Nord & Süd | Nummer 2 | Energie - BLS
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<strong>Energie</strong><br />
<strong>Nummer</strong> 2 — 2013<br />
<strong>Nord</strong> & <strong>Süd</strong><br />
Leben, Arbeit, Wirtschaft in <strong>Süd</strong>tirol<br />
Toni Bernhart Michil Costa Wojciech Czaja Nicolò Degiorgis Alfred Dorfer Dieter Dürand<br />
Felice Espro Gustav Hofer Elisabeth Hölzl Judith Innerhofer Lenz Koppelstätter Alois Lageder<br />
Norbert Lantschner Ariane Löbert Waltraud Mittich Leoluca Orlando Donatella Pavan<br />
Hans Karl Peterlini Susanne Pitro Carlo Ratti Benjamin Reuter Gregor Sailer Ulrike Sauer<br />
Birgit Schönau Juliet Schor Something Fantastic Simone Treibenreif Alessandra Viola<br />
Ernst Ulrich von Weizsäcker
<strong>Nummer</strong> 2 — 2013 — <strong>Nord</strong> & <strong>Süd</strong> Leben, Arbeit, Wirtschaft in <strong>Süd</strong>tirol
<strong>Nummer</strong> 2 — 2013 — <strong>Nord</strong> & <strong>Süd</strong> Leben, Arbeit, Wirtschaft in <strong>Süd</strong>tirol<br />
<strong>Energie</strong>
Inhalt 10 Grün wachsen oder<br />
untergehen<br />
6<br />
23 Weltweit gefragter Lichtspezialist.<br />
Im Firmensitz von Ewo<br />
Der Co-Präsident des Club of Rome,<br />
Ernst Ulrich von Weizsäcker, plädiert für<br />
einen grünen Kapitalismus.<br />
Unternehmen<br />
13 Die Welle aus den Bergen<br />
Was <strong>Süd</strong>tirol zur grünen Vorzeigeregion<br />
Europas macht. Ein Ortsbesuch der<br />
Journalistin Judith Innerhofer klärt auf.<br />
18 Dolce Vita und Disziplin<br />
Dieter Dürand hat deutsche Unternehmer<br />
gefragt, warum es sie in Italiens nördlichste<br />
Provinz zieht.<br />
21 Junge <strong>Energie</strong><br />
Trotz Wirtschaftskrise vergeht jungen<br />
<strong>Süd</strong>tirolern nicht die Lust am Gründen,<br />
schreibt Wirtschaftsjournalist Felice Espro.<br />
23 Fest für die Sinne<br />
Für die Installationen des Lichtspezialisten<br />
Ewo begeistern sich Kunden in aller Welt.<br />
Ein Unternehmensporträt von Dieter Dürand.<br />
27 Habitat für innovative<br />
Technologien<br />
Die Wirtschaftsjournalistin Simone<br />
Treibenreif analysiert das kreative Umfeld<br />
für Hightechunternehmen.
7<br />
29 <strong>Energie</strong>riese ohne Regie<br />
Auch wenn es ein wenig chaotisch zugeht:<br />
Italiens <strong>Energie</strong>wende kommt voran, prophezeit<br />
die Italienkorrespondentin Ulrike Sauer.<br />
38 „Gegenseitiges Vertrauen<br />
wieder aufbauen“<br />
Im Gespräch mit „<strong>Nord</strong> & <strong>Süd</strong>“ verrät<br />
Palermos Bürgermeister Leoluca Orlando,<br />
wie Deutschland und Italien zum Motor des<br />
europäischen Fortschritts werden können.<br />
40 Wasser-Kraft<br />
Der Fotograf Gregor Sailer hat Schönheit<br />
und Urgewalt der sauberen <strong>Energie</strong>quelle<br />
eingefangen.<br />
Leben<br />
47 Die Möglichkeit einer Insel<br />
Der Journalist Lenz Koppelstätter über<br />
seinen Versuch, das Land ökologisch zu<br />
bereisen. Ein etwas anderer Reisebericht.<br />
50 Der Freigeist<br />
Der renommierte Weinproduzent Alois<br />
Lageder weiht die Journalistin Donatella<br />
Pavan in die Geheimnisse des<br />
biodynamischen Anbaus ein.<br />
54 Klassenprimus gegen<br />
Angsthase<br />
Italienkorrespondentin und Fußballexpertin<br />
Birgit Schönau erklärt, warum Deutschland<br />
im Fußball immer gegen Italien verliert.<br />
55 Heim zu Mutter<br />
Österreichs Mutterschmerz für <strong>Süd</strong>tirol aus<br />
der satirischen Perspektive des Kabarettisten<br />
Alfred Dorfer.<br />
57 Vom kürzeren Ende<br />
des Tages her<br />
Der Literat Toni Bernhart und die Fotografin<br />
Elisabeth Hölzl spüren der Frage nach, was<br />
die energieautarke Gemeinde Prad dem Rest<br />
der Welt voraushat.<br />
66 Stärkt die Kultur<br />
Italien kommt nur mit mehr statt<br />
weniger Kultur aus der Krise, meint der<br />
Dokumentarfilmer Gustav Hofer.<br />
68 Nachhaltige Architektur<br />
Mit welchen Ideen und Techniken <strong>Energie</strong><br />
ökologisch erzeugt werden kann, stellt das<br />
Berliner Architektentrio Something Fantastic<br />
grafisch dar.
8<br />
77 Die Seilbahn: Ein traditionell alpines<br />
Verkehrsmittel erobert Großstädte<br />
Wissen<br />
71 Grüne Bausteine<br />
Weit mehr als Wärmedämmung: Der<br />
Architekturjournalist Wojciech Czaja zeigt<br />
anhand von fünf Beispielen, wie nachhaltige<br />
Architektur auch ästhetisch Maßstäbe setzt.<br />
77 Die Renaissance des Seils<br />
Wie die Unternehmen Leitner und<br />
Doppelmayr mit Seilbahnen nun auch<br />
Stauprobleme in Großstädten lösen,<br />
erklärt die Journalistin Susanne Pitro<br />
in einem Porträt.<br />
80 Fest im Sattel<br />
Von schlicht bis aufgemotzt. Der<br />
Fotokünstler Nicolò Degiorgis zeigt die<br />
Vielseitigkeit des guten alten Radls.<br />
87 Sauber über den Brenner<br />
Geht alles glatt, fahren von 2016 an die<br />
ersten Wasserstoffautos von München nach<br />
Verona. Der Journalist Benjamin Reuter<br />
blickt voraus.
9<br />
90 Innovativ mobil in <strong>Süd</strong>tirol<br />
Vom Erdgas-Wasserstoff-Auto bis zum<br />
neuen Verkehrskonzept für Bozen –<br />
weitsichtige regionale Mobilitätskonzepte.<br />
91 Alte und neue Baustellen<br />
Wie mehr Gemeinsinn <strong>Energie</strong> bezahlbar<br />
und umweltverträglich macht, analysiert der<br />
Experte Norbert Lantschner.<br />
92 „Nur noch kurz die Welt<br />
retten“<br />
Der Journalist und Bildungswissenschaftler<br />
Hans Karl Peterlini erklärt, wie<br />
Wissen tatsächliche Veränderungen auslöst.<br />
Perspektiven<br />
96 Die intelligente Stadt<br />
Die Wissenschaftsjournalistin Alessandra<br />
Viola hat den Architekten Carlo Ratti gefragt,<br />
wie Smartphones und Sensornetzwerke die<br />
urbane Kommunikation revolutionieren.<br />
100 Vier Elemente<br />
Noch ist es für eine Umkehr nicht zu spät,<br />
glaubt der Hotelier und Umweltschützer<br />
Michil Costa, und plädiert für einen sanften<br />
Umgang mit der Natur.<br />
101 Grünes Label. Re-Bello aus <strong>Süd</strong>tirol<br />
101 Grün wirtschaften<br />
Die Green Economy schafft auch in <strong>Süd</strong>tirol<br />
viele neue Arbeitsplätze, so das Fazit von<br />
Journalistin Ariane Löbert.<br />
104 Energisch und energetisch<br />
Die vielen Facetten der <strong>Energie</strong>: Eine<br />
literarische Annäherung der Schriftstellerin<br />
Waltraud Mittich.<br />
106 Was uns wirklich reicher<br />
macht<br />
Die amerikanische Soziologieprofessorin<br />
Juliet Schor definiert Wohlstand neu: Soziale<br />
Kontakte werden wichtiger als Konsum, und<br />
wir sparen wertvolle Ressourcen.<br />
110 Bunt, vital, einfallsreich –<br />
warum unsere Zukunft<br />
voller Chancen steckt<br />
Abschließende Überlegungen von Dieter<br />
Dürand, Chefredakteur der diesjährigen<br />
Ausgabe von „<strong>Nord</strong> & <strong>Süd</strong>“.
Ernst Ulrich von Weizsäcker<br />
Grün wachsen<br />
oder untergehen
a<br />
u<br />
s<br />
b<br />
l<br />
i<br />
c<br />
k<br />
11<br />
Die Finanzkrise im Jahr 2008, die Notwendigkeit des Klimaschutzes und seit<br />
Fukushima Deutschlands Ausstieg aus der Kernenergie haben eine neue Diskussion<br />
über die Richtung des Fortschritts ausgelöst. Klar ist, dass wir an einem<br />
Scheideweg stehen: Entweder lernt die Menschheit, ihr Wissen und ihre Fähigkeiten<br />
den Begrenzungen unseres Planeten anzupassen und nachhaltig mit ihm<br />
umzugehen, oder die Umwelt schlägt zurück. Dennoch halte ich nichts davon, die<br />
Litanei über die drohenden ökologischen Katastrophen unaufhörlich zu wiederholen.<br />
Auch sollten wir aufhören mit dem Gerede, wir müssten den Gürtel enger<br />
schnallen, um das Klima zu retten. Diese Rhetorik ist eine politische Totgeburt.<br />
Was wir stattdessen brauchen, ist ein Lösungsweg, der Klima- und Umweltschutz<br />
profitabel macht. Mein Kandidat dafür ist ein globaler Green New Deal:<br />
eine grüne technologische Revolution, die einen neuen Wachstumszyklus anstößt,<br />
der ohne zusätzlichen Verbrauch von <strong>Energie</strong>, Wasser und Rohstoffen auskommt,<br />
später sogar eine Minderung schafft. Vorbild für das Ergrünen des Kapitalismus<br />
wäre der Anstieg der Arbeitsproduktivität. Sie hat sich in den vergangenen 200<br />
Jahren verzwanzigfacht und war damit der entscheidende Motor für unseren<br />
Wohlstand. Doch jetzt bedarf es einer neuen Maßzahl – die Ressourcenproduktivität.<br />
Sie ließe sich schon mit den heute verfügbaren Technologien verfünffachen.<br />
Im Klartext würde das bedeuten: Wir können die Ressourcenplünderung und<br />
den CO -Ausstoß pro Einheit Wohlstand um 80 Prozent verringern. Ganz ohne<br />
2<br />
Verzicht. Und langfristig wäre auch eine Verzwanzigfachung erreichbar.<br />
Wie aber bekommen wir einen marktkonformen Umstieg auf ein grünes<br />
Wachs tumsmodell hin? Im Kern geht es um ein dauerhaftes sozial- und wirtschaftsverträgliches<br />
Preissignal. Man könnte die Preise für <strong>Energie</strong> und andere<br />
wichtige Rohstoffe jedes Jahr in dem Maße verteuern, wie sich die entsprechende<br />
Rohstoffproduktivität im Vorjahr verbessert hat. Dann würden die Ressourcen<br />
im Durchschnitt gleich viel kosten wie zuvor, doch diejenigen, die die Entwicklung<br />
verschlafen, leben teurer, die Geschwinden billiger.<br />
Dass solche Preissignale ein Feuerwerk an Innovationen auslösen können,<br />
hat Japan bewiesen. Unter dem Eindruck verheerender Umweltverschmutzung<br />
verteuerte die Regierung Anfang der 1970er-Jahre die Luftverschmutzung und den<br />
<strong>Energie</strong>verbrauch drastisch. Viele fürchteten damals eine De-Industrialisierung<br />
des Landes. Doch das Gegenteil trat ein: Die japanische Wirtschaft erfand Digitalkameras,<br />
Hochtechnologiekeramiken und den Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen<br />
– und entwickelte sich so zum technologisch führenden Land der Erde. Es ist<br />
höchste Zeit für einen neuen solchen Aufbruch. Grün und global.<br />
Ernst Ulrich von Weizsäcker (*1939), seit Oktober 2012 Co-Präsident des Club of Rome. Von 1991 bis 2000 Leiter des<br />
Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, <strong>Energie</strong>; von 1998 bis 2005 SPD-Abgeordneter im Bundestag.<br />
Ernst Ulrich von Weizsäcker
Unternehmen<br />
Vorgestürmt: <strong>Süd</strong>tirol ist Europas Primus bei der grünen<br />
<strong>Energie</strong>versorgung 13 Angekommen: Warum es<br />
deu tsche Unternehmen nach <strong>Süd</strong>tirol zieht 17 Lust -<br />
voll: Nie fanden junge <strong>Süd</strong>tiroler mehr Spaß am<br />
Gründen 21 Magisch: Die innovativen Lichtsysteme des<br />
Mittelständ lers Ewo sind weltweit gefragt 23 Innovativ:<br />
Forscher und Kreative gehen eine produktive<br />
Allianz ein 27 Improvisieren: Auch ohne exakten Plan<br />
boomen in Italien Windkraft, Sonnenstrom und Biomasse<br />
29 Nachgefragt: Leoluca Orlando, Bürgermeister von<br />
Palermo, über die Chancen im deutsch-italienischen<br />
Verhältnis 38 Ein gefangen: Die Kraft des Wassers in<br />
Bildern 40
Judith Innerhofer<br />
Die Welle<br />
aus den Bergen<br />
Fotografie — Ivo Corrà<br />
So kann man sich täuschen! Alle Welt<br />
hält Deutschland für den globalen<br />
Öko primus. Doch weit gefehlt: <strong>Süd</strong>tirol,<br />
die nördlichste Provinz Italiens, ist mit<br />
dem grünen Umbau der <strong>Energie</strong>versorgung<br />
längst weiter – und will seine<br />
Spitzenposition nicht nur halten, sondern<br />
noch ausbauen. Wie haben die<br />
Provinzler das nur geschafft? Ein Ortsbesuch<br />
klärt auf.<br />
Es gibt nur wenige deutsche Wörter, die den Sprung ins<br />
Englische, die Lingua franca unseres Jahrhunderts, geschafft<br />
haben. „Kindergarten“ war eines, „Angst“ ein anderes.<br />
Jetzt ist „<strong>Energie</strong>wende“ hinzugekommen. Seit die<br />
deutsche Bundesregierung im Juni 2011 nach der Reaktorkatastrophe<br />
im japanischen Fukushima den Ausstieg aus<br />
der Atomenergie verkündet hat, blicken viele Menschen<br />
neugierig auf das Land im Herzen Europas und warten auf<br />
den Ausgang eines der größten Experimente des Industriezeitalters:<br />
die Umstellung der <strong>Energie</strong>versorgung von<br />
Stahlwerken, Autofabriken und Millionenstädten auf grüne<br />
Quellen wie Sonne, Wind und Biomasse. Wenn die Deutschen<br />
mit ihrer Ingenieurkunst das hinbekommen, so die<br />
Überzeugung, dann funktioniert es überall auf der Welt.<br />
Seither subventionieren die deutschen Stromzahler<br />
mit Extraabgaben den massenhaften Aufbau von Solardächern<br />
und Windrädern. Auf weit mehr als 100 Milliarden<br />
Euro türmen sich die Zahlungsverpflichtungen bereits auf.<br />
Das Murren über die wachsenden Lasten schwillt unüber-<br />
13 Judith Innerhofer<br />
hörbar an – grünes Gewissen hin oder her. Aber immerhin:<br />
Auf 23 Prozent ist der Anteil des Ökostroms 2012 schon<br />
gestiegen.<br />
Was nach Rekord klingt, wird in <strong>Süd</strong>tirol locker<br />
überboten. Hier stammen 99 Prozent der verbrauchten<br />
Elektrizität aus erneuerbaren Quellen, vor allem der Wasserkraft.<br />
Beim Wärmebedarf sind es immerhin weit mehr<br />
als 25 Prozent. Damit ist nicht Deutschland, sondern <strong>Süd</strong>tirol<br />
die grüne Vorzeigeregion Europas. Wie es dazu kam,<br />
wer die wichtigsten Innovatoren sind und mit welchen<br />
Technologien <strong>Süd</strong>tirols grüne Pioniere Trends für die Zukunft<br />
setzen, zeigt ein <strong>Energie</strong>streifzug durchs Land.<br />
Wenn der Wind sich weiter dreht<br />
Es ist friedlich, verdächtig friedlich für einen Ort, an dem<br />
die grüne Revolution in vollem Gang sein soll. Und wie ein<br />
Radikaler sieht der Mann auch nicht aus, der da in schmal<br />
geschneidertem Jackett, blauer Jeans und roter Armbanduhr<br />
zur Tür hereineilt. Espressogeruch hängt zwischen<br />
Grünpflanzen, einer vollgeschriebenen Weißwandtafel und<br />
großformatigen Bildern von Eis- und Wüstenlandschaften,<br />
aus denen eigentümliche Masten aufragen. Das Fenster<br />
gibt den Blick auf frisch eingeschneite Alpengipfel frei,<br />
hinter Werkhallen und Bürokomplexen öffnet sich ein weites,<br />
grünes Talbecken. Es war nicht einfach, diesen Ort<br />
einer friedlichen Revolution zu finden. Nicht ein einziges<br />
Hinweisschild in diesem Bozner Gewerbegebiet weist den<br />
Weg. Erst ein vergilbtes Klingelschild mit der Aufschrift<br />
„Ropatec“ am Eingang eines unscheinbaren Gebäudes verriet:<br />
Ziel erreicht.<br />
Robert Niederkofler, Gründer und Geschäftsführer<br />
des Unternehmens, holt erst einmal eine der neuen Windrad-Broschüren<br />
für den brasilianischen Markt aus dem Karton.<br />
Das ist also der Mann, den der US-Starökonom Jeremy<br />
Rifkin in seine Liste der Revolutionäre aufgenommen hat:<br />
Akteure aus der Privatwirtschaft, die seiner Meinung nach<br />
beispielhaft die Wirtschaft der Zukunft vorwegnehmen.<br />
Grüne Vorzeigeregion: Blick auf das <strong>Süd</strong>tiroler Überetsch beim<br />
Kalterer See
Rifkin nennt seine Vision „Die dritte industrielle Revolution“:<br />
eine zukunftsfähige Form der Marktwirtschaft, die auf neue<br />
Informationstechnologien und den Umstieg auf ein grünes,<br />
demokratisches <strong>Energie</strong>system baut. Und mit Strom aus<br />
erneuerbaren Quellen kennt sich Robert Niederkofler aus.<br />
Das brachte ihm Rifkins Ritterschlag ein.<br />
Es war Mitte der 1990er-Jahre, als Niederkofler<br />
auf die Idee kam, eine kleine Windanlage zu bauen, deren<br />
Flügel sich parallel zum Erdboden drehen statt wie üblich<br />
horizontal. Der Vorteil dieser Konstruktion: Das Windrad<br />
rotiert fast lautlos, die Anlage braucht kaum Wartung und<br />
„sie produziert bei orkanartigen Sturmböen genauso Strom<br />
wie bei niedriger Windstärke oder bei wechselnder Windrichtung“,<br />
erläutert ihr Erfinder.<br />
Der ambitionierte Plan: Schon in<br />
knapp vier Jahrzehnten sollen 90 Prozent<br />
des gesamten <strong>Energie</strong>verbrauchs<br />
in <strong>Süd</strong>tirol aus regenerativen Quellen<br />
gespeist werden.<br />
<strong>Süd</strong>tirol setzt italienweit Standards im Bereich des energieeffizienten<br />
Bauens<br />
So viele Vorzüge überzeugen. Inzwischen liefern die in<br />
<strong>Süd</strong>tirol entwickelten und produzierten Kleinwindräder in<br />
24 Ländern der Erde Strom. Derzeit setzt der Unternehmer<br />
und gefragte Regierungsberater in Sachen Kleinwindkraft<br />
vor allem auf Wachstumsmärkte wie Brasilien. In den<br />
west lichen Industrienationen hingegen läuft der Ausbau<br />
der Kleinwindkraft insgesamt noch schleppend voran, was<br />
Branchenstudien zufolge vor allem an oft noch fehlenden<br />
staatlichen Anreizen liegt. Aber Niederkoflers Innovationsgeist<br />
tut das keinen Abbruch. Der einstige Quereinsteiger<br />
arbeitet weiter daran, die Leistungsfähigkeit seiner Produkte<br />
zu verbessern, um so neue Maßstäbe zu setzen.<br />
Jüngst hat er etwa eine Hybridversion als <strong>Energie</strong>container<br />
entwickelt, bei der Wind- und Solarkraft, Wasserbehandlung<br />
mit Pumpsystem und eine <strong>Energie</strong>speicherung mit<br />
14 Unternehmen Die Welle aus den Bergen<br />
Fernmonitoring integriert sind – eine Weltneuheit. Eine<br />
andere Variante nutzt seine auffälligen Windanlagen zugleich<br />
als Werbefläche.<br />
Die große Kraft der <strong>Süd</strong>tiroler Windräder steht<br />
exemplarisch für den weltweiten Aufbruch in eine neue<br />
Ära der <strong>Energie</strong>wirtschaft. Bis vor einigen Jahren kam der<br />
Strom für die meisten Menschen einfach aus der Steckdose.<br />
Ob er sauber oder dreckig war, gefährlich oder risikolos<br />
produziert wurde, interessierte kaum jemanden. Das<br />
hat sich spätestens seit der Kernschmelze in Fukushima<br />
grundlegend geändert. Öko und Nachhaltigkeit sind seither<br />
in aller Munde. Grün und erneuerbar soll die <strong>Energie</strong> auch<br />
in den Augen der Politik werden. Kaum eine zweite Branche<br />
erlebte in den vergangenen Jahren einen vergleichbaren<br />
Aufschwung. Doch mit Wirtschaftskrise und Billigkonkurrenz<br />
wird das Geschäft härter. Wer im globalen<br />
Wettbewerb bestehen will, tut daher gut daran, auf noch<br />
effizientere Technologien zu setzen. Denn ausgeschöpft<br />
sind die sauberen Quellen noch lange nicht, viele Zukunftssysteme<br />
stecken erst in den Kinderschuhen.<br />
Schwitzen in der Klimakammer<br />
Sie müssen daher erst einmal gründlich auf ihre Zuverlässigkeit<br />
und Wirksamkeit geprüft werden. Gute Voraussetzungen<br />
dafür finden <strong>Süd</strong>tirols grüne Pioniere im<br />
Bozner Institut für Erneuerbare <strong>Energie</strong>n vor, das an der<br />
Europäischen Akademie (Eurac) angesiedelt ist. Sein Leiter<br />
Wolfram Sparber setzt alles daran, die Neuerer zu unterstützen<br />
und den ökologischen Wandel voranzutreiben.<br />
„Technische Innovationen sind das A und O, wenn wir eine<br />
postfossile Zukunft wollen, die auch wirtschaftlich erfolgreich<br />
ist“, sagt er.<br />
Sparbers jüngste Anschaffung ist eine Klimakammer.<br />
In ihr können Unternehmen testen, ob neue Solarmodule,<br />
Elektronikkomponenten oder Wanddämmsysteme Kälte,<br />
Hitze und Nässe trotzen und die erhoffte Leistung erreichen.<br />
Die Forscher – 40 an der Zahl, die aus allen Teilen<br />
der Welt stammen – können in der schwarz schim mernden<br />
Kammer, die an einen gigantischen Hightech-Kühlschrank<br />
erinnert, Temperaturen von minus 50 bis plus 90 Grad<br />
Klimakammer der Denkfabrik Eurac
erzeugen und die Luftfeuchtigkeit variieren. Derart ausgefeilte<br />
Technik gibt es nicht oft auf der Welt. Das hat sich<br />
schnell herumgesprochen. Inzwischen erproben nicht nur<br />
<strong>Süd</strong>tiroler, sondern auch internationale Unternehmen ihre<br />
Produkte in der Klimakammer. Sie ist Teil des jüngst eröffneten<br />
Labors für Fotovoltaiktechnologien und Gebäudekomponenten,<br />
das wiederum zur Eurac gehört. Physiker<br />
Sparber, noch keine 40 Jahre alt und ein Mann mit ausgeprägtem<br />
Hang zur Praxis, muss selbst manchmal über das<br />
rasende Tempo des Fortschritts bei neuen Formen der<br />
<strong>Energie</strong>gewinnung staunen. Derzeit, so erzählt er, sei das<br />
Kühlen mit Sonnenenergie ein solches Thema, das stark im<br />
Kommen sei: „Der Markt dafür ist eindeutig da, aber noch<br />
steckt die Technologie in den Anfängen.“<br />
Was ihn besonders stolz macht: Nicht wenige Unternehmen<br />
aus Italiens nördlichster Provinz mischen beim<br />
Green-Tech-Boom kräftig mit. Seit 1990 hat sich die Zahl<br />
der Akteure mehr als vervierfacht. Schon knapp 500 Unternehmen<br />
sind im weiten Feld der sauberen <strong>Energie</strong> tätig.<br />
Darunter auch Stadtwerke und lokale Genossenschaften<br />
wie das Biomasse-Fernheizwerk Ritten, das dort anfallende<br />
Reste aus der Holzverarbeitung verbrennt und mit der<br />
Wärme zwei umliegende Ortschaften beheizt. Viele der<br />
Mittelständler gehen Kooperationen mit Partnern aus ganz<br />
Europa ein, um ihre Technologien voranzutreiben und lukrative<br />
Nischen zu besetzen. Grüne Gründer ziehen nach<br />
und verblüffen die Welt mit innovativen Lösungen: etwa<br />
einem Wasserstoffantrieb für die Bus-Boote, die Touristen<br />
in die Lagunenstadt Venedig übersetzen.<br />
Die vielen Aktivitäten haben <strong>Süd</strong>tirol den ersten<br />
Platz im Green-Economy-Index 2012 unter allen italienischen<br />
Regionen eingebracht. <strong>Energie</strong> aus erneuerbaren<br />
Ressourcen deckt schon heute 56 Prozent des Strom- und<br />
Heizkraftbedarfs der 510.000 <strong>Süd</strong>tiroler. Doch die Landes-<br />
15<br />
Judith Innerhofer<br />
Auf dem Flughafenareal in Bozen<br />
werden Fotovoltaikmodule<br />
verschiedener Hersteller auf Herz<br />
und Nieren geprüft<br />
regierung will mehr: Schon in knapp vier Jahrzehnten sollen<br />
90 Prozent des gesamten <strong>Energie</strong>verbrauchs aus regenerativen<br />
Quellen gespeist werden, so der ambitionierte<br />
Plan. Nicht alle Vorhaben stoßen auf ungeteilte Begeisterung.<br />
Besonders bei Windrädern ist die Sorge groß, sie<br />
könnten die Berglandschaft verschandeln. Schon gar nicht<br />
möchte man sie vor der Haustür stehen haben.<br />
Einmal ans Meer und wieder zurück<br />
Josef Gostner verfolgt solche Diskussionen eher am<br />
Rande. Sein Revier umfasst längst alle Kontinente. So ist<br />
es nicht weiter verwunderlich, dass der größte grüne<br />
Player der Region zum vereinbarten Termin weder im Öko-<br />
Flitzer angerauscht kommt noch auf dem Fahrrad. Er landet<br />
mit seinem Privatjet auf dem kleinen Bozner Flughafen<br />
und steuert die Maschine zielsicher in den Hangar. Aus<br />
dem Cockpit klettert ein hochgewachsener Mann in den<br />
Fünfzigern, stilsicherer Anzug, dezent gemusterte Krawatte.<br />
Beim Anflug, erzählt der Vollblutmanager wohlgelaunt,<br />
habe er wieder einmal beobachten können, wie dicht<br />
die Täler und Berghänge seiner Heimat inzwischen mit<br />
Solarmodulen bestückt sind: Auf je 1.000 Einwohner kommen<br />
410 Quadratmeter Sonnenkollektoren für die Warmwasserbereitung<br />
– das sind gut sieben Mal so viele wie im<br />
europäischen Durchschnitt und gar fünfzehn Mal mehr als<br />
in Italien. Ähnlich weit vorn liegt <strong>Süd</strong>tirol bei der installierten<br />
Fotovoltaikleistung.<br />
Mehr noch galt seine Aufmerksamkeit allerdings<br />
den fast tausend Wasserkraftwerken im Land. Denn mit<br />
