarfilmen<br />

sind mittlerweile gern gesehene Gäste,<br />

die den internationalen Markt oft besser<br />

kennen als die finanzierungsverwöhnten<br />

Kollegen nördlich der Alpen. Die Einführung<br />

der Filmförderung der Business<br />

Location <strong>Süd</strong>tirol – Alto Adige (<strong>BLS</strong>),<br />

die als Standortagentur Produktionen<br />

auf <strong>Süd</strong>tiroler Boden unterstützt, ist dabei<br />

eine Ausnahme und ein Hoffnungsschimmer<br />

für hunderte Filmprofis, die<br />

südlich der Brennergrenze noch hoffen,<br />

Geld für ihre Geschichten zu finden.<br />

Während sich der Dokumentarfilm<br />

in Italien an sein Stiefmütterchen-Dasein<br />

längst gewöhnt hat, war 2012 für den<br />

italienischen Spielfilm ein hartes Jahr.<br />

Niedrigere öffentliche Förderungen sind<br />

dabei nur eines der Probleme. Vor allem<br />

das Sterben der Kinosäle und die sinkende<br />

Zahl der Kinobesucher stellt die<br />

Filmindustrie vor neue Herausforderungen,<br />

die Kreativität und Mut erfordern.<br />

Kultur als „Gut der Allgemeinheit“<br />

Das sind zwei Elemente, die die italienische<br />

Theaterszene teilweise bereits um-


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gesetzt hat. Über Jahrzehnte wurden mit<br />

öffentlichen Mitteln die immer gleichen<br />

Regisseure und Produktionen überfinanziert.<br />

Oligarchische Strukturen bestehend<br />

aus einer Mischung aus Politik und Kultur<br />

wurden so über Jahre gefestigt – mit dem<br />

Resultat eines fast völligen künstlerischen<br />

Stillstandes der Bühnenkunst. Gegen<br />

dieses Klientelsystem hat sich im Juni<br />

2011 eine Gruppe von Schauspielern, Dramaturgen<br />

und Theatermachern aufgelehnt<br />

und das älteste Theater Roms, das<br />

Teatro Valle, das nach den Einschnitten<br />

im Kulturhaushalt geschlossen wurde,<br />

besetzt. Seitdem machen sie dort Programm<br />

und haben ohne öffentliche Mittel<br />

einen lebendigen Kulturpol im Herzen<br />

Roms aufgebaut. Ihrem Beispiel folgten<br />

Theaterbesetzungen in Neapel, Mailand,<br />

Pisa und Venedig. Im Mittelpunkt steht<br />

dabei die Idee von Kultur als „Gut der<br />

Allgemeinheit“ und die Forderung, öffentliche<br />

Finanzspritzen an einen Qualitätsanspruch<br />

zu koppeln. Gleichzeitig setzen<br />

sich die Theater-Besetzer für gerechte<br />

Arbeitsbedingungen und faire Löhne im<br />

Kulturbetrieb ein.<br />

Wenn Kultur zum treibenden Motor<br />

eines kriselnden Landes wie Italien<br />

werden soll, ist es unabdingbar, genau<br />

diese Punkte in den Mittelpunkt zu stellen.<br />

Gute Ideen und nicht gute Beziehungen<br />

müssen gefördert werden, daran sollten<br />

sich Kulturschaffende, aber vor allem<br />

die Politik gewöhnen. Artikel 9 der italienischen<br />

Verfassung besagt: Die Republik<br />

fördert die Entwicklung der Kultur. Das<br />

heißt, dass der Staat einerseits Kultur<br />

finanziell unterstützen muss – doch dies<br />

allein reicht nicht. Eine neue Kulturpolitik<br />

muss guten Ideen offen gegenüberstehen,<br />

deren Umsetzung unterstützen und deren<br />

Machern entgegenkommen.<br />

So ist auch in Italien eine kulturelle<br />

Renaissance möglich, denn an Potenzial<br />

und Ideen hat es diesem Land<br />

nie gefehlt.<br />

Gustav Hofer (*1976), seit 2000 freier<br />

Mitarbeiter beim Kultursender ARTE und<br />

Gestalter von Dokumentarfilmen in Rom.<br />

Aktuelle Dokumentation: „Italy: Love it or<br />

leave it“, 2011.<br />

67 Gustav Hofer


68 Leben Ideen und Techniken einer nachhaltigen <strong>Energie</strong>versorgung<br />

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69<br />

Something Fantastic


70<br />

Perspektiven<br />

Wissen<br />

Im Avantgardistisch: kleinen Dorf Prad Nachhaltige im oberen Architektur Vinschgau hat ist Querden- mehr als<br />

kertum ein bisschen Tradition Wärmedämmung 23 Nach hundertneunzig – fünf Vorbilder Jahren mit steht Sinn<br />

der fürs Weinbauer Schöne 71 Alois Mitgehangen: Lageder dem Alpine industriealisierten,<br />

Seilbahnen er-<br />

biodynamischen obern die Großstädte Betrieb 77 vor Trendig: — sein Fahrräder Credo: veredelte für jede<br />

Lebenslage Qualität für 80 die breite Abgefahren: Masse 43 Mit Wasserstoffautos In Italien wird liebend über<br />

gerne den Brenner mit Händen 87 Ideenreich: und Füßen Innovativ gesprochen, Mobilitätsprojek kann man te<br />

in dabei <strong>Süd</strong>tirol Sprechenergie 90 Umkehren: spare? Plädoyer Über <strong>Energie</strong>effizienz für mehr Gemeinsinn trotz<br />

91 wilder Aufbrechen: Gestik schreibt Wie aus Wolf Wissen Haas Taten 44 Fixies, werden Mountain- 92<br />

bike und Klapprad: Wie sieht das grünste Fortbewegungsmittel<br />

aus? 47


Wojciech Czaja<br />

Grüne Bausteine


Ein bisschen Wärmedämmung, ein<br />

paar grüne Lippenbekenntnisse und<br />

ein medial verwertbares KlimaHaus-<br />

Zertifikat zum Abschluss? Das ist<br />

zu wenig. Nachhaltigkeit ist ein komplexes<br />

Zusammenspiel von vielen<br />

unterschiedlichen Komponenten. Sie<br />

lässt sich nicht über einen Kamm<br />

scheren, sondern muss von Projekt<br />

zu Projekt in dividuell abgewogen<br />

werden. Fünf Beispiele aus <strong>Süd</strong>tirol.<br />

Es passiert nicht oft, dass der Firmensitz eines Industrieunternehmens<br />

den Weg auf die Architekturbiennale in Venedig<br />

findet. Dem <strong>Süd</strong>tiroler Bergsportspezialisten Salewa<br />

wurde dieses seltene Glück zuteil. Das von Cino Zucchi<br />

Architetti und Park Associati geplante Projekt wurde auf der<br />

Biennale 2010 im italienischen Pavillon ausgestellt. In der<br />

Folge wanderte das Salewa-Headquarter durch sämtliche<br />

internationale Gazetten und wurde für seine außergewöhnliche<br />

Architektur gelobt. Dass es sich bei dem monströsen<br />

Cluster, der wie ein schwarzer Berg kristall neben der Autobahn<br />

steht, um ein Vorzeigeprojekt in puncto Nachhaltigkeit<br />

handelt, ging in der Mediendiskussion allerdings unter.<br />

Ökologisch und sozial nachhaltig. Der Hauptsitz des Bergsportspe-<br />

zialisten Salewa im Bozner Gewerbegebiet Foto: Oskar Da Riz<br />

Das Salewa-Gebäude ist ein sogenanntes<br />

KlimaHaus B nach <strong>Süd</strong>tiroler Standards und somit besonders<br />

sparsam im <strong>Energie</strong>- und Ressourcenverbrauch.<br />

Außerhalb <strong>Süd</strong>tirols spricht man eher von Niedrigenergie-<br />

und Passivhaus. Doch der Salewa-Bürokomplex zeichnet<br />

sich nicht nur durch ökologische, sondern auch durch soziale<br />

Nachhaltigkeit aus. Das 27.000 Quadratmeter große<br />

72 Wissen Grüne Bausteine<br />

Gelände verfügt über Büros, Innovations- und Technologiecenter,<br />

über ein Logistikzentrum, einen eigenen Kindergarten<br />

sowie über die mit 2.000 Quadratmetern Kletterfläche<br />

größte Kletterhalle Italiens. Damit wird das Ge lände<br />

regelmäßig auch von Kindern und Jugendlichen genutzt.<br />

„Nachhaltigkeit wird oft sehr einseitig interpretiert<br />

und wird meist nur mit Passivhausqualität und Hightech-<br />

Lösungen in Verbindung gebracht“, sagt Filippo Pagliani,<br />

Projektleiter bei Park Associati, auf Anfrage von „<strong>Nord</strong> &<br />

<strong>Süd</strong>“. „Doch das ist ein Irrglaube, denn Nachhaltigkeit ist<br />

vor allem ein intelligentes Nutzungskonzept mit einfacher<br />

Wartung und entsprechend niedrigen Lebenszykluskosten.<br />

Nur wenn alle Komponenten zusammenspielen, kann<br />

man von einem nachhaltigen Gebäude sprechen.“<br />

Um die von der Sonne gewonnene <strong>Energie</strong>menge<br />

im Sommer zu reduzieren, wurde die <strong>Süd</strong>fassade mit einer<br />

mikroperforierten Aluminiumhaut überzogen. Darüber<br />

hinaus wurde das gesamte Gebäude in eine hochwertige<br />

Wärmedämmung aus Schaumglas eingepackt. Auf dem<br />

Dach befindet sich eine 2.100 Quadratmeter große Fotovoltaikanlage,<br />

die pro Jahr rund 400 Megawattstunden<br />

Strom produziert. Damit kann ein großer Teil des Stromverbrauchs<br />

abgedeckt werden. Geheizt und gekühlt wird<br />

das 40 Mil lionen Euro teure Hauptquartier – die reinen<br />

Baukosten belaufen sich auf 20 Millionen – mit Erdwärme.<br />

Erst kürzlich wurde das Projekt für seine Bemühungen mit<br />

dem KlimaHaus Award 2012 ausgezeichnet.<br />

„Leider passiert es heute noch sehr selten, dass bei<br />

der Errichtung eines Gebäudes die Lebenszykluskosten<br />

errechnet werden“, sagt der Wiener Architekt Martin<br />

Treberspurg. „Und wenn, dann dreht sich meist alles nur<br />

um laufende Betriebskosten. Die Abbruch- und Entsorgungskosten<br />

eines Gebäudes oder auch nur einzelner Gebäudeteile<br />

werden völlig außer Acht gelassen. Und das,<br />

obwohl wir längst wissen, dass nicht jedes Haus auf dieser<br />

Welt für die Ewigkeit gebaut ist!“<br />

Die Baustoffindustrie, die über eine der mächtigsten<br />

Lobbys der Welt verfügt, breitet über dieses heikle Thema<br />

geschickt den Mantel des Schweigens aus. Statt am Klimaschutz<br />

ist sie vor allem an der Vermarktung ihrer hochgepriesenen<br />

Bau- und Dämmstoffe interessiert. Ein grünes<br />

Umwelt-Logo und ein paar Lippenbekenntnisse werden<br />

schon reichen. Die oft horrende Gesamtenergiebilanz der<br />

einzelnen Produkte wird meist verschwiegen. Ein Beispiel<br />

aus dem Nachbarland: Allein in Österreich werden jährlich<br />

rund 10 Millionen Quadratmeter Wärmedämmverbundsystem<br />

verbaut. Tendenz steigend. Damit könnte man ein<br />

Haus dämmen, das so groß wie die Wiener Innenstadt und<br />

fast zwei Kilometer hoch ist. Alles Sondermüll.<br />

Umso wichtiger ist es, dass sich Auftraggeber und<br />

Architekten auf Produkte und Technologien einigen, die<br />

nicht schon in 10 oder 20 Jahren ihr Lebensende erreicht<br />

haben und entsorgt werden müssen. Niederschwellige,<br />

leicht instand zu haltende Technologien sind eine Möglichkeit,<br />

dieses Ziel zu erreichen. Mineralische oder nachwachsende<br />

Rohstoffe sind eine andere. Schaumglas beispielsweise<br />

ist eine zwar etwas kostenintensivere, aber aufgrund<br />

seiner Lebenserwartung und Recyclingfähigkeit durchaus


Zwischen Kirchplatz und<br />

historischen Altbauten. Das<br />

neue Rathaus in St. Lorenzen<br />

bei Bruneck<br />

Fotos: Marion Lafogler<br />

sinnvolle Alternative zu den erdölbasierten EPS-Dämmstoffplatten,<br />

die am Ende ihrer Dienste aus dem Kreislauf<br />

fallen und zu 100 Prozent entsorgt werden müssen.<br />

Nachhaltiges Vogelgezwitscher<br />

Nicht nur große Bauvorhaben, hinter denen zumeist wirtschaftlich<br />

potente Industrieunternehmen stehen, setzen<br />

auf die Nachhaltigkeitskarte. Es sind auch und vor allem<br />

die kleinen und unscheinbaren Eingriffe in bestehende<br />

Stadtstrukturen, die sich am Ende des Tages als ökologisch<br />

vertretbare Projekte herausstellen. Denn: Gesünder für die<br />

Klimabilanz ist allemal ein Gebäude im Stadtverband, wo<br />

die zusätzlich anfallenden Belastungen wie Verkehr, Infrastruktur<br />

und Heizung weitaus<br />

geringer ausfallen als bei einem<br />

Bauwerk auf der grünen Wiese.<br />

Das neue Rathaus in St. Lorenzen,<br />

das mitten im ensemblegeschützten<br />

Dorfkern zwischen Kirchplatz<br />

und historischen Altbauten liegt,<br />

ist so ein Beispiel.<br />

Wie der Salewa-Hauptsitz<br />

in Bozen ist es rundum mit 20<br />

Zentimeter starken Mineralschaumplatten<br />

verkleidet. „EPS-<br />

Kunststoffe haben bei gleicher Dämmstärke zwar etwas<br />

bessere Dämmeigenschaften als Schaumglas, doch dafür<br />

schneiden sie in der ökologischen Gesamtenergiebilanz<br />

73 Wojciech Czaja<br />

weniger gut ab“, erklärt Architekt Armin Pedevilla. „Wir<br />

werden es uns eines Tages nicht mehr leisten können, fossile<br />

Rohstoffe zu verbauen. Schon gar nicht, wenn wir nicht<br />

einmal wissen, wie wir diese Materialien eines Tages entsorgen<br />

sollen.“ Im Gegensatz zu Österreich und Restitalien<br />

ist in <strong>Süd</strong>tirol in den letzten Jahren ein Trend zu mineralischen<br />

Dämmstoffen zu erkennen. Darüber freut sich auch<br />

die Feuerwehr, denn brandschutztechnisch ist man den<br />

Kunststoffen damit weit voraus.<br />

Anders als die meisten Bürobauten verfügt das Gemeindehaus<br />

über eine kontrollierte Raumlüftung mit Wärmerückgewinnung<br />

sowie über Heizung und Kühlung mittels<br />

Erdwärme. Zum wohltemperierten Raumempfinden<br />

trägt nicht zuletzt die Abwärme von Mensch und Computer<br />

bei. Mit Erfolg: Mit einem jährlichen<br />

Heizwärmebedarf von nicht<br />

einmal 4 kWh/m 2 erreicht das mit<br />

Gold zertifizierte KlimaHaus, das<br />

2008 sogar mit der Auszeichnung<br />

Best KlimaHaus prämiert<br />

wurde, fast Nullenergie-Standard<br />

und ist damit erwiesenermaßen<br />

einer der energie- und ressourcenschonendsten<br />

öffentlichen<br />

Bauten <strong>Süd</strong>tirols. „Bei allen ökologischen<br />

und technischen Maßnahmen<br />

darf man nicht darauf vergessen, dass sich die<br />

Menschen in den von uns geplanten Häusern letztendlich<br />

wohlfühlen müssen“, sagt Pedevilla. „Das beste Zertifikat


ist sinnlos, wenn die Nutzer und Bewohner unglücklich<br />

sind, weil sie im Frühling und Sommer nicht die Fenster<br />

öffnen und den Vögeln beim Zwitschern zuhören können.“<br />

Neben den großen Fixverglasungen gibt es daher kleine,<br />

öffenbare Lüftungsflügel, die für ein Minimum an auditiver<br />

Lebensqualität sorgen. Pedevilla: „Der Lüftungsquerschnitt<br />

ist so klein, dass der Wirkungsverlust zu vernachlässigen<br />

ist. Selbst im heißesten Sommer haben die offenen Fenster<br />

auf die Gesamtenergiebilanz des Hauses de facto keinen<br />

Einfluss.“<br />

74<br />

Schulbau rettet Kirchturm<br />

Wie sehr man mit Architektur und traditionellen Baustoffen<br />

zur Qualität einer ganzen Stadt beitragen kann, zeigt<br />

sich an der Grundschule in Sterzing. Am Rande der Gemeinde<br />

errichtete das Architekturbüro Calderan Zanovello<br />

ein ungewöhnliches Schulhaus im KlimaHaus-B-Standard.<br />

Der <strong>Energie</strong>verbrauch ist gering. Und die mitsamt Rinde<br />

roh belassenen Lärchenstämme an der Fassade, die der<br />

Schule ihr unverwechselbares Aussehen verleihen, sind<br />

Unverwechselbares Aussehen. Blicke auf die neue Grundschule<br />

in der Fuggerstadt Sterzing Fotos Seite 67 und<br />

70/71: CEZ Calderan und Zanovello<br />

nicht nur ein Plädoyer für den Einsatz nachwachsender<br />

Rohstoffe, sondern auch ein Tribut an die historische Bauweise<br />

in ländlichen Regionen. Die Metapher sitzt. Die<br />

wahre Nachhaltigkeit dieses Projekts begründet sich jedoch<br />

nicht in den Eckdaten des Gebäudes, sondern in<br />

seinem urbanen Kontext. Fast könnte man meinen, dass<br />

hier ein städtebauliches Ensemble gerettet und wiederhergestellt<br />

wurde.<br />

„Die Schule steht im Sterzinger Moos, in unmittelbarer<br />

Nähe der Gemeindekirche“, erzählt Architekt Carlo<br />

Calderan. „Jahrhundertelang stand die Kirche fast einsam<br />

auf diesem Areal. Es ist ein wunderschönes, landschaftliches<br />

Panorama, das sich hier einst aufgetan haben muss.“<br />

Doch in den letzten zwei Jahrzehnten wurde im Hinter-<br />

Wissen Grüne Bausteine<br />

grund der Kirche gebaut, gewütet und zersiedelt wie auch<br />

überall sonst auf der Welt. Das Resultat ist ein unschöner<br />

Einfamilienhausteppich mit 08/15-Häusern wie aus dem<br />

Fertighauskatalog. Mit dem Bau der Schule, die sich formal<br />

und farblich stark zurücknimmt, wurde der quirlige Häuserhintergrund<br />

ausgeblendet. Ein bisschen wirkt die<br />

Schule wie ein Bühnenbild für das Sakrale.<br />

Nicht nur die Optik, auch die technischen Eckdaten<br />

des 7,6 Millionen Euro teuren Gebäudes zeugen von Sensibilität.<br />

Um das Grundwasser nicht zu verdrängen und die<br />

ohnehin schon kritische Schieflage des nahe gelegenen<br />

Kirchturms durch den Wasserdruck nicht noch zusätzlich<br />

zu verstärken, wurde auf eine Unterkellerung des Schulgebäudes<br />

verzichtet. Stattdessen wurde der Lehmboden<br />

im Bereich der Schule mittels Kies tragfähig gemacht.<br />

Im Gegensatz zu einem Kellerfundament hat diese Maßnah<br />

me auf den Grundwasserspiegel keinerlei Einfluss. Die<br />

Wasser säule bleibt gleich. Darüber wurde eine 50 Zentimeter<br />

dicke Fundamentplatte betoniert, die schließlich das<br />

gesamte Gebäude trägt. Ohne Eingriff ins geologische Mikrosystem<br />

scheint die Schule nun wie ein Floß auf dem<br />

sumpfigen Boden zu schwimmen. Auch das ist ökologische<br />

Nachhaltigkeit.


75<br />

<strong>Energie</strong>fokus Altbau<br />

Und dennoch: Allen schönen Architekturinitiativen zum<br />

Trotz ist es nicht der Neubau, der unsere größte ökologische<br />

Aufmerksamkeit verdienen sollte, sondern der Umgang<br />

mit dem baulichen Erbe der zweiten Hälfte des 20.<br />

Jahrhunderts. „Bis zum Zweiten Weltkrieg war die Architektur<br />

und Besiedelungspolitik in Europa in Ordnung“,<br />

meint Vittorio Magnano Lampugnani, Professor für Geschichte<br />

des Städtebaus an der ETH Zürich. „In den Nachkriegsjahrzehnten<br />

jedoch sind die Städte und Peripherien<br />

in einer Art und Weise gewachsen, dass wir bis heute damit<br />

beschäftigt sind, die Fehler von damals wiedergutzumachen.“<br />

Die Korrektur bezieht sich nicht nur auf urbane Aspekte,<br />

sondern auch auf die Qualität des Gebauten. In der<br />

europaweiten Wohnungsnot der Nachkriegsjahre hatte<br />

man verständlicherweise andere Sorgen als die Erfüllung<br />

technischer und bauphysikalischer Sollwerte. Doch das ist<br />

heute anders. „Sanierungen sind ein wichtiges, ja vielleicht<br />

sogar das wichtigste Aufgabengebiet für die nächsten<br />

Jahre und Jahrzehnte“, sagt Christian Moser von Brida Moser<br />

Architekten. „Vor allem in den 1960er- und 1970er-<br />

Jahren sind in ganz Europa viele Gebäude entstanden, die<br />

Wojciech Czaja<br />

den heute notwendig gewordenen Anforderungen an<br />

Klima- und Umweltschutz längst nicht mehr gerecht werden.<br />

Hier anzusetzen, ist weitaus effizienter als jeder noch<br />

so gute Neubau.“<br />

Sanierungen sind ein wichtiges, ja<br />

vielleicht sogar das wichtigste<br />

Aufgaben gebiet für die nächsten Jahre<br />

und Jahrzehnte.<br />

Christian Moser<br />

Die Sanierung der Wohnhausanlage in Milland in der<br />

Gemeinde Brixen ist so ein Beispiel. Vor dem Umbau hatte<br />

die in den Jahren 1976 bis 1978 von Rudi Zingerle errichtete<br />

Anlage einen Heizwärmebedarf von 155 kWh/m 2 a. Nachdem<br />

die Fassade mit zwölf Zentimeter Mineralschaum<br />

gedämmt und die alten Fenster gegen neue Holz-Alu-Verbundfenster<br />

mit Wärmeschutzglas ausgetauscht wurden,<br />

ist der Heizwärmebedarf nun auf 69 kWh/m 2 a gesunken.<br />

Das ist weniger als die Hälfte. Am Dach gibt es eine 90<br />

Quadratmeter große Sonnenkollektoranlage, die die Warmwasseraufbereitung<br />

im ganzen Haus unterstützt. Außerdem<br />

wurden einige der einst großen Vierzimmerwohnungen<br />

unterteilt und zu kleineren Ein- und Zweizimmerwohnungen<br />

umstrukturiert. Diese bauliche Maßnahme ist<br />

vor allem eine Reaktion auf die veränderten demografischen<br />

Werte und auf den heutzutage höheren Bedarf an<br />

Singlewohnungen.<br />

Die Sanierung aller 66 Wohnungen – ursprünglich<br />

waren es 52 – beläuft sich auf 6 Millionen Euro. „Natürlich<br />

wäre es möglich gewesen, den Heizwärmebedarf der Wohnungen<br />

mit einer kontrollierten Wohnraumlüftung zusätzlich<br />

zu reduzieren, doch dieser Schritt wäre sehr aufwendig<br />

und kostspielig gewesen“, so Moser. „Im Wohnbau muss<br />

man solche Entscheidungen abhängig von Lage, Mietkosten<br />

und Amortisationszeit individuell treffen. Da gibt es<br />

keine pauschale Formel.“<br />

Derzeit noch lassen sich in Italien bei einer thermischen<br />

Sanierung 36 Prozent der Investitionskosten in einem<br />

Zeitraum von zehn Jahren steuerlich absetzen. Im<br />

Gegensatz zum Neubau ist die Nutzung bestehender Bausubstanz<br />

somit ein großer finanzieller Anreiz. Doch die<br />

weitsichtig kluge Förderungsmaßnahme der Regierung,<br />

die in <strong>Süd</strong>- und Mitteleuropa seinesgleichen sucht, droht<br />

zu verschwinden. Am 30. Juni 2013 soll der steuerliche<br />

Anreiz zwar nicht abgeschafft, doch wesentlich unattraktiver<br />

gemacht werden. „Ich finde diesen Schritt sehr bedauerlich“,<br />

meint der auf ökologische Bauweise spezialisierte<br />

Bozner Architekt Manuel Benedikter. „Aufgrund der klimatischen<br />

Verhältnisse und des Landschaftsschutzes wird es<br />

in Zukunft immer wichtiger werden, alte Bausubstanz zu<br />

sanieren. Der bevorstehende Schritt der italienischen Regierung<br />

ist definitiv ein Schritt rückwärts.“


Historische Bauten prägen das Stadtbild<br />

europäischer Städte. Wir müssen<br />

alles unternehmen, um diese Bauwerke<br />

möglichst energieeffizient, aber auch<br />

mit Rücksicht auf ihre Architektur und<br />

ihren kulturellen Wert zu sanieren.<br />

76<br />

Manuel Benedikter<br />

Beispiel für Klima- und Denkmalschutz. Das sanierte Haus<br />

Glauber in Bozen Foto: Manuel Benedikter<br />

Wissen Grüne Bausteine<br />

<strong>Energie</strong>reduktion um 93 Prozent<br />

Technische Leuchtturm-Projekte wie die vielfach publizierte<br />

Sanierung des Hauses Glauber könnten damit ein<br />

für alle Mal verschwinden. Die 1749 errichtete Orangerie<br />

auf dem Ansitz Kofler, in der sogar schon Wolfgang Amadeus<br />

Mozart zu Gast war, wurde 2006 von Benedikter<br />

thermisch saniert in den ursprünglichen Zustand rückgebaut.<br />

Auf diese Weise ist es gelungen, den jährlichen Heizwärmebedarf<br />

des denkmalgeschützten Hauses von 450<br />

kWh/m 2 auf 30 kWh/m 2 a zu senken. Das ist eine Reduktion<br />

um 93 Prozent.<br />

Gedämmt wurde, wo es aufgrund des bestehenden<br />

Wandstucks erforderlich war, stets auf der Innenseite<br />

des Gebäudes, Kastenfenster wurden ausgetauscht, historische<br />

Details wie Geländer, Fensterläden und sogar die<br />

üppige Fas sadenbegrünung wurden nach Möglichkeit<br />

erhalten. Nicht nur ein Architekturprojekt, sondern ein sensibles,<br />

baukulturelles Forschungsprojekt wurde hier realisiert.<br />

Für historisch wertvolle Bauwerke, bei denen in Europa<br />

stets das Totschlägerargument vorausgeschickt wird,<br />

Klimaschutz und Denkmalschutz seien ein Widerspruch<br />

und ließen sich nicht miteinander vereinen, ist das Haus<br />

Glauber ein überzeugendes Beispiel, dass es doch geht.<br />

Derzeit wird das Objekt thermisch evaluiert. Nächstes Jahr<br />

soll das Monitoring abgeschlossen sein.<br />

Ob sich die Situation nach dem 30. Juni 2013 wieder<br />

bessern wird? Die Europäische Akademie Bozen (Eurac)<br />

befasst sich seit einiger Zeit mit der Erhaltung, Pflege und<br />

Restaurierung von historischen Kulturgütern. „Wir wollen<br />

den <strong>Energie</strong>bereich und die Denkmalpflege stärker miteinander<br />

verbinden“, sagt Alexandra Troi, stellvertretende<br />

Leiterin des Eurac-Instituts für erneuerbare <strong>Energie</strong>n<br />

und Head des Wissenschaftsprojekts 3ENCULT. „Historische<br />

Bauten prägen das Stadtbild europäischer Städte.<br />

Wir müssen alles unternehmen, um diese Bauwerke<br />

möglichst energieeffizient, aber auch mit Rücksicht auf<br />

ihre Architektur und ihren kulturellen Wert zu sanieren.“<br />

Wie es scheint, hat das Kapitel Nachhaltigkeit noch<br />

lange nicht seinen Höhepunkt erreicht. Ganz im Gegenteil.<br />

Die ersten Zeilen sind geschrieben. Uns steht ein Roman<br />

mit verschiedenen, raffiniert gekreuzten Handlungssträngen<br />

bevor: mit Neubauten, Altbauten, Umwidmungen,<br />

thermischen Sanierungen, futuristischen Landmarks, sensiblen<br />

Eingriffen, individuellen Abwägungen und dem<br />

Know-how vieler Experten. Es wäre schön, wenn Wirtschaft<br />

und Politik ihre Aufgabe als Herausgeberinnen dieses<br />

Opus magnum wahrnehmen würden, anstatt sich<br />

durch Lobbying, finanzielle Eigen interessen und kurzfristig<br />

gedachte Budgetkürzungen aus der Affäre zu ziehen.<br />

Wojciech Czaja (*1978), freier Autor und Architekturjournalist<br />

unter anderem für „Der Standard“, „Der Spiegel“ und „Detail“.<br />

Die Architekten Margot Wittig und Rudi Zancan, Mitglieder der<br />

Baukulturgruppe der Architekturstiftung <strong>Süd</strong>tirol, haben für<br />

diesen Beitrag zehn Bauprojekte vorgeschlagen.


7 7<br />

Susanne Pitro<br />

Die Renaissance<br />

des Seils<br />

Im vergangenen Jahrhundert ermöglichten<br />

Seilbahnen die schrittweise Erschließung<br />

der Berge, nun schließen sie<br />

Lücken in den Nahverkehrsnetzen großer<br />

Städte. Ein Ausflug in die urbane<br />

Nische eines alpinen Verkehrsmittels.<br />

Susanne Pitro<br />

Blick auf die Rittner Seilbahn Foto: David Schreyer<br />

Das Nahverkehrsnetz von <strong>Süd</strong>tirols Landeshauptstadt endet<br />

auf einer Höhe von 1.221 Höhenmetern. Die letzten 950<br />

Meter legen Pendler, Touristen und Städter, die auf dem<br />

idyllischen Hochplateau Ritten abschalten wollen, schwebend<br />

zurück. Alle vier Minuten können sie in der architektonisch<br />

prägnanten Talstation gleich hinter dem Bozner<br />

Bahnhof in eine der Gondeln steigen, die von frühmorgens<br />

bis spätabends auf der ersten Dreiseilumlaufbahn Italiens<br />

zirkulieren. Ein knapp 12-minütiges Fahrerlebnis als Alternative<br />

zu 17 kurvigen Straßenkilometern: Dieses Angebot<br />

hat alle Erwartungen von <strong>Süd</strong>tirols Verkehrsplanern übertroffen.<br />

Bei der Eröffnung im Jahr 2009 zeigte sich Mobilitäts-Landesrat<br />

Thomas Widmann zuversichtlich, innerhalb<br />

von drei Jahren auf 200.000 Benutzer zu kommen. Tatsächlich<br />

befördert die Rittner Seilbahn mittlerweile knapp eine<br />

Millionen Menschen im Jahr.<br />

Was in der 100.000-Einwohner-Stadt Bozen funktioniert,<br />

hat auch in Großstädten wie London, New York, Rio<br />

de Janeiro oder Hongkong Erfolg. Seit gut einem Jahrzehnt<br />

expandiert die Seilbahn von ihrem gebirgigen Stammgebiet<br />

in Richtung urbanen Raum. Ob Umlaufbahn, Pendelbahn<br />

oder Standseilbahn: All jene Technologien, die in der Vergangenheit<br />

dafür entwickelt wurden, die Versorgung und<br />

den Transport in einer alpinen Bergwelt zu ermöglichen,


werden im 21. Jahrhundert als ressourcen- und umweltschonende<br />

Lösung spezifischer urbaner Mobilitätsbedürfnisse<br />

entdeckt. Die Player auf diesem neuen Markt<br />

der seilgezogenen urbanen Transportsysteme kommen<br />

nach wie vor aus dem Herzen der Alpen: die <strong>Süd</strong>tiroler Leitner-Gruppe<br />

mit Zentrale in Sterzing sowie die Doppelmayr-<br />

Gruppe, die im nahen Vorarlberger Wolfurt zu Hause ist<br />

und den italienischen Markt seit vier Jahrzehnten von <strong>Süd</strong>tirol<br />

aus bearbeitet.<br />

Es sind zwei Familienunternehmen mit jeweils mehr<br />

als hundert Jahren Geschichte, die sich heute nach zahlreichen<br />

Übernahmen den Weltmarkt für Seilbahnen teilen.<br />

Während sich Doppelmayr bei seinen Einkaufstouren vorwiegend<br />

auf den Seilbahnbereich beschränkte, wo es heute<br />

mit rund 60 Prozent Weltmarktführer ist, übernahm Leitner<br />

neben dem französischen Seilbahnkonkurrenten Poma<br />

auch Firmen in den Bereichen Pistenfahrzeuge und Beschneiungstechnik<br />

und entwickelte sich damit zum Anbieter<br />

von Berg- und Wintertechnologie, dessen Palette an<br />

Produkten am umfangreichsten ist. Parallel dazu begann<br />

Präsident Michael Seeber die Abhängigkeit seines Betriebes<br />

vom Wintergeschäft zu reduzieren. „Dass wir hier langfristig<br />

kein großes Entwicklungspotenzial mehr haben, ist<br />

ein Fakt, der sich bereits vor mehr als zehn Jahren auf dem<br />

US-Markt abzeichnete“, sagt er. Seine Antwort? Die Diversifikation<br />

in Zukunftsbranchen, in denen starke Synergien<br />

mit Leitner-Technologien bestehen. Neben Windgeneratoren<br />

und Nutzfahrzeugen gehören dazu auch die seilgezogenen<br />

urbanen Transportsysteme – ein Markt, auf dem die<br />

<strong>Süd</strong>tiroler wenig überraschend erneut auf ihren Vorarlberger<br />

Konkurrenten treffen.<br />

Landesrat Thomas Widmann (rechts) und Michael Seeber, Präsident<br />

von Leitner Technologies, auf der Fahrt von Bozen auf den<br />

Ritten Foto: Ivo Corrà<br />

78<br />

Am Puls der Zeit<br />

Denn der Einsatz von Seilbahnen und seilgezogenen<br />

Systemen im urbanen Raum trifft in vielen Belangen den<br />

Puls der Zeit. Dieser manifestiert sich in den Großstädten<br />

dieser Welt auch in Problemen wie heillosem Verkehrschaos,<br />

Smog, Platzmangel oder der fehlenden Anbindung<br />

Wissen Die Renaissance des Seils<br />

rasch wachsender Siedlungsräume. Entsprechend schlagend<br />

sind die Verkaufsargumente der beiden Seilbahnbauer:<br />

Ihre Lösungen sind verhältnismäßig schnell gebaut,<br />

haben einen geringen Platzbedarf, kollidieren nicht mit<br />

anderen Verkehrsteilnehmern und fahren beziehungsweise<br />

schweben einfach über Hindernisse und Staus hinweg.<br />

Mit Investitionskosten, die je nach Ausführung zwischen<br />

knapp 10 und 35 Millionen Euro pro Kilometer liegen,<br />

und geringen Betriebskosten sind sie nicht nur günstiger<br />

als die meisten herkömmlichen städtischen Verkehrsmittel<br />

– allen voran die U-Bahn mit Investitionskosten von<br />

rund 300 Millionen Euro pro Kilometer. Auch in Sachen<br />

Umweltbilanz schlagen sie laut einer Studie des österreichischen<br />

Strategieberaters ClimatePartner ab einer Auslastung<br />

von 50 Prozent selbst Alternativen wie die Bahn:<br />

Während eine Seilbahn demnach im Schnitt 27 Gramm<br />

CO 2 pro Person und Kilometer verbrauche, geht die Studie<br />

von Vergleichswerten von 30 Gramm für die Bahn, 38,5<br />

Gramm für einen Diesel-Linienbus und 248 Gramm für<br />

einen Benzin-Pkw aus.<br />

Das sind Argumente, mit denen beispielsweise derzeit<br />

in Hamburg für eine Hafen-City-Seilbahn geworben<br />

wird, die auf „innovative Weise den lange versprochenen<br />

Sprung über die Elbe schaffen und einen wichtigen Beitrag<br />

zur Stadtentwicklung leisten soll“, wie es auf der Promotion-Website<br />

heißt. Es handelt sich um ein Projekt, das noch<br />

vor wenigen Jahren kaum denkbar gewesen wäre. Denn bis<br />

dahin galten Stadtseilbahnen in Europa noch als „U-Bahn<br />

für die Dritte Welt“, sagt Thomas Pichler, Vertriebsleiter von<br />

Doppelmayr Italia. Zwar schwebten beispielsweise die Besucher<br />

der Expo 2000 in Hannover mit Begeisterung in<br />

einer Leitner-Kabinenbahn über das Ausstellungsgelände,<br />

doch die Vorstellung, dass die Seilbahn eine sinnvolle Ergänzung<br />

urbaner öffentlicher Nahverkehrssysteme sein<br />

könnte, schien zu der Zeit selbst bei Doppelmayr weltfremd.<br />

„Wir hatten als Europäer aufgrund von Themen wie Brandschutz<br />

oder der Beeinträchtigung von Anrainern immer eine<br />

gewisse Skepsis, Seilbahnen in eine Stadt zu bauen“, sagt<br />

Thomas Pichler. Keine derartigen Sorgen machten sich dagegen<br />

Kunden in <strong>Nord</strong>afrika und <strong>Süd</strong>amerika, die um die<br />

Jahrtausendwende begannen, Seilbahnen zu bestellen, um<br />

damit auf vergleichsweise kostengünstige Art Verkehrsprobleme<br />

in ihren Städten zu lösen.<br />

Sozialisierung durch Anbindung<br />

Mittlerweile hat sich vor allem in <strong>Süd</strong>amerika ein wahrer<br />

Boom der Stadtseilbahn entwickelt. Dies hängt auch mit<br />

der gesellschaftlichen Bedeutung zusammen, die dem Verkehrsmittel<br />

dort zugeschrieben wird, meint Michael Seeber.<br />

Vorzeigeprojekt dafür ist die von Leitner gebaute<br />

„Aerial Tramway“ in Rio de Janeiro, wo eine 3,4 Kilometer<br />

lange Kabinenbahn mit sieben Stationen eine Favela<br />

mit rund 300.000 Bewohnern mit dem nächstgelegenen<br />

Bahnhof verbindet. „Während sich die Menschen davor<br />

ein bis zwei Stunden lang einen Weg durch diesen chaotischen<br />

Siedlungsraum bahnen mussten, um einzukaufen<br />

oder ihren Arbeitsplatz zu erreichen, steigen sie nun auf


Linea Rossa – die seilgezogene MiniMetro in Perugia Foto: Leitner<br />

dem nächsten Hügel in eine Seilbahn und sind in wenigen<br />

Minuten beim Bahnhof“, so Seeber. Spätestens seit Londons<br />

Bürgermeister Boris Johnson im April 2012 als erster<br />

Fahrgast in einer Gondel die Themse überquerte, beginnt<br />

auch in Europas Städten das Eis zu brechen, meint Doppelmayr-Italia-Vertriebsleiter<br />