der Wasserkraft begann vor fast 20 Jahren der kometenhafte<br />
Aufstieg Josef Gostners und seiner Brüder Thomas<br />
und Ernst als <strong>Energie</strong>produzenten und -verkäufer. Heute<br />
umfasst ihre Fri-El-Gruppe über 80 Unternehmen. Ihre
Kerngeschäfte sind inzwischen Windparks, Biogas- und<br />
Biomasse-Anlagen. Er komme gerade von der südlichsten<br />
Spitze des italienischen Stiefels zurück, berichtet Gostner,<br />
während er eiligen Schritts zum Auto stürmt. Dort unten<br />
baut die Gruppe einen 24 Megawatt starken Windpark mit<br />
der neuesten Turbinentechnologie des dänischen Marktführers<br />
Vestas. „Wir setzen dort die größten Windräder<br />
ein, die für italienische Verhältnisse geeignet sind“, sagt<br />
Gostner sichtlich stolz. „Schließlich gibt es hier weniger<br />
Wind als etwa an der <strong>Nord</strong>see.“<br />
Vom Flughafen geht es vorbei an einer fußballfeldgroßen<br />
Versuchsanlage. Hier prüft das Forschungsinstitut<br />
Eurac mit einem Partner aus der Wirtschaft Fotovoltaikmodule<br />
verschiedener Hersteller auf Herz und Nieren. Das<br />
Bürogebäude der Gostner-Brüder versteckt sich zwischen<br />
verwinkelten Gassen mitten im historischen Ortskern von<br />
Bozen: ein mittelalterliches Eckhaus mit dicken Mauerbögen<br />
und dunklen Holzstreben. Das Innere mit seinem edlen<br />
Mix aus Glas, Holz und Stahl würde sich gut als Titelbild<br />
einer Architekturzeitschrift machen. Warum residiert das<br />
Unternehmen, das in Italien zu den Marktführern gehört,<br />
ausgerechnet hier in <strong>Süd</strong>tirol, wo es nicht eine einzige<br />
Anlage betreibt? „Ist doch ganz klar“, sagt Josef Gostner<br />
und rückt die schmale Brille zurecht. „Unsere Industriepartner<br />
setzen auf <strong>Süd</strong>tirol als Scharnier in den italienischen<br />
Markt. Und dort wiederum hilft uns das Image <strong>Süd</strong>tirols<br />
als führende<br />
Ökoregion des Landes.“<br />
Ein Blick auf<br />
die Fakten unterfüttert<br />
die Einschätzung<br />
des Fri-El-Geschäftsführers.<br />
Gerade Wirtschaftsakteuresprechen<br />
<strong>Süd</strong>tirol in Studien<br />
die Rolle eines<br />
grünen Zugpferdes<br />
zu; in Sachen energieeffizienteBauweisen<br />
hat die Provinz<br />
mit ihrem KlimaHaus-<br />
Standard den Maßstab<br />
für ganz Italien<br />
gesetzt. Ein neuer<br />
Technologiepark in der Landeshauptstadt soll die Vorreiterrolle<br />
stärken und den Know-how-Transfer von der Theorie<br />
in die Praxis beschleunigen. Schon heute kooperieren<br />
Forschungseinrichtungen wie die Eurac, ein Fraunhofer-<br />
Institut, der TIS innovation park und die Freie Universität<br />
Bozen eng mit den regionalen Unternehmen und begleiten<br />
sie auf dem Weg ins postfossile Zeitalter.<br />
16<br />
Auch sauber muss sich rechnen<br />
Beherzt greift Thomas Brandstätter in den Bottich und<br />
lässt den Abfall genüsslich durch die Finger rieseln. Über<br />
ihm schwebt eine gigantische gelbe Trommel, gegenüber<br />
Unternehmen Die Welle aus den Bergen<br />
fauchen zwei Verbrennungsöfen. Die dichte weiße Rauchsäule,<br />
die über der Werkhalle besonders im Sommer hoch<br />
in den Himmel geblasen wird, passt eigentlich nicht zum<br />
sauberen Image des traditionsreichen Luft- und Trauben-<br />
Kurorts Meran. „Reiner Wasserdampf“, beruhigt Brandstätter<br />
beim Gang über das Gelände, auf dem es schwer und<br />
füllig nach reifem Obst riecht. Die Aromen stammen von<br />
den 180.000 Tonnen Frucht, welche die Zipperle AG jährlich<br />
zu Pürees und Konzentraten für Nahrungsmittelkonzerne<br />
wie Hipp, Nestlé, Rauch und Danone verarbeitet.<br />
Auf den ersten Blick hat das Geschäft des 1951 gegründeten<br />
Familienbetriebs mit <strong>Energie</strong> nicht wirklich etwas<br />
zu tun – und doch war Geschäftsführer Brandstätter<br />
schon früh mit dem Thema konfrontiert. Das liegt an dem<br />
Berg von 25.000 Tonnen Fruchtabfällen, die sich jährlich<br />
ansammeln. Schon vor gut 25 Jahren begann er sich über<br />
ihre energetische Nutzung Gedanken zu machen. Heute<br />
wird der Trester in der Trocknungs- und Verbrennungsanlage<br />
zu Dampf, der die thermische <strong>Energie</strong> ergänzt, die im<br />
Fernheizwerk auf der anderen Straßenseite erzeugt wird<br />
und per Direktverbindung in die Produktionsstätte fließt.<br />
Auch diese Anlage, betrieben vom kommunalen Versorger<br />
Etschwerke AG, entstand auf Betreiben des Fruchtverarbeiters.<br />
„Die Wirtschaft und die Menschen hier sind sehr<br />
sensibel für Umweltthemen. In dieser Beziehung sind wir<br />
wohl stärker<br />
deutsch als italienisch<br />
geprägt“,<br />
interpretiert<br />
Brandstätter die<br />
grüne Investitionslust,<br />
von der jedes<br />
dritte Unternehmen<br />
in der Region<br />
in den vergangenen<br />
Jahren gepackt<br />
worden ist.<br />
Aber der Manager<br />
stellt auch klar,<br />
dass sich die Investitionen<br />
am<br />
Ende auch finanziell<br />
auszahlen sollten:<br />
„Sicher, auch<br />
wir leben von einer gesunden Umwelt. Gerade sauberes<br />
Wasser und eine intakte Landschaft sind für uns und unser<br />
Unsere Industriepartner setzen auf <strong>Süd</strong>tirol<br />
als Scharnier in den italienischen<br />
Markt. Und dort wiederum hilft uns das<br />
Image <strong>Süd</strong>tirols als<br />
führende Ökoregion des Landes.<br />
Josef Gostner
Andreas Leitner, Juniorchef von Leitner Solar. Das Unternehmen<br />
gehört zu den Leadern im italienischen Solarmarkt<br />
Image ganz wesentlich. Aber am Ende muss die Rechnung<br />
einfach stimmen.“<br />
17<br />
Ein wenig Gülle für die Cola<br />
Die Kühe, die da am Straßenrand stehen und in aller Gemütlichkeit<br />
das Gras zermalmen, sehen zufrieden aus. Und<br />
die Tiere grasen zahlreich rund um St. Lorenzen, einem<br />
Örtchen im Pustertal kurz vor Bruneck. Es zählt 3.800 Einwohner,<br />
besitzt zwei auffallend ungleiche Kirchtürme und<br />
eine Menge Weiden und dichte Wälder. Sie machen mehr<br />
als die Hälfte des Dorfgebietes aus. Zufrieden sehen auch<br />
die vielen Urlaubsgäste aus, die an diesem Vormittag aus<br />
den Hotels strömen, um die Dolomiten zu erobern und<br />
sich zwischendurch mit frischer Bauernmilch und Käse zu<br />
stärken. Wegen so viel Idylle, nicht nur hier, zieht es Jahr<br />
für Jahr Millionen Touristen nach <strong>Süd</strong>tirol, das zu den wirtschaftlich<br />
stabilsten Regionen in Europa gehört.<br />
Doch so schön der Anblick der grasenden Kühe sein<br />
mag – sie verursachen auch ein stinkendes Problem. 80<br />
Liter Gülle hinterlässt jedes Tier pro Tag. Würden die enormen<br />
Mengen, die so zusammenkommen, auf die Felder<br />
gekippt, wären Böden und vor allem das Grundwasser gefährdet.<br />
Die örtliche Bioenergie-Genossenschaft hat eine<br />
bessere Verwendung: Neben einer der Weiden haben die<br />
Mitglieder zwei kuppelartige Gebäude errichtet, zu denen<br />
Judith Innerhofer<br />
knapp 90 Landwirte aus der Umgebung Mist und Grünabfall<br />
bringen. Aus der Biomasse wird Biogas gewonnen,<br />
das zu Strom und Wärme verbrannt wird. Zudem entsteht<br />
aus der übel riechenden braunen Masse ein geruchfreier<br />
Biodünger, der das Gras für die Milchkühe besonders saftig<br />
wachsen lässt.<br />
Die Anlage stammt vom Hersteller BTS, der seine<br />
Firmenzentrale nur wenige Landstraßenminuten weiter<br />
taleinwärts hat. Er ist Biogas-Marktführer in Italien, hat<br />
Niederlassungen in Deutschland und betreibt Anlagen<br />
in ganz Europa. Eigentlich läuft alles wie gewünscht für<br />
Michael Niederbacher. Der Mitbegründer der European<br />
Biogas Association leitet das zur T.S. Energy Group gehörende<br />
Unternehmen und hat das Wachstum der Branche<br />
Schub um Schub miterlebt. Aber nur immer mehr und<br />
immer größere Anlagen zu bauen, die mit immer mehr<br />
Rohstoffen gefüttert werden wollen, davon hält er wenig.<br />
„Wir müssen auf maximale Effizienz setzen“, lautet sein<br />
unternehmerisches Credo. Dafür haben Ingenieure im firmeneigenen<br />
Forschungslabor – dem einzigen für Biogas in<br />
Italien – zum Beispiel eine Aufbereitungsmethode für<br />
Landwirtschaftsabfälle entwickelt, die 35 Prozent mehr<br />
<strong>Energie</strong> aus der Biomasse herausholt als bisher. Das steigert<br />
zudem die Wirtschaftlichkeit.<br />
Doch der gelernte Agraringenieur Niederbacher will<br />
noch mehr erreichen. Wenn er über „seinen“ braunen Mist<br />
nachdenkt, kommt er schon einmal auf Ideen, die im ersten<br />
Moment etwas anrüchig klingen: etwa wenn er den Mist<br />
auch nutzen will, um daraus Sprudelbläschen für Limonaden<br />
zu gewinnen. „Biogas besteht ja zu 55 Prozent aus<br />
Methan, der Rest ist CO 2 “, erläutert Niederbacher. „Will<br />
man das Methan nun als Biotreibstoff nutzen, muss man<br />
das ganze Kohlendioxid vorab abpumpen. Und wenn es<br />
schon da ist, könnte man es doch gleich in der Getränkeindustrie<br />
zur Erzeugung von Kohlensäure verwenden.“<br />
Solartankstellen für Elektro-Fahrräder<br />
Wie Niederbacher sucht auch Hubert Leitner unermüdlich<br />
nach Lösungen, die <strong>Energie</strong>wende voranzubringen. Dass<br />
es noch an vielen Ecken Verbesserungspotenzial gibt,<br />
merkt er zum Beispiel, wenn er die Batterie seines luxuriösen<br />
Plug-in-Hybrids in der Garage seines Brunecker Einfamilienhauses<br />
auflädt. Den blank polierten Sportwagen hat<br />
er sich vor drei Jahren geleistet. Leitner hätte gerne, dass<br />
der Ladevorgang dann einsetzt, wenn der Strom gerade<br />
günstig angeboten wird. Doch solch ein intelligentes<br />
Stromnetz, bei dem der Wäschetrockner, die Tiefkühltruhe<br />
oder eben das Elektroauto auf Preissignale reagieren und<br />
bevorzugt dann elektrische <strong>Energie</strong> abnehmen, wenn sie<br />
reichlich vorhanden und daher billig ist, sei leider noch<br />
Zukunftsmusik, bedauert der Unternehmer. Er ist jedoch<br />
fest entschlossen, alles dafür zu tun, damit sich das bald<br />
ändert.<br />
Auf einer der Schutzhütten ganz weit oben in den<br />
Bergen, die sich rund um das Talbecken erheben, hat Leitner<br />
1987 die erste Solaranlage <strong>Süd</strong>tirols gebaut und den<br />
Elektro-Meisterfachbetrieb seines Vaters damit in eine
neue Ära geführt. Inzwischen ist sein eigener Sohn Andreas<br />
in die Geschäftsführung eingestiegen und es gibt<br />
zwei Geschäftszweige: Leitner Electro und Leitner Solar.<br />
Vor allem mit der Fotovoltaik ist das Unternehmen in<br />
den vergangenen Jahren enorm gewachsen; im italienischen<br />
Solarmarkt gehört der Mittelständler aus dem Pustertal<br />
heute zu den Leadern. Aber in der bequemen Rolle<br />
des Ökoprimus ausruhen will Hubert Leitner sich nicht.<br />
Im mittlerweile vollgeladenen Elektro-Hybrid geht es Richtung<br />
Firmenzentrale. Ein kleiner Umweg führt an der unentgeltlichen<br />
Solartankstelle für E-Bikes vorbei, die der<br />
Neuerer im Stadtzentrum errichtet hat.<br />
Im jüngst erweiterten Büro brütet sein Junior über<br />
den Plänen für eine 500 Wohnungen umfassende Pilotsiedlung,<br />
die gerade in Bozen entsteht. Das Konzept sieht vor,<br />
dass Solaranlagen und Erdwärme den gesamten <strong>Energie</strong>bedarf<br />
der Häuser decken. Damit entstünde ein CO 2 -neutrales<br />
Quartier. Intelligente IT-Schnittstellen zwischen den<br />
einzelnen Wohnungen sowie den Gemeinschafts- und Außenbereichen<br />
sollen sicherstellen, dass die <strong>Energie</strong> dann<br />
verbraucht wird, wenn die Anlagen gerade besonders viel<br />
davon erzeugen. Überschüssige Strom- und Wärmemengen<br />
werden für knappe Zeiten zwischengespeichert. Zudem<br />
haben die überzeugten Strom-Autofahrer natürlich E-Mobilität<br />
in das Siedlungsprojekt integriert. Und ganz im Sinne<br />
der demokratischen <strong>Energie</strong>revolution, die Jeremy Rifkin<br />
anstrebt, machen Vater und Sohn den Verbraucher zugleich<br />
zum <strong>Energie</strong>händler: Weil die Bewohner dank des schlauen<br />
Stromnetzes schon am Tag zuvor wissen, ob schönes Wetter<br />
vorhergesagt ist und ihre Fotovoltaikanlagen daher mehr<br />
<strong>Energie</strong> liefern, als sie selbst benötigen, können sie die<br />
Überschussmengen vorab an der Strombörse verkaufen<br />
und zu Geld machen.<br />
Schon träumt Leitners Sohn Andreas davon, dass<br />
die Bewohner solcher Siedlungen eines Tages ihren selbst<br />
erzeugten Strom komplett selbst verwalten und vermarkten.<br />
Dazu bedürfte es allerdings einer Gesetzesänderung.<br />
Noch muss das Geschäft von <strong>Energie</strong>produzenten und<br />
-händlern strikt voneinander getrennt sein. „Aber das wird<br />
sich sehr bald ändern“, ist der Juniorchef überzeugt. Und<br />
dann wollen Vater und Sohn wieder ganz vorne sein bei<br />
der nächsten Welle der grünen Revolution – und mit ihnen<br />
die anderen <strong>Energie</strong>pioniere aus <strong>Süd</strong>tirol.<br />
Judith Innerhofer (*1983), bis 2012 Redakteurin beim <strong>Süd</strong>tiroler<br />
Wochenmagazin „ff“, heute als freie Journalistin unter anderem<br />
für „ff“ und „Profil“ tätig.<br />
18<br />
Dieter Dürand<br />
Dolce Vita und<br />
Disziplin<br />
Was zieht deutsche Unternehmen nach<br />
<strong>Süd</strong>tirol? Der Autor hat sich umgehört<br />
– hier seine Bilanz.<br />
Besuch bei einem Altstar. Fleißige Hände packen Schrauben,<br />
Haken, Klemmen und Bohrmaschinen in Kisten und<br />
stellen sie bereit zum Versand. Fast 6.000 Aufträge verlassen<br />
jeden Werktag die Hallen an der Brennerautobahn. Die<br />
Ware geht an Handwerker und Industriebetriebe in <strong>Nord</strong>italien.<br />
Dutzende Lkws karren Nachschub heran. Hier in Neumarkt<br />
hat die Würth Italia ihren Hauptsitz, Tochtergesellschaft<br />
des deutschen Schraubenkönigs Reinhold Würth,<br />
dessen Gruppe 2012 weltweit knapp zehn Milliarden Euro<br />
umsetzte. Mehr als 400 Mitarbeiter arbeiten in dem Zentrallager<br />
und der Hauptverwaltung. Nur wenige Unternehmen<br />
in <strong>Süd</strong>tirol beschäftigen mehr Menschen. Zugleich ist<br />
Würth Italia einer der größten Arbeitgeber, der seinen<br />
Stammsitz in Deutschland hat. Weitere Unternehmen deutscher<br />
Provenienz, die ähnlich viele Jobs anbieten, sind<br />
Miele, Kässbohrer Geländefahrzeug AG, der Baustoffproduzent<br />
Stound und der Türgriffspezialist Hoppe.<br />
Unternehmen Die Welle aus den Bergen Dolce Vita und Disziplin
Dieses Jahr feiert Würth sein 50-jähriges Jubiläum<br />
am <strong>Süd</strong>tiroler Standort – und blickt damit auf fast ebenso<br />
viel Erfahrung zurück wie die Urgesteine des Rocks: die<br />
Rolling Stones. Doch während die 1962 zusammenfanden,<br />
um ihre Träume vom schwarzen Blues zu verwirklichen,<br />
trieben Reinhold Würth 1963 profanere Gründe nach Bella<br />
Italia: Der aufstrebende Unternehmer aus Schwaben sah in<br />
Italien einen wichtigen Zukunftsmarkt. Und <strong>Süd</strong>tirol schien<br />
ihm wegen der Nähe zum Mutterhaus und der Zweisprachigkeit<br />
die ideale Startrampe für dessen Eroberung zu<br />
sein. Die Zentrale konnte mit der Belegschaft auf Deutsch<br />
kommunizieren – und die wiederum mit den Kunden auf<br />
Italienisch. Perfekt!<br />
Verblüffend, aber wahr: An diesen Motiven, sich in<br />
<strong>Süd</strong>tirol anzusiedeln, hat sich seither nichts wesentlich<br />
geändert. Auch die heutigen Neuankömmlinge nennen sie<br />
an vorderster Stelle, ob der Lichtspezialist Gifas, der Messtechnik-Anbieter<br />
AfM Technology, das <strong>Energie</strong>technikunternehmen<br />
Agnion oder der Hersteller von Wohnraumbelüftungssystemen<br />
Pluggit. Die gemeinsame Sprache erleichtert<br />
nicht nur die Verständigung. Mehr noch schätzen<br />
deutsche Investoren, dass sie ihre Bilanzen und Steuererklärungen<br />
auf Deutsch verfassen können. So laufen sie<br />
weniger Gefahr, sich im komplizierten italienischen Steuerrecht<br />
zu verheddern. „Die Furcht ist groß, ungewollt zum<br />
Steuerhinterzieher zu werden“, sagt Agnion-Geschäftsführer<br />
Stephan Mey.<br />
Gefragt sind Kreativität, Leichtigkeit und der<br />
Sinn fürs Schöne<br />
Und noch etwas anderes machen sich die Unternehmer<br />
aus Germania gerne zunutze. Sie finden in Italiens nördlichster<br />
Provinz Beschäftigte und Geschäftspartner vor, die<br />
19 Dieter Dürand<br />
so arbeiten, wie sie es daheim kennen: fleißig, zuverlässig,<br />
effektiv. Zugleich bringen diese jedoch jenen Schuss an<br />
Kreativität, Leichtigkeit und Improvisation mit, der ihnen<br />
mitunter abgeht. Hinzu tritt der italienische Sinn fürs<br />
schöne Design. Das alles hat kräftig auf <strong>Süd</strong>tirol abgefärbt.<br />
Diese Erfahrung hat jedenfalls Thomas Wiedermann<br />
gemacht, Geschäftsführer der Gifas Holding in Neuss, der<br />
in Bozen eine Vertriebsgesellschaft und ein technisches<br />
Entwicklungsbüro aufbaut. „Von dieser einmaligen Kombination<br />
möchten wir profitieren.“ Roland Rauch, AfM-Vertriebsleiter<br />
in Italien und in Bozen geboren, weiß aus Kontakten<br />
zu den Autobauern VW und Porsche, dass die Mischung<br />
der Mentalitäten zum Beispiel die Entwicklung<br />
neuer Ideen beflügeln kann. „Die Italiener gehen damit<br />
unbeschwerter um und legen einfach mal los.“<br />
Dass dies mehr als Einzelmeinungen sind, zeigt eine<br />
Umfrage der deutsch-italienischen Handelskammer (AHK)<br />
unter deutschen Unternehmen, die schon auf dem Stiefel<br />
aktiv sind. Fast jedes fünfte kann sich vorstellen, sich in<br />
<strong>Süd</strong>tirol niederzulassen oder seine Präsenz dort auszubauen.<br />
Dieses Interesse an einer Provinz, die nur knapp<br />
2 Prozent zum italienischen Außenhandel beisteuert, sei<br />
außergewöhnlich, urteilt AHK-Expertin Luisa Glaesmer.<br />
„<strong>Süd</strong>tirol ist weiterhin ein gefragter Brückenkopf zwischen<br />
<strong>Nord</strong> und <strong>Süd</strong>.“<br />
<strong>Süd</strong>tirols Image kann sich sehen lassen: Fast 70<br />
Prozent der am Standort interessierten Investoren loben<br />
das „erfolgreiche Unternehmensumfeld“, jeweils mehr als<br />
60 Prozent schätzen kurze Wege und schnelle Entscheidungen,<br />
die Betreuung durch zweisprachige Steuerberater,<br />
Rechtsanwälte und Notare sowie die öffentliche Förderung<br />
für Forschung und Entwicklung. Immerhin jeder<br />
zweite Befragte nennt <strong>Süd</strong>tirols Vorreiterrolle als grünste<br />
Region Italiens als Vorteil. Für diese Vorzüge nehmen die<br />
Investoren loben das „erfolgreiche<br />
Unternehmensumfeld“<br />
in <strong>Süd</strong>tirol. Hier ein Blick auf<br />
das Bozner Gewerbegebiet, in<br />
dem sich auch ausländische<br />
Unternehmen niedergelassen<br />
haben
Unternehmen in Kauf, dass an Etsch und Eisack auch die<br />
höchsten Löhne Italiens gezahlt werden.<br />
Der Mangel an Industrie erweist sich mitunter<br />
als Bremsklotz<br />
Attraktiv ist <strong>Süd</strong>tirol vor allem als Vertriebsbasis für den<br />
norditalienischen Markt. Würth hat inzwischen in Bologna<br />
und Rom weitere Logistikzentralen eingerichtet, um die<br />
Kunden rasch beliefern zu können. „Die Entfernungen von<br />
Neumarkt aus wären viel zu weit“, sagt Marketing-Chef<br />
Norman Atz. Als Produktionsstandort hingegen ist die Alpenprovinz<br />
weniger interessant. Landwirtschaft, Dienstleistungen,<br />
Tourismus und Handwerk prägen das Wirtschaftsleben,<br />
Industrie ist rar. Das wird manchmal selbst<br />
für Gutwillige wie Johann Hofer, Chef der Hofer Powertrain<br />
aus Oberboihingen bei Stuttgart, zum Problem. Der gebürtige<br />
<strong>Süd</strong>tiroler, der mehr als 400 Ingenieure und Techniker<br />
beschäftigt, hätte gerne auch in seiner Heimat expandiert.<br />
Doch der Mangel an Auftraggebern für das auf<br />
den Auto-Antriebsstrang spezialisierte Engineering-Unternehmen<br />
erwies sich als unüberwindliche Hürde: Mehr als<br />
drei Mitarbeiter hatte<br />
die Niederlassung nie,<br />
nun droht sogar die<br />
Schließung.<br />
Nicht jeden<br />
schreckt die industrielle<br />
Diaspora. Die vier <strong>Süd</strong>tiroler<br />
Gründer des auf<br />
Leistungselektronik<br />
spezialisierten Start-ups<br />
Alpitronic, die vorher<br />
etwa für BMW oder den<br />
Elektronikentwickler<br />
SilverAtena arbeiteten,<br />
wollten unbedingt zurück<br />
in ihre Heimat.<br />
Dass viele Kunden Hunderte<br />
Kilometer entfernt in Deutschland sitzen, stört sie<br />
nicht. Sie sind dort oft vor Ort, und im Zeitalter von Internet<br />
und Videoschaltungen spielten Distanzen keine große<br />
Rolle mehr, findet Mitgründerin Sigrid Zanon. Sie lobt das<br />
Förderkonzept der Landesregierung als „stimmig“ und<br />
freut sich über erste Auftraggeber aus der Region: Mit dem<br />
LED-Pionier Ewo aus Kurtatsch (siehe Seite 19 ff.) hat Alpitronic<br />
ein Steuergerät für dessen Leuchten entwickelt.<br />
Dennoch ist es kein Zufall, dass sich die Neuansiedlungen<br />
vor allem auf den Bau- und <strong>Energie</strong>sektor konzentrieren.<br />
Dort setzen <strong>Süd</strong>tiroler Unternehmen und Initiativen<br />
20 Unternehmen Dolce Vita und Disziplin<br />
Standards für ganz Italien – sei es bei der Nutzung von<br />
Biomasse, Wasserkraft oder Solaranlagen. „Wir finden hier<br />
attraktive Geschäftspartner“, sagt Agnion-Chef Mey, der in<br />
Auer bei Bozen eine erste Anlage mit seiner innovativen<br />
Technik zur Holzverbrennung betreibt. Auch das Projekt<br />
KlimaHaus macht als Vorbild für energieeffizientes Bauen<br />
inzwischen bis hinunter nach Sizilien die Runde. Der gute<br />
Ruf hat auch Spartherm aus Melle bei Osnabrück angelockt.<br />
Der europaweit führende Hersteller von Kamin- und<br />
Kachelöfen ist vergangenes Jahr beim Bozner Kachelproduzenten<br />
Arcadia eingestiegen. Die <strong>Nord</strong>deutschen wollen<br />
von <strong>Süd</strong>tirol aus nicht nur den italienischen Markt aufrollen,<br />
sondern auch nach Serbien, Slowenien, Frankreich und<br />
Kroatien vorstoßen. „Dafür finden wir hier ideale Voraussetzungen<br />
vor“, betont Arcadia-Geschäftsführer Alfred Kohlegger.<br />
Die haben sich 2010 mit dem Zuzug des Fraunhofer<br />
Innovation Engineering Centers (IEC) nach Bozen noch<br />
einmal verbessert. Die Fraunhofer-Experten schließen die<br />
Lücke bei anwendungsnaher Forschung. Neben neuartigen<br />
Dienstleistungskonzepten etwa für Banken konzentrieren<br />
sie sich auf Bauprojekte. Ein Schwerpunkt ist die bessere<br />
Es ist kein Zufall, dass sich die Neuansiedlungen vor allem auf den Bau- und<br />
<strong>Energie</strong>sektor konzentrieren. Dort setzen <strong>Süd</strong>tiroler Unternehmen und Initiativen<br />
Standards für ganz Italien.<br />
Abstimmung zwischen<br />
Bauherr, Architekt,<br />
Zulieferer und Bauunternehmer,<br />
um die<br />
Prozesse am Bau<br />
schlanker und wirtschaftlicher<br />
zu machen.<br />
IEC-Projektleiter<br />
Daniel Krause ist begeistert<br />
vom Enthusiasmus,<br />
auf den er<br />
stößt. „Es herrscht<br />
eine große Offenheit<br />
für neue Ideen.“ Und<br />
schon bald, so seine<br />
Erwartung, könne<br />
Deutschland etwas<br />
von den Lösungen aus <strong>Süd</strong>tirol lernen. „Was wir hier<br />
ent wickeln, taugt auch als Vorbild für die dortige Bauindustrie.“<br />
Wenn das keine Perspektive ist.<br />
Dieter Dürand (*1955), seit 1991 Redakteur der „WirtschaftsWoche“,<br />
von 1994 bis 2010 stellvertretender Leiter<br />
des Ressorts Technik und Wissen. Derzeit zuständig für<br />
Dossiers und Sonderpublikationen vor allem im Bereich<br />
Nachhaltigkeit und grüne Technologien.