Thomas Pichler. Das Prestigeprojekt<br />

seines Mutterhauses, das mit einer mehr als einen<br />

Kilometer langen Gondelbahn die Landzunge Greenwich<br />

Peninsula mit den Royal Docks verbindet, hat nicht zuletzt<br />

wegen seiner Nutzung für Olympia 2012 sowie eines millionenschweren<br />

Sponsorings der Fluggesellschaft Emirates<br />

für breite Beachtung gesorgt.<br />

Als urbanes Verkehrsmittel salonfähig wurde die<br />

Seilbahn in unseren Breitengraden aber zunächst einmal<br />

über die Adaption einer anderen Technologie. Unter den<br />

Marken MiniMetro (Leitner) und Cable Liner (Doppelmayr)<br />

entwickelten die beiden Unternehmen die klassische<br />

Standseilbahn zum sogenannten People Mover weiter. Was<br />

aussieht wie eine futuristische Straßenbahn, ist ein vollautomatisches<br />

seilgezogenes Verkehrsmittel, das zumeist auf<br />

leisen Gummirädern über Schienen aus Beton oder Stahl<br />

rollt. Bei einer ähnlichen Beförderungskapazität wie jener<br />

von Bussen oder Straßenbahnen punkten People Mover<br />

auf kurzen bis mittleren Strecken mit einer extremen Steig-<br />

und Kurvenfähigkeit, staufreiem Fahren und kurzen Intervallen.<br />

Erleben kann man dies in Europa beispielsweise<br />

in Zürich, Venedig oder Frankfurt, wo MiniMetros oder<br />

Cable Liner für unkomplizierte und schnelle Transfers auf<br />

Flughäfen oder zwischen Parkhäusern und Büro- oder<br />

Stadtzentren sorgen.<br />

79<br />

Nachhaltiges Mobilitätskonzept<br />

Zur Krönung geführt wurde das System aber bislang<br />

im italienischen Perugia. Die dort 2008 eröffnete MiniMetro,<br />

die mit bis zu 25 Wagen in engen Kurven von einem<br />

großen Parkplatz am Stadtrand über eine Neubauzone zum<br />

Bahnhof und schließlich auf den Hügel der Altstadt führt,<br />

Susanne Pitro<br />

überzeugt gleich auf mehreren Ebenen:<br />

an gefangen beim Design des französischen<br />

Stararchitekten Jean Nouvel über<br />

die F i nanzierung im Rahmen einer Public-<br />

Private-Partnership bis hin zur Technologie,<br />

die beim bislang ein zigen kuppelbaren<br />

People Mover sieben Stationen<br />

mit unterschiedlichen Abständen erlaubt.<br />

Vor allem aber ist die nach ihren rot lackierten<br />

Schienenkörpern „Linea Rossa“<br />

benannte MiniMetro das Rückgrat eines<br />

nachhaltigen Mobilitätskonzeptes, mit<br />

dem die verwinkelte Altstadt wesentlich<br />

vom Autoverkehr ent lastet werden<br />

konnte.<br />

Liegt die Zukunft der Seilbahn also<br />

in der Stadt? Zumindest bislang lautet<br />

die Antwort: Die Masse macht immer<br />

noch der Berg. Immerhin werden laut<br />

Thomas Pichler 80 bis 85 Prozent des<br />

Doppelmayr-Umsatzes von 600 Millionen Euro mit dem<br />

Wintergeschäft gemacht. Bei Leitner trägt der urbane<br />

Bereich bislang mit rund einem Zehntel zum Konzernumsatz<br />

von 800 Millionen Euro bei. Doch die Tendenz geht<br />

klar nach oben. „Im Moment laufen sehr viele Verhandlungen<br />

und Projekte“, sagt Michael Seeber, „allerdings<br />

Seilbahn über den Dächern von Caracas Foto: Doppelmayr<br />

sind diese im urbanen Bereich auch viel zeitaufwendiger<br />

als im Wintersportbereich.“ Während dort meist schon eine<br />

Genehmigung für eine bestimmte Trasse vorliegt, heißt es<br />

in Städten erst einmal Varianten auszuarbeiten, politische<br />

Überzeugungsarbeit zu leisten und gegen die Bürokratie<br />

zu kämpfen. Nichtsdestotrotz: In der Vision des <strong>Süd</strong>tiroler<br />

Vorzeigeunternehmers wird der Umsatzanteil der urbanen<br />

Seilbahn langfristig auf 20 bis 30 Prozent wachsen. „Als<br />

unverbesserlicher Idealist gehe ich aber davon aus, dass<br />

dieser zum Berggeschäft dazu statt davon wegkommt.“<br />

Susanne Pitro (*1970), Redakteurin bei der Tageszeitung<br />

„Dolomiten“, dem Wochenmagazin „ff“ (1998–2007); seit 2007<br />

freischaffende Journalistin.


Nicolò Degiorgis<br />

Fest im Sattel<br />

Vorbei sind die Zeiten, als das Fahrrad noch als Fortbewegungsmittel für all jene<br />

galt, die sich kein Auto leisten konnten. Ob schlicht, aufgepeppt oder auch mit<br />

Retroelementen versehen: Zweiräder genießen heute vor allem bei Jüngeren Kultstatus<br />

und sind aus deren Freizeit nicht mehr wegzudenken. Und in Städten sind sie<br />

längst Mobilitätsvehikel <strong>Nummer</strong> eins: umweltfreundlich, vielseitig nutzbar, in der<br />

Regel auch preiswert in Anschaffung und Unterhalt sowie gesundheitsfördernd.<br />

Der Markt für Zweiräder boomt und mit Pedelecs und E-Bikes kündigt sich der<br />

nächste Schub an. Auf Rädern mit Hilfsantrieb können Urlauber und Ältere nicht nur<br />

bequem Berge und Landschaft entdecken – sie sind auch eine umweltfreundliche<br />

Alternative zu Bussen und Autos.


Adrenalin auf zwei Rädern. Downhiller in der Umgebung von Bozen<br />

81 Nicolò Degiorgis


82 Wissen Fest im Sattel


(Bild links) Kultobjekt Fahrrad. Hier ein Eingangrad, kurz Fixie, in einer Garage in Bozen (Bild rechts) Fahrradkurier in Bozen.<br />

Wer sich in der Stadt berufsbedingt schnell bewegen und verstopften Straßen und der Parkplatzsuche entgehen will, muss auf<br />

das Auto verzichten<br />

83 Nicolò Degiorgis


Pimp up my Fahrrad. Aufgemotzte Zweiräder (Bild links) unterstreichen die Renaissance des guten alten Radls.<br />

In Städten greifen gerade ältere Menschen gerne auf E-Bikes (Bild Mitte) zurück<br />

84 Wissen Fest im Sattel


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Umweltfreundlich reisen. Das Reiserad ist speziell für die Bedürfnisse von Urlaubern konzipiert worden.<br />

Auch noch mit rund 50 Kilogramm Gepäck kann der Fahrer sicher lenken und bremsen<br />

85<br />

Nicolò Degiorgis


Neuer Trendsport. Bike-Polo erobert die Asphaltplätze<br />

86 Wissen Fest im Sattel


Wasser, Berge, Stromleitungen und eine Autobahn – mehr,<br />

sagt Walter Huber, brauche er nicht, um den <strong>Nord</strong>en und<br />

den <strong>Süd</strong>en Europas mit einem „grünen Korridor“ zu verbinden.<br />

Das ist schon anspruchsvoll genug. Doch bei dem Projekt<br />

geht es noch um viel mehr: Der Leiter des Instituts für<br />

Innovative Technologien in Bozen entwickelt nicht weniger<br />

als ein Konzept, um den Verkehr umweltschonender zu<br />

machen und das Autofahren aus seiner Abhängigkeit vom<br />

Erdöl zu befreien.<br />

Sein Plan ist eine Wasserstoffstraße, die zwischen<br />

den Gipfeln der Alpen entlang der Brennerautobahn von<br />

München in Deutschland nach Verona in Italien führen soll.<br />

Der 69-Jährige glaubt, dass <strong>Süd</strong>tirol als Antreiber für dieses<br />

Zukunftsprojekt geradezu „prädestiniert“ sei. Denn das<br />

Land verfüge über ein riesiges Reservoir von ungenutzter<br />

<strong>Energie</strong> aus Wasserkraft, die sich ideal für die Herstellung<br />

des Wasserstoffs nutzen lasse. Schon 2016 sollen Fahrer,<br />

deren Autos Wasserstoff statt Benzin oder Diesel verbrennen,<br />

genügend Tankstellen vorfinden, wenn sie die Alpen<br />

via Brenner überqueren. Und wer den dynamischen Chemiker<br />

mit dem Bürstenhaarschnitt erlebt, hat keinen Zweifel,<br />

dass er nicht eher locker lassen wird, bis die H2-Autobahn,<br />

so der offizielle Projektname, steht.<br />

87<br />

Benjamin Reuter<br />

Sauber über den<br />

Brenner<br />

Es ist eines der ambitioniertesten Projekte<br />

Europas: Schon 2016 sollen Autos<br />

mit Wasserstoff statt mit Benzin oder<br />

Diesel von München nach Verona fahren<br />

können – ohne die Natur zu verpesten.<br />

Der <strong>Süd</strong>tiroler Visionär Walter Huber<br />

baut jetzt dafür Tankstellen auf und<br />

nutzt den grünen Strom des Landes als<br />

Quelle.<br />

Benjamin Reuter<br />

Weltweite Zukunftsprojekte<br />

Huber steht mit seiner Vision nicht allein. Überall auf der<br />

Welt machen sich Regierungen und Investoren gerade<br />

daran, die notwendige Versorgungsstruktur für das Wasserstoffzeitalter<br />

aufzubauen – ob vom kanadischen Vancouver<br />

nach Los Angeles in den USA oder in der japanischen<br />

Präfektur Fukuoka. Die Europäische Union unterstützt<br />

mehrere Wasserstoffprojekte. Sie fördert die Anschaffung<br />

von Brennstoffzellenbussen für den öffentlichen<br />

Nahverkehr und gibt Geld, damit Forscher die Erzeugungstechnologien<br />

für den Treibstoff weiterentwickeln. So soll<br />

nach und nach eine funktionierende Wasserstoffinfrastruktur<br />

entstehen. Doch nirgendwo sonst ist ein Projekt so eng<br />

mit einem Namen verknüpft wie in <strong>Süd</strong>tirol: dem Hubers.<br />

Und Huber hat mächtige Verbündete. Zum Beispiel Daimler-Chef<br />

Dieter Zetsche. Im November 2011 verkündete der<br />

auf der Internationalen Automobilausstellung in Frankfurt:<br />

„Jetzt beginnt das Jahrhundert des Wasserstoffs. Wasserstoff<br />

ist das bessere Erdöl.“<br />

Längst wetteifern die großen Autokonzerne darum,<br />

wer das erste serienmäßig gefertigte Wasserstofffahrzeug<br />

überhaupt auf den Markt bringt. Es könnte der koreanische<br />

Hyundai-Konzern sein, der 2013 das erste Auto vorstellen<br />

will. Daimler plant, 2014 mit dem B-Klasse-Modell F-Cell<br />

nachzuziehen. 2015 wollen dann auch Opel, Toyota und<br />

Honda mit ersten Fahrzeugen an den Start gehen.<br />

Die Euphorie der Autobauer für den Wasserstoffantrieb<br />

kommt nicht von ungefähr: Brennstoffzellen-Autos<br />

fahren mit einer Tankfüllung rund 600 Kilometer; heutige<br />

reine Elektrofahrzeuge müssen schon nach rund 150 Kilometern<br />

an die Steckdose. Und wird der Wasserstoff ausschließlich<br />

mit grünem Strom produziert, belastet er die<br />

Umwelt mit praktisch keinerlei Schadstoffen. Aus dem<br />

Auspuff tropft reines Wasser. Genau diese Eigenschaft<br />

fasziniert Walter Huber an der Technologie. Er will <strong>Süd</strong>tirols<br />

saubere Wasserkraft dafür nutzen, Wasserstoff per<br />

Elektrolyse umweltfreundlich herzustellen. Wird Wasser<br />

„unter Strom gesetzt“, spaltet es sich in Sauerstoff und<br />

Wasserstoff. Letzterer wandert in den Tank.<br />

Wasserstofffahrzeuge haben eine Brennstoffzelle.<br />

In ihr läuft der Prozess rückwärts. Der Wasserstoff reagiert,<br />

getrennt durch eine Membran, mit Sauerstoff. Dabei entsteht<br />

elektrischer Strom, der in einer Batterie gespeichert<br />

wird, die den Elektromotor antreibt. Alle 100 Kilometer, so<br />

Hubers Vorhaben, sollen Autofahrer zwischen München<br />

und Verona eine Wasserstofftankstelle ansteuern können.<br />

Der Treibstoff würde in einem Elektrolyseur direkt an den<br />

Tankstellen hergestellt.<br />

Aber wird es so bald überhaupt genügend Wasserstoffautos<br />

geben, sodass sich der Aufbau dieses grünen<br />

Tankstellennetzes rentiert? „Ohne Frage“, sagt Huber, und<br />

verweist auf die ständig steigenden Preise für Benzin und<br />

Diesel. Daher lohne es sich zunehmend, auf alternative<br />

Kraftstoffe umzusteigen. Dass dies tatsächlich geschehen<br />

wird, daran haben auch die US-Marktforscher von Pike<br />

Research keinen Zweifel. Sie schätzen, dass 2020 weltweit<br />

schon mehr als eine Million Wasserstoffautos fahren und


88<br />

0 KM<br />

163 KM<br />

278 KM<br />

334 KM<br />

429 KM<br />

C I R C A H U N D E R T<br />

K I L O M E T E R<br />

Wissen Sauber über den Brenner<br />

Europa neben den USA dabei eine Vorreiterrolle einnehmen<br />

wird.<br />

Reif für den Markt<br />

Hätte Huber mit seiner Vision eines grünen Korridors Erfolg,<br />

würde ein Herzensanliegen von ihm wahr. Der Brenner<br />

und der Wasserstoff beschäftigen ihn seit Jahren – zunächst<br />

als Bahnprojekt. Anfang der 2000er-Jahre prüfte er<br />

als Vorsitzender einer Kommission, wie umweltverträglich<br />

des Bau des Brennerbasistunnels ist. Die ersten Züge sollen<br />

den 55 Kilometer langen Stollen 2025 durchqueren.<br />

Nur wäre der Bau eines Eisenbahntunnels in den Alpen<br />

allein nichts sonderlich Spektakuläres. Doch beim Brennertunnel<br />

soll der Strom aus den Oberleitungen auch dafür<br />

verwendet werden, Wasserstoff zu produzieren. Das allerdings<br />

ist eine Premiere.<br />

Der Plan von Walter Huber ist eine<br />

Wasserstoffstraße, die zwischen den<br />

Gipfeln der Alpen entlang der Brennerautobahn<br />

von München in Deutschland<br />

nach Verona in Italien führen soll.<br />

Auf den Wasserstoff als neues Benzin wurde Huber<br />

erstmals 1998 aufmerksam. Damals besuchte er mit einer<br />

Delegation der <strong>Süd</strong>tiroler Landesregierung in München<br />

den Autobauer BMW. Es war die Zeit der ersten Wasserstoffeuphorie<br />

bei den Pkw-Herstellern. BMW setzte auf<br />

Tanks, die Wasserstoff in flüssigem Zustand speichern.<br />

Und kündigte für 2004 die Serienproduktion von Wasserstoffautos<br />

an – genauso wie Daimler. Aus dem Termin<br />

wurde nichts. Mit rund einer halben Million Euro waren die<br />

Autos viel zu teuer. Mercedes musste erleben, dass der<br />

neuartige Antrieb bei Minusgraden den Start verweigerte.<br />

Bei BMW erwies sich zudem die Tanktechnik als zu aufwendig.<br />

Denn um Wasserstoff zu verflüssigen, muss er auf<br />

minus 253 Grad abkühlen – und im Tank auf diesem Temperaturniveau<br />

gehalten werden, was sehr viel <strong>Energie</strong> verbraucht.<br />

Inzwischen setzen alle Hersteller auf Gastanks,<br />

die den Wasserstoff bei einem Druck von 700 bar speichern.<br />

Der <strong>Energie</strong>aufwand für die Verflüssigung entfällt<br />

damit weitgehend.<br />

„Heute“, beteuert Christian Mohrdieck, der den Bereich<br />

Brennstoffzellen- und Batterieantriebe bei Daimler<br />

leitet, „sind die Probleme gelöst, und die Technik ist reif für<br />

den Markt.“ Tatsächlich fuhren drei Mercedes F-Cell vergangenes<br />

Jahr bei einer Weltumrundung jeweils 30.000<br />

Kilometer ohne Probleme. Auch der Kaltstart bei minus 25<br />

Grad klappte. Deshalb ist Walter Huber zuversichtlich,<br />

dass sich jetzt auch die Kunden von den Fahrzeugen überzeugen<br />

lassen. Die erste Tankstelle seiner Wasserstoffstraße<br />

entsteht an der Autobahnausfahrt Bozen-<strong>Süd</strong>. Ihr


Bis 2017, so schätzen Mobilitätsexperten der Europäischen Union in Brüssel,<br />

könnten die Kosten für die Wasserstoffherstellung um mehr als die Hälfte sinken.<br />

angeschlossen ist ein Forschungs- und Informationszentrum.<br />

Von Herbst 2013 an sollen dann auch fünf Busse der<br />

Bozner Verkehrsbetriebe den Zukunftstreibstoff tanken.<br />

Insgesamt sind für das Projekt rund 16 Millionen Euro veranschlagt.<br />

Geldgeber sind die Brennerautobahn AG, die EU<br />

in Brüssel, die italienische Regierung in Rom und ein regionaler<br />

Entwicklungsfonds.<br />

Das Forschungszentrum macht Bozen zu einem<br />

Spitzenzentrum der Wasserstoffforschung in Europa. Die<br />

Wissenschaftler wollen hier vor allem erproben, in welcher<br />

Konzentration sie Wasserstoff Erdgas und Diesel beimischen<br />

können, um diese sauberer zu machen. Gelingt das,<br />

könnten auch Pkw mit Erdgasantrieb oder herkömmlichen<br />

Verbrennungsmotoren teilweise mit dem neuen Treibstoff<br />

fahren. Überdies arbeitet Huber an der Entwicklung von<br />

Kleinstelektrolyseuren, die Strom von Solaranlagen in Wasserstoff<br />

umwandeln. Der könnte bei Bedarf, etwa nachts,<br />

wenn die Sonne nicht scheint, wieder verstromt werden.<br />

Und die Forscher erkunden, wie wirtschaftlich sich die<br />

Elektrizität, die Windräder am Brenner erzeugen könnten,<br />

für den Bahnbetrieb des Basistunnels nutzen ließe.<br />

89<br />

Preiswerter als Benzin und Diesel<br />

Spätestens 2016 will Huber auch Wasserstofftankstellen<br />

im bayerischen Rosenheim und im österreichischen Kufstein<br />

eröffnen. Weitere sind an der Brennergrenze zwischen<br />

Italien und Österreich sowie in Verona und eventuell<br />

in Trient geplant. Das Projekt steht und fällt mit der Möglichkeit,<br />

Wasserstoff kostengünstig zu produzieren. Huber<br />

sieht dafür in <strong>Süd</strong>tirol alle Voraussetzungen gegeben. 953<br />

Wasserkraftwerke habe das Land, rechnet er vor. Davon<br />

hätten allerdings nur 20 ein Speicherbecken. Das bedeutet:<br />

Nachts, wenn die Menschen kaum Strom verbrauchen,<br />

rauscht das Wasser ungenutzt durch die Turbinen, weil die<br />

Betreiber der Kraftwerke es nicht aufhalten können. Genau<br />

mit dieser bisher verschenkten <strong>Energie</strong> will Huber künftig<br />

den Wasserstoff produzieren. Der soll zunächst ausreichen,<br />

um täglich 15 Busse und 100 Pkw zu betanken. Nach<br />

seiner ersten überschlägigen Schätzung wäre jedoch genug<br />

Nachtstrom vorhanden, um Tausende Autos entlang<br />

der Brennerstrecke mit dem grünen Sprit zu versorgen.<br />

Und preiswerter als Benzin oder Diesel wäre der<br />

Wasserstoff überdies. Autofahrer in Italien zahlen für den<br />

herkömmlichen Treibstoff für eine Strecke von 100 Kilometern,<br />

rund 13 Euro. Wären sie mit Wasserstoff unterwegs,<br />

kämen sie für die gleiche Strecke mit rund sieben Euro<br />

davon, hat Huber ausgerechnet. Selbst wenn noch Steuern<br />

dazu kommen, ist er sich sicher: „Konkurrenzfähig ist Wasserstoff<br />

heute schon, in Zukunft wird er noch billiger.“ Ein<br />

Grund dafür: Die besonders teuren Elektro lyseure, die das<br />

Wasser aufspalten, wurden bisher allenfalls in Kleinserie<br />

gebaut. Künftig werden Technologiekonzerne wie Siemens<br />

Benjamin Reuter<br />

in München sie in Massen fertigen, wodurch ihre Preise<br />

purzeln. Bis 2017, so schätzen Mobilitätsexperten der Europäischen<br />

Union in Brüssel, könnten die Kosten für die Wasserstoffherstellung<br />

um mehr als die Hälfte sinken. Huber<br />

genügt das noch nicht. Er plant Zusatzgeschäfte, um die<br />

Wirtschaftlichkeit zu erhöhen. So will er den Sauerstoff, der<br />

bei der Elektrolyse entsteht, an Krankenhäuser verkaufen<br />

und an Kläranlagen liefern. Die können damit ihre Faulbecken<br />

belüften. Der Verkauf würde zusätzlich Geld in die<br />

Kassen spülen. Erste Gespräche laufen bereits.<br />

Anfangs von nicht wenigen belächelt, könnte Hubers<br />

Pioniertat <strong>Süd</strong>tirol schon in wenigen Jahren eine zentrale<br />

Stellung beim Aufbau einer europaweiten Wasserstoffversorgung<br />

einbringen. Als Scharnier zwischen dem <strong>Nord</strong>en<br />

und dem <strong>Süd</strong>en Europas. Denn auch in Deutschland sollen<br />

bis 2015 mindestens 50 Wasserstofftankstellen entstehen,<br />

vor allem in Ballungsräumen und entlang der Autobahnen.<br />

Und auch skandinavische Länder wie Schweden oder<br />

Norwegen haben vor, ihre viele Wasserkraft künftig verstärkt<br />

für diese grüne Treibstoffproduktion zu nutzen.<br />

Dann könnte der grüne Korridor nicht nur von München<br />

nach Verona verlaufen, sondern sich von Oslo bis Palermo<br />

er strecken. Walter Huber hätte nichts dagegen. Es wäre<br />

die Krönung seines Lebenswerks.<br />

Benjamin Reuter (*1979), freier Journalist, schreibt unter an-<br />

derem für „Die Zeit“, „WirtschaftsWoche“ und „Zeit Online".


Innovativ mobil in <strong>Süd</strong>tirol<br />

Am TIS innovation park in Bozen<br />

entwickelt wurde der erste<br />

Erdgas-Wasserstoff-Panda: ein<br />

Kleinwagen, der 14 Prozent<br />

weniger CO 2 ausstößt als ein mit<br />

Methangas betriebenes Modell.<br />

Völlig emissionsfrei sind die<br />

Elektrofahrräder der Bozner TC<br />

Mobility. Mit den Eigenmarken<br />

„Frisbee“ und „Dinghi“ zählt das<br />

Unternehmen zu den Marktführern<br />

im Bereich E-Bikes in<br />

Italien.<br />

Intergreen ist ein Pilotprojekt der<br />

Stadt Bozen gemeinsam mit dem<br />

TIS und dem Austrian Institute of<br />

Technology in Wien.<br />

90 Wissen Innovativ mobil in <strong>Süd</strong>tirol<br />

Ein Prototyp, für den die beteiligten Un-<br />

ternehmen (Iveco DV, Röchling Automo-<br />

tive, GKN Driveline, Hofer Powertrain und<br />

Multienergy Alpengas) völlig neue Komponenten<br />

entwickelt haben: selbstregulierende<br />

aerodynamische Klappen, ein<br />

leichteres und reibungsärmeres Übertragungssystem<br />

sowie hochtechnologische<br />

Glas- und Plastikfasermaterialien.<br />

Ebenfalls elektrobetrieben, aber ungleich<br />

spritziger ist der Sportwagen „Fisker<br />

Karma“, der vom <strong>Süd</strong>tiroler Unternehmer<br />

Gianfranco Pizzuto als Gesellschafter<br />

mitproduziert und exklusiv in Italien und<br />

anderen europäischen Ländern vertrieben<br />

wird.<br />

Intergreen sammelt und vernetzt mobili-<br />

tätsrelevante Daten der Stadt Bozen, so<br />

etwa Verkehrsaufkommen und Luftverschmutzung,<br />

und erlaubt es somit, die<br />

Verkehrsströme im Stadtgebiet möglichst<br />

umweltverträglich zu lenken. Flankierende<br />

Sensibilisierungskampagnen<br />

sollen die Bürger zum Überdenken ihres<br />

Mobilitätsverhaltens anregen.


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Norbert Lantschner<br />

Alte und<br />

neue<br />

Baustellen<br />

Illustration – Gino Alberti<br />

Wie Nebelschleier umgarnen uns politische<br />

Ankündigungen über verschiedenste<br />

Reformen, mal versprechen sie<br />

weniger Bürokratie, dann kündigen<br />

sie energiebewusste Bauverordnungen an<br />

oder rufen zum Schutz des Klimas auf.<br />

Doch dies alles lenkt davon ab, dass das<br />

Fundament ein falsches ist: Wettbewerb<br />

bestimmt den Gang der Welt. Die Wirtschaft<br />

ist auf Konkurrenz ausgerichtet,<br />

womit zwangsläufig eine Spirale des<br />

Immer-Mehr, Immer-Größer und Immer-<br />

Schneller in Gang gesetzt wird. Das Versprechen,<br />

dass dabei auch ein Besser<br />

herauskommen würde, löst sich nicht<br />

selbstverständlich ein.<br />

91<br />

Bei der Weltkonferenz in Rio de<br />

Janeiro 1992 rang man um den Konsens,<br />

dass der Mensch von seiner Umwelt abhängig<br />

ist und dass die Rückkopplung<br />

weltweiter Umweltveränderungen auf<br />

sein Verhalten zu berücksichtigen ist. Ziel<br />

war es, die Weichen für eine weltweite,<br />

nachhaltige Entwicklung zu stellen. Am<br />

Ende der Konferenz gab es ein wichtiges<br />

Ergebnis – nämlich die Klimaschutzkonvention.<br />

Nach Einschätzung der Klimaschutzexperten<br />

muss der Ausstoß an<br />

Kohlendioxid bis 2050 weltweit um mindestens<br />

60 Prozent reduziert werden, um<br />

den Klimawandel in „ungefährlichen“<br />

Grenzen zu halten. Was aber ist in den<br />

vergangenen 20 Jahren passiert? Der<br />

Ausstoß der klimagefährlichen Gase hat<br />

weltweit um 49 Prozent zugenommen!<br />

Statt auf die Bremse zu treten, haben wir<br />

aufs Gaspedal gedrückt. Im wahrsten<br />

Sinn des Wortes, denn erstmals dürften<br />

auf der Erde über eine Milliarde<br />

Autos zirkulieren. Aber<br />

nicht nur die Mobilität und der<br />

Transport haben einen unzähmbaren<br />

Hunger nach <strong>Energie</strong>,<br />

sondern auch Häuser, die<br />

Landwirtschaft, die Industrie.<br />

Das Immer-Mehr, Immer-Größer<br />

und Immer-Schneller ist<br />

ohne den gigantischen <strong>Energie</strong>einsatz<br />

unvorstellbar, der zu<br />

85 Prozent aus nicht erneuerbaren<br />

<strong>Energie</strong>n wie Kohle,<br />

Erd öl und Erdgas gedeckt<br />

wird. Und wer ist dafür verant-<br />

wortlich? Die Regierungen, die<br />

es nicht geschafft haben, ihre<br />

selbst auferlegten Verpflichtungen<br />

zu erfüllen? Oder trifft<br />

es auch jeden Ein zelnen von<br />

uns, der durch seine indivi duelle Ent-<br />

scheidung ebenso zu diesem Immer-Mehr<br />

beiträgt? Konkurrenz – auf individueller<br />

Ebene Rivalität – gehört zu jenen Kräften,<br />

die mehr Unheil als Nutzen gebracht haben.<br />

Es gibt keinen „gesunden“ Wettkampf<br />

und wenn man in der Wirtschaft<br />

auch lieber von Wettbewerb spricht, so<br />

geht es immer um Macht, die in irgendeiner<br />

Form Unterlegene erzeugt. Es stellt<br />

sich daher die Frage: Ist Konkurrenz die<br />

richtige Antriebskraft, um die Ziele von<br />

Rio zu verwirklichen?<br />

Ich glaube nicht. Wir brauchen<br />

also neue Ideen, um in den nächsten Jahren<br />

und Jahrzehnten zu sicherer, bezahl-<br />

Norbert Lantschner<br />

barer und umweltverträglicher <strong>Energie</strong> zu<br />

kommen. Die Schweiz zeigt, wie es funktionieren<br />

könnte. Dieses kleine Land hat<br />

gleich zwei Revolutionen vor, um den<br />

Wohlstand seiner Bürger zu wahren. Zum<br />

einen soll der Gesamtenergieverbrauch<br />

bis 2050 um zwei Drittel gesenkt und<br />

zum anderen der Restbedarf an <strong>Energie</strong><br />

zu 75 Prozent aus erneuerbaren Quellen<br />

bezogen werden. Dieses anspruchsvolle<br />

Projekt nennt sich „Die 2000-Watt-Gesellschaft“,<br />

Ausdruck der Vision einer<br />

nachhaltigen Zukunft: klimaverträglich,<br />

energieeffizient und global gerecht. Neben<br />

Nachhaltigkeit ist vor allem Partizipation<br />

ein Wegbereiter für eine zukunftsfähige<br />

Entwicklung.<br />

Italien hat in Sachen <strong>Energie</strong> keine guten<br />

Karten. Es muss schon heute nahezu 90<br />

Prozent seines <strong>Energie</strong>bedarfes importieren.<br />

Für Unternehmen und Bürger ist<br />

<strong>Energie</strong> im internationalen Vergleich ungleich<br />

teurer. Trotzdem findet das Thema<br />

<strong>Energie</strong> in Italien nicht jene Aufmerksamkeit<br />

wie in anderen Industrieländern. Da<br />

die <strong>Energie</strong>kosten steigen und inzwischen<br />

70 Milliarden Euro pro Jahr überschreiten,<br />

fließt ein nicht unerheblicher Teil des<br />

Die Wirtschaft ist auf<br />

Konkurrenz ausgerichtet,<br />

womit zwangsläufig eine<br />

Spirale des Immer-Mehr,<br />

Immer-Größer und<br />

Immer-Schneller in Gang<br />

gesetzt wird.<br />

Reichtums ins Ausland. Italiens <strong>Energie</strong>-<br />

plan stammt aus dem Jahr 1987, eine auf<br />

breiter Basis diskutierte Er neuerung ist<br />

dringend erforderlich.<br />

Das Potenzial Italiens liegt vor al-<br />

lem im Bereich der Gebäudesanierung<br />

und im Neubau. Gebäude beanspruchen<br />

etwa ein Drittel des nationalen <strong>Energie</strong>bedarfs.<br />

Durch Wände, Dächer, Fenster<br />

und überaltete Heizanlagen wird zu viel<br />

und sinnlos <strong>Energie</strong> und somit Geld verschwendet.<br />

Es existieren zwar Technologien,<br />

Systeme und Materialien, die eine<br />

Senkung des <strong>Energie</strong>verbrauchs der Häuser<br />

um 80 Prozent ermöglichen würden.


Diese brachliegende „<strong>Energie</strong>quelle“ wird<br />

allerdings übersehen. Bei grüner <strong>Energie</strong><br />

wird meist nur an Fotovoltaik, Windräder<br />

oder bestenfalls an Biomasse gedacht.<br />

Die grünste <strong>Energie</strong> ist aber jene, die wir<br />

nicht benötigen!<br />

<strong>Süd</strong>tirol wurde mit dem KlimaHaus-Projekt<br />

Wegbereiter für ein neues, energiebewusstes<br />

Bauen und somit italienweit zur<br />

Vorzeigeprovinz. Der Erfolg dieser Initiative<br />

lag nicht primär im technischen<br />

Know-how, denn darin waren nördliche<br />

Länder schon weiter, sondern darin, eine<br />

neue Form der Kommunikation eingeführt<br />

zu haben. KlimaHaus hat es geschafft, die<br />

Menschen einzubinden und ihre Interessen<br />

in den Mittelpunkt zu stellen. Um ihnen<br />

die Mitsprache zu ermöglichen, galt<br />

es, auch für Laien verständliche Bewertungskriterien<br />

zu entwickeln. Beim Bauen<br />

halten sonst die Experten das Heft in der<br />

Hand, was häufig zu hohen Heizkosten<br />

und schlechter Bauqualität führt. Das<br />

Projekt KlimaHaus hat mit den Instrumenten<br />

der Transparenz, Qualität und Zuverlässigkeit<br />

ein neues Baubewusstsein geschaffen.<br />

Nicht Konkurrenz war die treibende<br />

Kraft, sondern Motivation, Erkenntnis<br />

und der Wille, es besser zu machen.<br />

Im Mittelpunkt standen Menschen, denen<br />

neben <strong>Energie</strong>einsparung und Wohnkomfort<br />

auch der Klimaschutz ein Anliegen<br />

ist. Der Erfolg dieses Projekts gründet<br />

aber auch auf Teilnahme und Mitsprache.<br />

Der Nebel in unseren Köpfen wird<br />

sich lichten, wenn es uns gelingt, neue<br />

Wege einzuschlagen, wenn wir unser<br />

Denken öffnen und Kreativität zulassen.<br />

Wenn Wettbewerb und Konkurrenz, dann<br />

solche um die besten Ideen! Unsere Zukunft<br />

hängt von der Fähigkeit ab, ob nachhaltiges<br />

Handeln ein Lippenbekenntnis<br />

bleibt oder ob es als ein ethisches, universales<br />

Prinzip gelebt wird. Gefordert ist<br />

dabei die Politik, die über gesetzliche<br />

Maßnahmen Anreize in diese Richtung<br />

schaffen muss, aber gefordert ist auch<br />

jeder von uns. All unsere Entscheidungen<br />

und unser Handeln haben eine Auswirkung<br />

auf unsere Umwelt. Und hierbei ist<br />

weniger Konkurrenz gefragt, sondern Kooperation.<br />

Ein mutiges Ziel, aber viele<br />

Optionen bleiben uns nicht.<br />

Norbert Lantschner (1956), Vater des<br />

<strong>Süd</strong>tiroler KlimaHauses, bis 2012 Direktor<br />

der KlimaHaus-Agentur in Bozen.<br />

Derzeit Präsident der Stiftung Climabita.<br />

Hans Karl Peterlini<br />

„ Nur noch kurz<br />

die Welt retten “<br />

Fotografie — Christian Martinelli/CubeStories<br />

Der Song schafft es auch zwei Jahre nach seinem Durchbruch<br />

immer noch in Hitsendungen, als wäre die Mission,<br />

die sich Tim Bendzko darin stellt, nun doch nicht ganz<br />

so schnell zu erledigen: … muss nur noch kurz die Welt<br />

retten“ ist ein entlarvend präzises Abbild jenes Widerspruchs,<br />

in dem sich Wissen und Handeln gegenwärtiger<br />

Generationen verbeißen. Dass diese Welt zu retten ist, und<br />

zwar dringend, ist nicht nur fundiert belegt, gehört nicht<br />

mehr nur zu den altehrwürdigen Mahnungen des Club of<br />

Rome, ist über revolutionäre Ansätze ehemaliger Dissensgruppen<br />

in nahezu alle Parteiprogramme westlicher Demokratien<br />

eingegangen, ja ist über die Populärwissenschaft<br />

zum Allgemeinwissen geworden. Nicht mehr die Verzweiflung<br />

über die James-Dean-Generation, „denn sie wissen<br />

nicht, was sie tun“, prägt das Dilemma der Generationen<br />

im neuen Jahrtausend, sondern deren Umkehrung: „denn<br />

sie tun nicht, was sie wissen." Das Dilemma liegt nicht<br />

im Wissen, sondern im folgerichtigen – Heidegger würde<br />

korrigieren: in dem auf Folgen gerichteten – Handeln.<br />

Wenn Lernen, nach der Neuausrichtung mehr oder<br />

weniger aller europäischen Schulprogramme, nicht mehr<br />

bei der Vermittlung von Wissen stehen bleiben, sondern zu<br />

Kompetenzen – sprich: Anwendungsbefähigung – führen<br />

soll, dann hätte die Pädagogik bald ihre Pflicht erfüllt und<br />

das Problem gelöst, ja die Welt tatsächlich im Handumdrehen<br />

gerettet. Niemand kann ernsthaft behaupten, dass<br />

das Know-how für das Angehen der für den Planeten oder<br />

zumindest die Menschheit überlebenswichtigen Veränderungen<br />

fehlt – Theorien und Technologien stehen in Hülle<br />

und Fülle bereit. Würde also ein ausreichender Teil der<br />

Menschheit, die sogenannte notwendige kritische Masse,<br />

dazu übergehen, ihr Wissen in Handeln überzuführen – im<br />

Umgang mit Umwelt, <strong>Energie</strong>, Waren, Zeit und Mitmenschen<br />

– dann stünden wir vor einer sanften Revolution der<br />

Nachhaltigen. Ist das so? Vieles könnte Mut machen, so<br />

das Prosperieren von intelligenten, auch marktfähigen,<br />

92 Wissen Alte und neue Baustellen „Nur noch kurz die Welt retten“


schicken Modellen nachhaltiger Wirtschafts- und Lebensstile,<br />

leicht zugänglich gemacht und vorgelebt durch Good-<br />

Practice-Beispiele, Bildungsanbieter, Beratungsteams,<br />

wie sie auch in <strong>Süd</strong>tirol ein greifbares und qualitativ hochwertiges<br />

Angebot darstellen – siehe Initiativen wie das international<br />

gut verlinkte terra institute in Brixen um<br />

Günther Reifer, Evelyn Oberleiter, Vivian Dittmar mit den<br />

Tagen der Nachhaltigkeit in Kloster Neustift, wie das internationale<br />

Energy Forum ebenfalls in Brixen. Das Amt für<br />

Weiterbildung der Autonomen Provinz Bozen hat die UNO-<br />

Dekade 2005–2014 „Bildung für nachhaltige Entwicklung“<br />

genutzt, um das Projekt gea* – Bildung für eine nach haltige<br />

Entwicklung – umzusetzen mit einem daraus ent wickelten<br />

und weiterführenden Lehrgang 2013. Da dürfte auch einiges<br />

von dem aufgehen und weiterwachsen, was von Hans<br />

Glauber (1933–2008) mit den Toblacher Ge sprächen und<br />

der Gründung des Ökoinstitutes <strong>Süd</strong>tirol begonnen wurde.<br />

Was der Pionierarbeit und den jüngeren An sätzen<br />

ge meinsam ist, lässt sich mit Glaubers Formel von<br />

der Wen de zum Schönen am besten umschreiben – nicht<br />

gries grämiger Verzicht, nicht Rückzug aus der zweiten<br />

oder dritten Moderne, nicht Miesmacherei, sondern eine<br />

Fruchtbarmachung nachhaltiger Prinzipien für ge steigerte<br />

93 Hans Karl Peterlini<br />

Die Welt auf den Kopf<br />

stellen, um sie zu retten.<br />

Im Bild hat der Fotokünstler<br />

Christian Martinelli<br />

dies mit den Bergspitzen<br />

des Hochfirst und des<br />

Granatkogel getan<br />

Lebensqualität, Zwischenmenschlichkeit als tiefster Sinn<br />

von Sozialität, mit ethischen und ökologischen Gütesiegeln<br />

ausgestattetes Wirtschaften. So spie gelt Glaubers<br />

Biografie jene Wende wider, die den Gedanken der Nachhaltigkeit<br />

aus den Nischen von Protestbewegungen<br />

hinaus wuchern und Wirtschaftspraktiken durchwachsen<br />

ließ. Er gehörte zu den jungen Kreativen bei Olivetti in den<br />

Frühzeiten moderner Markt- und Technologieforschung,<br />

war in New York, dann lange in Frankfurt, lernte Horkheimer<br />

und Adorno kennen, solidarisierte sich mit der<br />

Studentenbe wegung der ’68er, schloss Freundschaft mit<br />

Daniel Cohn- Bendit, setzte mit fotografischer Kunstschräge<br />

Zeichen des Widerspruchs. Vom intellektuellen<br />

Wollen und Wissen zum Handeln aber fand er, als in<br />

seinem Heimatort Toblach ein kleines Waldstück für ein<br />

Wirtschaftsprojekt gerodet werden sollte – Glauber begann<br />

sich real und konkret mit den Bedürfnissen und den<br />

Akteuren vor Ort auseinanderzusetzen, rettete das Waldstück<br />

und führte diese Erfahrungen über die Toblacher<br />

Gespräche zurück in einen größeren Diskurs. Die jährlichen<br />

Toblacher Thesen wurden regelmäßig in der „Frankfurter<br />

Rundschau“ abgedruckt und fanden weit über <strong>Süd</strong>tirol<br />

hinaus Resonanz – von theore tischen Entwürfen bis


Was in der Lebenswelt gelernt wird, muss Eingang in die Systeme finden, wenn<br />

es sich nicht an deren strategischer Kälte erschöpfen soll. Es braucht dazu<br />

ein Sprechen von unten nach oben auf vielen Ebenen, um Ohnmacht zu überwinden<br />

und Macht zu verändern. Das pädagogische Mittel dazu ist jenes des einbindenden<br />