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Felice Espro<br />
Junge<br />
<strong>Energie</strong><br />
In <strong>Süd</strong>tirol ist eine <strong>Energie</strong> spürbar, die<br />
schwer messbar ist: die Lust der jungen<br />
Generation zur Unternehmensgründung.<br />
In einem Wirtschaftsmodell wie dem<br />
italienischen, das seine Jugend von<br />
Schultagen an häufig hin zu einem abhängigen,<br />
vermeintlich sicheren Arbeitsverhältnis<br />
gelenkt hat, stellt <strong>Süd</strong>tirol eine<br />
positive Anomalie dar: Jahr für Jahr wird<br />
der Boden, auf dem die Unternehmer<br />
von morgen heranwachsen, durch die<br />
duale Ausbildung im Land und die Kombination<br />
von Schule und Arbeit in verschiedenen<br />
Wirtschaftszweigen gedüngt.<br />
Zu diesem Trend tragen auch das<br />
traditionelle Schulsystem, bei dem Betriebssimulationen<br />
durch Schülerwettbewerbe<br />
gefördert werden, sowie der Einsatz<br />
der <strong>Süd</strong>tiroler Handelskammer und<br />
der Wirtschaftsverbände bei.<br />
Eine Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts<br />
(WIFO) der Handelskammer<br />
Bozen verdeutlicht die Fähigkeit<br />
des Landes, der Wirtschaftskrise gegenzusteuern.<br />
Zwar ist die Arbeitslosenquote<br />
von 2,4% im Jahr 2008 auf 4,3%<br />
Ende 2012 gestiegen, ein Anstieg auf<br />
vergleichsweise niedrigem Niveau. 2009,<br />
im Jahr der ersten starken Auswirkungen<br />
der Krise, wurden in <strong>Süd</strong>tirol 2.948 Unternehmen<br />
neu angemeldet, während<br />
3.036 Betriebe geschlossen wurden: Der<br />
Gründungssaldo war mit einem Minus<br />
von 0,2% negativ, aber nur ein Jahr später<br />
hat sich der Trend gedreht. 2010 stehen<br />
3.315 Neugründungen 2.656 Schließungen<br />
gegenüber (+1,1%). 2011 gab es<br />
3.029 Neueinschreibungen ins Handelsregister<br />
und 2.633 Abmeldungen (+0,7%).<br />
Die vorhandenen Daten für das Jahr 2012<br />
listen bis zum Monat September 2.462<br />
neue Unternehmen auf, während 2.098<br />
ihre Aktivität beendet haben (+0,6%).<br />
Junge und ältere Unternehmer<br />
Georg Lun, Direktor des WIFO, liest<br />
diese Zahlen so: „Der positive Saldo zwischen<br />
Gründungen und Schließungen<br />
zeigt, dass der Wirtschaftsstandort <strong>Süd</strong>tirol<br />
gesund und stabil ist. Es gibt viele<br />
Gründe, um ein Unternehmen an- oder<br />
abzumelden. Nicht immer steht dies in<br />
Verbindung mit einer schwierigen Konjunkturlage.<br />
Hingegen wirkt sich die<br />
wirtschaftliche Entwicklung direkt auf<br />
die Zahl der gerichtlichen Ausgleichsverfahren<br />
und der Konkurse aus, bei denen<br />
kein Anstieg zu verzeichnen war.“<br />
Aber wie viele der 58.086 Unternehmen<br />
in <strong>Süd</strong>tirol (Stand 2012) werden<br />
von unter 30-Jährigen geführt, und wie<br />
viele Betriebsinhaber sind hingegen über<br />
70 Jahre alt? Auch in diesem Fall gibt die<br />
Analyse des WIFO Auskunft. Im Jahr<br />
2009 stellten die Jungunternehmer 5,3%<br />
aller Betriebsleiter. 2010 waren es 5,4%,<br />
2011 dann 5,2% und im vergangenen Jahr<br />
schließlich 5% – der Wert blieb stabil. In<br />
denselben vier Jahren ist diese Quote auf<br />
gesamtitalienischer Ebene von 7 auf<br />
6,5% gesunken. Die Krise hat also die<br />
21 Felice Espro<br />
12 %<br />
10 %<br />
8 %<br />
6 %<br />
4 %<br />
2 %<br />
unter 30 Jahre,<br />
bis 30.9.2012<br />
Landwirtschaft<br />
Handwerk<br />
Baugewerbe<br />
Handel<br />
Transportwesen<br />
Service<br />
Gastgewerbe,<br />
Restaurants, Bar<br />
Total<br />
Davon nicht<br />
landwirtschaftliche<br />
Unternehmen<br />
unternehmerische Initiative junger Menschen<br />
in ganz Italien etwas gebremst.<br />
Die gesamt italienischen Zahlen liegen<br />
leicht über den <strong>Süd</strong>tiroler Werten, doch<br />
sind in <strong>Süd</strong>tirol beispielsweise im Handwerkssektor<br />
mehr Jungunternehmen als<br />
im italienischen Durchschnitt tätig (5,6%<br />
gegenüber 4,3%). Die meisten jungen Betriebsinhaber<br />
in <strong>Süd</strong>tirol finden sich im<br />
Dienstleistungssektor (8,1%), etwas weniger<br />
im Baugewerbe (6,3%), im Tourismus<br />
(6,3%), im Handwerk (5,6%) und im<br />
Transportwesen (5%). Das Schlusslicht<br />
bildet die Landwirtschaft mit 2,3%.<br />
Die andere Seite der Medaille<br />
stellt die Zahl der über 70-jährigen Unternehmer<br />
dar, die sich zwar oft noch<br />
bester Gesundheit erfreuen, sich aber<br />
0 % 0 % 10 % 20 % 30 %<br />
über 70 Jahre,<br />
bis 30.9.2012<br />
Anteil der Unternehmer und Geschäftspartner unter 30 und über 70 Jahren nach Sektoren<br />
bis zum 30.09.2012 in Prozent Ausarbeitung: WIFO; Quellen: Infocamere<br />
auch zwangsläufig dem Karriereende<br />
nähern und häufig vor dem Problem der<br />
Nachfolge stehen. Zwischen 2009 und<br />
2012 ist der Anteil der über 70-Jährigen<br />
von 9,7% auf 10,9% gewachsen. Italien<br />
verzeichnet im selben Zeitraum eine<br />
Zunahme von 9,1% auf 9,8%. Der Sektor<br />
mit der höchsten Quote älterer Unternehmer<br />
ist die Landwirtschaft (15,6%),<br />
gefolgt von Tourismus (13,2%), Handwerk<br />
(8,6%), Tertiärsektor (8,2%),<br />
Handel (7,6%), Transport (6,9%) und<br />
Bausektor (3,2%).
„Das vielseitige Panorama steht in<br />
Zusammenhang mit den unterschiedli-<br />
chen historischen Entwicklungsphasen“,<br />
erklärt Studienleiter Georg Lun. „Im Tourismus<br />
zum Beispiel finden wir eine höhere<br />
Zahl reifer Inhaber, weil das Wachstum<br />
der Branche auf die 1970er- und<br />
1980er-Jahre zurückgeht. Gegenwärtig<br />
befinden wir uns in einer Periode vieler<br />
Unternehmensübergaben, die aber keine<br />
Neugründungen mit sich bringen. Im<br />
Handwerk und in den Dienstleistungen<br />
hingegen verzeichnen wir die größte<br />
Zahl neuer Unternehmen. Das ist nicht<br />
zuletzt der Arbeit des TIS innovation<br />
park zu verdanken, der Start-up-Initiativen<br />
mit seinem Gründerzentrum unterstützt.<br />
Insgesamt ist diese Tendenz auch<br />
ein Zeichen des Strukturwandels in der<br />
<strong>Süd</strong>tiroler Wirtschaft: Die Jungen schlagen<br />
jenen Kurs ein, der eine erfolgreiche<br />
Zukunft verspricht.“<br />
Die Autonome Provinz Bozen trägt<br />
ihren Teil bei, um das Entstehen neuer<br />
Unternehmen zu fördern. Das Maßnahmenpaket<br />
für die Wirtschaft, das von der<br />
Landesregierung Ende 2012 geschnürt<br />
wurde und seit Januar dieses Jahres in<br />
Kraft ist, sieht für neue Unternehmen<br />
die Annullierung der Wertschöpfungssteuer<br />
Irap für die ersten fünf Jahre<br />
ebenso vor wie Begünstigungen bei der<br />
Immobilienmiete (75% im ersten und<br />
Jahr für Jahr wird der<br />
Boden, auf dem die Unternehmer<br />
von morgen heranwachsen,<br />
durch die<br />
duale Ausbildung im Land<br />
und die Kombination von<br />
Schule und Arbeit in verschiedenenWirtschaftszweigen<br />
gedüngt.<br />
50% im zweiten Betriebsjahr), einen<br />
Risikokapitalfonds für technologieorien-<br />
tierte Unternehmen zur Finanzierung<br />
innovativer Ideen sowie Darlehen für<br />
Neugründer und Betriebsnachfolger. Die<br />
Handelskammer hat ihren Dienst zur<br />
Unternehmensgründung mit der kostenlosen<br />
Anfangsberatung weiter ausgebaut.<br />
Gesunde Wirtschaft<br />
Hat <strong>Süd</strong>tirol also einen fruchtbaren Boden<br />
geschaffen, damit sich das kreative<br />
Potenzial der jungen Unternehmer entfalten<br />
kann? „Ja“, ist Georg Lun überzeugt<br />
und nennt Gründe dafür: „Das<br />
Land kann auf das sehr hohe Schul- und<br />
Ausbildungsniveau der Jugend ebenso<br />
zählen wie auf eine dynamische Universität,<br />
die sich auf die Stärken <strong>Süd</strong>tirols<br />
konzentriert. Zudem leben wir in einer<br />
gesunden Wirtschaft.“ Auch das breite<br />
Netz öffentlicher Einrichtungen, die das<br />
Land bereitstellt, mache <strong>Süd</strong>tirol zum<br />
idealen Standort für den Beginn einer<br />
neuen unternehmerischen Tätigkeit. Zu<br />
diesen Organisationen, die das Wachstum<br />
der Unter nehmen Schritt für Schritt<br />
begleiten, gehören das TIS, wenn es um<br />
die Entwicklung und Umsetzung innovativer<br />
Ideen geht, die Standortagentur<br />
<strong>BLS</strong> (Business Location <strong>Süd</strong>tirol – Alto<br />
Adige) in allen Ansiedlungsbelangen<br />
und die Handelskammer in Bezug auf<br />
rechtliche und bürokratische Fragen. Im<br />
Export unterstützt die EOS (Export Organisation<br />
<strong>Süd</strong>tirol) Unternehmen, während<br />
die Eurac (Europäische Akademie<br />
Bozen) im Auftrag der Wirtschaft<br />
forscht.<br />
Dass es gerade in dieser Zeit der<br />
wirtschaftlichen Krise schwieriger geworden<br />
ist, eine Festanstellung im öffentlichen<br />
oder privaten Sektor zu erhalten,<br />
ist für Wirtschaftsforscher Lun kein<br />
Geheimnis. Aber darin erblickt er auch<br />
Chancen. „Die unternehmerische Selbstständigkeit<br />
bietet eine Alternative, um<br />
sich den eigenen Arbeitsplatz selbst zu<br />
schaffen“, sagt Lun und weist auf eine<br />
weitere Möglichkeit hin: die Übernahme<br />
eines bereits existierenden Unternehmens,<br />
das gegenwärtig von einem Inhaber<br />
höheren Jahrgangs mit Nachfolgeproblemen<br />
geführt wird. Dabei, erklärt<br />
Lun, handle es sich vor allem um Einzelunternehmen,<br />
die den Verlust von Humankapital,<br />
angesammeltem Know-how<br />
und ihrem Unternehmenswert riskieren,<br />
wenn innerhalb der Familie ein Nachfolger<br />
fehlt. Die Richtung, in die es also<br />
gehen muss, liegt für Georg Lun klar auf<br />
22 Unternehmen Junge <strong>Energie</strong><br />
der Hand: „Wir müssen den kleinen und<br />
jungen Unternehmen ein Wachstum hin<br />
zu einer Betriebsstruktur ermöglichen,<br />
die auch in Abwesenheit des Inhabers<br />
weiter funktioniert. Denn nachhaltiges<br />
Wachstum bedeutet höhere Innovationsund<br />
Exportfähigkeit.“<br />
Zwei Punkte gehen also aus der<br />
Untersuchung des Wirtschaftsforschungsinstituts<br />
hervor: Die Unternehmensgründung<br />
in <strong>Süd</strong>tirol ist vital und<br />
wird von den öffentlichen Stellen gut<br />
unterstützt. Zugleich gibt es viele Betriebe,<br />
in denen ein Nachfolger gesucht<br />
wird. Ein Unternehmen zu gründen<br />
oder zu übernehmen bedeutet, die unternehmerische<br />
<strong>Energie</strong> des Landes zu erneuern.<br />
Felice Espro (*1972), Leiter des Wirt-<br />
schaftsressorts des „Corriere dell’Alto<br />
Adige“ (Lokalausgabe des „Corriere<br />
della Sera“) in Bozen.<br />
Übersetzung: Silvia Oberrauch<br />
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Dieter Dürand<br />
Fest für die<br />
Sinne<br />
Fotos — Ewo<br />
Frontfrau und Schattenmann – Flora Kröss ist das Gesicht von<br />
Ewo und machte das Unternehmen weltweit bekannt; ihr Gatte<br />
Ernst Wohlgemuth ist der technische Genius hinter dem<br />
Projekt Foto: Ivo Corrà<br />
23 Dieter Dürand<br />
Künstliche Beleuchtung kann Wohlbehagen<br />
und Aggressionen wecken, aktiv<br />
oder träge machen, Schönes hervorheben<br />
und Hässliches in gnädiges Licht<br />
tauchen. Mit der neuen LED-Technik<br />
geht das kreativer, vielseitiger und sparsamer<br />
denn je. Der Mittelständler Ewo<br />
hat es dabei zu besonderer Perfektion<br />
gebracht – seine Installationen sind von<br />
Kopenhagen bis Dubai gefragt.<br />
Es gibt Orte voller Magie – und andere, an denen niemand<br />
Außergewöhnliches vermutet. In diese Kategorie fällt das<br />
Gewerbegebiet an der Brennerautobahn von Bozen nach<br />
Verona, das sich zwischen Apfelbaumwiesen versteckt.<br />
Reisende, die an der Ausfahrt Neumarkt abbiegen, interessieren<br />
sich womöglich für die Weingüter rund um den<br />
nahe gelegenen Kalterer See. Wohl niemand jedoch würde
die Industriegebäude ansteuern, die zur Gemeinde Kurtatsch<br />
gehören und sich neben dem Fluss Etsch in den<br />
Schatten der Berge ducken.<br />
Dabei könnte ein Abstecher durchaus aufregend<br />
werden. Zumindest für jene, die Licht fasziniert und die<br />
gerne historischen Momenten beiwohnen. Denn in einem<br />
der mehrstöckigen Gebäudekomplexe residiert Ewo: ein<br />
Unternehmen, das ambitioniert wie kein zweites den<br />
Sprung ins digitale Zeitalter der Beleuchtung vorantreibt.<br />
Der Übergang ist so spektakulär wie gut 30 Jahre zuvor die<br />
Ablösung der Transistoren in Computern durch Halbleiter.<br />
Er katapultiert die Beleuchtungstechnik auf eine neue Leistungsstufe<br />
und eröffnet bisher undenkbare Gestaltungsmöglichkeiten<br />
mit Licht – vor allem im Außenbereich, auf<br />
den sich Ewo spezialisiert hat. Für die Installationen der<br />
<strong>Süd</strong>tiroler begeistern sich Kunden in aller Welt: im arabischen<br />
Dubai ebenso wie im dänischen Kopenhagen oder<br />
im australischen Melbourne.<br />
Jene, die sich also schon mal ins Kurtatscher<br />
Gewerbegebiet verirrt haben, könnten<br />
an dem Firmensitz mit der auffälligen Glasfront<br />
und den Wasserbecken lernen, wie die<br />
Seiteneinsteiger es schaffen, obgleich nicht<br />
einmal 20 Jahre im Geschäft, Traditionskonzerne<br />
wie die Siemens-Tochter Osram oder die<br />
niederländische Philips bei Ausschreibungen<br />
regelmäßig auszustechen. Zudem würden sie<br />
erfahren, warum gerade Mittelständler häufig<br />
so viel kreative Kraft entfalten. Und als wäre all<br />
dies nicht genug, begegneten sie einer äußerst<br />
bemerkenswerten Frau, die das Unternehmen<br />
mit eben so viel Fantasie wie Tatkraft und Geschick<br />
zu seiner heutigen Bedeutung aufgebaut<br />
hat – parallel zu ihrem Job als dreifache<br />
Mutter. Daneben findet sie noch die Zeit, sich<br />
als Win zerin zu betätigen.<br />
Licht ist Psychologie und Wahrnehmung<br />
Doch der Reihe nach. Im gleichen Jahr, als Flora Kröss und<br />
Ernst Wohlgemuth 1984 im 20 Kilometer nördlich von Bozen<br />
gelegenen Sarnthein loslegen, regiert in den USA Ronald<br />
Reagan und zahlen wir noch mit D-Mark und Lira. Die<br />
Eheleute führen einen Metallverarbeitungsbetrieb, und<br />
bald bedrängen Architekten Wohlgemuth, die Beleuchtung<br />
für die Türen und Gitter mitzuentwerfen. Für seine Frau<br />
Flora ist es das Signal, einer inneren Berufung nachzugeben.<br />
„Ich war die treibende Kraft“, erinnert sie sich. Licht!<br />
Das ist für sie „Psychologie und Wahrnehmung“. Kröss<br />
fasziniert die Möglichkeit, Schönes mit der rechten Beleuchtung<br />
noch grandioser erscheinen zu lassen, Hässliches<br />
hingegen in gnädiges Licht zu tauchen. Sie beobachtet,<br />
wie Licht Wohlbehagen auslösen oder Aggressionen<br />
wecken kann, Menschen aktiver oder träger werden lässt.<br />
„Kein zweites Element ist in der Lage, unsere Stimmung<br />
ähnlich stark zu beeinflussen“, sagt sie.<br />
Mit ihrem Mann war sie sich einig: Wenn wir in das<br />
Geschäft einstiegen, dann richtig. Dann wollten sie nicht<br />
24 Unternehmen Fest für die Sinne<br />
nur Hauseingänge und Gartenwege illuminieren. Nein, dann<br />
wollten sie Straßen, Plätzen, am liebsten ganzen Ortschaften<br />
zu neuem Glanz verhelfen – mit formschönen Leuchten<br />
und perfektem Licht. Dazu wollten sie, die Neulinge, die<br />
beste Beleuchtungstechnik entwickeln und besser, kreativer,<br />
innovativer sein als die etablierte Konkurrenz. „Mit<br />
Nachäffen hätten wir keine Chance gehabt“, betont Kröss.<br />
Ihr Mann machte sich mit den neuesten Technologien<br />
vertraut: Lampentypen, Elektronik, Materialien, entwarf<br />
die ersten Produkte. Die Aufträge wurden rasch so<br />
zahlreich, dass Flora Kröss, die gelernte Bankkauffrau, entschied:<br />
Wir brauchen einen einprägsamen Markennamen.<br />
Sie gründeten 1996 Ewo. Sie wechselten aus dem Sarntal<br />
an den jetzigen Standort. Fortan galt ihre ganze Leidenschaft<br />
dem Licht.<br />
Individueller Glanz – in Kaltern betonen schief stehende Laternen<br />
den verwinkelten Charakter des Weinorts<br />
Als Erstes entwickelten sie raffinierte Lichtlenksysteme.<br />
Es genügt nämlich nicht, einen Platz, eine Straße<br />
oder ein Gebäude irgendwie zu erhellen. Die Kunst besteht<br />
vielmehr darin, das Licht mithilfe von Reflektoren exakt<br />
dorthin fallen zu lassen, wo es benötigt wird. Die hohe<br />
Lichtausbeute ermöglicht es, Lampen mit niedriger Wattzahl<br />
einzusetzen und den <strong>Energie</strong>verbrauch klein zu halten.<br />
Die Reflektoren sitzen entweder im Gehäuse, oder die<br />
Lampen strahlen spezielle Spiegelfelder an, die das Licht<br />
be sonders großräumig und punktgenau verteilen. Die<br />
Grenze von hell zu dunkel wirkt wie mit dem Lineal gezogen.<br />
Der Effekt: Straßenlaternen beleuchten wirklich nur<br />
Fußwege und Straßen und nicht die Schlafzimmer angrenzender<br />
Wohnhäuser.<br />
Schiefe Laternen und eine künstliche Sonne<br />
Um sich von der Konkurrenz abzuheben, setzen Kröss und<br />
Wohlgemuth neben Spitzentechnik auf Individualität. Die<br />
Kunden sagen, was sie wollen – Ewo entwickelt passende<br />
Lösungen: hochwertige, langlebige, originelle und dennoch
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Solide Handarbeit statt Massenproduktion – der Mittelständler<br />
konnte seinen Umsatz zuletzt um 30 Prozent steigern<br />
wirtschaftliche. „Diese Ideenvielfalt ist unsere eigentliche<br />
Stärke“, glaubt Flora Kröss. Für den <strong>Süd</strong>tiroler Weinort<br />
Kaltern bauten die Lichtspezialisten schiefe Straßenlaternen,<br />
die den verwinkelten Charakter des Ortskerns betonen.<br />
Für ein Einkaufszentrum im österreichischen Graz<br />
integrierten sie die Beleuchtung der Parkplätze in die gläsernen<br />
Aufzugtürme zu den Geschäften. Und auch das<br />
norwegische Finanzunternehmen Storebrand bekam ein<br />
Unikat: Die <strong>Süd</strong>tiroler realisierten für das Atrium am Osloer<br />
Firmensitz eine Art künstliche Sonne, die die Beschäftigten<br />
während der düsteren Wintermonate in fröhliche<br />
Stimmung versetzen soll.<br />
Maßgeschneiderte Toptechnik – mit dieser Kombination<br />
schlagen Kröss und Wohlgemuth ein ums andere Mal<br />
die Konkurrenz aus dem Feld. Bei einer Ausschreibung des<br />
Münchner Flughafens setzten sie sich gegen mehr als 100<br />
Mitbewerber durch. „Der kleine Italiener hat es wieder einmal<br />
geschafft“, freut sich Kröss über den Coup und strahlt<br />
übers ganze Gesicht. Ewo bot als einziges Unternehmen<br />
Lichtmasten an, die die Parkplätze für die Flugzeuge in<br />
zwei Richtungen ausleuchten. Der Flughafen braucht so<br />
weniger Fluter anzuschaffen und der Installationsaufwand<br />
reduziert sich. Bei Stückpreisen von bis zu 200.000 Euro<br />
sinken die Kosten merklich, zumal der <strong>Süd</strong>tiroler Mittelständler<br />
seine Systeme ausschließlich mit Licht emittierenden<br />
Dioden ausrüstet, kurz LED genannt. Die Technik läutet<br />
eine neue Ära ein: Licht lässt sich damit fast beliebig<br />
va riieren und integrieren, ob in Fassaden, Tapeten, Möbel<br />
oder in neuartige Lampentypen. Das eröffnet Architekten<br />
und De signern eine Fülle zusätzlicher Gestaltungsoptionen.<br />
Und wichtiger noch: Erstmals seit der Mensch mit<br />
dem Feuer Licht in die Dunkelheit brachte, ist er mit den<br />
Leuchtdioden in der Lage, sein Leben auf ziemlich nachhaltige<br />
Weise zu erhellen.<br />
25 Dieter Dürand<br />
Wie groß der Fortschritt ist, wird im Rückblick klar:<br />
Kerzen, Öllampen und Fackeln erzeugten vor allem eines<br />
– Wärme. Das Licht war ein Nebenprodukt, das flackerte,<br />
wie es wollte. In seinem Schein zu arbeiten, ist mühsam<br />
und es strengt die Augen an. Die Glühbirne, die Thomas<br />
Edison 1880 patentieren ließ, spendet zwar konstantes und<br />
helles Licht. Doch der Strom, der ihren Wolfram-Faden<br />
zum Glühen bringt, setzt zu 95 Prozent gleichfalls vor allem<br />
Wärme frei. Und der Faden ist nach wenigen hundert Betriebsstunden<br />
durchgebrannt. Heutige <strong>Energie</strong>sparlampen,<br />
die ein Gemisch aus Edelgasen zünden, halten zwar deutlich<br />
länger und produzieren die gleiche Menge Lichtstrom<br />
mit rund einem Fünftel weniger <strong>Energie</strong>. Doch auch das<br />
verblasst gegen die Eigenschaften der Leuchtdioden. Ihre<br />
Halbleiter-Kristalle, die bei Stromdurchfluss aufleuchten,<br />
spenden einige tausend Stunden Helligkeit. Und sie wandeln<br />
fast die Hälfte der zugeführten <strong>Energie</strong> in Licht um.<br />
Der Effekt: Eine 3-Watt-LED ersetzt eine 11-Watt-<strong>Energie</strong>sparlampe<br />
oder eine 60-Watt-Glühbirne. Überdies geben<br />
die Leuchtdioden Farben am naturgetreuesten wieder, ihre<br />
Lichtanteile und Farbtöne können variiert werden, sie sind<br />
nach dem Einschalten sofort hell, können gedimmt werden<br />
und sind winzig wie der Fingernagel eines Neugeborenen.<br />
Bodenständigkeit und Weltläufigkeit,<br />
gepaart mit dem Mut, ständig Neues<br />
zu wagen – diese Pole haben Ewo groß<br />
gemacht.<br />
Auf dem neuesten Stand der Technik – mit seinen elektronischen<br />
Steuergeräten konkurriert Ewo gegen den Multi Philips<br />
Siegeszug der leuchtenden Halbleiter<br />
In Displays, Fernsehgeräten und Autoscheinwerfern haben<br />
die leuchtenden Halbleiter ihren Siegeszug schon angetreten.<br />
Ernst Wohlgemuth und seine Frau Flora erschließen<br />
ihr Potenzial für die Außenbeleuchtung. Vor sechs Jahren<br />
begannen sie mit dieser Lichtquelle zu experimentieren;<br />
seit vier Jahren haben sie alle Produkte darauf umgestellt.<br />
Heute sind sie Vorreiter in der grünen Lichttechnologie.
„Den Großen eine gute Nasenlänge voraus“, sagt Wohlgemuth<br />
selbstbewusst. Zum Beispiel mit ihrer zertifizierten<br />
Leuchteneinheit, bestehend aus drei Linsenoptiken für die<br />
Lichtlenkung, dem Gehäuse und der LED-Platine. Sie ist<br />
der Grundbaustein, aus dem die <strong>Süd</strong>tiroler Lichtschöpfer<br />
ihre Systeme flexibel der jeweiligen Aufgabe anpassen. Sie<br />
können die Platine mit drei oder sechs Leuchtdioden bestücken<br />
und zwischen vier Optiken wählen. Die Standardisierung<br />
erhöht die Zuverlässigkeit der Lampen und senkt zugleich<br />
deren Herstellungskosten. Dank des modularen Aufbaus<br />
können die Ewo-Techniker Leuchten in fast jeder beliebigen<br />
Größe konstruieren – vom Straßenpoller bis zum<br />
Hochlichtmast. Defekte Teile lassen sich leicht austauschen<br />
und die langlebigen Systeme können immer auf dem<br />
neuesten Stand der Technik gehalten werden.<br />
Seit Kurzem baut Ewo auch die elektronischen Steuergeräte<br />
für die Leuchten selbst – das Kernstück jedes<br />
Lichtsystems. Vorher hatten die <strong>Süd</strong>tiroler diese sogenannten<br />
Driver von Philips bezogen. Die Steuergeräte können so<br />
programmiert werden, dass sie die Lichtstärke abhängig<br />
von der natürlichen Helligkeit regulieren. Ewos Entwicklung<br />
kann besonders hohe Spannungen schalten, was die<br />
Lichtausbeute bei sinkendem Stromverbrauch laut Wohlgemuth<br />
nochmals um rund 10 Prozent erhöht. Seine<br />
Leuchten sind wahre Sparwunder: In manchen Projekten<br />
erreichen die Kurtatscher Stromeinsparungen von 60 Prozent<br />
und mehr gegenüber der Ausgangssituation. Heute<br />
wird weltweit noch jede fünfte Kilowattstunde für die Beleuchtung<br />
verbraucht. Der flächendeckende LED-Einsatz<br />
würde allein in Deutschland zwei Großkraftwerke überflüssig<br />
machen; innerhalb der EU würde die Stromrechnung<br />
laut einer Studie der Unternehmensberatung McKinsey um<br />
nahezu 15 Milliarden Euro im Jahr sinken. Um die Spartechnik<br />
voranzubringen, verkaufen Wohlgemuth und Kröss<br />
ihre Innovationen über die Tochtergesellschaft cor light<br />
auch an die Konkurrenz.<br />
26<br />
Unternehmen Fest für die Sinne<br />
Die Welt ist die Bühne<br />
Die Kunst guter Beleuchtung<br />
– das Licht soll einen<br />
Platz nicht einfach irgendwie<br />
erhellen, sondern genau<br />
dorthin fallen, wo es<br />
benötigt wird<br />
Den Driver haben die beiden Lichtpioniere mit dem Bozner<br />
Elektronikspezialisten Alpitronic entwickelt. Die Kooperation<br />
ist ein Beispiel dafür, wie ernst sie das Nachhaltigkeitsmotto<br />
„Think global, act local“ nehmen. Zum Lokalen gehört,<br />
dass sie ihre Montagehalle direkt neben die Fabrik der<br />
Lodola GmbH gesetzt haben. Verbunden über einen Tunnel,<br />
schicken sie Masten und Gehäuse zum Beschichten an<br />
das Partnerunternehmen. „Auf diese Weise bleibt ein großer<br />
Teil der Wertschöpfung in der Region“, sagt Flora<br />
Kröss. Beim Verkaufen ist die Welt ihre Bühne. Dann geht<br />
Arabische Morgenröte – für die Festival City von Dubai kreierte<br />
Ewo mit dem US-Designstudio Visual Terrain Masten mit eigenwilliger<br />
Formensprache
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das Ehepaar mit führenden Lichtgestaltern in Klausur, um<br />
ungewöhnliche und herausragende Lösungen zu erarbeiten.<br />
Die Ergebnisse machen oft genug Schlagzeilen. So<br />
war es, als die <strong>Süd</strong>tiroler für den Retortenstadtteil Festival<br />
City von Dubai am Persischen Golf mit dem amerikanischen<br />
Licht-Designstudio Visual Terrain aus Los Angeles<br />
Masten mit einer eigenwilligen Formensprache entwickelten:<br />
Die Straßenlaternen sind wie eine Helix gestaltet, halten<br />
gleich vier Lampengehäuse und verleihen dem Stadtteil<br />
mit ihrem markanten Stil einen unverwechselbaren Charakter.<br />
Ähnlich viel Aufsehen weckte das Lichtsystem, das Ewo<br />
mit dem dänischen Architekturbüro 3XN und dem britischen<br />
Lichtkünstler Steven Scott für die Weltklimakonferenz<br />
2009 in Kopenhagen entwarf: Integrierte Solarzellen<br />
erzeugen einen Teil der benötigten <strong>Energie</strong> selbst.<br />
Bodenständigkeit und Weltläufigkeit, gepaart mit<br />
dem Mut zu Neuem – diese Pole haben Ewo groß gemacht.<br />
Weil sie die Fäden in der Hand halten, können Kröss und<br />
ihr Mann wendiger als Großunternehmen auf neue Entwicklungen<br />
reagieren. Und die Zukunft sieht rosig aus.<br />
Nach McKinsey-Schätzungen wächst der weltweite LED-<br />
Markt bis 2020 auf 64 Milliarden Euro – gegenüber 9 Milliarden<br />
Euro 2011. Am meisten von dem Boom profitieren<br />
werden nach Meinung der Berater von A. T. Kearney Unternehmen,<br />
die drei Erfolgsfaktoren erfüllen: gutes Design,<br />
hohes Innovationstempo und Technologieführerschaft.<br />
Klingt nach Ewo. Tatsächlich konnten die Kurtatscher 2012<br />
das erfolgreichste Jahr ihrer Unternehmensgeschichte feiern:<br />
Der Umsatz stieg um 30 Prozent und knackte erstmals<br />
die 10-Millionen-Euro-Marke. Statt einst 2 beschäftigt der<br />
Mittelständler heute mehr als 50 Menschen.<br />
27<br />
Erfüllung eines Lebenstraumes<br />
Doch Kröss will nicht um jeden Preis wachsen. Solide Finanzen<br />
sind ihr wichtiger. Statt eine Produktion in industriellem<br />
Maßstab aufzuziehen, setzt sie lieber auf handwerklich<br />
hochwertige Einzelanfertigungen. Als Kind träumte<br />
Kröss davon, Ärztin zu werden. Mit Ewo hat sie sich einen<br />
anderen Lebenstraum erfüllt. Sich als Frau in diesem technisch<br />
geprägten Metier durchgesetzt zu haben, darauf ist<br />
sie stolz. Und auch wenn Tochter Verena und Sohn Hannes<br />
in den nächsten Jahren in die Führungsrolle schlüpfen sollen:<br />
Noch hat die Fast-Mittfünfzigerin große Pläne. Ob historische<br />
Gebäude, Straßen, Plätze, Häfen, Flugplätze, Stadien,<br />
U-Bahnen oder Tunnel – überall wittert sie Chancen,<br />
diese mit der passenden Beleuchtung zu einem Fest der<br />
Sinne zu machen. Eine dieser Herausforderungen, die sie<br />
reizen, wäre es, Mekka, wo die höchsten islamischen Heiligtümer<br />
stehen, mit Leuchten aus <strong>Süd</strong>tirol zu erhellen. Um<br />
bei der Ausschreibung berücksichtigt zu werden, hat sie<br />
sich sogar mit der Niqab verhüllt. Anders wäre sie nach<br />
Saudi-Arabien nicht hineingekommen. Doch schon allein,<br />
dass die Scheiche eine Frau als Verhandlungspartner akzeptierten,<br />
war ein Triumph. Flora Kröss hat ihren Kopf wieder<br />
einmal durchgesetzt. So zeigt sich am Ende: Auch unscheinbare<br />
Orte können magische Geheimnisse bergen.<br />
Dieter Dürand Simone Treibenreif<br />
Simone Treibenreif<br />
Habitat für<br />
innovative<br />
Technologien<br />
Als Einzelexemplar in einer kargen Landschaft<br />
zu bestehen, ist für Tiere und<br />
Pflanzen schwer – ebenso wie für Unternehmen:<br />
Ein innovatives und kreatives<br />
Umfeld kann die eigene Entwicklung vorantreiben<br />
und Neues hervorbringen. Dass<br />
<strong>Süd</strong>tirol gerade auch für technologiegetriebene<br />
Unternehmen ein geeignetes<br />
Habitat bietet, zeigt ein Blick ins Land.<br />
Audi hat „Vorsprung durch Technik“<br />
mit Spoilern und Heckflügeln aus<br />
<strong>Süd</strong>tirol, Roboter aus <strong>Süd</strong>tirol bereiten<br />
rund um den Erdball Chemotherapeutika<br />
zu und Steuerungssysteme für die adaptive<br />
Optik von Teleskopen der US-Raumfahrtbehörde<br />
NASA stammen aus <strong>Süd</strong> tirol<br />
– die Unternehmen, die das Know-how für<br />
diese hoch entwickelten Produkte haben,<br />
sind der Automobil zulieferer Autotest<br />
(Lana), der Medizintechnik-Experte Health<br />
Robotics und das Elektronikunternehmen<br />
Microgate (beide Bozen). Es sind nur drei<br />
Beispiele aus einer Vielzahl von <strong>Süd</strong>tiroler<br />
Hightech-Firmen, deren Erzeugnisse international<br />
sehr gefragt sind. 24 solcher<br />
Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen<br />
haben sich zum Exzellenznetzwerk<br />
Leaders zusammengeschlossen, um den<br />
Wissensaustausch untereinander zu fördern<br />
und Synergien zu erzeugen. Was die<br />
Leaders-Mitglieder eint? Sie sehen sich<br />
als Unternehmen der Zukunft, die vorausschauend<br />
handeln, innovativer sind als<br />
von ihren Kunden erwartet, global erfolgreich<br />
sowie revolutionär sind und sich
Das Know-how in den Bereichen grüne <strong>Energie</strong><br />
und <strong>Energie</strong>effizienz, das sich in den vergangenen<br />
Jahren in <strong>Süd</strong>tirol entwickelt hat, lockt auch innovative<br />
Unternehmen von außerhalb an.<br />
nachhaltig für die Gesellschaft engagie-<br />
ren. Andere Unternehmen und interes-<br />
sierte Private auf ihr Innovationspotenzial<br />
aufmerksam gemacht und Kooperationsmöglichkeiten<br />
ausgelotet haben auch jene<br />
100 <strong>Süd</strong>tiroler Firmen, die das erste Innovationsfestival<br />
im Land mitgestaltet haben.<br />
Das dreitägige Festival unter dem<br />
Motto „Neue <strong>Energie</strong>n“ fand im September<br />
2012 in und um Bozen statt: An 14<br />
Standorten ging es in 50 Veranstaltungen<br />
um Forschung, neue Technologien und<br />
Wirtschaftsethik; 25.000 Besucher wurden<br />
gezählt.<br />
Mehrere Forschungseinrichtungen<br />
Das Know-how in den Bereichen grüne<br />
<strong>Energie</strong> und <strong>Energie</strong>effizienz, das sich in<br />
den vergangenen Jahren in <strong>Süd</strong>tirol entwickelt<br />
hat, lockt auch innovative Unternehmen<br />
von außerhalb an. So wird der<br />
international tätige <strong>Energie</strong>riese Enel<br />
Green Power in Bozen ein Forschungszentrum<br />
errichten. In diesem sollen neue<br />
Technologien zur Nutzung erneuerbarer<br />
<strong>Energie</strong>n getestet und zur Serienreife<br />
gebracht werden – in engem Kontakt zu<br />
heimischen Forschungseinrichtungen<br />
und Unternehmen.<br />
Es gibt in <strong>Süd</strong>tirol mehrere Forschungseinrichtungen,<br />
die die Innovationskraft<br />
der ansässigen Unternehmen<br />
unterstützen und ergänzen: Zu nennen<br />
sind das Fraunhofer Innovation Engineering<br />
Center (IEC), eines von weltweit insgesamt<br />
60 Instituten der Fraunhofer-<br />
Gesellschaft, der größten Einrichtung für<br />
angewandte Forschung in Europa; weiters<br />
die Europäische Akademie Bozen<br />
(Eurac), die besonders für den Sektor<br />
<strong>Energie</strong> ein potenzieller Partner für Unternehmen<br />
ist; aber natürlich auch die<br />
Freie Universität Bozen, die Netzwerkinstitution<br />
TIS innovation park, das landund<br />
forstwirtschaftliche Versuchszentrum<br />
Laimburg sowie der Schadstoffspezialist<br />
Eco-Research. TIS, Fraunhofer,<br />
Eurac, Universität Bozen, das Institut für<br />
innovative Technologien (arbeitet am<br />
<strong>Süd</strong>tiroler Wasserstoffprojekt) und die<br />
KlimaHaus-Agentur (ist im Bereich nachhaltiges<br />
Bauen tätig) sollen demnächst<br />
in einem in Bozen geplanten Technologiepark<br />
näher zusammenrücken. Auch<br />
private Unternehmen haben die Möglichkeit,<br />
dort ihre F&E-Einrichtungen unterzubringen.<br />
Die Landesregierung hat die<br />
Umsetzung des Parks auf einer Fläche<br />
von 12 Hektar beschlossen. Erste Büros<br />
und Labors werden voraussichtlich ab<br />
Herbst 2015 bezogen.<br />
Schwerpunkt der Einrichtung wird<br />
der Sektor Green, dazu gehören <strong>Energie</strong>,<br />
Lebensmittel und nachhaltige Technologien.<br />
Passend zum Schwerpunkt ist das<br />
energetische Konzept des Technologieparks,<br />
nämlich nachhaltige Architektur.<br />
Die historischen Gebäude des Komplexes,<br />
in dem der Park untergebracht wird,<br />
werden so saniert, dass sie gute <strong>Energie</strong>sparwerte<br />
erzielen können. Das neue Gebäude<br />
hingegen ist als Net Zero Energy<br />
Building (NZEB) konzipiert, was bedeutet,<br />
dass es im Grunde das konsumiert,<br />
was es auch produziert.<br />
Das gemeinsam von Eurac, Provinz<br />
Bozen, dem Bozner Architekturbüro Claudio<br />
Lucchin und internationalen Partnern<br />
initiierte Projekt erhielt durch das 7. europäische<br />
Forschungsrahmenprogramm<br />
eine EU-Förderung von 1,2 Millionen Euro<br />
und wurde als eines der besten vier Projekte<br />
auf EU-Ebene bewertet.<br />
Innovative und junge Köpfe<br />
Dass den <strong>Süd</strong>tirolern die Ideen und das<br />
Interesse für Forschung und Innovation<br />
nicht ausgehen, stellt auch der Nachwuchs<br />
immer wieder unter Beweis. So<br />
durften im Januar 2013 Valentin Kager,<br />
Patrik Rosanelli, David Gamberoni und<br />
Alessandro Mich – die Gruppe setzt sich<br />
aus einem Entwickler, zwei Unternehmern<br />
sowie einem Studenten zusammen,<br />
alle im Alter von 26 bzw. 27 Jahren – ihr<br />
Projekt Eco-Farming in Rom der Regierung<br />
und potenziellen Investoren aus der<br />
Wirtschaft vorstellen. Eco-Farming ba-<br />
28 Unternehmen Habitat für innovative Technologien<br />
siert auf einer neuen Technologie, durch<br />
die Garnelen auf biologische Weise unter<br />
Verwendung von Mikroorganismen und<br />
ohne Zusatz von Medikamenten und<br />
Chemikalien gezüchtet werden können.<br />
Diese neue Technologie wurde mithilfe<br />
der Erfahrungen von Garnelenexperten in<br />
Italien, Mexiko, den Niederlanden und<br />
Belgien entwickelt.<br />
Die Möglichkeit der Präsentation<br />
in Rom sicherten sich die jungen <strong>Süd</strong>tiroler<br />
bei „ItaliaCamp“, einem gesamtstaatlichen<br />
Wettbewerb für Forscher, Entwickler<br />
und Tüftler, bei dem ihr Projekt unter<br />
700 eingereichten Ideen ausgewählt<br />
wurde.<br />
Auch Unternehmen von außerhalb<br />
werden in das Innovationsnetzwerk <strong>Süd</strong>tirol<br />
eingebunden, das bestätigt zum Beispiel<br />
Aldo Longana, Geschäftsführer des<br />
EDV-Entwicklers AceIT srl in Bozen, eines<br />
Spin-offs eines Unternehmens aus<br />
der Lombardei. „Dank der Networking-<br />
Fähigkeiten des TIS hatten wir innerhalb<br />
kürzester Zeit nach der Unternehmensgründung<br />
bereits Kontakte mit mehreren<br />
<strong>Süd</strong>tiroler Firmen, die in unseren Kompetenzen<br />
Entwicklungspotenzial für ihre<br />
eigene Tätigkeit gesehen haben“, so Longana.<br />
Es sind dies nur einige Momentaufnahmen<br />
des Innovations-Ökosystems in<br />
<strong>Süd</strong>tirol, doch sie zeigen auf, wie aktiv es<br />
sich weiterentwickelt und welche Chance<br />
es bietet.<br />
Simone Treibenreif (*1977), seit 2010<br />
Redakteurin der „<strong>Süd</strong>tiroler Wirtschafts-<br />
zeitung“.<br />
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29<br />
Ulrike Sauer<br />
Italien: <strong>Energie</strong>riese<br />
ohne Regie<br />
Infografik — Simone Vollenweider<br />
Autor
Arbeiter des Unternehmens Soleto Città del Sole auf einem<br />
12 Hektar großen Fotovoltaikfeld in der süditalienischen Provinz<br />
Lecce<br />
In 60 Metern Höhe schwebt die 340.000 Tonnen schwere<br />
Stahlbrücke über dem Mittelmeer. Sie überspannt die<br />
Straße von Messina zwischen Sizilien und der Stiefelspitze<br />
auf 3,3 Kilometern Länge – allerdings nur im Werbefilm.<br />
Das gigantische Prestigeprojekt von Silvio Berlusconi,<br />
Phantom vieler Wahlkämpfe, ist endgültig begraben. Dafür<br />
wird ein anderer Brückenschlag Realität. Das weltweit<br />
längste verlegte Unterseekabel zum Transport von Wechselstrom<br />
bindet künftig das Wind- und Sonnenkraft-Dorado<br />
Sizilien ans Festland an. 700 Millionen Euro investiert<br />
der römische Netzbetreiber Terna gerade in die „Brücke der<br />
<strong>Energie</strong>“, die modernste elektrische Infrastruktur Italiens.<br />
Die neue Stromtrasse auf dem Meeresgrund ist nur<br />
ein kleiner Teil der Modernisierungsvorhaben von Terna.<br />
Mit insgesamt sieben Milliarden Euro soll Italiens Netz<br />
hochgerüstet werden. Viele Projekte befinden sich in der<br />
Planung – zum Beispiel der Bau von zwei Hochspannungsleitungen<br />
auf Sizilien. Keine Frage: Der Ökostromboom hat<br />
Italien unter Zugzwang gesetzt. Denn der rapide ansteigende<br />
Beitrag des grünen Stroms sorgt für Probleme, etwa<br />
in der Weiterleitung. Italien steht in den kommenden Jahren<br />
vor enormen Veränderungen, prophezeit darum die<br />
Aufsichtsbehörde für <strong>Energie</strong> in Rom. „Bislang war die<br />
stürmische und unplanmäßige Entwicklung der erneuerbaren<br />
<strong>Energie</strong>n der wesentliche Driver des Strommarktes“,<br />
konstatieren die Aufseher. Nun stößt das unkoordinierte<br />
Wachstum an seine Grenzen.<br />
Denn auf eine nationale <strong>Energie</strong>strategie wartet man<br />
in Italien wie bei Samuel Beckett auf Godot. Ein längst in<br />
Vergessenheit geratener Industrieminister legte vor einem<br />
Vierteljahrhundert die Grundsätze der <strong>Energie</strong>politik fest.<br />
Qualitätskontrolle in einer Barilla-Fabrik. Nudelkönig Guido Barilla:<br />
„Die exorbitanten <strong>Energie</strong>preise sind unser größtes Handycap.“<br />
Das war 1988. Seither drückt sich Rom vor der Planung.<br />
Zwar versprach jede italienische Regierung in der Vergangenheit,<br />