Erzählens.<br />

hin zu konkreten Hackschnitzel werken, Radwegenetzen<br />

und den Vorarbeiten für das KlimaHaus.<br />

Die pädagogische Wirkungsmächtigkeit dieser Vita<br />

geht zurück auf ein neugieriges Pendeln zwischen Polaritäten:<br />

der in der Mailänder Gegend sozialisierte urbane<br />

Hans Glauber mit seinen Wurzeln in der engen Toblacher<br />

Heimat, die revolutionäre Suche nach Veränderung,<br />

die frustrationstolerante Aushandlung von Lösungen, die<br />

sanfte Methode, der radikale Ansatz. Sein Credo: Nicht<br />

die Ökonomie durch ökologische Barrieren zu maßregeln,<br />

sondern sie durch den Gedanken der Schönheit von innen<br />

heraus ökologisch zu revolutionieren, nicht die Technik<br />

ein wenig umweltfreundlicher zu dingseln, sondern Nachhaltigkeit<br />

als das Eigentliche zu setzen, ohne das sich Wirtschaften<br />

nicht lohnt, weil es nicht schön, sondern hässlich<br />

und selbstzerstörerisch ist. Für den Umgang mit Umwelt,<br />

Ressourcen, <strong>Energie</strong> bedeutet dies: Nachhaltigkeit nicht als<br />

Beigabe, sondern – im Sinne von Gemeinwohlökonomie –<br />

als bestimmendes Prinzip.<br />

Dies ist nicht nur Messlatte für tatsächliche Veränderung,<br />

sondern auch die Hürde, die das Handeln zu überspringen<br />

hat, wenn es nicht stecken bleiben will im Wissen,<br />

was zu tun wäre, wenn … , ja wenn: Gründe, doch wieder<br />

in kurzfristige Profitstrategien zu verfallen, gibt es immer,<br />

und sei es – für den Konsumenten – beim Kauf eines Hemdes<br />

aus Produktionsstätten der Kinderarbeit oder – für den<br />

Produzierenden – beim Bezug von Strom auch um den<br />

Preis von Landraub, Menschenvertreibung oder Kernspaltung.<br />

Den Vorzeigebetrieben und Nischen, in denen sich<br />

die Wende ermutigend vollzieht, stehen globale Entwicklungen<br />

ungehemmter Zerstörung und Ausbeutung gegenüber.<br />

Die entscheidende Frage wird deshalb am Ende wieder<br />

jene sein, ob Menschen, Gruppen, Systeme, Gesellschaften<br />

lernen oder nicht. Konstruktiver gewendet: wie sie<br />

lernen können, wie der Missing Link vom Wissen zum Handeln<br />

nicht nur im Einzelfall, nicht nur in Vorzeigebetrieben,<br />

nicht nur in bevorzugten Märkten geschlossen werden<br />

kann.<br />

Das Dilemma lässt sich – frei nach dem Philosophen<br />

und Soziologen Jürgen Habermas – im Spannungsverhältnis<br />

zwischen Lebenswelten und Systemen ausloten:<br />

Ge raten Lebenswelten in Krise, wächst dort auch das Bewusstsein<br />

für kooperative Lösungen durch kommunikatives<br />

Handeln. Systeme dagegen werden von strategischem<br />

Handeln dominiert, bei dem es – verkürzt – um den Vorteil<br />

geht. Was in der Lebenswelt gelernt wird, muss Eingang in<br />

die Systeme finden, wenn es sich nicht an deren strategischer<br />

Kälte erschöpfen soll. Es braucht dazu ein Sprechen<br />

94 Wissen „ Nur noch kurz die Welt retten “<br />

von unten nach oben auf vielen Ebenen, um Ohnmacht zu<br />

überwinden und Macht zu verändern. Das pädagogische<br />

Mittel dazu ist jenes des einbindenden Erzählens.<br />

Was Glauber in Toblach gemacht hat, war eine Erzählung<br />

zu beginnen, unter die Leute zu bringen, er hat auf<br />

Bahnhöfen erzählt, wenn er zufällig jemanden getroffen<br />

hat, er hat in Büros von Wirtschaftsbossen und verantwortlichen<br />

Politikern erzählt, in deren Vorzimmern und in deren<br />

Hinterzimmern, unaufhörlich. Solches Erzählen ist der Urtyp<br />

des Vernetzens, denn ein Erzählkreis schafft den anderen:<br />

In Toblach fanden „Gespräche“ statt, die in Frankfurt,<br />

Berlin, Bologna Kreise zogen, in großen Städten und<br />

kleinen Nestern. Vom Klimagipfel in Rio 2012 hätten die<br />

<strong>Süd</strong>tiroler Teilnehmer frustriert heimkommen müssen,<br />

denn wieder haben sich jene, die entscheiden, abgeschottet<br />

von jenen, die mit Hoffnungen hingepilgert waren. Als<br />

sich im Dezember 2012 einige von ihnen bei einer Tagung<br />

in Bozen im Gedenken an Rio 1992–2012 trafen, sprühten<br />

sie trotzdem vor Begeisterung – das Erlebnis, dass Menschen<br />

aus aller Welt sich am Rande der Großen ihre Hoffnungen,<br />

Versuche, Träume erzählt hatten, hat den Mut<br />

wachgehalten, die eigene Erzählung weiterzuspinnen.<br />

Im Lied von Tim Bendzko schwingt ein zweifacher<br />

Fluch mit, die Gehetztheit des Weltenretters als Metapher<br />

für die permanent gesteigerte Geschwindigkeit allen Wirtschaftens<br />

und Lebens. Das Atomkraftwerk, der Naturraubbau<br />

und der Krieg haben eine gemeinsame Matrix, die<br />

Beschleunigung der Problemlösung, der Bedarfsdeckung:<br />

Anstelle mühsamer, rückschlaggefährdeter, oft frustrierender<br />

Prozesse des Erkundens und Austauschens wird auf<br />

den schnellen Schlag, den harten Schnitt gesetzt. Der<br />

zweite Fluch ist das egomane Ich, das glaubt, alles alleine<br />

und selbst lösen zu können, wo nur Kooperation und Partizipation<br />

weiterbringen: Ja, wir müssen dringend diese Welt<br />

retten, aber wir brauchen die Geduld des Austauschens<br />

und Erprobens von Erfahrungen, des Erzählens von Hoffnungen<br />

und Träumen. Pädagogik, die es eilig hat, ist selten<br />

nachhaltig, sie beschleunigt durch Zwang und verwirft<br />

das Wachsende.<br />

Hans Karl Peterlini (*1961), Journalist und Bildungswissenschaftler,<br />

bis 2004 Chefredakteur des <strong>Süd</strong> tiroler Wochenmaga-<br />

zins „ff“, seither freier Autor und Essayist. Veröffentlichung zum<br />

Thema: „Hans Glauber. Utopie des Konkreten“, Raetia, 2011.


95<br />

Perspektiven<br />

Im Gestalten: kleinen Dorf Der Prad Architekt im oberen Carlo Vinschgau Ratti erklärt, hat Querden- wie inkertumtelligente<br />

Tradition Städte 23 funktionieren Nach hundertneunzig 96 Abrüsten: Jahren Für einen steht<br />

der sanften Weinbauer Umgang Alois mit der Lageder Natur dem 100 industriealisierten,<br />

Aufbauen: Auch<br />

biodynamischen in <strong>Süd</strong>tirol entstehen Betrieb viele grüne vor — Jobs sein 101 Credo: Quergedacht: veredelte<br />

Kann Qualität <strong>Energie</strong> für die heilen breite und Masse weiblich 43 In werden? Italien wird 104 liebend Verändern:<br />

gerne mit Mit Händen bewusstem und Füßen Konsum gesprochen, die Welt retten kann man 106<br />

Vorausblicken: dabei Sprechenergie Der Brief spare? des Chefredakteurs Über <strong>Energie</strong>effizienz 110 trotz<br />

wilder Gestik schreibt Wolf Haas 44 Fixies, Mountainbike<br />

und Klapprad: Wie sieht das grünste Fortbewegungsmittel<br />

aus? 47


Alessandra Viola<br />

Die intelligente Stadt<br />

Fotografie — Aurore Valade


Von Michelangelo heißt es, er sei nach<br />

Vollendung des Moses vom Realismus<br />

der Skulptur derart überwältigt und zugleich<br />

irritiert gewesen, dass er mit dem<br />

Hammer draufschlug und rief: „Warum<br />

redest du nicht?“ Die Vorstellung, ein so<br />

perfektes Objekt sei nicht in der Lage<br />

zu kommunizieren, war für den genialen<br />

Bildhauer offenbar unerträglich. Wer<br />

weiß, ob es ihn freuen würde zu hören,<br />

dass ein Architekt, auch er ein Italiener,<br />

das Problem dadurch lösen will, dass<br />

er die Objekte miteinander verknüpft<br />

und sie befähigt, mit uns zu kommunizieren.<br />

Carlo Ratti lehrt am Massachusetts Institute of Technology<br />

(MIT) in Boston Urban Technologies, also Urbanistik und<br />

neue Technologien, und leitet das SENSEable Lab des MIT<br />

sowie das Büro „carlorattiassociati“ mit Sitz in Turin, London<br />

und Boston. Seine Projekte reichen von der Architektur<br />

bis zum Design und beinhalten die Neukonzeption einiger<br />

Objekte und Begriffe, die uns äußerst vertraut sind, etwa<br />

unsere Vorstellung von der Stadt. „<strong>Nord</strong> & <strong>Süd</strong>“ bat Carlo<br />

Ratti zum Interview.<br />

A V (Alessandra Viola) — Die Stadt ist ein festes Gefüge<br />

von Häusern und Menschen, die sich darin bewegen, darin<br />

arbeiten und leben. Gibt es etwas Selbstverständlicheres?<br />

C R (Carlo Ratti) — Im Gegenteil, das Gefüge und die<br />

sozialen Bindungen einer Stadt verändern sich im<br />

Laufe der Zeit. In den letzten Jahrzehnten fand sogar<br />

ein ziemlich rascher Wandel statt.<br />

A V — Wie verändern sich die Städte?<br />

C R — Binnen weniger Jahre wurden die Städte mit<br />

Sensoren und elektronischen Netzwerken überzogen<br />

und haben sich praktisch in Computer unter freiem<br />

Himmel verwandelt. Deshalb beginnen Städte, ihren<br />

Bewohnern auf verschiedenste Weise zu antworten;<br />

Städte können gehört und auf eine Art und Weise<br />

betrieben werden, wie es bisher nicht möglich war.<br />

Eine Stadt zu überwachen bedeutet, eingreifen zu<br />

können, um Dinge in Ordnung zu bringen, die nicht<br />

funktionieren. Es bedeutet, die Stadt zu rationalisieren<br />

und effizienter zu machen. Dabei handelt es<br />

sich nicht um eine technische Spielerei, sondern um<br />

97<br />

Alessandra Viola<br />

etwas wirklich Nützliches: Die Städte beanspruchen<br />

heute gerade einmal 2 Prozent der Erdoberfläche,<br />

beherbergen aber 50 Prozent der Weltbevölkerung,<br />

verbrauchen 75 Prozent der <strong>Energie</strong> und stoßen bis<br />

zu 80 Prozent des gesamten Kohlendioxids aus.<br />

A V — Es ist jetzt oft vom „Internet der Dinge“ die Rede,<br />

einem Netzwerk von Objekten, die Daten und Informationen<br />

übertragen und damit immer intelligenter werden.<br />

Wie wird das unser Leben verändern?<br />

C R — Unser gesamtes Lebensumfeld hat angefangen,<br />

auf uns zu reagieren. So als ob jedes Atom<br />

sowohl zum Sensor als auch zum Aktor würde,<br />

der Daten empfangen, Informationen senden und<br />

sich den empfangenen Daten entsprechend verhalten<br />

kann.<br />

Dies verändert unsere Interaktion als Menschen in<br />

radikaler Weise. Manche sprechen in diesem Zusammenhang<br />

von Smart Citys, aber wir, die dreißig<br />

Leute, die am SENSEable City Lab des MIT in Boston<br />

arbeiten, nennen sie lieber Senseable Citys,<br />

womit „spürbare“, „sinnvolle“, „sensible“ und „sensorgesteuerte“<br />

Städte gemeint sind. Das ist ein<br />

Name, der mehr auf den Menschen zugeschnitten ist<br />

und ihn in den Mittelpunkt rückt, nicht die Technik.<br />

Im SENSEable City Lab versuchen wir herauszufinden,<br />

wie die Technik unser Verständnis der Stadt<br />

verändert, unsere Art, sie zu planen und letztendlich<br />

in ihr zu leben. Die Senseable City ist eine Stadt,<br />

die zu uns spricht und uns über Netzwerke ständig<br />

mit zu verarbeitenden und zu verknüpfenden Daten<br />

versorgt. Das macht unendlich viele Anwendungen<br />

möglich: vom <strong>Energie</strong>verbrauch bis zum Verkehr und<br />

zur Abfuhr und Entsorgung der Abfälle. Alle As pekte<br />

und Dimensionen der Stadt lassen sich dank dieser<br />

umfassenderen Informationen radikal verändern.<br />

A V — Wenn von Smart City die Rede ist, unterliegt man<br />

der Versuchung, sich weit weg gelegene Hightech-Orte<br />

vorzustellen, die erst in jüngster Zeit gebaut wurden. Lässt<br />

sich der Ausdruck auch auf ganz andere Situationen oder<br />

auch auf Länder wie Italien beziehen?<br />

C R — Für Italien ist das Modell der Smart City eine<br />

sehr wichtige Chance. In einem Land, in dem die<br />

Bevölkerung nicht wächst und die Wohnqualität<br />

nicht steigt, sondern aufgrund der Krise die Wohnfläche<br />

pro Kopf tendenziell sogar schrumpft, ist nicht<br />

mehr daran zu denken, die Stadtflächen zu erweitern<br />

wie im letzten Jahrhundert. Es würde dadurch nicht<br />

nur unberührte Natur, greenfield, wie es im Englischen<br />

heißt, unnötigerweise verschlissen, die unausweichliche<br />

Folge wäre, dass die bereits bebauten Gebiete<br />

sich leeren und damit dem Verfall überlassen<br />

würden. In Zukunft wird es immer wichtiger, den<br />

vorhandenen Bestand aufzuwerten und dabei städtebauliche<br />

Fehler zu beheben, auch unter Einsatz


neuer Technologien. Beispiel Verkehr: Es gibt bereits<br />

Autos, die von selbst fahren, und Netze, die es uns<br />

erlauben, auf der Suche nach einem Parkplatz keine<br />

Zeit und kein Benzin zu vergeuden. In Singapur haben<br />

wir ein Labor und ein Team, das sich im Rahmen<br />

des Projekts LIVE Singapore mit urbaner Mobilität<br />

beschäftigt. Es handelt sich um eine Open-Source-<br />

Software, die mit Echtzeitdaten arbeitet, um den<br />

aktuellen Zustand der Stadt zu analysieren. Die Daten<br />

werden mit einer Vielzahl von Kommunikationsapparaten,<br />

Mikroüberwachungssystemen und Sensoren<br />

im urbanen Lebensraum erfasst. Die so gesammelten<br />

Ergebnisse können dazu beitragen, das<br />

Leben in der Stadt besser zu gestalten, auch durch<br />

die Entwicklung neuer Anwendungen.<br />

A V — Die Menge der gesammelten oder verfügbaren<br />

Daten hat in den letzten Jahren unsere Fähigkeit, sie<br />

nutzbringend zu verwenden, deutlich überstiegen. Die<br />

Technik durchdringt bereits alle Aspekte des täglichen<br />

Lebens. Wie können wir sie nutzen, um besser zu leben?<br />

C R — Der Datenaustausch ist heute grundlegend<br />

und kann unter anderem einen sparsamen Umgang<br />

mit <strong>Energie</strong> und Ressourcen fördern. Sich der Verschwendung<br />