die Säumnis schleunigst zu beenden. Doch nichts<br />
geschah.<br />
30 Unternehmen Italien: <strong>Energie</strong>riese ohne Regie<br />
Für seine notorische Zukunftsvergessenheit bezahlt<br />
Italien einen hohen Preis – auch in der <strong>Energie</strong>versorgung.<br />
Das rohstoffarme Mittelmeerland ist extrem abhängig vom<br />
Import: 84 Prozent des <strong>Energie</strong>bedarfs werden durch Einfuhren<br />
aus dem Ausland gedeckt. Der EU-Durchschnitt<br />
liegt bei 53 Prozent. So kostet eine Megawattstunde Strom<br />
in Italien 41 Prozent mehr als in Deutschland. „Die exorbitanten<br />
<strong>Energie</strong>preise sind unser größtes Handicap“, sagt<br />
Nudelkönig Guido Barilla. Die Klage des Weltmarktführers<br />
aus Parma teilen viele Unternehmer auf dem Apennin. Inzwischen<br />
ist der Leidensdruck so hoch, dass sich die Politik<br />
dem Handlungsbedarf nicht mehr entziehen kann. Boxt<br />
nicht ein Aufschwung das Land aus zwei Jahrzehnten Stagnation<br />
und Rezession, gibt es für Italien kein Entrinnen<br />
aus der Schuldenkrise. Godot ante portas also?<br />
Ambitionierter Plan<br />
Die Notregierung von Wirtschaftsprofessor Mario Monti<br />
unternahm im Herbst 2012 einen Anlauf, dem vergeblichen<br />
Warten ein Ende zu bereiten. Industrieminister Corrado<br />
Passera legte im Oktober eine Nationale <strong>Energie</strong>strategie<br />
(SEN) vor. Erklärtes Ziel: Bis 2020 soll sich Italien von den<br />
überhöhten Stromtarifen befreien. Die Verbraucher zahlen<br />
im Schnitt 25 Prozent mehr für <strong>Energie</strong> als ihre europäi-
schen Nachbarn. Die Rechnung für <strong>Energie</strong>importe<br />
soll um 14 Milliarden Euro im<br />
Jahr fallen.<br />
Erreichen wollte die Regierung<br />
Monti die Nivellierung der Stromkosten<br />
mit Liberalisierungen, der Steigerung<br />
der <strong>Energie</strong>effizienz, der Erhöhung der<br />
Erdöl- und Gasförderung im eigenen<br />
Land und dem weiteren Ausbau des<br />
Ökostroms. Man nahm sich vor, den Anteil<br />
der regenerativen <strong>Energie</strong>n am Bruttoendkonsum<br />
bis 2020 auf 20 Prozent<br />
zu verdoppeln. In der Stromerzeugung<br />
sollen grüne <strong>Energie</strong>quellen mit 38 Prozent<br />
den wichtigsten Beitrag leisten. So<br />
ließe sich die Emission von Treibhausgasen<br />
bis 2020 um 19 Prozent senken. Die<br />
Umsetzung des <strong>Energie</strong>konzepts soll<br />
Investitionen von mindestens 180 Milliarden<br />
Euro anschieben. Fatih Birol, Chef<br />
der Internationalen <strong>Energie</strong>agentur<br />
(IEA), lobte: „Der Plan ist ambitioniert<br />
und geht über die europäischen Klimaziele<br />
hinaus. Seine Erfüllung hängt von<br />
der Durchsetzung adäquater Governance-Strukturen<br />
und von angemessenen<br />
Fördermaßnahmen ab, vor allem im<br />
Gebäudesektor.“ Birols Fazit: Der Plan<br />
sei ehrgeizig, aber realisierbar.<br />
Monti und Passera priesen ihre<br />
<strong>Energie</strong>strategie als ein Schlüsselprojekt<br />
zur Modernisierung des krisengebeutelten<br />
Landes. Nachhaltiges Wachstum sei<br />
nur über eine grundlegende Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit<br />
des italienischen Wirtschaftssystems zu<br />
erreichen. „Die <strong>Energie</strong>branche ist sicher einer der entscheidenden<br />
Wachstumsfaktoren“, hieß es in dem Strategieplan<br />
der Regierung, dem ersten nach 25 Jahren. Man wollte ihn<br />
Anfang 2013 verabschieden und als „bindendes Vermächtnis“<br />
hinterlassen. Doch als Monti die Mehrheit im Parlament<br />
verlor, weil Silvio Berlusconi ihm die Gefolgschaft aufkündigte,<br />
trat er kurz vor Weihnachten zurück. So blieb die<br />
<strong>Energie</strong>strategie auf der Strecke. Wieder einmal.<br />
In Deutschland zog die schwarz-gelbe Koalition da<br />
gerade eine Zwischenbilanz ihrer <strong>Energie</strong>wende. Zwei Tage<br />
vor dem Abtritt Montis legten die federführenden Minister<br />
in Berlin den ersten Regierungsbericht zu ihrer wichtigsten<br />
innenpolitischen Herausforderung vor. Anderthalb Jahre<br />
nach dem Doppelbeschluss über den Atomausstieg und<br />
den Abschied von fossilen <strong>Energie</strong>trägern stellten sie sich<br />
beste Noten aus – das Urteil hochrangiger Experten fiel<br />
weniger schmeichelhaft aus. Doch die Kluft in der <strong>Energie</strong>politik<br />
beider Länder manifestierte sich anschaulich: Im<br />
<strong>Nord</strong>en sind die Planer und Organisatoren am Zug – im<br />
<strong>Süd</strong>en die Improvisation. In Italien gibt es keine öffentliche<br />
<strong>Energie</strong>debatte, dafür ein ständiges Stop-and-Go, große<br />
Unsicherheit und viele Hürden. Doch siehe da: Der Umbau<br />
der Stromversorgung ist trotzdem in vollem Gange –<br />
31 Ulrike Sauer<br />
typisch Italien. Und die Chancen auf eine effizientere Gestaltung<br />
des <strong>Energie</strong>wandels stehen jetzt besser denn je.<br />
Die EU-Richtlinien für den Klimaschutz verlangen<br />
von Italien, dass bis 2020 erneuerbare <strong>Energie</strong>n 17 Prozent<br />
des gesamten <strong>Energie</strong>verbrauchs decken. Beim Strom<br />
steigt dieser Anteil auf 26 Prozent. Diese Ziele erfüllt das<br />
Land bereits heute. Im Wettlauf um saubere <strong>Energie</strong>n stieß<br />
das spät gestartete Italien ins Spitzenfeld vor, auf Platz<br />
zwei hinter Deutschland. Dank der großzügigsten Fördersätze<br />
Europas kam der Ausbau der Erneuerbaren 2007<br />
kräftig in Schwung.<br />
Besonders rasant entwickelte sich die Fotovoltaikbranche.<br />
2011 etwa schnellte die Solarstromproduktion von<br />
weniger als 2.000 Gigawattstunden auf 10.700 Gigawattstunden<br />
(GWh) hoch. Das war ein Plus von 463 Prozent. Es<br />
brachte den Sonnenfängern erstmals einen Vorsprung vor<br />
der Windkraft.<br />
Die Erneuerbaren kommen insgesamt gut voran.<br />
Zwischen 2008 und 2011 stieg die Produktion von grünem<br />
Strom um 45 Prozent auf 84.000 GWh. Sonne, Wind und<br />
Biomasse liegen mit jeweils mehr als 10.000 GWh in etwa<br />
gleichauf. Noch ist der Anteil der traditionell stark genutz-<br />
Biogasanlage zur Stromherstellung in der Nähe der norditalienischen<br />
Stadt Treviso<br />
ten Wasserkraft viermal so hoch. Nach Angaben der Behörde<br />
für die Förderung grüner <strong>Energie</strong>n GSE in Rom<br />
deckten die Erneuerbaren 2011 bereits 24 Prozent des<br />
Stromverbrauchs. So wird die Branche auch in Italien zunehmend<br />
zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor. Anfang<br />
2012 beschäftigten 100.289 Unternehmen in der<br />
Ökostrombranche 369.231 Mitarbeiter, meldet die italienische<br />
Handwerkskammer Confartigianato. Man rechnet<br />
weiterhin mit einem enormen Wachstumspotenzial. Allein<br />
im Bereich der Gebäudesanierung und -effizienz erwartet<br />
die italienische Ingenieurkammer 2020 die Beschäftigung<br />
von 600.000 Menschen.<br />
Erfolg trotz Mangel an Regie<br />
Vorreiter waren schon vor 20 Jahren am Werk. In Varese<br />
Ligure zum Beispiel. In diesem abgelegenen Winkel Liguriens<br />
begann die <strong>Energie</strong>wende in den 1990er-Jahren. Lokalpolitiker<br />
entschieden sich für eine kombinierte Nutzung
„Alle Möglichkeiten nutzen“. Michela Marcone, Bürgermeisterin<br />
von Varese Ligure. Die <strong>Energie</strong>wende im Apenninendorf begann<br />
schon in den 1990er-Jahren<br />
von Wind, Wasser und Sonne. So wurde Varese Ligure<br />
zur Avantgarde im Kampf gegen den Klimawandel. „Wir<br />
glaubten hier, dass es fahrlässig wäre, nicht alle Möglichkeiten<br />
zu nutzen“, sagt die Bürgermeisterin Michela Marcone.<br />
Varese Ligure produziert seither ein Vielfaches der<br />
<strong>Energie</strong>, die es verbraucht. 2004 zeichnete die EU-<strong>Energie</strong>kommissarin<br />
Loyola de Palaciodas das mittelalterliche<br />
Apenninendorf mit dem Preis „100 Prozent erneuerbar“<br />
in der Kategorie ländliche Gemeinden für sein <strong>Energie</strong>konzept<br />
aus. Heute überrascht Italien mit der breiten Streuung<br />
der 500.000 Anlagen zur alternativen Stromerzeugung,<br />
die in über 95 Prozent der italienischen Gemeinden<br />
betrieben werden.<br />
Der Erfolg der erneuerbaren <strong>Energie</strong>n überdeckt<br />
den Mangel an Regie. Planlosigkeit prägt die Entwicklung<br />
in Italien. Koordination und Kooperation finden kaum statt.<br />
Das macht sich sehr nachteilig bemerkbar in den Bereichen<br />
<strong>Energie</strong>effizienz, Netzausbau und Speicherung – den<br />
großen Herausforderungen der Zukunft. Unentwegt klagt<br />
die Ökostrombranche über bürokratische Hürden, die mit<br />
starken Verzögerungen beim Anschluss neuer Anlagen<br />
den Markt hemmen und hohe Zusatzkosten erzeugen.<br />
Hinzu kommen unklare Rahmenbedingungen. So wurden<br />
die nationalen Leitlinien für die erneuerbaren <strong>Energie</strong>n nur<br />
lückenhaft von den Regionen übernommen. Allein Apulien,<br />
Umbrien und die Provinz Bozen haben sich bislang ein<br />
vollständiges Regelsystem für alle grünen <strong>Energie</strong>quellen<br />
zugelegt. „Der Status der rechtlichen Unsicherheit und<br />
Unvollkommenheit charakterisiert bis heute die Branche“,<br />
bemängelte eine Studie des italienischen Umweltschutzbundes<br />
Legambiente im vergangenen Herbst. Das mache<br />
Investitionen in Italien teurer und ungewisser als anderswo.<br />
Es fehle an einer Zukunftsperspektive.<br />
32<br />
Unternehmen Italien: <strong>Energie</strong>riese ohne Regie<br />
„100 Prozent erneuerbar“. Maurizio Caranza, ehemaliger und mittlerweile<br />
verstorbener Bürgermeister von Varese Ligure, hat das<br />
<strong>Energie</strong>konzept in die Wege geleitet<br />
Die Aussichten auf einen Paradigmenwechsel haben<br />
sich nun aber verbessert. Bei den Wahlen im Februar hat<br />
Italien nach zwei Jahrzehnten den Berlusconismus überwunden.<br />
Der verbissene Lagerkampf zwischen dem milliardenschweren<br />
Medienmagnaten und seinen Widersachern<br />
hatte die Sachpolitik nach 1994 ins Abseits gedrängt. Mit<br />
Berlusconi an der Macht verabschiedete sich Europas drittgrößte<br />
Volkswirtschaft komplett aus der Industriepolitik.<br />
Heute scheinen die dominierenden Kräfte im neuen Italien<br />
die Zeichen der Zeit erkannt zu haben. Und so sieht es danach<br />
aus, als könnte auch in der <strong>Energie</strong>politik eine Wende<br />
eintreten.<br />
Italien ist für alle Firmen interessant, die<br />
effiziente Technologien für Produktion<br />
und Serviceleistungen zu bieten haben.<br />
Die Lage ist paradox: In den 1990er-Jahren privatisierte<br />
Rom den Staatsmonopolisten Enel und trieb die Liberalisierung<br />
des Strommarktes voran. Der Produktionsanteil<br />
von Enel fiel 2011 auf 30 Prozent bei einer Pluralität<br />
großer und kleiner Anbieter. „Der Preis an der italienischen<br />
Strombörse spiegelt den gestiegenen Wettbewerb aber<br />
nicht vollständig wider“, kritisiert die römische Regulierungsbehörde<br />
für <strong>Energie</strong> und Gas. Enel-Aufsichtsratschef<br />
Paolo Colombo entschuldigt das überhöhte Preisniveau mit<br />
strukturellen Nachteilen. „Italien hängt von fossilen Importen<br />
ab. Es setzt keinen Atomstrom ein, vergleichsweise<br />
wenig Kohle und dafür mehr teures Gas.“ Gegenwärtig
sieht der italienische <strong>Energie</strong>-Mix in der Stromerzeugung<br />
so aus: Kohle ist 2011 auf 14,6 Prozent gestiegen, die Erneuerbaren<br />
auf 36,7 Prozent, Gas fiel auf 40 Prozent, Erdöl auf<br />
1,2 Prozent. 1,8 Prozent des Stroms stammen aus importierter<br />
Atomkraft.<br />
Preistreibend wirkt auch die geringe Auslastung der<br />
italienischen Elektrizitätswerke. Durch die Inbetriebnahme<br />
neuer Gas- und die Umstellung der Erdöl-Kraftwerke auf<br />
Kohle stieg die Kapazität im vergangenen Jahrzehnt nach<br />
Angaben des Netzbetreibers Terna auf 78.000 Megawatt.<br />
Hinzu kommen in Spitzenzeiten 45.000 Megawatt aus<br />
erneuerbaren Quellen. Das ist sehr viel für ein Land mit<br />
einem täglichen Spitzenkonsum von 56.822 MWh. Dennoch<br />
befinden sich sechs neue Kraftwerke im Bau, und es<br />
laufen 38 Genehmigungsverfahren.<br />
33<br />
Alte und neue Regierungen<br />
Die Wahlen im Februar haben zwar keine klaren Mehrheitsverhältnisse<br />
geschaffen. Doch erstmals dominieren im<br />
Parlament jene Kräfte, die sich für die <strong>Energie</strong>wende starkmachen.<br />
Beppe Grillo setzt sich mit seiner jungen Fünf-<br />
Sterne-Bewegung für einen radikalen Umbau der Stromversorgung<br />
und für die Green Economy ein. Und auch die<br />
sozialdemokratische PD hat sich den Erneuerbaren verschrieben<br />
– und das nicht erst gestern.<br />
PD-Chef Pier Luigi Bersani ist der Vater<br />
des Überraschungserfolgs grüner <strong>Energie</strong><br />
in Italien. Als Industrieminister der Prodi-<br />
Regierung löste er 2007 mit einem Gesetz<br />
zur Einspeisevergütung für Ökostrom<br />
Italiens Solarboom aus. Die Subventionierung<br />
sei eine „weitsichtige Entscheidung“<br />
zur Unterstützung unternehmerischer<br />
Initiativen und zur Schaffung von Arbeitsplätzen<br />
gewesen, sagte Bersani gegenüber<br />
dem Fachblatt „Le Scienze“. Leider<br />
hätten es die nachfolgenden Rechtsregierungen<br />
Berlusconis versäumt, die Förderung<br />
der Entwicklung anzupassen.<br />
Im Wahlkampf bekannte sich der<br />
Sozialdemokrat zu einer„integralen ökologischen<br />
Industriepolitik“. <strong>Energie</strong>effizienz<br />
und die Diversifikation der <strong>Energie</strong>versorgung durch Förderung<br />
aller erneuerbaren <strong>Energie</strong>n seien Hauptachsen der<br />
PD-Politik. Um italienische Technologien international<br />
wettbewerbsfähig zu machen, versprach er, der vernachlässigten<br />
Spitzenforschung zu helfen.<br />
Bersani ist für die deutsche Ökostrombranche ein<br />
alter Bekannter. Vor sechs Jahren verwandelte der Sohn<br />
eines Tankstellenpächters die wolkenarme Mittelmeerhalbinsel<br />
über Nacht in ein Mekka der Fotovoltaikbranche.<br />
Deutsche Solarunternehmen stürzten sich begeistert in<br />
den Markt. Die großzügigen Subventionen befeuerten damals<br />
eine „unglaubliche Entwicklung“, bilanziert Roberto<br />
Pera von der Beratungsgesellschaft Rödl & Partner in Rom.<br />
Die überhöhten Fördersätze lockten viele Investoren an.<br />
Renditen von 12 bis 15 Prozent gab es schließlich sonst<br />
Ulrike Sauer<br />
nirgends, sagt Pera. Alle großen deutschen Hersteller<br />
drängten damals ins neue Dorado der grünen <strong>Energie</strong>. Wenige<br />
Schritte vom Petersdom entfernt installierte Solar-<br />
World sogar auf dem Dach der päpstlichen Audienzhalle<br />
2.000 Module. Die Goldgräberstimmung hielt bis 2011 an.<br />
Dann kam das böse Erwachen.<br />
An der Macht in Rom saß Berlusconi, der 2009 eine<br />
Wiederbelebung der Atomindustrie angeordnet hatte, aus<br />
der sich die Italiener 22 Jahre zuvor per Volksentscheid<br />
verabschiedet hatten. Für erneuerbare <strong>Energie</strong>n hatte er<br />
nichts übrig. Den Treibhauseffekt erklärte seine Regierung<br />
zur reinen Erfindung. So begann in Italien eine sehr konfuse<br />
Zeit. Der eigentliche Grund für das Ende des Marktes<br />
sei weniger die drastische Kürzung der Einspeisevergütung<br />
gewesen, sagt Berater Pera. Vielmehr habe die Ungewissheit<br />
den deutschen Rückzug ausgelöst. Als Montis Technokraten-Kabinett<br />
im vergangenen Sommer erneut die<br />
Fördersätze für Sonnenfänger beschnitt, waren die Investoren<br />
längst weg. Zudem deckelte Rom die Subventionierung<br />
nun auf 6,7 Milliarden Euro. Im vergangenen Dezember<br />
hatten die Förderanträge das Volumen bereits ausgeschöpft.<br />
Für Fabio Tognetti, Experte für erneuerbare <strong>Energie</strong>n<br />
bei Legambiente, heißt das: „Von jetzt an muss die<br />
Fotovoltaik auf eigenen Füßen stehen – ohne Förderung.“<br />
Die Rentabilitätsgrenze sei bei größeren Anlagen in <strong>Süd</strong>italien<br />
in Einzelfällen<br />
bereits<br />
erreicht. Die<br />
Fachwelt ist<br />
sich einig: In<br />
Italien ist die<br />
gridparity – die<br />
wirtschaftliche<br />
Konkurrenzfähigkeit<br />
von<br />
Solarstrom<br />
– zum Greifen<br />
nahe.<br />
Unternehmensberater<br />
Pera rechnet<br />
noch 2013<br />
mit dem Erreichen<br />
des Ziels. „Damit wandelt sich der Markt endlich von<br />
einem finanziellen in einen wirtschaftlich-industriellen“,<br />
sagt der Anwalt. Das wird grundlegende Veränderungen<br />
bringen. Wachstumspotenzial ergibt sich für Pera künftig<br />
daraus, dass sich der Direktverkauf von Strom an Dritte<br />
heute noch nicht rechnet, weil der Transport zu teuer ist.<br />
Um Sonnenenergie aus Sizilien an Fiat in Turin zu verkaufen,<br />
muss der Erzeuger übers Stromnetz gehen – und das<br />
rentiert sich nicht. „Dieses Szenario wird sich in den kommenden<br />
Jahren ändern“, erwartet Pera. Er rechnet schon<br />
bis 2015 mit der Einführung finanzieller Anreize für die<br />
Direktvermarktung, wie man sie aus Deutschland mit dem<br />
Marktprämiensystem kennt. „Lokale Erzeuger werden sich<br />
zusammenschließen, um ihren Strom gemeinsam an Großhändler<br />
zu verkaufen“, sagt er.
Prozentanteil der erneuerbaren <strong>Energie</strong>n am Gesamtenergieverbrauch 2012 und 2020*<br />
Italien<br />
2012 • 8,2%<br />
Italien<br />
2020 • 14,3%<br />
60<br />
55<br />
50<br />
45<br />
40<br />
35<br />
30<br />
25<br />
20<br />
15<br />
10<br />
5<br />
0<br />
%<br />
20<br />
Piemont<br />
2012 • 11,1%<br />
2020 • 15,1%<br />
FR<br />
1 2<br />
Aosta<br />
2012 • 51,8%<br />
2020 • 52,1%<br />
Wasserkraftleistung pro Jahr in Italien<br />
Bioenergieleistung pro Jahr in Italien<br />
Windenergieleistung pro Jahr in Italien<br />
Fotovoltaikleistung pro Jahr in Italien<br />
19<br />
Ligurien<br />
2012 • 6,8%<br />
2020 • 14,1%<br />
18<br />
Toskana<br />
2012 • 9,6%<br />
2020 •16,5%<br />
17<br />
Umbrien<br />
2012 • 8,7%<br />
2020 • 13,7%<br />
16<br />
Latium<br />
2012 • 6,5%<br />
2020 • 11,9%<br />
14<br />
Kampanien<br />
2012 • 8,3%<br />
2020 • 16,7%<br />
AF<br />
CH<br />
Lombardei<br />
2012 • 7%<br />
2020 • 11,3%<br />
Sardinien<br />
2012 • 8,4%<br />
2020 • 17,8%<br />
Sizilien<br />
2012 • 7%<br />
2020 • 15,9%<br />
34 Rubrik Titel<br />
1<br />
20<br />
19<br />
15<br />
2<br />
15<br />
13<br />
6<br />
18<br />
Alle Angaben in Megawatt (MW)<br />
2.018,6<br />
2.351,5<br />
2.825,3<br />
4.897,9<br />
5.814,3<br />
6.936,1<br />
3<br />
5<br />
17<br />
16<br />
1.144<br />
3.469,9<br />
12.773,4<br />
AT<br />
4<br />
7<br />
SI<br />
HR<br />
8<br />
13<br />
3<br />
Trentino-<br />
<strong>Süd</strong>tirol<br />
Provinz Bozen<br />
2012 • 33,8%<br />
2020 • 36,5%<br />
Trentino-<br />
<strong>Süd</strong>tirol<br />
Provinz Trient<br />
2012 • 30,9%<br />
2020 • 35,5%<br />
4<br />
Friaul Julisch<br />
Venetien<br />
2012 • 7,6%<br />
2020 • 12,7%<br />
5<br />
Venetien<br />
2012 • 5,6%<br />
2020 • 10,3%<br />
0 5.000 10.000 15.000 20.000<br />
9<br />
14<br />
11<br />
BA<br />
10<br />
17.721,5<br />
17.876,2<br />
18.092,3<br />
12<br />
6<br />
Emilia<br />
Romagna<br />
2012 • 4,2%<br />
2020 • 8,9%<br />
7<br />
Marken<br />
2012 • 6,7%<br />
2020 • 15,4%<br />
Abruzzen<br />
2012 • 10,1%<br />
2020 • 19,1%<br />
10<br />
Apulien<br />
2012 • 6,7%<br />
2020 • 14,2%<br />
11<br />
8<br />
9<br />
Molise<br />
2012 • 18,7%<br />
2020 • 35%<br />
Basilikata<br />
2012 • 16,1%<br />
2020 • 33,1%<br />
12<br />
Kalabrien<br />
2012 • 14,7%<br />
2020 • 27,1%<br />
ME<br />
2009<br />
2010<br />
2011<br />
* Die Daten beziehen sich auf erneuerbare <strong>Energie</strong>n am Gesamtenergieverbrauch für Strom, Wärme und Kälte, die auch in<br />
Italien produziert werden. Der Bereich Transport (Biotreibstoff, Biogas und Biomethan) sowie die Importe aus dem Ausland<br />
konnten auf regionaler Ebene nicht erfasst werden. Quellen: GSE / Gazzetta Ufficiale della Repubblica italiana
5.000<br />
0<br />
5.000<br />
0<br />
5.000<br />
0<br />
800<br />
0<br />
800<br />
0<br />
800<br />
0<br />
2.000<br />
0<br />
2.000<br />
0<br />
2.000<br />
0<br />
2.500<br />
0<br />
2.500<br />
0<br />
2.500<br />
0<br />
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20<br />
AOS<br />
0,8 0,9<br />
0,9<br />
882,1<br />
901,5<br />
899,5<br />
0<br />
13,9 0<br />
4,7 0<br />
1<br />
Aosta<br />
35<br />
LOM<br />
4.987,8 5.015,9<br />
4.951,2<br />
655,4<br />
525,1<br />
460,5<br />
0<br />
0<br />
0<br />
1.321,6<br />
372<br />
126,3<br />
Lombardei<br />
Alle Angaben in Megawatt (MW)<br />
TRE<br />
SÜD<br />
3.183,9<br />
3.138,3<br />
3.112,5<br />
70,6<br />
47,5<br />
26,6<br />
3,1<br />
3,1<br />
3<br />
299,8<br />
169,8<br />
63,7<br />
FRI<br />
Trentino/<strong>Süd</strong>tirol<br />
494,8<br />
491,1<br />
473,6<br />
76,3<br />
23,3<br />
18,9<br />
0<br />
0<br />
0<br />
295,8<br />
92,9<br />
29,1<br />
Friaul Julisch<br />
Venetien<br />
VEN<br />
1.113,8<br />
1.105,9<br />
1.100,2<br />
209,7<br />
142,3<br />
121,9<br />
1,4<br />
1,4<br />
1,4<br />
1.157,4<br />
329,7<br />
78,3<br />
Venetien<br />
EMI<br />
307,7<br />
289,9<br />
296,5<br />
477,5<br />
423,2<br />
370,8<br />
18,1<br />
17,9<br />
16,3<br />
1.267<br />
364<br />
95<br />
Emilia<br />
Romagna<br />
MAR<br />
Wasserkraftleistung nach Regionen und Jahr<br />
238,5<br />
236,2<br />
232,7<br />
0,7<br />
0<br />
0<br />
786,6<br />
184,3<br />
62<br />
Marken<br />
ABR<br />
1.002,4<br />
1.002,6<br />
1.001,9<br />
220,4<br />
218,4<br />
190,4<br />
451,5<br />
67,2<br />
25,3<br />
Abruzzen<br />
MOL<br />
86,2<br />
86,3<br />
48,3<br />
367,2<br />
367,2<br />
237<br />
117<br />
15,9<br />
8,5<br />
Molise<br />
APU BAS<br />
1,6<br />
0,6<br />
0<br />
215 683,4 2.186,2 1.151,8<br />
1.287,6<br />
1.393,5<br />
183<br />
220,6<br />
228,6<br />
Apulien<br />
132,2<br />
132,1<br />
129,3<br />
29,2 49,7 221,9 227,5<br />
279,9<br />
301,9<br />
32<br />
32,2<br />
32,7<br />
Basilikata<br />
Autor<br />
KAL<br />
738,1<br />
728,6<br />
722,1<br />
29,1 58,7 237,2 443,3<br />
671,5<br />
783,9<br />
119,9<br />
121,9<br />
130,6<br />
Kalabrien<br />
SIZ<br />
151,3<br />
151,3<br />
152,2<br />
45,4 155,9 865,7 1.147,9<br />
1.435,6 1.680,9<br />
25,4<br />
42,2<br />
53,9<br />
Sizilien<br />
KAM<br />
Bioenergieleistung nach Regionen und Jahr<br />
24<br />
18,4<br />
16,8<br />
10,3<br />
6,4<br />
6,2<br />
42,2<br />
40,7<br />
40,7<br />
Windenergieleistung nach Regionen und Jahr<br />
Fotovoltaikleistung nach Regionen und Jahr<br />
346,4<br />
344,7<br />
343,7<br />
31,7 84,4 376 797,5<br />
803,3<br />
1.067,1<br />
202,7<br />
214,8<br />
210,3<br />
Kampanien<br />
SAR<br />
468,3<br />
466,2<br />
466,2<br />
41,4 101,6 403,2 606,2<br />
638,9<br />
962,2<br />
71,5<br />
74,3<br />
77,6<br />
Sardinien<br />
LAT<br />
401,3<br />
400<br />
399,9<br />
85,1 244,3 861,3 9<br />
9<br />
51<br />
83,8<br />
128<br />
16,2<br />
Latium<br />
UMB<br />
511,3<br />
510,4<br />
510<br />
33,9 73,3 318,6 1,5<br />
1,5<br />
1,5<br />
27,7<br />
27,7<br />
10,3<br />
Umbrien<br />
TOS<br />
343,1<br />
337,1<br />
332,4<br />
54,8 137,4 468,5 36,1<br />
45,4<br />
45,6<br />
118,9<br />
125,3<br />
134,2<br />
Toskana<br />
LIG<br />
84,3<br />
77,2<br />
74,8<br />
7,8 14,9 53,6 16,6<br />
19<br />
23,1<br />
16,8<br />
17<br />
19,6<br />
Ligurien<br />
PIE<br />
2.571,6<br />
2.479,4<br />
2.455,8<br />
81,3 265,9 1.070,5 12,5<br />
14,4<br />
14,4<br />
74,5<br />
119,9<br />
175,4<br />
Piemont<br />
2011<br />
2010<br />
2009<br />
2011<br />
2010<br />
2009<br />
2011<br />
2010<br />
2009<br />
2011<br />
2010<br />
2009
Durch eine Förderung der Grossisten werde die Kostendeckung<br />
in der Übertragung sichergestellt. Zuversichtlich ist<br />
Pera auch, dass die Regierung den Wettbewerb zwischen<br />
den Grossisten und mächtigen Oligopolisten wie Enel, Eon<br />
oder Acea beflügeln wird. So werde sich auf neuer Basis die<br />
schwungvolle Entwicklung erneuerbarer <strong>Energie</strong>n fortsetzen.<br />
„Die Zukunft ist vorgezeichnet“, sagt er.<br />
36<br />
Vier Haupttrends<br />
Auch wenn ein konkretes Szenario schwer vorhersehbar<br />
bleibt, sind doch vier Haupttrends erkennbar:<br />
1. Die Förderung wird sich weg von Solaranlagen und<br />
weg von großen Windparks hin zu einer dezentralen Produktion<br />
bewegen.<br />
2. Neu ist die Förderung von E-Wärme. Umweltminister<br />
Corrado Clini stellte im November ein System finanzieller<br />
Anreize für Investitionen von Privathaushalten und<br />
Kleinunternehmen in der Wärmeerzeugung mit erneuerbaren<br />
Ressourcen vor. Gefördert werden Heizungen, Wärmepumpen<br />
und Heizöfen mit maximal 500 Kilowatt Kapazität.<br />
Das Programm deckt im Schnitt 40 Prozent der Kosten.<br />
Ein weiteres Novum: Der Staat greift den klammen Gemeinden<br />
unter die Arme, um Effizienzsteigerungen im<br />
öffentlichen Sektor voranzutreiben. Auf lokaler Ebene besteht<br />
wegen der Ausgabensperre und rigiden Sparauflagen<br />
ein gewaltiger Nachholbedarf. Den Kommunen, denen das<br />
Bezahlen ihrer <strong>Energie</strong>rechnungen zunehmend schwerfällt,<br />
waren durch den Investitionsstopp oft die Hände gebunden.<br />
Die Regierung stellte knapp 900 Millionen Euro im<br />
Jahr zur Verfügung.<br />
3. Der Ausbau der Stromnetze wird auch in Italien<br />
zum großen Zukunftsthema. Neue Stromtrassen sind erforderlich,<br />
um den Ökostrom aus den Windparks und Solarfeldern<br />
des <strong>Süd</strong>ens in die Industrieregionen des <strong>Nord</strong>ens zu<br />
Unternehmen Italien: <strong>Energie</strong>riese ohne Regie<br />
<strong>Energie</strong> aus Abfällen. Im Innenbereich<br />
einer Müllverbrennungsanlage in der<br />
Nähe von Bergamo<br />
transportieren. An sonnigen, windigen<br />
Feiertagen decken die Erneuerbaren<br />
auf Sizilien fast den<br />
Bedarf. 2012 erzielte die Fotovoltaik<br />
im Monat August mit 2240<br />
GWh einen neuen Rekord. Das<br />
entsprach 9 Prozent des erzeugten<br />
Stroms in Italien, stellt Stefan<br />
Prosch vom Beratungsunternehmen<br />
enyvo/greenvision in Brixen<br />
fest. Der Erfolg ist jedoch zunehmend<br />
ein Problem. Er führt zur<br />
Überlastung der Stromleitungen<br />
und zu Zwangsabschaltungen.<br />
Im Strategieplan 2012–<br />
2021 kündigte der Netzbetreiber<br />
Terna Investitionen von 7 Milliarden<br />
Euro in die Modernisierung<br />
des Netzes an. Umgesetzt werden derzeit Projekte mit einem<br />
Volumen von 2,9 Milliarden Euro, die Terna in die Errichtung<br />
neuer Verbundsysteme und Hochspannungsleitungen<br />
sowie in die Rationalisierung der Stromnetze in den<br />
Ballungsräumen steckt.<br />
Beim überfälligen Netzausbau wird es auf die Verbindung<br />
von Produktions-, Netz- und Kommunikationstechnologien<br />
ankommen. Intelligente Stromnetze – sogenannte<br />
smart grids – werden eine große Rolle spielen. Es<br />
steht eine kommunikative Vernetzung und Steuerung von<br />
Erzeugern, Speichern, Betreibern und Verbrauchern an. Der<br />
Trend zur dezentralen Erzeugung und der zügige Ausbau<br />
des Ökostroms setzen Italien stark unter Druck. „In<br />
Deutschland existiert ein großes Know-how auf diesem<br />
Gebiet“, sagt Petra Seppi, Leiterin der Geschäftsanbahnung<br />
bei der Business Location <strong>Süd</strong>tirol (<strong>BLS</strong>) in Bozen.<br />
4. Last but not least hat Italien in der <strong>Energie</strong>einsparung<br />
viel vor sich – sowohl durch Effizienzsteigerungen<br />
im Gebäudebereich als auch in der Industrieproduktion.<br />
Alle wirtschaftlichen Analysen zeigen, dass dies der einfachste<br />
und billigste Weg zur <strong>Energie</strong>wende ist. Die europäischen<br />
Klimaziele schreiben dem Land bis 2020 eine<br />
Verbesserung der <strong>Energie</strong>effizienz um 20 Prozent vor. Jedes<br />
EU-Land muss eine eigene Roadmap ausarbeiten. „Italiens<br />
Politik weist nicht klar in diese Richtung“, monierte<br />
Legambiente im November in einem Positionspapier zur<br />
<strong>Energie</strong>strategie Montis. Ein 2011 aufgelegtes Programm,<br />
das durch steuerlich geförderte Gebäudesanierungen eine<br />
Senkung des <strong>Energie</strong>verbrauchs von Immobilien anstößt,<br />
läuft am 30. Juni aus.<br />
Doch auch auf diesem Markt tut sich einiges. Die<br />
Messegesellschaft in Verona lädt die Anbieter von Effizienztechnologien<br />
im Oktober erstmals zum Branchentreff<br />
Smart Energy Expo ein. „Ziel der Expo ist die Gründung<br />
eines Netzes, das alle wesentlichen Akteure zur Schaffung
von Innovation und Wertschöpfung einbezieht“, sagt<br />
Messe-Chef Ettore Riello. Verona will eine Plattform für<br />
Aussteller aus ganz Europa schaffen, die Stromspartechniken<br />
für Anwendungen in der Industrie, im Transportwesen,<br />
in der Landwirtschaft, im öffentlichen Dienst und in Privathaushalten<br />
anbieten.<br />
Biogasanlage in Italien. Die Biomassevergasung wird zur Stromund<br />
Wärmegewinnung sowie zur Herstellung von Synthesegas für<br />
die Produktion von Chemikalien und Kraftstoffen verwendet<br />
37<br />
Der <strong>Energie</strong>markt ist reif<br />
Für <strong>BLS</strong>-Mitarbeiterin Seppi liegt die Attraktivität Italiens<br />
als Investitionsstandort jenseits jeglicher Förderprogramme.<br />
„Die Chancen liegen im Markt selbst. Italien hat die höchsten<br />
<strong>Energie</strong>preise Europas“, argumentiert sie. Das bedeute:<br />
Es muss investiert werden. In allen Bereichen. In die Produktion.<br />
In effizientere Technologien. In alles, was hilft zu<br />
sparen. „Das wird vom Markt verlangt – sowohl seitens<br />
der Hersteller als auch seitens der Verbraucher“, sagt Seppi.<br />
Beobachtungen der Forschungsgruppe Energy &<br />
Strategy an der Polytechnischen Hochschule in Mailand<br />
untermauern diese Einschätzung. Die Wissenschaftler sehen<br />
in der <strong>Energie</strong>effizienz „ein grundlegendes Instrument“,<br />
das Problem der hohen <strong>Energie</strong>kosten und der daraus resultierenden<br />
erheblichen Wettbewerbsdefizite der italienischen<br />
Unternehmen auf den internationalen Märkten anzugehen<br />
und zu lösen. Die öffentliche Diskussion über die<br />
Erneuerbaren verdecke noch eine neue Strategie der Unternehmen.<br />
„Sie widmen der <strong>Energie</strong>effizienz als Geschäftschance<br />
wachsende Aufmerksamkeit“, konstatierte Forschungsdirektor<br />
Vittorio Chiesa im Energy Efficiency Report<br />
(November 2012).<br />
Das eröffnet neue Felder der Zusammenarbeit. „Italien<br />
ist für alle Firmen interessant, die effiziente Technologien<br />
für Produktion und Serviceleistungen zu bieten haben“,<br />
Ulrike Sauer<br />
meint Seppi. In Deutschland solle man sich aber darüber im<br />
Klaren sein, dass der italienische <strong>Energie</strong>markt trotz des<br />
Nachholbedarfs keine rückständige Veranstaltung ist. „Der<br />
Markt ist nicht satt, aber schon reif“, sagt Seppi. Gefragt<br />
Bahnbrechend. Das Unternehmen Archimede Solar Energy, im Bild<br />
CEO Federica Angelantoni, entwickelt mit Flüssigsalzen gefüllte<br />
Spezialrohre für Solarkraftwerke<br />
seien intelligente Spitzentechnologien und nicht irgendetwas.<br />
Wichtig sei oft ein spezieller Zusatznutzen, der in Partnerschaften<br />
eingebracht werden könne.<br />
In der Tat: Die Italiener haben nicht geschlafen. Man<br />
sieht das vielerorts. Zum Beispiel im umbrischen Massa<br />
Martana, wo das Familienunternehmen Angelantoni nicht<br />
nur den Eistresor für die Gletschermumie Ötzi herstellte.<br />
Der Tochterfirma Archimede Solar Energy gelang die bahnbrechende<br />
Entwicklung der mit Flüssigsalzen gefüllten<br />
Spezialrohre, die in Solarkraftwerken zum Einsatz kommen.<br />
Oder in Crescentino im Piemont, wo kürzlich nach fünf Jahren<br />
Forschungsarbeit eine revolutionäre Bioraffinerie in<br />
Betrieb ging. Sie gewinnt grünen Sprit nicht aus Lebensmitteln<br />
wie Mais oder Zuckerrohr, die als Tankfüllung<br />
schwer in Verruf geraten sind. Bei Mossi & Ghisolfi verwandelt<br />
man ausschließlich Abfälle vom Acker, Schilfrohr, Laub<br />
und Reisig in Benzin – eine Weltpremiere. Schon klopfen<br />
in Crescentino Techniker aus Japan, Korea, den USA, Brasilien,<br />
Russland und Malaysia an, um in Italien ein Stück<br />
<strong>Energie</strong>zukunft zu besichtigen.<br />
Ulrike Sauer (*1964), Wirtschaftskorrespondentin der „<strong>Süd</strong>deutschen<br />
Zeitung” in Rom.
Leoluca Orlando<br />
Gegenseitiges<br />
Verständnis<br />
wieder aufbauen<br />
Illustration — Ika Künzel<br />
Leoluca Orlando, 66, ist vor allem als Berlusconi-Widersacher<br />
und Mafia-Jäger <strong>Nummer</strong> eins bekannt geworden. Im<br />
Mai 2012 wurde der langjährige Mitte-links-Parlamentarier<br />
und Juraprofessor, der in Heidelberg studiert hat, zum vierten<br />
Mal Bürgermeister von Palermo. Orlando im Interview<br />
mit „<strong>Nord</strong> & <strong>Süd</strong>“ über Italiens Weg aus der Krise, das zuletzt<br />
belastete deutsch-italienische Verhältnis, darüber, wie<br />
beide Länder von einander profitieren können und über den<br />
grünen <strong>Energie</strong>boom in <strong>Süd</strong>italien.<br />
N & S (<strong>Nord</strong> & <strong>Süd</strong>) — Herr Orlando, Italien sucht verzweifelt<br />
einen Ausweg aus einer tiefen wirtschaftlichen, politischen<br />
und sozialen Krise. Kann 2013 zu einem Jahr des<br />
Neustarts werden?<br />
L O (Leoluca Orlando) — Die Parlamentswahlen im<br />
Februar haben ganz klar gezeigt, dass die Italiener<br />
eine Wirtschaftspolitik ohne Seele und ohne soziale<br />
Sensibilität nicht länger akzeptieren. Ob 2013 also<br />
einen Neubeginn bringen kann, hängt wesentlich von<br />
der Fähigkeit der politischen Klasse ab, zu einer ethischen<br />
Haltung zurückzufinden und zugleich konkrete<br />
Antworten zu geben, die nicht populistisch<br />
sind und keine Scheinlösungen darstellen.<br />
N & S — Wie stehen vor diesem Hintergrund die Chancen<br />
für eine starke deutsch-italienische Wirtschaftsachse?<br />
L O — Das ist nach dem Wahlausgang schwer zu<br />
sagen. Viele deutsche Politiker haben ja zu Recht mit<br />
großer Skepsis reagiert. Das Verhältnis Italiens zu<br />
Deutschland – und generell zu seinen internationalen<br />
Partnern – ist in den vergangenen Jahren stark gestört<br />
gewesen. Auf ihm lastete das eigennützige und<br />
unmoralische Verhalten Berlusconis.<br />
N & S — Die Regierung Monti hat doch alles unternommen,<br />
Italiens Glaubwürdigkeit wiederherzustellen.<br />
L O — Gewiss. Leider ist diese Rehabilitierung jedoch<br />
nicht mit der Rekonstruktion des Vertrauens der Italiener<br />
in Europa und in unsere ausländischen Partner<br />
einhergegangen. Italien aber kann eine Schlüsselrolle<br />
bei der Vertiefung und Erweiterung der internationalen<br />
Beziehungen spielen. Es kann eine Brückenfunktion<br />
einnehmen in den beiden M-Regionen: dem<br />
Mittelmeerraum und Mitteleuropa. Es existiert also<br />
nicht nur Raum, sondern es existiert der Bedarf für<br />
eine Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen<br />
<strong>Nord</strong> und <strong>Süd</strong>. Doch sie kann nur funktionieren,<br />
wenn sie auch kulturelle und soziale Beziehungen<br />
mit einschließt. Und wenn die Wirtschaftsachse auf<br />
der Herstellung von Waren und Dienstleistungen<br />
gründet. Denn der Mammon hat in vielen Gegenden<br />
des <strong>Süd</strong>ens das Antlitz der Mafia, der Korruption und<br />
der Steuerhinterziehung.<br />
N & S — Was muss sich im deutsch-italienischen Verhältnis<br />
ändern, um die Beziehung zu stärken? Was müssen<br />
beide Seiten dafür an gegenseitigen Vorurteilen über Bord<br />
werfen?<br />
L O — Wesentlich ist, dass Italiener und Deutsche<br />
das gegenseitige Vertrauen wieder aufbauen. Das<br />
geht nicht, ohne dieselbe Sprache zu sprechen und<br />
gemeinsame Grundwerte zu teilen. Deshalb sind<br />
direkte Beziehungen zwischen den Bürgern, deshalb<br />
sind Begegnungen und ein Kultur- und Wissensaus-<br />
38 Unternehmen Gegenseitiges Verständnis wieder aufbauen
tausch so wichtig. Neben dieser „positiven Ansteckung“<br />
ist es von grundlegender Bedeutung, Partnerschaften<br />
und wirtschaftliche Beziehungen aufzubauen.<br />
N & S — Wie kann das geschehen?<br />
L O — Voraussetzung für diesen Prozess der Wiederannäherung<br />
ist natürlich die Reetablierung fruchtbarer<br />
Regierungskontakte nach dem Ende einer burlesken<br />
Phase, die durch Berlusconis Verhalten, seine<br />
gigantischen Interessenkonflikte und seine Politik<br />
geprägt wurde. Die lokalen Regierungen in den Rathäusern<br />
können dabei dank ihrer engen Verbindung<br />
zu den Bürgern eine wichtige Rolle spielen.<br />
N & S — In welcher Weise könnten Deutschland und Italien<br />
voneinander profitieren?<br />
L O — Der EU-Kommissionspräsident Romano Prodi<br />
pflegte während seiner Amtszeit zu sagen: „Europa<br />
ist stark als Union vieler Minderheiten.“ Ich glaube,<br />
dieser Grundsatz muss in dem Miteinander von Bürgern<br />
und Mitgliedsländern wiederentdeckt und hervorgehoben<br />
werden. Italien ist heute darauf angewiesen,<br />
seine Beziehungen zu Deutschland, zu dessen<br />
Bürgern und zur deutschen Wirtschaft neu zu knüpfen<br />
und zu intensivieren.<br />
N & S — Und was erwarten Sie von den Deutschen?<br />
L O — Es ist offenkundig, dass die Deutschen sich<br />
nicht in dem Glauben wiegen dürfen, sie könnten in<br />
einer seligen Isolation leben. Die Alarmglocke der<br />
wirtschaftlichen und moralischen Krise Italiens läutet<br />
auch für sie. Die Ansteckungsgefahr besteht.<br />
Die Krise, die gestern nur Griechenland getroffen hat<br />
und heute in unterschiedlicher Form und in unterschiedlichem<br />
Ausmaß alle Länder Europas erfasst,<br />
wirkt sich selbstverständlich auch auf die Wirtschaft<br />
und auf die Bürger in Deutschland aus. Der Wiederaufbau<br />
gleichberechtigter Beziehungen ist daher<br />
nicht nur Sache der Politiker und Bürokraten, der<br />
Banken und Unternehmen. Er ist vielmehr eine Notwendigkeit<br />
der gesamten Nation.<br />
N & S — Welche Auswirkungen hat der Boom der erneuerbaren<br />
<strong>Energie</strong>n in <strong>Süd</strong>italien gehabt?<br />
L O — Leider hat die Wirtschaftspolitik der Regierung<br />
Monti in den vergangenen Monaten zu einem<br />
einschneidenden Rückgang der Investitionen in dieser<br />
strategisch wichtigen Branche geführt. Nach<br />
einigen Jahren des Booms durch die staatliche Förderung<br />
alternativer <strong>Energie</strong>quellen erleben wir nun<br />
einen Rückgang. Unternehmern und Bürgern fällt es<br />
schwer zu investieren, wenn die Banken ihrer Rolle<br />
bei der Finanzierung nicht gerecht werden.<br />
39 Leoluca Orlando<br />
N & S — Rechnen Sie mit einem weiteren Wachstum der<br />
Ökostrombranche in Sizilien?<br />
L O — Das ist eines der Felder, auf dem sich die<br />
Weitsicht und Zukunftsorientierung der neuen italienischen<br />
Regierung zeigen wird. Das Ergebnis der<br />
Wahlen im Februar hat die Chancen für die Bildung<br />
einer verantwortungsbewussten Regierung stark<br />
beeinträchtigt.