bewusst zu sein, kann ein sparsameres<br />

Verhalten auslösen. Wenn wir merken, wie und wie<br />

viel wir verschwenden, hören wir damit eher auf. Mit<br />

dem Projekt Trash Track („Dem Abfall auf der Spur“)<br />

wollten wir den Weg des Mülls verfolgen, nachdem<br />

wir ihn weggeworfen haben. Auf diese Weise haben<br />

wir entdeckt, dass der Zyklus keineswegs linear oder<br />

logisch ist und noch erheblich optimiert und verbessert<br />

werden kann, was in Zukunft auch deutliche<br />

wirtschaftliche Einsparungen ermöglicht. Zu wissen,<br />

dass die weggeworfene Plastikflasche, auch wenn<br />

wir sie aus dem Blick verloren haben, anderswo weiterlebt<br />

und nach einem Monat oder einem Jahr immer<br />

noch irgendwo herumliegt, schärft unser Bewusstsein<br />

und reduziert die Verschwendung. Diese<br />

Daten erstmals zur Verfügung zu haben, war für uns<br />

sehr wichtig. In anderen Fällen sind die Daten bereits<br />

vorhanden, man braucht sie nur noch innovativ zu<br />

nutzen. Mit dem Projekt Enernet zum Beispiel haben<br />

wir die Daten der Wi-Fi-Verbindungen als Parameter<br />

benutzt, der uns sagt, ob sich Menschen in einem<br />

Gebäude aufhalten. Damit kann man das Stromnetz<br />

in Echtzeit ausbalancieren. Diese Methode könnte<br />

mit sehr mäßigen Kosten an vielen Orten eingesetzt<br />

werden, um heute bereits faktisch verfügbare Informationen<br />

zu nutzen und ein so komplexes und dringendes<br />

Problem wie die effiziente Nutzung des<br />

Stromes anzugehen.<br />

A V — Ihre Forschungsergebnisse fanden Anwendung in<br />

der Architektur, aber auch bei Gütern des täglichen Bedarfs<br />

wie Fahrrädern, Küchenherden oder Mobiltelefonen<br />

98 Perspektiven Die intelligente Stadt<br />

und sogar bei künstlerischen Installationen. Wie kommt es<br />

zu dieser Vielseitigkeit?<br />

C R — Das Internet ist dabei, in den physischen<br />

Raum einzudringen, und diese Entwicklung hat unseren<br />

Alltag erfasst. Wir befinden uns heute zwischen<br />

der digitalen und der materiellen Welt, die<br />

unsere Lebensweise verändert. Nehmen wir Formel-<br />

1-Rennen, ein Beispiel, das mir am Herzen liegt,<br />

weil auch ich wie viele andere italienische Jungen in<br />

meinem Zimmer ein Poster von einem Rennwagen<br />

an der Wand hatte. Vor zwanzig Jahren reichten ein<br />

guter Motor und ein guter Fahrer aus, um zu ge winnen.<br />

Heute braucht es dazu ein System der Telemetrie,<br />

das auf der Erfassung von Daten durch Tausende<br />

von Sensoren am Auto und ihrer Auswertung<br />

in Echtzeit beruht.<br />

A V — Überwachungssysteme in Echtzeit kommen mittlerweile<br />

vielfach zum Einsatz. Wie finden sie Eingang in unser<br />

Leben?<br />

C R — Als Beispiel kann ich den Digital Water Pavilion<br />

nennen, ein Gebäude, das wir im Eingangsbereich<br />

zur Expo in Saragossa gebaut haben, praktisch<br />

nur mit einer Handvoll Sensoren und Wasser. Es gibt<br />

keine Türen oder Fenster, sondern nur Wasserfälle,<br />

die den Eindruck kompakter Oberflächen vermitteln<br />

und dazu verwendet werden können, um Bilder darauf<br />

zu projizieren oder darauf zu schreiben. Das Gebäude<br />

„öffnet sich“, wenn sich jemand nähert, lässt<br />

ihn ein und schließt die Wasserwand hinter ihm wieder.<br />

Wenn man das Dach absenkt, verschwindet die<br />

Architektur praktisch ganz, und wer den Pavillon<br />

besichtigt hat, fragt sich oft: Warum hat man ihn<br />

abgerissen? Aber das Schönste passierte, als eines<br />

Nachts die Sensoren ausfielen und in den Wänden<br />

Löcher und Öffnungen entstanden und sich nach<br />

dem Zufallsprinzip wieder schlossen. Nach ein paar<br />

Stunden waren alle jungen Leute von Saragossa da<br />

und spielten mit dem Wasser. Sie können sich vorstellen,<br />

wie groß unsere Überraschung war. Wir haben<br />

daraus gelernt, dass man alles erfinden kann,<br />

auch mit komplexester Technik, aber was die Leute<br />

dann damit machen, wird immer etwas völlig Neues<br />

und Kreatives sein.<br />

Ein bisschen so, als hätte Mose plötzlich angefangen,<br />

mit Michelangelo zu sprechen. Und ihm eine völlig neue<br />

Geschichte erzählt.<br />

Alessandra Viola (*1972), freie Print- und Fernsehjournalistin in<br />

Rom, unter anderem für „L’Espresso“, „La Repubblica“, „Il Sole<br />

24 Ore“ und RAI.<br />

Übersetzung: Walter Kögler


99<br />

Autor


Michil Costa<br />

Vier<br />

Elemente<br />

Alles im Leben ist <strong>Energie</strong>. Wir verbrau-<br />

chen allerdings zu viel davon und stoßen<br />

deshalb an natürliche Grenzen. Es wird<br />

nicht mehr lange dauern, bis die Vorräte<br />

an fossilen Brennstoffen ausgeschöpft<br />

sein werden. Dagegen sind die Elemente<br />

Luft und Erde, Feuer und Wasser seit<br />

jeher unsere natürlichen <strong>Energie</strong>quellen.<br />

Luft, Erde, Feuer und Wasser<br />

Wir atmen keine saubere Luft. Immer<br />

noch bauen wir Straßen, die noch mehr<br />

Autos anlocken. In Italien kommen auf<br />

1.000 Einwohner mehr als 600 Kraftfahrzeuge,<br />

das ist ein Spitzenwert in Europa.<br />

Dabei geht es auch anders: Am Rhein ist<br />

eine Fahrradstraße geplant, welche die<br />

Ausmaße einer Autobahn haben wird. In<br />

London hat der Stararchitekt Renzo Piano<br />

für sein neues Hochhausprojekt bewusst<br />

sehr wenige und nur für den Notfall<br />

bestimmte Parkplätze vorgesehen.<br />

Sind die Italiener weniger innovativ und<br />

unsensibel in Umweltfragen? Vielleicht.<br />

Bisher hatten sie selten den Mut, solche<br />

Wege zu beschreiten.<br />

Ähnlich steht es um unsere Erde,<br />

deren Ressourcen wir ausbeuten. Im Jahr<br />

2010 legte der südafrikanische Umweltrechtler<br />

Cormac Cullinan der UN-Generalversammlung<br />

eine Universalerklärung<br />

über die Rechte der Erde vor. Sein Vorschlag:<br />

Zu ihrem Schutz soll sie zur<br />

Rechtsperson werden. In Ecuador ist dieser<br />

Paradigmenwechsel schon Realität:<br />

Vertreter des Flusses Vilcabamba gewannen<br />

einen Rechtsstreit gegen die eigene<br />

Regierung, die das Wasser wirtschaftlich<br />

nutzen wollte.<br />

Das Feuer wurde in der Antike<br />

verehrt und respektiert. Als die Men-<br />

schen lernten, es für sich nutzbar zu ma-<br />

chen, wärmten sie sich daran und berei-<br />

teten darauf ihre Nahrung zu. Das Feuer<br />

ist jedoch ein ambivalentes Wesen: Es ist<br />

heilsam, reinigend und zugleich zerstörerisch.<br />

Jährlich fallen riesige Flächen an<br />

Wald dem Feuer zum Opfer – willentlich.<br />

Für die Herstellung von Biokraftstoff wie<br />

etwa Palmöl werden Hunderte Hektar<br />

Wald brandgerodet. Wenn wir weiter so<br />

mit unserer Umwelt umgehen, berauben<br />

wir uns der ureigensten Lebensgrundlage.<br />

Im übertragenen Sinn: Das Spiel<br />

mit dem Feuer kann uns teuer zu stehen<br />

kommen.<br />

Im Wasser, das mehr als zwei Drittel<br />

der Erdoberfläche ausmacht, leben<br />

mehr als 200.000 verschiedene Arten<br />

von Lebewesen, die uns Nahrung und die<br />

Hälfte des Sauerstoffs liefern, den wir<br />

zum Atmen benötigen. Aber was machen<br />

wir? Wir überfischen die Meere. Die<br />

meisten der großen Fischarten sind ausgestorben.<br />

Die Flüsse, die in Tibet entspringen,<br />

versorgen die Hälfte der Weltbevölkerung<br />

mit Wasser. Im Gegenzug<br />

plündern, verschmutzen, privatisieren<br />

und vergewaltigen wir die Gewässer und<br />

damit unsere Mutter Erde, unsere Pachamamma,<br />

wie sie von den Andenvölkern<br />

liebevoll genannt wird.<br />

100 Perspektiven Vier Elemente<br />

Gemeinwohlbilanz<br />

Es ist noch nicht alles verloren. Luft und<br />

Erde, Wasser und Feuer sind Allgemeingüter,<br />

mit denen wir sorgsam und sanft<br />

umgehen müssen. Es geht um nichts<br />

we niger als den Erhalt und die Rechte<br />

der Erde, auf der wir leben. Nicht die<br />

wirt schaftlichen Aspekte werden uns da-<br />

bei antreiben.<br />

Für unseren Hotelbetrieb haben<br />

wir einen Weg eingeschlagen, der ein<br />

neues Bewusstsein in die Praxis umsetzt.<br />

Wir messen unser unternehmerisches<br />

Tun nicht nur am Umsatz, sondern auch<br />

an den 17 Kriterien der Gemeinwohlbilanz,<br />

die sich an Werten wie Gerechtig-<br />

Mensch und Natur. „Luft, Erde, Wasser und Feuer sind Allgemeingüter, mit denen wir sorg-<br />

sam und sanft umgehen müssen.“ Foto: Gustav Willeit<br />

keit, Menschenwürde, ökologische Verantwortung,<br />

Demokratie, Mitgefühl oder<br />

Solidarität orientiert. Im Jahr 2011 haben<br />

über 100 Pionierunternehmen freiwillig<br />

eine solche Bilanz erstellt. In <strong>Süd</strong>tirol<br />

sind es heute fünf von 850 Hotels, die<br />

dasselbe Wirtschaftsmodell für sich etabliert<br />

haben. Damit sich für die Zukunft<br />

Entscheidendes zum Wohl unserer Erde<br />

verändert, benötigt es viel mehr davon.<br />

Michil Costa (*1961), engagierter Um-<br />

weltschützer und Gastronom, führt mit<br />

seiner Familie das Hotel La Perla in<br />

Corvara im Gadertal.<br />

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101<br />

Ariane Löbert<br />

Grün wirtschaften<br />

Fotografie — Jasmine Deporta<br />

Der Bereich der Green Economy wächst<br />

rasant. Viele Arbeitsplätze werden in<br />

den kommenden Jahren durch nachhaltiges<br />

Wirtschaften entstehen. Auch in<br />

<strong>Süd</strong>tirol.<br />

Ariane Löbert<br />

Ökologisch nachhaltig, wirtschaftlich profitabel und gleichzeitig<br />

sozial ausgewogen – das ist die Formel der Green<br />

Economy. Früher nannte man derlei schlicht Nachhaltigkeit.<br />

Das Konzept ist also alles andere als neu und lässt sich<br />

auch nicht auf einige wenige Wirtschaftsbereiche reduzieren.<br />

Fast jeder Installateur bietet heute auch umweltrelevante<br />

Dienstleistungen an, indem er Solaranlagen, Wärmepumpen<br />

oder Biomasseheizungen installiert. Längst nicht<br />

jeder zur Green Economy gezählte Betrieb erwirtschaftet<br />

seinen gesamten Umsatz in diesem Bereich und längst<br />

nicht alle Mitarbeiter eines Unternehmens mit Nachhaltigkeitsanspruch<br />

verrichten Tätigkeiten, die sich als „grün“<br />

bezeichnen lassen. Ein Umstand, der es nicht leichter<br />

macht, die Green Economy sicher zu qualifizieren und zu<br />

quantifizieren, sagt Sepp Walder, Projektmanager im Bereich<br />

Umwelt und <strong>Energie</strong> des TIS innovation park in Bozen,<br />

der Unternehmensbrutstätte und Innovationspartner in<br />

einem ist. Für <strong>Süd</strong>tirol will er im Rahmen einer jüngst angelaufenen<br />

Studie jetzt erstmals einen detaillierten Überblick<br />

verschaffen.<br />

Dass das nachhaltige Wirtschaften seit Jahren ein<br />

enormes Wachstum erlebt, ist dennoch gut dokumentiert.<br />

Laut dem Umwelttechnologie-Atlas des deutschen Bundesumweltministeriums<br />

ist der weltweite Markt für Umwelttechnik<br />

und Ressourceneffizienz zwischen 2007 und 2010<br />

um rund 12 Prozent pro Jahr gewachsen und hat heute ein<br />

Volumen von knapp zwei Billionen Euro.<br />

Auch in <strong>Süd</strong>tirol hat die Green Economy in den<br />

vergangenen 20 Jahren bemerkenswerte Zuwächse verzeichnet.<br />

Zählte man 1990 erst 110 Betriebe zum grünen<br />

Produktionshalle von Progress. Das Unternehmen aus Brixen hat sich auf das energieeffiziente Bauen spezialisiert<br />

und unter anderem eine Außenwand mit integrierter Warmedämmung entwickelt


Wirtschaftszweig, waren es 2010 bereits 464 mit insgesamt<br />

rund 4.000 Beschäftigten. Die aktuelle Weltwirtschaftskrise<br />

hat diese Vorwärtsentwicklung zwar etwas<br />

verlangsamt, größere Einbrüche blieben jedoch aus, was<br />

die These bestätigt, dass nachhaltiges Wirtschaften Unternehmen<br />

krisenfest macht.<br />

Die Erfindungen von Alberto Volcan reduzieren den Abfall und<br />

sind vollständig biologisch abbaubar<br />

Erfinder und Rebellen<br />

In diesem Sinne krisenfest ist auch der Erfinder Alberto<br />

Volcan. Der 71-jährige Ingenieur, Computerentwickler und<br />

Weltreisende hat diverse Patente an den Wänden seines<br />

Bozner Büros hängen, allein zwölf davon beschäftigen sich<br />

mit der Verwertung all dessen, was bei der Verarbeitung<br />

von Äpfeln übrig bleibt. Apfelreste sind Volcans große Leidenschaft.<br />

Aus ihnen stellt er nicht nur Ölabscheider für die<br />

Industrie her, er macht auch Papier daraus und sogar eine<br />

Art Kunstleder. Zu seinen neuesten Erfindungen zählen<br />

kompostierbare Windelfüllungen aus Apfelgranulat und<br />

Solarthermiepaneele, die dank der getrockneten Apfelreste<br />

weit mehr Wärme produzieren als herkömmliche Modelle.<br />

„Derzeit laufen dazu Feldversuche an der landwirtschaftlichen<br />

Versuchsanstalt Laimburg“, sagt der Erfinder. Besonders<br />

stolz ist er darauf, dass seine Produkte Abfall reduzieren<br />

und dabei völlig ungiftig und komplett biologisch abbaubar<br />

sind. Die Testphase längst überwunden hat Volcans<br />

102 Perspektiven Grün wirtschaften<br />

Apfelpapier mit dem schönen Namen Cartamela. Das Papier<br />

mit dem edlen Schilfton wird in Verona hergestellt und<br />

italienweit verkauft. Auch Toiletten- und Küchenpapier gibt<br />

es ebenso wie Apfelkisten und „Apfelsixpacks“ für den Supermarkt<br />

– da kehrt der Apfel gewissermaßen zu sich selbst<br />

zurück.<br />

Nicht mal halb so alt wie der drahtige Bozner Erfinder,<br />

aber nicht minder kreativ sind die Gründer von Re-<br />

Bello. Das Ökomodelabel stellt trendige T-Shirts aus organischer<br />

Baumwolle und anderen, weniger bekannten Naturfasern<br />

wie Bambus und Eukalyptus her. Die mit verschiedenen<br />

Ökosiegeln zertifizierten Shirts werden<br />

überwiegend in Deutschland, aber auch in Österreich, der<br />

Schweiz und den Benelux-Ländern verkauft – und zwar<br />

nicht im klassischen Bioladen, sondern in angesagten Boutiquen<br />

und Modeketten. „Wir sind 2010 mit 3000 selbst<br />

designten T-Shirts gestartet“, sagt Daniel Tocca, der Re-<br />

Bello gemeinsam mit seinen Freunden Emanuele Bacchin<br />

und Daniel Sperandio gegründet hat. Heute verkauft man<br />

bereits 20.000 Stück und ab Herbst sollen Hosen und<br />

Strickwaren die Kollektion erweitern. Hochwertige und<br />

ökologisch korrekte Shirts mit unverwechselbarem Stil<br />

haben sich für die Jungunternehmer als echte Marktlücke<br />

erwiesen, die Nachfrage steigt und steigt. „Wir wollen ein<br />

Toplabel im Ökomodebereich werden“, sagt Tocca denn<br />

auch selbstbewusst. Design und Vermarktung erfolgen von<br />

Leifers aus, produziert wird in der Türkei und in Griechenland,<br />

wo auch die Mehrzahl der Rohmaterialien nach biologischen<br />

Richtlinien angebaut und verarbeitet wird. Derzeit<br />

bastelt man gemeinsam mit dem TIS und mit Unterstützung<br />

des Landes <strong>Süd</strong>tirol an neuen, möglichst einheimischen<br />

Materialien – „an Apfelreste denken wir dabei aller-<br />

Die trendigen T-Shirts von Re-Bello werden in angesagten<br />

Modeketten verkauft<br />

dings nicht“, meint Daniel Tocca. Ein Fernziel ist, auch in<br />

Italien zu produzieren, denn ein „Made in Italy“ ist im<br />

Mode- und Designbereich immer noch so etwas wie ein<br />

Adelstitel. Ein „Made in <strong>Süd</strong>tirol“ wird es allerdings, ebenso<br />

wie beim Apfelpapier, nicht geben, dazu fehlen hierzulande<br />

schlicht die entsprechenden Industriezweige.


Wirtschaft im Wandel<br />

Mangelware sind oft auch gut dotierte Jobs für Akademiker.<br />

Hochschulabgänger tun sich zuweilen schwer, in <strong>Süd</strong>tirol<br />

eine ihrer Qualifikation entsprechende Beschäftigung zu<br />

finden. Weit stärker nachgefragt sind hierzulande Facharbeiter<br />

mit Zusatzqualifikationen im Umwelt- und <strong>Energie</strong>bereich.<br />

Inzwischen haben auch die Berufsschulen diese<br />

Entwicklung erkannt und beginnen spezielle Ausbildungsgänge<br />

anzubieten. In Meran gibt es bereits eine Weiterbildung<br />

zum „Solarteur“, einem geschützten Titel, der seinen<br />

Träger als Experten für<br />

Solartechnik und erneuerbare<br />

<strong>Energie</strong> ausweist,<br />

und in Schlanders<br />

will man in diesem<br />

Jahr mit einer Ausbildung<br />

zum Baubiologen<br />

starten. Spezialisierungen<br />

für Elektro- und<br />

Anlagentechniker<br />

ebenso wie für Installateure<br />

sollen folgen.<br />

Weiterbildung, die sich<br />

auch für die Beschäftigten<br />

rechnet – zusätzliche<br />

Kompetenzen<br />

erhöhen die Arbeitsplatzsicherheit<br />

und<br />

machen sich auch in<br />

der Lohntüte positiv<br />

bemerkbar.<br />

An der Freien<br />

Universität Bozen kann<br />

man einen Bachelor in Innovation Engineering erwerben,<br />

es gibt einen KlimaHaus Master, der Planer zu Experten<br />

im Bereich des energieeffizienten Bauens ausbildet, und<br />

ein Doktoratsstudium in Erneuerbaren <strong>Energie</strong>n und Technologie.<br />

Derzeit suchen die Absolventen ihr Glück noch<br />

häufig im Ausland, aber nach und nach zeigen die Forschungs-<br />

und Entwicklungsbemühungen verschiedenster<br />

Unternehmen, aber auch von TIS und Europäischer Aka-<br />

103 Ariane Löbert<br />

demie Bozen Wirkung und wandeln die immer noch stark<br />

von Handwerk, Tourismus und Landwirtschaft geprägte<br />

Wirtschaftsstruktur und damit auch die Beschäftigungsmöglichkeiten<br />

im Land.<br />

Ein Unternehmen, das diese Entwicklung seit Langem<br />

begleitet und vorantreibt, ist das Brixner Bauunternehmen<br />

Progress. Als Hersteller von Betonfertigteilen war<br />

man von Anbeginn an der Entwicklung des KlimaHauses,<br />

einem von der öffentlichen Hand zertifizierten Niedrigenergiehaus,<br />

beteiligt und hat sich verstärkt dem energieeffizienten<br />

Bauen zugewandt. Herausgekommen ist dabei<br />

unter anderem die sogenannte Thermowand®, eine Außenwand<br />

mit integrierter Wärmedämmung, die Bauten im<br />

sogenannten KlimaHaus-Standard ermöglicht. Das sind<br />

Neubauten, die nur mehr 5 Liter Heizöl pro Quadratmeter<br />

Wohnfläche und Jahr verbrauchen. Ebenfalls eine Eigenentwicklung<br />

ist die sogenannte Klimadecke® – ein Deckenelement<br />

mit integriertem Heiz- und Kühlsystem. „Das Prinzip<br />

der Deckenheizung ist besonders interessant, weil es<br />

im Winter für Wärme und im Sommer optimal für Kühlung<br />

sorgt“, sagt Hanno Töll, der bei Progress Innovationsprojekte<br />

koordiniert. Für die Thermowand wurde jüngst im<br />

Rahmen der Innovation School des TIS eine Lebenszyklusanalyse<br />

erstellt. Dabei wird der Lebenslauf eines Produktes<br />

von der Entwicklung bis zur endgültigen Beseitigung<br />

analysiert. Betrachtet werden sämtliche <strong>Energie</strong>- und Materialflüsse,<br />

die in das Produkt einfließen. „Für uns war das<br />

eine sehr interessante<br />

Erfahrung, die uns<br />

ganz neue Einblicke in<br />

unseren Betrieb gegeben<br />

hat“, sagt Hanno<br />

Töll. Jetzt mache man<br />

sich an die Umsetzung<br />

der Erkenntnisse.<br />

Viele neue<br />

Geschäftsfelder<br />

Die Erfolgsgeschichte<br />

KlimaHaus ist ein wesentlicher<br />

Motor der<br />

Green Economy in<br />

<strong>Süd</strong>tirol. Den weitaus<br />

größeren Teil der Gebäude<br />

machen aber<br />

auch hierzulande die<br />

Altbauten aus. Deren<br />

energetische Sanierung<br />

ist Herausforderung<br />

und Chance gleichermaßen. Als eines der größten<br />

Probleme erweist sich dabei meist die Finanzierung. Sie<br />

stellt private Eigentümer, ganz besonders Eigentümergemeinschaften<br />

von Mehrfamilienhäusern, oft vor unlösbare<br />

Probleme. Neue Möglichkeiten bieten sogenannte Esco-<br />

Finanzierungen, bei denen ein Investor die Kosten für die<br />

Sanierung übernimmt und sich anschließend durch die<br />

erzielten Einsparungen refinanziert. Eine abgespeckte


Variante ist das <strong>Energie</strong>contracting, bei dem nur die Kosten<br />

für die Heizanlage vorfinanziert werden. In <strong>Süd</strong>tirol<br />

beackert die Firma Eneralp dieses noch junge Geschäftsfeld<br />

derzeit quasi in Alleinstellung. „In Zeiten explodierender<br />

Öl- und Gaspreise steigt die Nachfrage nach Biomasseheizungen“,<br />

sagt Jürgen Viehweider, der Eneralp gemeinsam<br />

mit seinem Bruder Thomas leitet. Die Heizanlagen<br />

werden von ihnen geplant, eingebaut und auch<br />

gewartet. Nach Ende der Vertragslaufzeit geht die Anlage<br />

ins Eigentum der Auftraggeber über.<br />

Die Green Economy wird von der UNO erklärtermaßen<br />

als Antwort auf die vordringlichsten globalen Problemfelder<br />

wie Klimawandel, Ressourcenknappheit und Bevölkerungswachstum<br />

gesehen. Laut UN-Schätzungen werden<br />

in diesem Bereich in den kommenden Jahrzehnten<br />

weltweit zwischen 15 und 60 Millionen neue Jobs entstehen.<br />

Auch Beratungs- und Planungsfirmen im Umwelt- und<br />

<strong>Energie</strong>bereich werden eine immer stärkere Bedeutung<br />

bekommen, Planungsbüros wie die Bozner Energytech. Die<br />

Gebäudetechnik der Handelskammer in Bozen oder des<br />

Firmensitzes der Salewa-Gruppe wurden hier projektiert<br />

und bauleitend betreut. Das Unternehmen, das ähnlich wie<br />

Eneralp aus der Initiative zweier Ingenieure entstanden<br />

ist, ist mittlerweile im gesamten oberitalienischen Raum<br />

bis hinunter nach Rom tätig. „Wir werden überall dort hinzugezogen,<br />

wo energetisches Know-how gefragt ist“, fasst<br />

Laut UN-Schätzungen werden im<br />

Bereich Green Economy in<br />

den kommenden Jahrzehnten weltweit<br />

zwischen 15 und 60 Millionen neue Jobs<br />

entstehen.<br />

Norbert Klammsteiner, einer der beiden Unternehmensgründer,<br />

zusammen. Längst arbeitet man mit namhaften<br />

Architekten wie David Chipperfield oder Matteo Thun<br />

zusammen. „<strong>Energie</strong> ist heute ein wesentlicher Kostenfaktor<br />

für die Wirtschaft“, sagt Klammsteiner, deshalb setzen<br />

immer mehr Unternehmen auf Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen,<br />