Gregor Sailer<br />
Wasser-Kraft<br />
Wasser ist Träger von <strong>Energie</strong>. Es treibt Mühlen und Turbinen an, welche die Bewe-<br />
gungsenergie zunächst in Rotationsenergie und schließlich mithilfe von Generatoren<br />
in Strom umwandeln. Wasserkraftwerke liefern weltweit den größten Anteil an Elektrizität<br />
aus erneuerbaren <strong>Energie</strong>n. In <strong>Süd</strong>tirol gibt es derzeit 960 Wasserkraftanlagen,<br />
allein längs des Flusses Eisack steht durchschnittlich alle acht Kilometer ein Produktionswerk.<br />
Zusammen produzieren sie fast doppelt so viel Elektrizität, wie von der Provinz<br />
gebraucht wird.<br />
Der Fotograf Gregor Sailer hat im Vinschgau im Westen des Landes dem <strong>Energie</strong>träger<br />
nachgespürt. Beim Wasserkraftwerk in Glurns sowie bei den Stauseen im Martelltal<br />
und am Reschenpass, dem vor über 60 Jahren ein ganzes Dorf weichen musste, hat er<br />
das Innenleben der Produktionsstätten samt Druckrohren und Zuleitungen sowie die<br />
unterschiedlichen Fließ- und Speicherformen des Wassers fotografisch festgehalten.<br />
D<br />
u<br />
r<br />
c<br />
h<br />
q<br />
u<br />
e<br />
r<br />
e<br />
n
41 Gregor Sailer
42 Unternehmen Wasser-Kraft<br />
D<br />
u<br />
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c<br />
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q<br />
u<br />
e<br />
r<br />
e<br />
n
43 Gregor Sailer
44 Unternehmen Wasser-Kraft
45 Gregor Sailer
Leben<br />
Urlauben: Kann man ökologisch korrekt Ferien machen?<br />
47 Biodynamisch: Die etwas anderen Weine des Alois<br />
Lageder 50 Ausgetrickst: Warum Deutschland im Fußball<br />
gegen Italien immer verliert 54 Nachgetrauert:<br />
Österreichs Muttergefühle für <strong>Süd</strong>tirol 55 Fokussiert:<br />
Was die energieautarke Gemeinde Prad dem Rest der<br />
Welt voraus hat 57 Kahl geschlagen: Warum es falsch<br />
ist, in der Krise die Mittel für die Kultur zu kürzen<br />
66 Weitergedacht: Methoden, Techniken und Ma terialien<br />
für eine nachhaltige <strong>Energie</strong>versorgung 68
Lenz Koppelstätter<br />
Die Möglichkeit<br />
einer Insel<br />
Illustration — Svenja Plaas<br />
<strong>Süd</strong>tirol, das idyllische Tourismusland. Aber was bietet<br />
die Region dem Ökotouristen? Ein Selbstversuch. Der<br />
Deal: Anreise, Übernachtung, Tagesprogramm. Möglichst<br />
umweltbewusst, biologisch und nachhaltig. Der Anspruch:<br />
Der Kurzurlaub soll nicht in Stress ausarten und gleichzeitig<br />
das ökologische Gewissen ruhig halten. Ist diese<br />
Balance möglich?<br />
Alles beginnt, wie bei einer zeitgemäßen Urlaubsplanung<br />
üblich, mit einer Google-Recherche: Gibt man die<br />
Begriffe „Öko“, „Nachhaltigkeit“, „Urlaub“ und „<strong>Süd</strong>tirol“<br />
in die Suchmaske ein, dann erscheinen rund 800.000 Treffer.<br />
Mit Urlaub in <strong>Süd</strong>tirol haben die meisten nichts zu tun,<br />
sie preisen Reisedestinationen irgendwo in der Welt an<br />
– mit so klingenden Begriffen wie „Naturhotel“, „Vitalhotel“,<br />
„Ferien mit Mehrwert“, „Urlaub für Allergiker“, „Tourismus<br />
2 .0“. Ökotourismus, das merkt man schnell, ist ein überreiztes<br />
George-Orwell-Wort. Laut Wikipedia ist Ökotourismus<br />
eine auf die Belange von Umwelt und ansässiger<br />
47 Lenz Koppelstätter<br />
Bevölkerung besonders Rücksicht nehmende Form des<br />
Tourismus. Aber seitdem mir einmal ein Zimmervermieter<br />
in Hongkong ein Sechsbettzimmer mit vergammelten Matratzen<br />
und einem kleinen Fenster zu einer stinkenden Geflügelfarm<br />
hinaus als Ökounterkunft andrehen wollte, bin<br />
ich da skeptisch.<br />
<strong>Süd</strong>tirol ökologisch bereisen heißt erst einmal, sich<br />
durch ein Potpourri im Netz kämpfen. Erst nach einer Weile<br />
stößt man auf Angebote wie die „Alpine Pearls“. Der gleichnamige<br />
Verein vergibt das Qualitätssiegel an <strong>Süd</strong>tiroler<br />
Gemeinden wie Ratschings, Villnöß, Tiers, Karneid-Steinegg,<br />
Moos in Passeier, Welschnofen oder Deutschnofen,<br />
die Ideen für einen nachhaltigen Tourismus entwickelt<br />
haben. Es ist ein Angebot, das vor allem einen möglichst<br />
autofreien Urlaub mit Shuttle-Service bietet. Ein weiteres<br />
Fundstück ist das Qualitätssiegel „Roter Hahn“. Es steht<br />
für Urlaub auf dem Bauernhof mit hauseigenen Produkten.<br />
Und dann trifft man beim Googeln noch auf Sand<br />
in Taufers im Pustertal. 2008 wurde das Dorf im Osten<br />
<strong>Süd</strong>tirols zur ersten Agenda-21-Gemeinde <strong>Süd</strong>tirols gekürt.<br />
Die Agenda wurde bei der UNO-Konferenz 1992 in Rio<br />
de Janeiro entwickelt und bietet einen Leitfaden für nachhaltige<br />
Entwicklung. Sand in Taufers möchte außerdem die<br />
erste CO 2 -neutrale Gemeinde <strong>Süd</strong>tirols werden. Es geht<br />
dabei darum, <strong>Energie</strong>einsparung durch Wasserkraft zu<br />
erlangen, KlimaHaus-Standards bei Gebäuden umzusetzen<br />
oder Fotovoltaik bei der Straßenbeleuchtung zu nutzen.<br />
<strong>Süd</strong>tirol ökologisch bereisen<br />
Anreise von Verona aus, eingepfercht in einem überfüllten<br />
Zugabteil. Ein Herr mit Skiern steht neben mir. Eine italienische<br />
Familie mit Kindern und Nonna. Sie tragen Weihnachtsmützen<br />
und wollen zum Christkindlmarkt. Reise in<br />
Richtung <strong>Nord</strong>en, Blick zum Fenster hinaus, auf den kilometerlangen<br />
Stau auf der Brennerautobahn. Über die Autobahn<br />
in die Berge, mit dem Sessellift über abgeholzte<br />
Hänge auf die Gipfel – sind „Öko“ und „Urlaub“<br />
und „<strong>Süd</strong>tirol“ nicht alles Widersprüche in<br />
sich? In Bozen leert sich das Abteil, endlich ein<br />
Sitzplatz, in Franzensfeste, einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt<br />
im Brennerverkehr, klappt das<br />
Umsteigen problemlos. Aber das ist es ja nicht,<br />
was mich die ganze Zeit gestresst hat. Es war die<br />
Unge wissheit, die Befürchtung, dass das Umsteigen<br />
nicht klappen könnte. Bei meiner Ankunft im<br />
Design hotel Feldmilla ist es schon längst dunkel.<br />
<strong>Süd</strong>tirol ökologisch bereisen heißt: langsam<br />
reisen, mögliche Umwege und Verzögerungen<br />
gelassen in Kauf nehmen. „Urlaub mit gutem<br />
Gewissen“, so steht es in den Prospekten von Feldmilla.<br />
2011 zum ersten klimaneutralen Hotel <strong>Süd</strong>tirols<br />
ausgezeichnet. Seit 1939 im Besitz eines<br />
hauseigenen Wasserkraftwerks. Das Heizsystem<br />
basiert auf Wärmepumpen und Biomasse aus dem Fernheizwerk.<br />
Die nicht vermeidbaren CO 2 -Emissionen werden<br />
durch Emissionszertifikate ausgeglichen. Zudem wird der<br />
Bau eines Wasserkraftwerks in Guatemala unterstützt.
Die Zimmer sind mit Nussholz<br />
aus dem Tal ausgestattet<br />
und außerdem die ersten<br />
Clean-Air-Zimmer Italiens:<br />
Das sind Zimmer mit einer<br />
von Schadstoffen unbelasteten<br />
Raumluft. Abendessen<br />
im Speisesaal. Die Küche<br />
setzt auf regionale Produkte,<br />
sagt die Juniorchefin Ruth<br />
Leimegger. Äsche statt<br />
Thunfisch. Milch aus <strong>Süd</strong>tirol<br />
statt aus Österreich<br />
– auch wenn das teurer ist.<br />
Das Lamm, das ich esse,<br />
kommt von einem Bauern<br />
aus dem Ahrntal. Und wenn<br />
der Seniorchef Wild schießt,<br />
dann kommt es hier auf<br />
den Teller.<br />
Schwierig ist es gewesen<br />
am Anfang, sagt<br />
Leim egger. Einigen Stammgästen<br />
hat es nach dem Umbau<br />
nicht mehr gefallen. Zu<br />
modern. Zu wenig dem Klischee<br />
des urigen <strong>Süd</strong>tirol<br />
entsprechend. Ob viele mit dem Zug anreisen? Ach, sagt<br />
sie. Vor einem halben Jahr hat sie mit einem solchen Angebot<br />
locken wollen. Wer mit dem Zug anreist und mindestens<br />
zwei Nächte bleibt, bekommt eine Nacht geschenkt.<br />
Und? Ein Anruf, sonst nichts. <strong>Süd</strong>tirol ist nach wie vor ein<br />
Autofahrerland.<br />
Schlaflos im Bett. Nachdenken: Nachhaltige Ökourlaube<br />
sind die Inszenierung eines Traums. Aber ist Urlaub<br />
das nicht immer? Wenn man in Ägypten am Strand<br />
liegt, während in Kairo der Kulturkrieg tobt? Man strandet<br />
auf einer kleinen, oft teuren Insel, abgeschirmt von der<br />
Wirklichkeit. Im Traum kann man das Ökogewissen baumeln<br />
lassen. Drumherum wartet die Massenabfertigung,<br />
neben dem Zug fährt die Autobahn, neben dem Biorestaurant<br />
steht die Frittenbude.<br />
Wirtschaftlich rentabel<br />
Der nächste Morgen. Die Sonne scheint. Eigentlich bestes<br />
Skifahrwetter. 98 Prozent der <strong>Süd</strong>tiroler Skigebiete, so<br />
steht es im Netz, werden mit Strom aus Wasserkraft betrieben.<br />
Auch das Wasser für den Kunstschnee gelangt in<br />
den natürlichen Kreislauf zurück. Zum Beispiel das Skigebiet<br />
Schnalstaler Gletscher. Ein Blockheizwerk und ein<br />
Wasserkraftwerk liefern den für die Lifte nötigen Strom,<br />
in Spitzenbetriebszeiten wird nur erneuerbare <strong>Energie</strong> dazugekauft.<br />
Ein bisschen Skifahren in den Alpen in Zeiten,<br />
in denen in Dubai oder Gelsenkirchen Skihallen stehen,<br />
das kann doch nicht so schlimm sein?<br />
<strong>Süd</strong>tirol ökologisch bereisen heißt: Abwägen. Kompromisse<br />
schließen. Die Balance halten. Auch mal ver-<br />
48 Leben Die Möglichkeit einer Insel<br />
zichten. Das Schnalstal ist<br />
weit weg. Zumindest wenn<br />
man kein Auto hat. Es muss<br />
auch gar nicht Skifahren<br />
sein. „Schauen Sie sich unsere<br />
Wasserfälle an“, sagt<br />
die Juniorchefin. Ich stapfe<br />
durch den Schnee, den<br />
Wald hinauf. Plötzlich, der<br />
Weg biegt um die Ecke, ich<br />
stehe auf einer schmalen<br />
Holzbrücke. Die Gischt<br />
weht mir ins Gesicht, rundherum<br />
ist alles in meterdickes<br />
Eis erstarrt, weit und<br />
breit kein Mensch. Die Wasserfälle<br />
grollen, ich mittendrin.<br />
Ich beneide sie nicht,<br />
die Skifahrer, die sich jetzt<br />
durch den Pistenverkehr<br />
zwängen, ich beneide sie<br />
nicht, die Christkindlmarkt-<br />
Besucher, die sich jetzt in<br />
der Glühweinschlange auf<br />
die Zehen treten.<br />
<strong>Süd</strong>tirol ökologisch<br />
bereisen heißt auch: Orte<br />
ent decken, an denen man mit dem Auto wohl vorbeigefahren<br />
wäre. Zum Abschluss noch mit dem Bus ins nahe Städtchen<br />
Bruneck. Die Wasserfälle haben hungrig gemacht. Ein<br />
bisschen herumfragen. Im Geschäftslokal „PUR <strong>Süd</strong>tirol“<br />
gebe es ausschließlich <strong>Süd</strong>tiroler Produkte, sagt man mir.<br />
Wieder so eine Insel. Hier gibt es Käse, Salami, Wurzen und<br />
Ragout vom Schaf aus der Gemeinde Villnöß, Topflappen<br />
und Flaschenkühler aus der Wolle derselben Schafe. Die<br />
Geschenkkörbe sind umweltfreundlich verpackt in Holzkisten,<br />
die in der Sozialwerkstatt von Latsch bei Meran gefertigt<br />
wurden. Bestellt man ein Marende-Brettl, dann fließt<br />
das Geld in ein Hilfsprojekt nach Ostafrika. Das Glas Wein<br />
ist getrunken, der Bauerntoast gegessen.<br />
Ein Resümee: eine Zugfahrt im überfüllten Waggon,<br />
eine erholsame Nacht im klimaneutralen Hotel, eine idyllische<br />
Wanderung, eine <strong>Süd</strong>tiroler Marende. Feldmilla, Sand<br />
in Taufers oder die „Alpine Pearls“-Gemeinden sind Beispiele,<br />
die zeigen, dass sich Ökotourismus in <strong>Süd</strong>tirol<br />
durchaus wirtschaftlich rentiert. Was fehlt, ist ein regional<br />
übergreifendes Konzept, das die Marke „<strong>Süd</strong>tirol“ um den<br />
Aspekt „Ökologisches Reiseland <strong>Süd</strong>tirol“ erweitert, das<br />
dem ökologisch gesinnten Reisenden das Angebot auf einen<br />
Blick nahelegt und ihm die naturgemäß erschwerte<br />
Anreise- und Aufenthaltsplanung erleichtert. Und: das ihn<br />
in naher Zukunft vergessen macht, dass <strong>Süd</strong>tirol einmal<br />
ein Reiseland für Autofahrer war.<br />
Lenz Koppelstätter (*1982), Journalist in Berlin, schreibt vor<br />
allem für das Stadtmagazin „zitty“ und den „Tagesspiegel“.
49 Lenz Koppelstätter
Donatella Pavan<br />
Der Freigeist<br />
Fotos — Claudia Corrent<br />
Alois Lageder produziert internationale<br />
Spitzenweine und ist Präsident des Ökoinstituts<br />
in Bozen. Der Weinbauer lebt<br />
und arbeitet naturnah, er betreibt biodynamischen<br />
Weinanbau. Der Kunstförderer<br />
hat „<strong>Nord</strong> & <strong>Süd</strong>“ verraten, warum<br />
das so ist, warum er die Synthese zwischen<br />
Wein, Musik und Nachhaltigkeit<br />
zum Leitmotiv seines Lebens gemacht<br />
hat und was guten Wein ausmacht.<br />
50 Leben Der Freigeist<br />
Es ist ein kleines Paradies auf Erden, wo sich die Kunst mit<br />
der Musik und mit der Sorge um Nachhaltigkeit vereint.<br />
Dessen Lebenselixier, der Qualitätswein, entsteht aus der<br />
Liebe für das Land und aus der Achtung für Mensch und<br />
Natur, ganz so, wie Rudolf Steiner es lehrte. Der Sitz des<br />
Weingutes Alois Lageder – alle erstgeborenen Söhne heißen<br />
seit fünf Generationen Alois – befindet sich in Margreid<br />
südlich des Kalterer Sees in der Provinz Bozen. Wie lebendig<br />
der Einfluss der Familie Lageder auf das kleine mittelalterliche<br />
Dorf ist, zeigt sich in der geglückten Verschränkung<br />
von dessen gotisch-barocken Gebäuden und Gassen mit<br />
der modernen, in Glas und Holz gebauten Kellerei, die dank<br />
einer 250 Quadratmeter großen Fotovoltaikanlage seit 1996<br />
energieautark ist. Das Wechselspiel zwischen sorg fältig<br />
ausgewählten Kunstwerken und moderner Architektur<br />
macht das Gutsgebäude einzigartig: Von Rolf Disch, dem<br />
Gestalter von Heliotrop im Stadtviertel Vauban in Freiburg,<br />
ist der Wintergarten mit dem gläsernen Dach, das in der<br />
warmen Jahreszeit geöffnet werden kann. Eine zentral im<br />
Gebäude gelegene, von Christian Philipp Müller konzipierte<br />
Installation besteht aus drei Glasquadern, die das Erdreich<br />
und die natürlich darin vorkommenden Pflanzen von den<br />
drei Weinbergen Löwengang, Römigberg und Lindenburg<br />
enthalten. Ebenso eindrucksvoll ist die Gestaltung des Kellers,<br />
dessen Hightech-Standard zwar an Cape Canaveral<br />
erinnert (1 Million Flaschen werden hier im Jahr produziert),<br />
dessen poetische Ausdruckskraft aber dennoch fasziniert.<br />
In jenem Teil des Kellers, in dem die Weine zur Reifung<br />
lagern, ertönt immer dann eine musikalische Klangfolge,<br />
wenn draußen der Wind ein winziges Windrad bewegt: Es<br />
ist eine Installation von Matt Mullican mit dem Titel „Wiegenlied<br />
für Barrique und Streicher“. Das Gut ist einen Besuch<br />
wert und mit ein bisschen Glück führt Sie vielleicht<br />
Alois Lageder persönlich durch sein Weingut. Für „<strong>Nord</strong> &<br />
<strong>Süd</strong>“ hat sich der Hausherr Zeit für ein Interview genommen.<br />
D P (Donatella Pavan) — Sie sind die fünfte Generation eines<br />
Winzergeschlechts. Woher kam der Wunsch, auf Biodynamie<br />
umzustellen?<br />
A L (Alois Lageder) — Das ist eine natürliche Entwicklung;<br />
jedes Familienmitglied beschreitet sein<br />
Stück des Weges. Die Richtung ist mir von meinen<br />
Eltern mitgegeben worden. Meine Mutter hat bei<br />
der Gartenarbeit immer die Grundsätze des Philosophen<br />
Rudolf Steiner und jene von Maria Thun,<br />
die für ihren Saatkalender im Jahreslauf der Gestirne<br />
berühmt ist, berücksichtigt. Für sie war das ganz<br />
selbstverständlich. Als ich dann an der Reihe war,<br />
begriff ich, dass der herkömmliche Weinbau nicht<br />
meine Welt sein konnte. Vorher waren die Weinberge<br />
verstreut und ich habe sie danach um Margreid herum<br />
zusammengelegt. 1990 haben wir mit den ersten<br />
Experimenten begonnen: Wir haben chemische<br />
durch biodynamische Stoffe ersetzt, wobei die ersten<br />
Alois Lageder: „Der herkömmliche Weinbau konnte nicht meine<br />
Welt sein."
Einblicke in das Innenleben des historischen Ansitzes des Weingutes Alois Lageder<br />
51<br />
Donatella AutorPavan<br />
Der biodynamische Anbau<br />
Die biodynamische Anbaumethode geht<br />
auf die 1920er-Jahre und auf Rudolf Steiner,<br />
den Begründer der Anthroposophie,<br />
zurück und ist Teil einer philosophischen<br />
Denkordnung. Bei der Biodynamie geht<br />
es um eine ganzheitliche Sichtweise des<br />
Betriebes: Er steht in einer Wechselbeziehung<br />
mit der Erde und mit dem Kosmos.<br />
Alles wird in Beziehung zueinander<br />
angesehen, wobei jedes Element ein<br />
lebendiger Organismus ist: die Pflanze,<br />
der Boden, das Tier ebenso wie der landwirtschaftliche<br />
Betrieb selbst. Große<br />
Bedeutung haben die Mondphasen und<br />
die Dynamisierung der Produkte. Es gelten<br />
ähnliche Prinzipien wie in der Homöopathie:<br />
Es geht darum, die vitalen<br />
Kräfte zu bündeln und sie dem Produkt<br />
zuzuführen. Man verwendet winzige Dosen<br />
einer Substanz, löst sie in Wasser<br />
auf und versprüht sie. Um den Produkten<br />
Vitalität zu verleihen, verwendet man<br />
auch Präparate, die die drei Welten enthalten:<br />
die tierische, die pflanzliche und<br />
die mineralische. Der Kuhhorndünger<br />
zum Beispiel ist Kuhmist, der in ein Kuhhorn<br />
gefüllt wird und nach dem 23. September<br />
in der Erde vergraben wird. Wenn<br />
er im April wieder aus dem Boden geholt<br />
wird, werden damit in homöopathischen<br />
Dosen – 90 g für 130 ml Wasser – die<br />
Pflanzen gedüngt.