<strong>Energie</strong>erzeugung und sinnvolle <strong>Energie</strong>- und<br />

Ressourcennutzung.<br />

Die Notwendigkeit zu sparen und neue Wege zu gehen,<br />

ist eine der wesentlichen Antriebsfedern für die Green<br />

Economy und schafft viele neue Berufsfelder und Arbeitsplätze.<br />

Auch in <strong>Süd</strong>tirol.<br />

Ariane Löbert (*1969), freie Journalistin in Bozen, unter anderem<br />

für das Wochenmagazin „ff“, „<strong>Süd</strong>tirol Panorama“ und RAI-Sender<br />

Bozen.<br />

104 Perspektiven Grün wirtschaften Energisch und energetisch<br />

Waltraud Mittich<br />

Energisch<br />

und<br />

energetisch<br />

Ihren Wörtern auf der Spur zu bleiben,<br />

ist eine Möglichkeit, Aufschluss zu bekommen<br />

über eine Gesellschaft. <strong>Energie</strong><br />

ist ein derartiges Schlüsselwort. Es<br />

kommt aus dem Griechischen, wie die<br />

meisten unserer Signalwörter. Ironie<br />

des Schicksals angesichts der heutigen<br />

Si tuation: <strong>Energie</strong> bedeutet Wirken. Alle<br />

wollen wir energisch sein, dynamisch,<br />

effi zient, berechenbar. So ähnlich, wie<br />

Mephisto es in Goethes Faust meint:<br />

„Was ihr nicht rechnet, glaubt ihr, sei<br />

nicht wahr.“ Gleichzeitig wiederum wollen<br />

wir nicht nur rational sein. Wir lassen<br />

uns auf das Qi ein, auf die tantrischen<br />

Chakras, importierte <strong>Energie</strong>zentren, wie<br />

auch auf drinks, die energy versprechen.<br />

Positive <strong>Energie</strong> würden wir ebenfalls<br />

gern ausstrahlen: Die Aura, ihre Schwin-<br />

gungen, deren <strong>Energie</strong>n haben es uns<br />

angetan. <strong>Energie</strong> als Lebenskraft, als<br />

sexuelle <strong>Energie</strong>, elan vital, den vigore<br />

– die firmeza sollten wir gesondert be-<br />

nennen. Die vierte Bedeutungsebene von<br />

<strong>Energie</strong>, von der unser Weiterbestehen<br />

abhängt, meint die verschiedenen <strong>Energie</strong>träger<br />

wie Mineralöl, Erdgas, Braunund<br />

Steinkohle, Uran und die alternativen<br />

bzw. erneuerbaren wie Wind-, Wasser-,<br />

Solarkraft.<br />

Wir haben unglaublich viele neue<br />

Wörter für unsere <strong>Energie</strong>wirtschaft<br />

erfunden, besonders in der deutschen<br />

Sprache. Der letzte große Wortwurf<br />

nennt sich <strong>Energie</strong>wende. Eingeläutet<br />

wurde sie – wieder einmal – von den<br />

Deutschen. Sie sind gut im Wortfinden<br />

für solcherlei, aber auch sensibel, es ist


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nicht nur die german angst, die sie antreibt.<br />

Ein weiteres deutsches Neuwort<br />

nennt sich <strong>Energie</strong>sparampel, das Wort<br />

gehört zur Serie <strong>Energie</strong>sparen, <strong>Energie</strong>sparlampen<br />

usw. Davon reden nun alle<br />

oft und viel. Genauso wie von der <strong>Energie</strong>effizienz,<br />

die zu einer <strong>Energie</strong>einsparung<br />

beim <strong>Energie</strong>effizienzhaus und dem<br />

entsprechenden Auto führen soll. Es geht<br />

aber auch die Rede von einem <strong>Energie</strong>effizienzmythos.<strong>Energie</strong>einsparungsgesetze<br />

und -verordnungen sollen dieses<br />

doch recht unvollständige <strong>Energie</strong>-Wörter-Bild<br />

abrunden.<br />

Ich will aber nicht abschließen,<br />

ohne meinen persönlichen sprachlichen<br />

Spitzenreiter einzubringen: Er nennt sich<br />

Energetisches Sanieren. Die Philosophen<br />

bezeichnen als energetisch die Grundlage<br />

und das Wesen allen Seins. Das<br />

kann beim Sanieren nicht gemeint sein.<br />

Energetik als Ausgleich zum Gleichgewicht<br />

nach C. G. Jung kommt dem Gan-<br />

zen möglicherweise näher. Aber nein,<br />

es handelt sich doch wieder nur um eine<br />

<strong>Energie</strong>sparmaßnahme, es geht um die<br />

Abdichtung eines Bauwerks.<br />

Unser <strong>Energie</strong>hunger ist unstillbar.<br />

Nicht nur die sprachlichen Neubildungen<br />

beweisen es. Und <strong>Energie</strong> haben, ist<br />

für uns gleichbedeutend mit Verprassen,<br />

Verpulvern, Verpuffen. Durch den Schornstein<br />

jagen ist ein Sprachbild aus vormodernen<br />

Zeiten. Es wäre an der Zeit,<br />

unsere <strong>Energie</strong>n anders zu bündeln, sie<br />

in einen besseren Kapitalismus, jedenfalls<br />

in eine andere <strong>Energie</strong>wirtschaft zu<br />

investieren. Aus <strong>Süd</strong>tirol gibt es diesbe-<br />

züglich positive Meldungen. Ich nenne<br />

zwei Beispiele: Die Kleinstadt Bruneck<br />

im Pustertal ist eine von 20 Gemeinden<br />

Italiens, die ihren <strong>Energie</strong>bedarf zu 100<br />

Prozent aus erneuerbaren <strong>Energie</strong>n<br />

deckt. Der <strong>Energie</strong>mix speist sich aus<br />

drei kleinen Wasserkraftwerken, einer<br />

Fernwärmanlage, Solar- und Fotovoltaikanlagen,<br />

einer Biogasanlage und in Zukunft<br />

auch aus Geothermie. Das Dorf<br />

Toblach wurde von der RES Champions<br />

League für beste europäische <strong>Energie</strong>kon<br />

zepte ausgezeichnet.<br />

Das Thema <strong>Energie</strong> ist in <strong>Süd</strong>tirol<br />

derzeit jedoch auch ein brenzliges – so<br />

brenzlig, dass es einen Sonderbeauftragten<br />

für <strong>Energie</strong> braucht, weil politische<br />

<strong>Energie</strong>misswirtschaft einen <strong>Energie</strong>skandal<br />

ausgelöst hat. Wenn wir imstande<br />

wären, all unsere <strong>Energie</strong>n in europäische<br />

<strong>Energie</strong>konzepte zu stecken,<br />

von der Profitmaximierung abzusehen,<br />

genossenschaftlich zu denken und zu<br />

handeln, wenn wir, Männer und Frauen<br />

zusammen, eine weibliche <strong>Energie</strong>wirtschaft<br />

zustande brächten – weiblich im<br />

Sinne von gerecht, emphatisch, bescheiden,<br />

fürsorglich –, dann bräuchten wir<br />

uns um die Zukunft des Planeten weniger<br />

Sorgen zu machen. Wir müssen es schaffen,<br />

die Areale im Gehirn, die für Akti -<br />

vismus, Aggression, allzu energisches<br />

Handeln verantwortlich sind, weniger zu<br />

beanspruchen.<br />

Ich glaube, dass die <strong>Energie</strong>wende<br />

vorangetragen wird von der Generation,<br />

die nach 1980 geboren ist. Junge Männer,<br />

die sich eine andere Unternehmenskultur<br />

105 Waltraud Mittich<br />

wünschen, weil sie sich mehr Privatleben<br />

erwarten vom Leben, junge Frauen an<br />

den Schaltstellen der Macht, weniger<br />

risikobereit und somit mehr auf wirtschaftliche<br />

Risiken achtend. Sie werden<br />

zusammen unsere <strong>Energie</strong>wirtschaft in<br />

das Postwachstum führen und sich ein<br />

wenig vom Überfluss verabschieden.<br />

Energetisch heilen bedeutet in der<br />

alternativen Medizin, dass der Heiler<br />

seine eigenen <strong>Energie</strong>n einsetzt, um den<br />

Heilungsprozess in Gang zu bringen. Der<br />

Glaube versetzt dabei Berge. Aber vielleicht<br />

ist doch manches wahr, was wir<br />

nicht rechnen können. Ans Handauflegen<br />

glaube ich nicht, wohl aber daran, dass<br />

der weniger energische Einsatz von <strong>Energie</strong><br />

heilsam wäre und wir uns so selbst<br />

heilen könnten.<br />

„Unser <strong>Energie</strong>hunger ist unstillbar."<br />

Foto: André Karwath aka Aka, cc-Lizenz<br />

Waltraud Mittich (*1946), Schriftstellerin<br />

in Bruneck. Aktuelle Buchveröffentli-<br />

chung: „Du bist immer auch das Gerede<br />

über dich“, Raetia, 2012.


Juliet Schor<br />

Was uns wirklich<br />

reicher macht<br />

Illustration — Ika Künzel<br />

2008 stand der globale Kapitalismus am Abgrund. Das<br />

Finanzsystem drohte zusammenzubrechen und konnte<br />

nur mit umfassenden Regierungsgarantien und massiven<br />

Geldspritzen gerettet werden. Dennoch wurden weltweit<br />

Vermögenswerte in Höhe von 50 Billionen Dollar auf einen<br />

Schlag ausradiert. Und das ist nur ein Teil der Tragödie,<br />

die uns bedroht. Die Forschung zeigt, dass wir Menschen<br />

unseren Planeten weit schneller ausplündern, als er sich<br />

regenerieren kann. In den Weltmeeren breiten sich die Zonen<br />

aus, in denen kein Leben mehr existiert; einst fruchtbares<br />

Farmland verwandelt sich in Wüsten. Die Arten vielfalt<br />

schrumpft dramatisch. Setzen sich die gegen wärtigen<br />

Trends fort, so warnen Wissenschaftler, werden die Ozeane<br />

bis 2050 leergefischt sein. Dabei ist Fisch die wich tigste<br />

Nahrungsquelle für Milliarden von Menschen.<br />

Doch es gibt einen Ausweg aus der ökonomischen<br />

Krise mit steigenden Preisen für Nahrungsmittel und <strong>Energie</strong><br />

und der Furcht vor einer Klimakatastrophe. Ich benutze<br />

dafür das Wort „Fülle“, Englisch „Plenitude“. Es ist ein<br />

Sy nonym für die Großzügigkeit der Natur. Plenitude bietet<br />

uns die Chance wiederzuentdecken, was uns wirklich<br />

reicher macht, zum Beispiel die Rückbesinnung auf ein<br />

starkes Miteinander. Plenitude bedeutet, nach anderen<br />

Maximen zu leben als nach denen, die in den vergangenen<br />

25 Jahren dominiert haben. Dieser Lebensstil orientiert<br />

sich im Kern an ökologischen und sozialen Zielen, aber er<br />

ist keine Verzichtsideologie. Im Gegenteil: Er bringt mehr<br />

Lebensqualität als das Festhalten am „Business as usual“,<br />

das nur dazu führen wird, dass unsere natürlichen und ökonomischen<br />

Lebensgrundlagen zerstört werden.<br />

Wie die meisten Nachhaltigkeitsvisionen, die in den<br />

zurückliegenden Jahren vorgestellt worden sind, setzt<br />

auch Plenitude auf den Einsatz hochentwickelter grüner<br />

Technologien. Ohne sie würden wir einer ungewissen Zukunft<br />

entgegenblicken. Aber mein Ansatz ist nicht auf<br />

Technik fixiert. Mit ihr allein können wir die Probleme nicht<br />

106 Perspektiven Was uns wirklich reicher macht<br />

lösen. Was wir darüber hinaus brauchen, ist eine neue<br />

Art des Arbeitens und Konsumierens. Wir müssen unser<br />

tägliches Leben neu gestalten. Kurzum: Wir brauchen<br />

ein alter natives Wirtschafts- und Lebensmodell und nicht<br />

bloß ein neues <strong>Energie</strong>system.<br />

Der Übergang in eine nachhaltige Wirtschaft wird<br />

Jahrzehnte dauern, und Plenitude ist auch eine Strategie,<br />

die sicherstellt, dass es uns in dieser Zeit des Übergangs<br />

weiterhin gut geht. Der Charme dieses Ansatzes ist es,<br />

dass er sich sofort umsetzen lässt. Wir müssen nicht darauf<br />

warten, bis die grünen Technologien sich durchgesetzt<br />

haben. Und auch die Regierungen müssen nicht unbedingt<br />

mitmachen: Jeder kann für sich alleine loslegen – und<br />

viele tun es schon. Plenitude ist aber mehr als die private<br />

Antwort auf ein kollektives Problem. Jene Menschen, die<br />

die Grundsätze von Plenitude bereits umsetzen, sind Pioniere<br />

einer Veränderung auf der untersten Ebene, ohne die<br />

das schrecklich aus den Fugen geratene Gesamtsystem<br />

nicht wieder ins Gleichgewicht kommen wird.<br />

Vier Prinzipien<br />

Aus der Sicht des Einzelnen gibt es vier Prinzipien, die Plenitude<br />

ausmachen. Das erste Prinzip ist eine neue Nutzung<br />

der Zeit. Seit etlichen Jahren beobachten wir den Trend,<br />

dass die Menschen in den Industrieländern immer länger<br />

arbeiten und gleichzeitig immer größere Teile ihres Einkommens<br />

für teure Freizeitvergnügen und besinnungslosen<br />

Konsum verwenden. Alles ist marktorientiert. Es ist an<br />

der Zeit, dass wir diesen Trend umkehren und uns wieder<br />

stärker Aktivitäten jenseits des Markts zuwenden. Konkret<br />

bedeutet dies, Einkommen gegen zusätzliche freie Zeit einzutauschen.<br />

Und diese zum Beispiel in Projekte zu investieren,<br />

die der Umwelt wieder auf die Beine helfen. Oder sie<br />

dafür zu nutzen, unsere zwischenmenschlichen Beziehungen,<br />

die immer öfter zugunsten der Einkommenserzielung<br />

vernachlässigt werden, wieder intensiver zu<br />

pflegen.<br />

Der zweite Grundpfeiler von Plenitude heißt: Selbstversorger<br />

werden. Das bedeutet, die Dinge und Dienstleistungen<br />

des täglichen Gebrauchs – wann immer möglich<br />

– selbst herzustellen, anzupflanzen und zu erbringen, anstatt<br />

sie zu kaufen. Auf diese Weise lässt sich nicht nur der<br />

tägliche Stress reduzieren. Mehr Zeit aufs Selbermachen<br />

zu verwenden, eröffnet auch eine wichtige Erkenntnis: Je<br />

weniger man sich selbst unter Kaufzwang setzt, desto weniger<br />

Geld ist man gezwungen zu verdienen. Das wiederum<br />

bringt ein Gefühl der Befreiung und des Wohlbefindens<br />

mit sich. Die Wirtschaftskrise hat gerade in den USA<br />

die Do-it-yourself-Bewegung massiv gestärkt, die bis dahin<br />

vor allem von den Pionieren der Nachhaltigkeit wiederentdeckt<br />

worden war. Moderne, auch für Laien gut zu bedienende<br />

Maschinen, erhöhen die Produktivität des Selbermachens<br />

zudem enorm, wodurch das Ganze auch wirtschaftlich<br />

interessant wird.<br />

Der dritte Pfeiler ist ein neuer Materialismus, der<br />

sich in einem unserer Erde gegenüber respektvolleren Konsumverhalten<br />

widerspiegelt. Es liegt auf der Hand, dass die


heutige Verbrauchskultur nicht respektvoll ist. In den<br />

wohlhabenden Ländern hat sich in den vergangenen Jahrzehnten<br />

das Tempo, in dem Produkte gekauft und weggeworfen<br />

werden, extrem gesteigert. Dabei wissen die Verbraucher<br />

relativ wenig darüber, woher die Produkte kommen<br />

und wie sehr ihre Herstellung und ihre Nutzung die<br />

Umwelt schädigen. In den USA konsumiert ein durchschnittlicher<br />

Verbraucher heute drei Mal so viel wie 1960.<br />

Diese gi gan tische Steigerung hat die globalen Material-<br />

107 Juliet Schor<br />

flüsse enorm beschleunigt – und damit den globalen<br />

Ressourcen verbrauch: 1980 förderten und verwerteten die<br />

Menschen 40 Milliarden Tonnen Metalle, fossile <strong>Energie</strong>träger,<br />

Biomasse und Mineralien. 25 Jahre später sprang<br />

die jährliche Verwertung um 45 Prozent auf 58 Milliarden<br />

Tonnen. Dabei steht diese gigantische Menge nur für jenen<br />

Teil der Rohstoffe, die tatsächlich Eingang in die Produkte<br />

finden. Weitere rund 39 Milliarden Tonnen werden während<br />

der Produktionsprozesse verbraucht.


Die Menschheit plündert die Erde<br />

weit schneller aus, als sie sich<br />

regenerieren kann. Machen wir<br />

weiter wie bisher, werden <strong>Energie</strong>,<br />

Transport und Konsumgüter<br />

beständig teurer. Die Wirtschaftskrise,<br />

die auch eine ökologische<br />

Krise ist, hat neue Formen des<br />

Mangels gebracht: Knapp sind<br />

vor allem Einkommen, Arbeitsplätze<br />

und Kredite. Aber der<br />

übliche Weg zurück zu mehr<br />

Wachs tum – ein schuldenfinanzierter<br />

Konsumboom – ist<br />

keine Option mehr, die für uns<br />

in Frage kommt.<br />

Meine Antwort auf die Krise ist,<br />

auf Nachhaltigkeit zu setzen.<br />

Dabei geht es nicht darum, Opfer<br />

zu bringen. Vielmehr plädiere<br />

ich für einen fundamentalen<br />

Wechsel zu grünen Technolo gien,<br />

zu neuen Quellen des Reichtums<br />

und zu einer anderen Art zu<br />

leben.<br />

Übersetzter Auszug aus „Plenitude: The New Economics of True Wealth“,<br />

Penguin Press, 2010.<br />

108<br />

Perspektiven Was uns wirklich reicher macht<br />

Juliet Schor (*1956) ist Soziologieprofes-<br />

sorin am Boston College. Davor lehrte<br />

die Spitzenforscherin mit der überlangen<br />

Liste an Veröffentlichungen Ökonomie<br />

an der Harvard University. Sie ist Autorin<br />

mehrerer Bestseller, die den westlichen<br />

Lebensstil kritisieren. Ihr jüngstes Buch<br />

„Plenitude“ erschien in Australien, in<br />

Japan und in China. Sie ist außerdem<br />

Gründungsmitglied der Bürgerbewegung<br />

des New American Dream, die für<br />

eine neue und bewusstere Konsumkultur<br />

einsteht. Jeder Amerikaner, betont Schor,<br />

kauft durchschnittlich alle fünf Tage<br />

ein neues Kleidungsstück, das er gar<br />

nicht braucht – und gibt dafür weniger<br />

Geld aus, als vielerorts ein Stück Brot<br />

kostet. Die engagierte Autorin ist sich<br />

sicher, dass die Menschen sinnvoll leben<br />

wollen, nur schaffen sie es häufig nicht,<br />

sich von ihren Zwängen zu befreien.<br />

Schor fordert deshalb einen „sinnvolleren<br />

Wohlstand“, der mit weniger Ressourcen<br />

auskommt, dafür aber zu mehr<br />

Zeit und sozialen Kontakten verhilft.<br />

„Arbeite und kon sumiere weniger“,<br />

schreibt die zweifache Mutter in ihrem<br />

Beitrag für „<strong>Nord</strong> & <strong>Süd</strong>“, „schaffe stattdessen<br />

mehr Werte und Produkte selbst<br />

und knüpfe vor allem wieder mehr<br />

menschliche Kontakte.“


Es ist leicht zu erkennen, dass eine Fortsetzung dieser<br />

Ausplünderung unseres Planeten in eine Sackgasse<br />

führt. Viele glauben noch immer, dass unendliches Wachstum<br />

möglich sei, denn der technologische Wandel senke<br />

zwangsläufig den Materialeinsatz. Dahinter verbirgt sich<br />

die Vorstellung, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) könne von<br />

Materialverwertung und Umweltverschmutzung so abgekoppelt<br />

werden, dass es ins Unermessliche steigen kann,<br />

während der Materialeinsatz schrumpft.<br />

Doch obwohl heute jeder Dollar des BIP einen geringeren<br />

Materialstrom verursacht, hat das Wachstum des<br />

BIP im Verlauf der vergangenen 25 Jahre diesen Effizienzgewinn<br />

fast überall sogar überkompensiert. Zwischen<br />

1980 und 2005 steigerten die USA und Kanada ihren Materialeinsatz<br />

um 54 Prozent. Die Bevölkerungszahl stieg in<br />

der gleichen Zeit allerdings nur um 35 Prozent. Die Folge:<br />

Obwohl der Materialeinsatz pro Dollar des BIP um etwa<br />

ein Viertel sank, verdoppelte sich seine absolute Menge.<br />

109<br />

Mehr menschliches Miteinander<br />

Wir sollten uns auch klarmachen, dass sich unsere<br />

Konsumkultur drastisch geändert hat. Es geht nicht mehr<br />

so sehr um das Produkt an sich, sondern es ist mehr und<br />

mehr zum Statussymbol geworden. Frei nach dem Motto:<br />

Image ist alles! Besonders eindrucksvoll lässt sich das<br />

an Marken-Sportschuhen zeigen. Ihre Herstellung kostet<br />

nur ein paar Dollar, dennoch sind viele Konsumenten be-<br />

Juliet Schor<br />

reit, dafür 200 Dollar und mehr zu zahlen – allein um<br />

zu zeigen, dass sie es sich leisten können.<br />

Solche Rituale müssen wir aufgeben, wenn es<br />

uns ernst ist mit der Rettung der Erde. Wir müssen nicht<br />

nur kritischer einkaufen, sondern auch verzichten lernen,<br />

um die Umwelt zu schonen. Damit komme ich zum vierten<br />

und letzten Grundpfeiler von Plenitude. Er handelt von<br />

der Notwendigkeit, wieder mehr in das menschliche Miteinander<br />

zu inves tieren. Normalerweise werden soziale Beziehungen<br />

nicht unter wirtschaftlichen Aspekten betrachtet.<br />

Ich tue das sehr wohl. Für mich sind sie eine Form von<br />

Reichtum, die mindestens genauso wichtig ist wie Geld<br />

oder materielle Güter. Denn vor allem in schwierigen Zeiten<br />

überleben und entwickeln sich Menschen weiter, indem<br />

sie füreinander einstehen. Wo allein Business und<br />

Geldverdienen im Vordergrund stehen, leidet dieses Verständnis;<br />

die mensch lichen Beziehungen werden schwächer,<br />

denn niemand hat mehr Zeit, außerhalb seiner Kernfamilie<br />

soziale Bezie hungen zu pflegen. Wir verarmen<br />

emotional wie gesellschaftlich.<br />

Zusammengefasst ergeben die vier Grundsätze<br />

eine einfache Formel: Arbeite und konsumiere weniger –<br />

schaffe stattdessen mehr Werte und Produkte selbst und<br />

knüpfe vor allem wieder mehr menschliche Kontakte.<br />

Diese Einstellung würde die Umwelt entlasten und zugleich<br />

das Leben bereichern. Wir könnten es mehr genießen<br />

und würden aufblühen.


Dieter Dürand<br />

Bunt, vital, einfallsreich –<br />

warum unsere Zukunft voller<br />

Chancen steckt


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Wir alle pflegen unsere Vorurteile – ob wir wollen oder nicht. Kaum haben wir<br />

einen Menschen zum ersten Mal gesehen, schon bilden wir uns ein Urteil über<br />

ihn. Ebenso haben wir zu fast allem eine Meinung, obwohl wir oft herzlich wenig<br />

darüber wissen. Nur so finden wir durch den Alltag, sind in der Lage, trotz unvollständiger<br />

Information Entscheidungen zu treffen. Und dazu sind wir ständig<br />

gezwungen. Ich finde diesen Befund auch nicht weiter schlimm. Solange wir<br />

uns dieser Unzulänglichkeit bewusst bleiben und uns die Bereitschaft bewahren,<br />

unsere Vorurteile im Lichte genauerer Kenntnis zu korrigieren.<br />

Genau das musste ich im Zuge der Arbeit an diesem Heft tun. Als mich das<br />

Redaktionsteam, dem ich an dieser Stelle für die kritische, aber stets kon struktive<br />

Zusammenarbeit herzlich danke, fragte, ob ich die zweite Ausgabe von „<strong>Nord</strong> &<br />

<strong>Süd</strong>“ mit dem Schwerpunkt <strong>Energie</strong> betreuen würde, schoss mir in den Sinn:<br />

<strong>Energie</strong>! Was soll <strong>Süd</strong>tirol denn da schon zu bieten haben? In der Redaktion der<br />

„WirtschaftsWoche“, Deutschlands führendem Wirtschaftsmagazin, kümmere<br />

ich mich seit Jahren um dieses Thema. Und bei kaum einer Recherche waren mir<br />

Projekte oder Unternehmen aus Italiens nördlichster Provinz untergekommen.<br />

Allenfalls in Sachen Solararchitektur besaß sie einen gewissen Ruf. Aber sonst?<br />

Da spielt die Musik doch wohl woanders auf der Welt, dachte ich.<br />

Dennoch erschien mir die Aufgabe nach kurzem Nachdenken journalistisch<br />

reizvoll. Zum einen war da die Chance, ein komplettes Heft mitzugestalten. Und<br />

zum anderen die Möglichkeit, mein Urteil zu überprüfen und den eigenen Horizont<br />

um ein weiteres Mosaiksteinchen zu erweitern. Und siehe da! Schon bei der<br />

Konzeption der Themen zeigte sich: Meine Skepsis war mehr als unbegründet.<br />

<strong>Süd</strong>tirol ist zwar nicht der Nabel der Welt beim Übergang vom fossilen ins Zeitalter<br />

der regenerativen <strong>Energie</strong>erzeugung. Wie sollte es das bei seiner Größe<br />

auch sein. Doch es ist, zumindest bei der Stromproduktion, längst grüner als der<br />

vermeintliche Ökoprimus Deutschland und treibt Innovationen voran, von denen<br />

ausländische Investoren profitieren und lernen können: sei es bei der Nutzung<br />

von Biomasse, neuartigen Windrädern oder energieeffizienten Bautechnologien.<br />

Bei unserem <strong>Energie</strong>streifzug durch die Region haben Sie sich selbst davon<br />

überzeugen können.<br />

Inzwischen verstehe ich, woher der Innovationsgeist rührt, der hier so häufig<br />

anzutreffen ist. Die Menschen in den Tälern waren über Jahrhunderte darauf<br />

an gewiesen, selbst Lösungen für ihr tägliches Überleben zu entwickeln und dabei<br />

sparsam mit den knappen Ressourcen umzugehen. Das hat sie geprägt. Und<br />

dieser Zwang hat sie erfindungsreich gemacht, gerade auch bei der Gewinnung<br />

und Nutzung von <strong>Energie</strong>. So ist es am Ende kein Wunder, dass in <strong>Süd</strong>tirol mehr<br />

Gemeinden energieautark sind als sonst irgendwo in Europa. Und es gibt noch<br />

111 Dieter Dürand


mehr Erfolgsgeschichten: Prad am Stilfser Joch erprobt das Stromnetz der Zukunft,<br />

entlang der Brennerautobahn entsteht eines der ambitioniertesten Wasserstoffprojekte<br />

in Europa und in Kurtatsch bei Bozen residiert mit Ewo ein Unternehmen,<br />

das Vorreiter bei der Einführung der sparsamen LED-Lichttechnologie<br />

ist. Aber nicht nur in <strong>Süd</strong>tirol treiben Wirtschaft, Politik und engagierte Bürger<br />

den grünen Fortschritt voran. In ganz Italien kündigt sich – bei aller gefürch teten<br />

politischen Launenhaftigkeit – ein solcher Wandel an. Das ist erfreulich.<br />

Nun gehört es zur journalistischen Ernsthaftigkeit, auch aufzuzeigen, was im<br />

Argen liegt und verbesserungswürdig ist. Anders entsteht kein realistisches Bild,<br />

auf das Sie, die Leser, nicht nur einen Anspruch haben, sondern Sie wür den uns<br />

alles andere übelnehmen – zu Recht. Wir uns selbst übrigens auch. So finden<br />

Sie selbstverständlich ebenso diese Aspekte im Heft: Beispielsweise ver missen<br />

wir ein entschlossenes Konzept, das Alternativen zum Auto schafft und die oft<br />

verstopften Straßen in den Tälern vom Verkehr entlastet. Meist ver ursachen die<br />

vielen Urlauber die Staus. Andere Regionen in den Alpen setzen bereits konse-<br />

quenter auf Ökotourismus, belohnen etwa die Anreise per Bahn mit Rabatten und<br />

verleihen preisgünstig Elektroautos und E-Bikes. Doch ich bin sicher, dass die<br />

Verantwortlichen bald nachlegen, so wie sie es derzeit mit dem geplanten Technologiepark<br />

in Bozen schon tun. In Deutschland, Frankreich und Österreich sind<br />

die ersten Parks zwar schon vor Jahren entstanden. Aber dafür erhält <strong>Süd</strong>tirol<br />

jetzt einen, der in Sachen <strong>Energie</strong>effizienz vorbildlich werden soll. So kommt man<br />

auf die Überholspur. Beim Versuch, die industrielle Basis zu erweitern, könnte<br />

das schwieriger werden. Lange, vielleicht zu lange, hat die Region vor allem auf<br />

Tourismus, Landwirtschaft und Handwerk gesetzt. Auch weil die herr liche Landschaft<br />

nicht mit Emissionen belastet werden sollte. Jetzt, wo die Produktion<br />

dank moderner Technologien weitgehend sauber geworden ist, wäre das kein<br />

Problem mehr. Nur ist es heute extrem schwierig geworden, pro duzierende Be-<br />

triebe an zulocken, weil inzwischen die ganze Welt um sie buhlt. Doch der jetzt<br />

voran getriebene Aufbau einer leistungsstarken Forschungslandschaft könnte<br />

das Wer ben erleichtern. Ebenso wenn alle in der heimischen Wirtschaft fremde<br />

Inves toren vorbehaltlos willkommen heißen würden. Doch einige wenige stecken<br />

noch im alten Denken fest und finden, man sei in der Vergangenheit doch auch<br />

gut allein zurechtgekommen. In Wahrheit fürchten sie die neue Konkurrenz. Die<br />

Sorge ist grundlos. Die Neuankömmlinge würden den überall fest zustellenden<br />

Aufbruch in <strong>Süd</strong>tirol nur zusätzlich beflügeln, Arbeitsplätze und Umsatz bringen.<br />

Bei allem Tagesgeschäft war uns der Blick voraus mindestens ebenso wich-<br />

tig. Wie können wir den Klimawandel stoppen und die Ausplünderung unseres<br />

Planeten? Welchen Beitrag kann eine neue Art des Konsumierens dazu leisten,<br />

112 Perspektiven Bunt, vital, einfallsreich


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die auf Teilen statt Besitzen setzt? Wie fördert die vernetzte Stadt die Krea tivität<br />

ihrer Bürger? Sie konnten lesen, wie der Co-Präsident des Club of Rome, Ernst<br />

Ulrich von Weizsäcker, die US-Soziologin Juliet Schor und der italienische Architekt<br />

und MIT-Professor Carlo Ratti darüber denken. Dass wir diese drei renommierten<br />

Geistesgrößen gewonnen haben, darauf sind wir ein wenig stolz. Ihre<br />

Antworten reichen weit über den Tag hinaus. Und dieses Heft hoffentlich auch.<br />

Informieren, aufklären, anregen – das war unser Ziel. Wenn Sie dieses Magazin<br />

wie eine spannende Lektüre immer mal wieder gerne in die Hand nehmen,<br />

dann ist es erreicht.<br />

Herzlichst, Ihr Dieter Dürand<br />

113 Dieter Dürand


114


<strong>Nummer</strong> 2 — 2013 — <strong>Nord</strong> & <strong>Süd</strong> Leben, Arbeit, Wirtschaft in <strong>Süd</strong>tirol<br />

115<br />

Biografien der beauftragten Fotografinnen und<br />

Fotografen, Illustratorinnen und Illustratoren sowie<br />

Künstlerinnen und Künstler:<br />

Gino Alberti<br />

(*1962), Künstler, Grafiker und Illustrator in Bruneck und<br />

Wien. Ausstellungen: Galerie Prisma, Bozen, 2012.<br />

Ivo Corrà<br />

(*1969), Fotokünstler aus Bozen, Mitglied des Projektteams<br />

für Vermittlung am Museum für moderne und<br />

zeitgenössische Kunst in Bozen.<br />

Claudia Corrent<br />

(*1980), freie Fotografin in Bozen. Ausstellungen in Rom<br />

und Mailand.<br />

Nicolò Degiorgis<br />

(*1985), Fotokünstler in Bozen, seine Arbeiten werden<br />

regelmäßig in „Financial Times“, „Le Monde“ und<br />

„Vogue“ veröffentlicht. Ausstellungen: Ring Cube Gallery,<br />

Tokyo, 2011; FO.KU.S Gallery, Innsbruck, 2012.<br />

Jasmine Deporta<br />

(*1989), Fotokünstlerin in Bozen. Ausstellungen: G8 Gallery,<br />

Bozen, 2011; Secret Store, Köln, 2012.<br />

Elisabeth Hölzl<br />

(*1962), Künstlerin und Fotografin in Meran. Austellungen:<br />

Emmanuel Walderdorff Galerie, Köln, 2008; Antonella<br />

Cattani contemporary art, Bozen, 2012. Aktuelle<br />

Buchveröffentlichung: „Libera viva”, Verlag für moderne<br />

Kunst, 2012.<br />

Laura Jurt<br />

(*1979), freie Illustratorin in Zürich. Austellungen: Literaturhaus<br />

München, 2011.<br />

Ika Künzel<br />

(*1978), studierte Produktdesign in Bozen und Eindhoven,<br />

Mitarbeit im Arbeitsteam von Konstantin Grcic,<br />

heute freie Illustratorin und Designerin in Berlin.<br />

Christian Martinelli<br />

(*1970), freier Fotokünstler in Meran und Mitgründer des<br />

Kollektivs CubeStories. Ausstellungen: Kunstart, Bozen,<br />

2011; Galerie Son, Berlin, 2012.<br />

Svenja Plaas<br />

(*1980), studierte Grafik-Design in Zürich, lebt und<br />

arbeitet heute als freie Illustratorin und Designerin in<br />

Wien.<br />

Gregor Sailer<br />

(*1980), freier Designer und Fotograf in Tirol. Arbeiten<br />

unter anderem in der Kunsthalle Wien, im Fotomuseum<br />

Winterthur und in der Österreichischen Staatsgalerie.<br />

Aktuelle Buchveröffentlichung: „Closed Cities“, Kehrer,<br />

2012.<br />

David Schreyer<br />

(*1982), Architekt und autodidakter Bildermacher in<br />

Tirol und Wien. Austellungen: Alte Schieberkammer,<br />

Wien, 2010; Galerie Anika Handelt, Wien, 2010.<br />

Something Fantastic<br />

Das Berliner Architektentrio Elena Schütz, Julian Schubert<br />

und Leonard Streich. Buchpublikation: „Something<br />

Fantastic – A Manifesto by Three Young Architects on<br />

Worlds, People, Cities, And Houses“, „Building Brazil“,<br />

„Re-Inventing Construction“, Ruby Press, 2010–2012.<br />

Aurore Valade<br />

(*1981), französische Fotokünstlerin. Ausstellungen: Festival<br />

Les Photaumanles, Beauvais, 2011; French Institute<br />

Saint-Louis de France, Rom, 2012.<br />

Simone Vollenweider<br />

(*1982), freie Grafikdesignerin in Leipzig.


<strong>Nummer</strong> 2 — 2013 — <strong>Nord</strong> & <strong>Süd</strong> Leben, Arbeit, Wirtschaft in <strong>Süd</strong>tirol<br />

Redaktion<br />

Koordinierender Chefredakteur:<br />

Dieter Dürand<br />

Gesamtkonzept und Kuratoren:<br />

Angelika Burtscher, Daniele Lupo<br />

(Lupo & Burtscher), Christian Hoffelner<br />

(CH Studio), Thomas Hanifle, Thomas Kager<br />

(Ex Libris Genossenschaft)<br />

Redaktion, Lektorat, Korrektorat:<br />

Ex Libris Genossenschaft, exlibris.bz.it<br />

Art Direktion und Gestaltung:<br />

CH Studio, ch-studio.net<br />

Lupo & Burtscher, lupoburtscher.it<br />

Texte:<br />

Toni Bernhart, Michil Costa, Wojciech Czaja, Alfred<br />

Dorfer, Dieter Dürand, Felice Espro, Gustav Hofer,<br />

Judith Innerhofer, Lenz Koppelstätter, Norbert<br />

Lantschner, Ariane Löbert, Waltraud Mittich, Donatella<br />

Pavan, Hans Karl Peterlini, Susanne Pitro, Benjamin<br />

Reuter, Ulrike Sauer, Birgit Schönau, Juliet Schor,<br />

Simone Treibenreif, Alessandra Viola, Ernst Ulrich von<br />

Weizsäcker<br />

Fotografie und Illustration:<br />

Gino Alberti, Ivo Corrà, Claudia Corrent, Nicolò<br />

Degiorgis, Elisabeth Hölzl, Laura Jurt, Ika Künzel,<br />

Christian Martinelli, Svenja Plass, Gregor Sailer,<br />

Something Fantastic, Aurore Valade, Simone<br />

Vollenweider, Gustav Willeit<br />

Übersetzungen:<br />

Ex Libris Genossenschaft (Walter Kögler, Silvia<br />

Oberrauch, Alma Vallazza)<br />

Bild auf dem Umschlag:<br />

Oskar Da Riz / Ewo<br />

Bild auf dem Cover:<br />

Elisabeth Hölzl<br />

Bilder im Inhaltsverzeichnis:<br />

S. 6 (links) Ewo (rechts) Ivo Corrà S. 7 (links) Gregor<br />

Sailer (rechts) Elisabeth Hölzl S. 8 (links) David<br />

Schreyer (rechts) Marion Lafogler S. 9 Jasmine<br />

Deporta<br />

Bilder ohne Credits stammen von den Bildagenturen<br />

contrasto (S. 29–37) und südtirolfoto (S. 18–20)<br />

116<br />

Herausgeber<br />

Direktor:<br />

Ulrich Stofner<br />

Birgit Mayr<br />

Idee und Entwicklung:<br />

Projektmanagement:<br />

Birgit Oberkofler<br />

Beratung Text:<br />

Bettina König<br />

Auflage: 3.500 Stück<br />

Druckvorstufe und Druck:<br />

Longo, Print and Communication; Printed in Italy<br />

© Business Location <strong>Süd</strong>tirol – Alto Adige,<br />

Bozen, März 2013. Alle Rechte vorbehalten.<br />

Sämtliche inhaltlichen Beiträge der Publikation sind<br />

unveröffentlichte Originalbeiträge und Auftragswerke.<br />

ISBN: 978-88-7283-462-6<br />

Eine jährliche Publikation der Standortagentur<br />

Business Location <strong>Süd</strong>tirol – Alto Adige (<strong>BLS</strong>)<br />

Dompassage 15<br />

39100 Bozen, Italien<br />

T +39 0471 066 600<br />

www.bls.info<br />

service@bls.info


Eine jährliche Publikation der Standortagentur BL S, Business Location <strong>Süd</strong>tirol — Alto Adige


Eine jährliche Publikation der Standortagentur BL S, Business Location <strong>Süd</strong>tirol — Alto Adige<br />

Die Welt der <strong>Energie</strong> ändert sich radikal: Sonne, Wind und Wasser versorgen<br />

uns mit Elektrizität und Wärme. Autos tanken Strom. <strong>Energie</strong>sparen wird zum<br />

Zeitgeist. Der grüne Wandel schafft Jobs und alternative Lebensstile, definiert<br />

Wohlstand neu. Und mitten in Europa gibt es eine Region, in der kreative<br />

Köpfe diesen Aufbruch vorantreiben – <strong>Süd</strong>tirol. Eine Entdeckungsreise durch<br />

das Land der vielen Möglichkeiten.<br />

<strong>Nord</strong> & <strong>Süd</strong> — 2013<br />

12 Euro

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