Ergebnisse enttäuschend waren. Mit der Zeit haben<br />
wir verstanden, dass die Lösung in der natürlichen<br />
Beschaffenheit des Habitats besteht, dass es wichtig<br />
ist, jenes Saatgut zu verwenden, das bereits in der<br />
Natur vorhanden und mit ganz eigenen Funktionen<br />
ausgestattet ist, die wir für unsere Pflanzen nutzen<br />
können: die Brennnessel, um das Gleichgewicht des<br />
Bodens wieder herzustellen, die Gerste, um den Boden<br />
trocken zu halten. 2007 war die Umstellung aller<br />
Böden abgeschlossen. Wir bewirtschaften circa 50<br />
Hektar an Weingütern und zusätzlich einige Obstgüter<br />
– alles biodynamisch.<br />
D P — Der Wein wird zum Teil aus eigenen Trauben und<br />
zum Teil aus jenen von kleinen lokalen Weinbauern gekeltert.<br />
Wie muss man sich das vorstellen?<br />
A L — Unsere Kellerei wird von circa 100 kleineren<br />
Weinbauern beliefert; mein Traum ist es, dass sie alle<br />
den Weg des biodynamischen Anbaus einschlagen.<br />
Ein Dutzend ist bereits umgestiegen, woraus Apollonia<br />
entstanden ist, ein Blauburgunder, der erste biodynamische<br />
Alois Lageder, der zu 100 Prozent nicht<br />
aus eigenen Trauben<br />
besteht. Die<br />
Leute haben erkannt,<br />
dass unsere<br />
Reben anders sind:<br />
Sie haben mehr<br />
Kraft, mehr Lebensund<br />
Leuchtkraft.<br />
Ich bin ein Anhänger<br />
der anthroposophischenPhilosophie<br />
und will mich<br />
auch gerne dafür<br />
verwenden, diese<br />
Lehre zu verbreiten.<br />
Seit ich mich mit<br />
dem biologisch-dynamischen<br />
Anbau<br />
beschäftige, spüre im <strong>Süd</strong>tiroler Unterland<br />
ich, dass ich etwas<br />
tiefer in das Unterbewusstsein und in die göttliche<br />
Schöpfung eingetaucht bin, und empfinde eine große<br />
Genugtuung, mich mit den Da seinsgründen des Menschen<br />
auf dieser Erde auseinanderzusetzen. Seit 1.<br />
Januar 2013 arbeitet Georg Meissner, ein junger Experte<br />
für Biodynamie aus Deutschland, mit uns; mit<br />
ihm werden wir ein neues Standbein schaffen, und<br />
zwar das der Fortbildung.<br />
D P — Wie ist die Zusammenarbeit mit den kleinen Produzenten<br />
geregelt?<br />
A L — Wir halten uns an eine althergebrachte Praxis:<br />
Bis vor nicht allzu langer Zeit besaßen viele Bauern<br />
nur wenig Grund und gaben deshalb ihre Trauben<br />
52<br />
zum Keltern dem größeren Nachbarn, der die nötigen<br />
Geräte hatte und der wiederum den Wein an die<br />
Gast häuser der Umgebung verkaufte. Wenn die<br />
Leute im Sommer in die Sommerfrische kamen und<br />
in den Gasthäusern einkehrten, begann der „Weinritt“,<br />
die Runde bei den einzelnen Kunden, um das<br />
Geld zu kassieren. Man setzte sich rund um einen<br />
Tisch und rechnete ab. Auch wir machen das noch<br />
so, im gegenseitigen Vertrauen zueinander, die Bauern<br />
uns gegenüber, weil wir sie bezahlen, sobald wir<br />
selbst kassiert haben, und wir ihnen gegenüber, weil<br />
wir davon überzeugt sind, dass sie alles tun, was in<br />
ihren Möglichkeiten steht, um uns qualitativ hochwertige<br />
Trauben zu liefern. Bezahlt wird an vier festgelegten<br />
Tagen: am 2. Februar zu Maria Lichtmess,<br />
am 23. April zum heiligen Georg, am 25. Juli zum<br />
heiligen Jakob; saldiert wird am 11. November, dem<br />
Martinstag.<br />
D P — Das Leitmotiv Ihres Lebens ist eine Synthese aus<br />
Wein, Kunst/Musik und Nachhaltigkeit. Warum die Verbindung<br />
dieser drei Bereiche?<br />
A L — Ich habe nicht<br />
bewusst versucht,<br />
diese drei Bereiche<br />
miteinander zu verbinden,<br />
sondern das Interesse<br />
für das eine<br />
führte wie selbstverständlich<br />
zum anderen.<br />
Man sagt ja, dass<br />
der Wein eine Kunst<br />
ist, weil es viel Sensibilität<br />
im Umgang<br />
damit erfordert. Die<br />
Kunst und die Architektur<br />
helfen uns, unsere<br />
Kreativität zu<br />
erkennen und nachzudenken,<br />
aber auch<br />
Freude zu empfinden:<br />
Ein Kunstwerk, das<br />
uns gefällt, schenkt uns Harmonie. Ich umgebe mich<br />
mit schönen Dingen, weil ich ihre Harmonie spüre,<br />
das ist wichtig, es ist die Grundlage von allem, und es<br />
ist auch das, was beim konventionellen Anbau vernachlässigt<br />
worden ist, während der biodynamische<br />
Anbau von der Harmonie der Pflanze und zwischen<br />
den Pflanzen spricht. Nachhaltigkeit hat immer mit<br />
Harmonie zu tun, mit der Harmonie zwischen<br />
Mensch und Natur.<br />
Das Weingut des erfolgreichen Weinproduzenten liegt im idyllischen Margreid<br />
Leben Der Freigeist<br />
D P — Wann haben Sie begonnen, sich mit Kunst zu beschäftigen?<br />
A L — Die Dinge entwickeln sich nach und nach, der<br />
Grundstein für das Interesse an der Musik oder der
Kunst wird in der Familie gelegt. Ich erinnere mich an<br />
die ersten Konzerte mit meinem Vater, das erste war<br />
„Peter und der Wolf“ – noch heute trällere ich die<br />
Melodie, wenn ich guter Dinge bin. Den Zugang zur<br />
bildenden Kunst hat mir mein Schwiegervater eröffnet,<br />
der ein großer Sammler ist. Vor rund zehn Jahren,<br />
als die Kunst immer mehr zu einem Statussymbol<br />
wurde und man nicht mehr über Kunst, sondern<br />
nur mehr über Geschäfte sprach, habe ich mich mehr<br />
der Musik, meiner ersten großen Leidenschaft, zugewandt.<br />
Seit vielen Jahren organisieren wir im Sommer<br />
im Innenhof unserer Vinothek Paradeis Konzerte.<br />
VIN-o-TON etwa ist den jungen Komponisten gewid-<br />
In der hauseigenen Vinothek Paradeis finden auch Konzerte statt<br />
met, wobei wir jedes Jahr einen Komponisten mit<br />
einem neuen Werk beauftragen, dessen Uraufführung<br />
dann im Weingut stattfindet.<br />
53<br />
Donatella Pavan<br />
D P — Ihr Umgang mit dem Weinberg, mit der Kunst, mit<br />
der Musik erinnert an die Ambitionen eines Renaissancefürsten.<br />
Wie würden Sie sich bezeichnen: als Künstler, als<br />
Unternehmer oder als Freigeist?<br />
A L — Freigeist gefällt mir am besten. Wichtig ist, alle<br />
Lebensbereiche einzubeziehen, sich der Wechselwirkung<br />
zwischen Mensch, Tier, Landwirtschaft und<br />
Technik bewusst zu sein. Dadurch erfahren wir das<br />
Leben in seiner Vollständigkeit, in einer erweiterten<br />
Perspektive.<br />
D P — Sie arbeiten an einem Wein ohne Sulfate?<br />
A L — Das ist noch im Werden, wir haben erste Versuche<br />
gemacht. Unser Ziel ist es, Weine ohne Sulfate<br />
zu produzieren, die aber die Charakteristika unserer<br />
Weine beibehalten. Ein Aspekt, der mich sehr interessiert,<br />
ist die heilende Wirkung des Weins, daher<br />
könnte es statt dem mit Alkohol vergorenen Saft der<br />
Traubensaft selbst sein, an dem es sich zu experimentieren<br />
lohnt. Der Traubensaft ist ein Nektar und<br />
so war es am Anfang des 20. Jahrhunderts sehr beliebt,<br />
zur Vernatsch-Traubenkur nach Meran zu fahren.<br />
Der Alkohol ist zwiespältig, sowohl positiv als<br />
auch negativ. In früheren Zeiten trank man nur zu<br />
seltenen Anlässen, um sich zu berauschen, um die<br />
Zukunft vorauszusehen, erst später begann man, ihn<br />
übermäßig zu konsumieren. Diese Dinge sollte man<br />
wissen. Den Geist des Weines muss man hoch schätzen,<br />
er ist wertvoll. Und auf die wertvollen Dinge<br />
muss man gut achten und sie sparsam einsetzen.<br />
D P — Kürzlich hat Ihr Betrieb einige wichtige Anerkennungen<br />
erhalten, unter anderem die höchste Auszeichnung des<br />
Weinführers Slow Wine sowie fünf Sterne des Falstaff-<br />
Weinguide Österreich/<strong>Süd</strong>tirol 2012. Was macht einen guten<br />
Wein aus?<br />
A L — Unter dem önologischen Gesichtspunkt spielen<br />
jene Weine in der ersten Liga, die einen starken<br />
Charakter haben, zum Beispiel eine kräftige Duftnote.<br />
Zum Essen schätzen wir eher solche Weine, deren<br />
Flaschen bei Tisch leer werden, das heißt, von denen<br />
man gern noch ein zweites Glas trinkt und die einem<br />
trotzdem nicht den Mund oder den Gaumen verschließen,<br />
weil sie harmonisch sind. Die biodynamischen<br />
Weine sind nicht unbedingt besser als andere<br />
Weine, doch sie haben eine positive <strong>Energie</strong>, die wir<br />
unbewusst wahrnehmen, davon bin ich überzeugt.<br />
Donatella Pavan (*1960), freie Journalistin mit Schwerpunkt<br />
Umwelt, schreibt unter anderem für die Tageszeitungen „Il Fatto<br />
Quotidiano” und „La Repubblica” sowie „Io Donna” (Beilage<br />
„Corriere della Sera”).<br />
Übersetzung: Alma Vallazza
Birgit Schönau<br />
Klassenprimus<br />
gegen<br />
Angsthase<br />
Illustration — Gino Alberti<br />
Wenn man Nationaltrainer Cesare Pran-<br />
delli fragt, ob die Squadra Azzurra eigent-<br />
lich noch italienisch spielt, erntet man<br />
einen erstaunten Blick. „Wir spielen modernen<br />
Fußball“, sagt Prandelli dann. Und<br />
die Deutschen? „Die natürlich auch. Mehr<br />
noch, die Deutschen sind Fußball-Avantgarde.“<br />
Also offensiv und risikobereit, mit<br />
kurzen Bällen und langem Atem. Wem<br />
das spanisch vorkommt, der hat Recht.<br />
Denn Spanien ist im globalisierten Fußball<br />
für alle das Modell, und die nationalen<br />
Schulen sind von gestern. Schließlich<br />
geht es nicht darum, auf dem Platz folkloristische<br />
Traditionen zu zeigen, sondern<br />
man will gewinnen. Genauso wie Holland<br />
keinen „Totaalvoetbal“ mehr zelebriert,<br />
hat Italien den „Catenaccio“ in die Mottenkiste<br />
gepackt. Und England? Nun,<br />
England hatte mit Fabio Capello sogar<br />
einen italienischen Nationaltrainer. Es ist<br />
eben im Fußball wie im richtigen Leben,<br />
alles verändert sich und wird immer ein<br />
bisschen schneller. Nur die Klischees, die<br />
kommen da offensichtlich nicht mit.<br />
Und im Fußball halten sie sich besonders<br />
hartnäckig. „Catenaccio“ ist im<br />
Deutschen so gebräuchlich wie „Spaghetti“<br />
und „Cappuccino“, ein Wort, das<br />
zu jedem Länderspiel zwischen Deutsch-<br />
land und Italien wieder hervorgeholt wird.<br />
Und natürlich auch beim Pokalfinale – zuletzt<br />
2010 beim Champions-League-Endspiel<br />
zwischen Bayern München und Inter<br />
Mailand. Die Deutschen pflegen gegen<br />
italienische Mannschaften gemeinhin zu<br />
verlieren, da garantiert ihnen der Griff in<br />
die Klischeekiste wenigstens die Illusion<br />
eines moralischen Siegs. Denn der „Catenaccio“<br />
ist in deutschen Augen eine<br />
moralisch verwerfliche Spieltaktik, eine<br />
Art „Angsthasenfußball“, unmännlich und<br />
unehrlich. Hinten alles abriegeln und nur<br />
darauf lauern, wann man gegen den wacker<br />
kämpfenden Gegner hinterlistig kontern<br />
kann – das hat der liebe Gott mit<br />
Fußballspielen nicht gemeint, wie es einmal<br />
ein deutscher Fernsehkommentator<br />
formulierte. Manchmal scheint es, als sei<br />
der Fußball für die Deutschen eine moralische<br />
Anstalt: Haben unsere Jungs auch<br />
genug gegeben? Schön gespielt? Bis zum<br />
Schluss gekämpft? Hätten sie nicht eigentlich<br />
verdient zu gewinnen? Ach was,<br />
verdient … Italiener haben den Spruch<br />
geprägt: „Der Gegner hinterließ einen<br />
hervorragenden Eindruck und drei<br />
Punkte.“<br />
Auf dem Platz arbeitet sich<br />
Deutschland an Italien ab<br />
Deutsche neigen zu romantischem Ehrgeiz:<br />
Sie wollen nicht nur immer die Besten<br />
sein, sondern dafür vom Gegner noch<br />
bewundert werden. In vielen Bereichen<br />
gelingt das, vor allem in der Wirtschaft.<br />
Italienern hingegen ist die Romantik<br />
ebenso fremd wie der Ehrgeiz, immer<br />
Klassenbester zu sein. Sie sind anpassungsfähige<br />
Pragmatiker. Ihre Wirtschaft<br />
hat im Moment Probleme, die Politik ist<br />
auch nicht so richtig vorbildlich. Aber im<br />
Fußball, da kann es der italienische Pragmatismus<br />
immer noch weit bringen.<br />
In Deutschland betrachtet man<br />
dieses Paradox mit Argwohn. Über Jahrzehnte<br />
regten sich Presse und Vereinspräsidenten<br />
darüber auf, dass sich die<br />
italienischen Klubs nur dank ihrer kreativen<br />
Buchführung tolle Mannschaften mit<br />
Spitzenspielern leisten konnten. Als die<br />
Uefa das Finanz-Fair-Play einführte,<br />
lehnten sich die Deutschen zurück: Seht<br />
her, wir haben schon immer unsere Hausaufgaben<br />
gemacht. Die Italiener werden<br />
jetzt sehen, was sie von ihrer Prasserei<br />
haben.<br />
54 Leben Klassenprimus gegen Angsthase<br />
Zum guten alten Catenaccio gesellten<br />
sich flugs die Wörter „Krise“ und<br />
„Abgrund“: Italiens Fußball in der Krise,<br />
der Calcio am Abgrund. Überschuldete<br />
Klubs und marode Stadien, Schiedsrichtermanipulation,<br />
Wettskandale und Hooligans-Randale<br />
– die Medien in Deutschland<br />
übertrafen sich mit apokalyptischen<br />
Szenarien. In keinem anderen europäischen<br />
Land befasst man sich derart eingehend<br />
mit den Problemen des italienischen<br />
Fußballs. Um nicht zu sagen: genüsslich.<br />
Denn ein bisschen Schadenfreude<br />
ist immer dabei.<br />
Nur auf dem Platz, da wollen die<br />
Italiener partout nicht untergehen. Sicher,<br />
es gab da einmal ein Juventus–Bayern 1:4,<br />
2009, in der Champions-League-Gruppenphase.<br />
Aber für die deutsche Nationalmannschaft<br />
folgte auf das WM-Halbfinale<br />
2006 das EM-Halbfinale 2012. Und die<br />
Bayern verloren nach dem Finale gegen<br />
Inter mit dem portugiesischen Trainer<br />
Mourinho das Finale gegen Chelsea mit<br />
dem italienischen Trainer Di Matteo. Aller<br />
Fleiß und Einsatz halfen wieder nichts.<br />
Im Fußball arbeitet sich also<br />
Deutschland an Italien ab. Ansonsten gilt<br />
das Gegenteil. Nicht zuletzt deshalb werden<br />
Siege auf dem Fußballplatz über die<br />
als übermächtig empfundenen Nachbarn<br />
als besonders erhebend empfunden. Nach<br />
dem Motto: Wir sind kleiner, wir sind ärmer,<br />
aber auch flexibler und schneller und<br />
damit schaffen wir die crucchi immer<br />
noch (crucchi ist das Kosewort für Deut-
Ü<br />
b<br />
e<br />
r<br />
s<br />
e<br />
T<br />
z<br />
e<br />
n<br />
sche). Die Kunst des Sich-Arrangierens<br />
ist den Italienern, was das Streben nach<br />
Perfektion den Deutschen ist: Klischee,<br />
Mythos und Antrieb zugleich.<br />
55<br />
Integrationskraft der<br />
Nationalmannschaft<br />
Und natürlich können beide voneinander<br />
lernen. Der italienische Klubfußball ist<br />
noch immer feudalistisch organisiert –<br />
mit Klubpräsidenten, die sich wie Fürsten<br />
aufführen. Sie leisten sich eine Mannschaft,<br />
um ihr eigenes Ego und ihre Popularität<br />
zu stärken und behandeln ihre<br />
Fans nicht wie Kunden, sondern wie Untertanen.<br />
Deshalb halten sie es für unnötig,<br />
etwa in moderne Stadien zu investieren.<br />
Was dazu führt, dass Italiens Fußballarenen<br />
zu gespenstisch anmutenden<br />
Kulissen mit leeren Rängen degenerieren.<br />
Aber der Ruf nach familienfreundlichen<br />
Stadien „wie in Deutschland“ wird unter<br />
Trainern, Spielern und Tifosi immer lauter.<br />
Juventus Turin hat mit dem neuen<br />
Juventus-Stadion einen Anfang gemacht<br />
und siehe da: Die Arena des Rekordmeisters<br />
ist immer ausverkauft.<br />
Umgekehrt führt Italien Deutschland<br />
gerade vor, wie stark die Integrationskraft<br />
einer Nationalmannschaft sein<br />
kann. Nicht nur, weil hier wie dort Fußballer<br />
mit Migrationshintergrund spielen – in<br />
Italien etwa der aus Ghana stammende<br />
Mario Balotelli und der Italo-Ägypter Stephan<br />
El Shaarawy. Die Squadra Azzurra<br />
hat mit einer Vielzahl von Aktionen gesellschaftlich<br />
Stellung bezogen. Mal trainierte<br />
sie auf einem Platz, der vormals<br />
einem Mafiaboss gehört hatte, mal protestierte<br />
sie gegen die Gewalt gegen<br />
Frauen. Und Trainer Cesare Prandelli verurteilt<br />
öffentlich Rassismus und Homophobie,<br />
für das Buch eines Homosexuellen-Aktivisten<br />
verfasste er das Vorwort.<br />
Zu zeigen, dass eine Nationalmannschaft<br />
mehr sein kann als ein kommerzieller<br />
Werbeträger, dass die Spieler mehr soziale<br />
Verantwortung haben als auf dem<br />
Platz zu gewinnen – das ist das Verdienst<br />
der Azzurri, fern aller Klischees.<br />
Birgit Schönau (*1966), Italienkorrespon-<br />
dentin für die „<strong>Süd</strong>deutsche Zeitung” und<br />
„Die Zeit“. Buchveröffentlichung zum<br />
Thema: „Calcio – Die Italiener und ihr<br />
Fußball“, Kiepeneuer & Witsch, 2005.<br />
Birgit Schönau Alfred Dorfer<br />
Alfred Dorfer<br />
Heim zu<br />
Mutter<br />
Illustration — Laura Jurt<br />
Mütter haben es oft schwer. Manche Kinder machen Sorgen,<br />
andere werden unartig oder lösen sich gar ab. So<br />
schmerzvoll diese Trennung ist, eine gute Mutter sieht das<br />
nach und wird wohl immer für den Sprössling da sein. In<br />
einer ähnlichen Rolle sieht sich Österreich im Verhältnis zu<br />
<strong>Süd</strong>tirol. Nun kann man nicht behaupten, <strong>Süd</strong>tirol wäre<br />
unartig gewesen, aber ein Teil von Italien ist es aus österreichischer<br />
Sicht natürlich nicht. Ein historischer Irrtum<br />
will es, dass es südlich des Brenners plötzlich Schilder in<br />
italienischer Sprache gibt oder Carabinieri auf der Autobahn<br />
ihr Unwesen treiben. Natürlich schmeckt uns Österreichern<br />
der Kaffee und der Wein, doch das kann uns nicht<br />
davon abhalten, uns in Tirol zu wähnen, das lei oans isch.<br />
Jüngst traf es das Mutterherz gewaltig, als ein italienischer<br />
Politiker verlautbarte, diese Heimatprovinz der Kaiserjäger<br />
bedürfe nicht mehr der Schutzmacht Österreichs. Sofort<br />
warf sich in Wien der Bundeskanzler mit seiner typischen<br />
Verve in die Bresche und versicherte, <strong>Süd</strong>tirol könne immer<br />
auf Österreich zählen. Es werde seine Autonomie schützen,<br />
jawohl! Große Erleichterung in Bozen war die Folge. Wohl<br />
wissend, dass das österreichische Bundesheer zu den<br />
gefürchtetsten Armeen in Europa zählt. Im Inland auf jeden<br />
Fall, da jedes Manöver höchste Gefahr für die Bevölkerung<br />
bedeutet. Zudem soll, Berufsheer hin oder her, mehr<br />
Professionalität in diese Elitetruppe einkehren.<br />
Aber was, wenn nun italienische Soldateska, ihre<br />
blutrünstige Fratelli d'Italia-Nationalhymne auf den Lippen,<br />
in das heimliche zehnte Bundesland einfiele? Da wären<br />
plötzlich unsere Streitkräfte bitter nötig. Eine Wehrmacht,<br />
die auch in der Lage wäre, die frechen Invasoren wieder<br />
aus den idyllischen Bergdörfern zurück in die öde Ebene<br />
des Po zu jagen. Vielleicht müssten starke Garnisonen eine<br />
Zeit lang an den Alpengrenzen stationiert bleiben, um neuerliche<br />
Aggressionen schon im Keim zu ersticken. Denn<br />
wer weiß, wonach es hinterlistige Eidgenossen gelüstet?<br />
Oder gar das expansionswütige Liechtenstein? Da wird das
Freiwilligen-Kontingent der Tiroler Schützen, bei allem<br />
Sandwirt-Mut, allein nicht ausreichen. Jetzt mehren sich<br />
allerdings die Gerüchte, wonach die Italiener längst in <strong>Süd</strong>tirol<br />
eingedrungen wären. Das hat unser Bundeskanzler<br />
nicht bedacht. Doch wir wissen seit den Staatsvertragsverhandlungen<br />
mit den Russen, dass die List auf unserer Seite<br />
ist. Wenn es mit militärischen Mitteln nicht gelingen soll,<br />
dann eben anders. Romantiker meinen ja, gerade <strong>Süd</strong>tirol<br />
wäre ein ideales Land, um Italienisch richtig zu lernen. Aufgrund<br />
der zweisprachigen Beschriftungen. So liest man<br />
auch etwas ausgefalleneres Vokabular wie seggiovia (Sessellift)<br />
oder bastoncino degli sci (Skistock). Zwei Wörter,<br />
deren Be deutung etwa der Kalabrese im italienischen <strong>Süd</strong>en<br />
nicht einmal in der eigenen Sprache kennt. Aber eben<br />
diese Zweisprachigkeit ist unsere Chance. Klingt paradox,<br />
ist aber wahr. Man braucht dazu nur eine große Menge<br />
Filzstifte, die locker aus Wien über das ungesicherte <strong>Süd</strong>tiroler<br />
Pustertal eingeschmuggelt werden. Als deutsche Urlauber<br />
verkleidete österreichische Zivildiener – also mit<br />
Schnauzbart, Bauch und Bierflaschen – werden zunächst<br />
kleine Änderungen in den italienischen Aufschriften der<br />
Schilder anbringen: Zum Beispiel über malen sie mit weißem<br />
Abdeckstift am Wortende eines Ortes jedes O, wie bei<br />
Brennero oder Merano. Brunico wird zu Brunic. Wobei man<br />
hier aufpassen muss, dass nicht der Slowene plötzlich Ansprüche<br />
auf diesen Ort erhebt und auf Brunitsch pocht.<br />
56<br />
Leben Heim zu Mutter<br />
Als deutsche Urlauber verkleidete<br />
österreichische Zivildiener übermalen<br />
auf den Hinweisschildern mit weißem<br />
Abdeckstift am Wortende eines<br />
Ortes jedes O, wie bei Brennero oder<br />
Merano. Brunico wird zu Brunic.<br />
Wobei man hier aufpassen muss, dass<br />
nicht der Slowene plötzlich<br />
Ansprüche auf diesen Ort erhebt und<br />
auf Brunitsch pocht.<br />
Und schließlich aufgrund der reichhaltigen Erfahrung, die<br />
wir Österreicher aus Kärnten haben, erfolgt ein nächtlicher<br />
Austausch hin zu einsprachigen deutschen Ortstafeln oder<br />
Hinweisschildern. Der Italiener, gewöhnlich kein Frühaufsteher,<br />
wird die Veränderung erst zu Mittag bemerken.<br />
Danach folgt die typisch italienische Mittagspause. Wenn<br />
man diese Aktion im Winter macht, ist es zu dieser Tageszeit<br />
bereits finster. Und dann passiert gar nichts mehr. Am<br />
nächsten Tag dasselbe Spiel. Bald werden sich alle Italiener<br />
in diesem nur auf Deutsch ausgeschilderten Land<br />
nicht mehr zurechtfinden und <strong>Süd</strong>tirol verlassen.<br />
Und höchstens zur Zeit der Weihnachtsmärkte zurückkehren.<br />
Wo sie mit ihren Pelzkragenkapuzen samt Daunenjacken<br />
durchgeschleust werden, um überteuerten Speck<br />
oder Lebkuchen zu kaufen. Da wiederum wäre eine zweisprachige<br />
Beschilderung wegen des Profits allerdings<br />
anzuraten. Zum Schluss, nach einem kleinen „Obstlero“,<br />
wieder ab in den Bus in Richtung Vicenza oder so. Danach<br />
ist wieder Ruhe im deutschen <strong>Süd</strong>tirol und man kann entspannt<br />
darüber reden, wann es endlich wieder ein Teil<br />
Österreichs wird. Heim zu Mutter quasi. Das ist doch sicher<br />
der größte Wunsch im ehemaligen Alto Adige, oder?<br />
Alfred Dorfer (*1961), österreichischer Kabarettist und Schau-<br />
spieler, Kolumnist für „Die Zeit“. Aktuelle Buchveröffentlichung:<br />
„Wörtlich. Satirische Texte“, Karl Blessing Verlag, 2007.
Toni Bernhart<br />
Vom kürzeren Ende des<br />
Tages her<br />
Fotografie — Elisabeth Hölzl
Die Bewohner der 3.350-Seelen-<br />
Gemeinde Prad im Vinschgau am Fuß<br />
des Stilfser Joch versorgen sich schon<br />
seit Jahrzehnten selbst mit grünem<br />
Strom – und zahlen für die Kilowattstunde<br />
weniger als andere italienische<br />
Stromkunden. Und auch jetzt wollen<br />
sie wieder Pioniere sein: Als erste italienische<br />
Gemeinde bauen sie ein intelligentes<br />
Stromnetz auf, das die örtliche<br />
Nachfrage an elektrischer <strong>Energie</strong> darauf<br />
abstimmt, was Wasserkraft und<br />
Biogas gerade produzieren. Was macht<br />
diese Gemeinde und diese Menschen<br />
so besonders? Ein literarischer und fotografischer<br />
Blick auf Prad klärt auf.<br />
Ich sitze mit dir auf dem Berg. Du wickelst zwei dickwandige<br />
Punschgläser aus einem blau-weiß-karierten Geschirrtuch.<br />
Wir trinken den Punsch, den du in der Thermosflasche<br />
im Rucksack zusammen mit den Punschgläsern<br />
auf den Berg getragen hast. Es ist Winter, aber nicht kalt.<br />
Den Charakter eines Menschen kann man nicht<br />
ändern, sagst du, das geht nicht. Wer das will, kommt mit<br />
keinem mehr aus. Wir sitzen auf dem Berg und trinken<br />
Punsch, im Rücken die Mittagssonne, die tief am Himmel<br />
steht. Deshalb, sagst du, ist es dir wichtig, dass du reisen<br />
kannst und dein Hobby der Vogelbeobachtung pflegen, verschiedene<br />
ferne Weltgegenden hast du schon bereist und<br />
unterschiedliche Vögel gesehen und gehört. Es ist erstaunlich,<br />
sagst du, wie unterschiedlich sie singen, zwitschern<br />
oder schreien, als sprächen sie verschiedene Sprachen und<br />
verstünden sich trotzdem.<br />
Prad ist ein prächtiges Dorf, sagst du, während du<br />
uns ein zweites Glas Punsch aus der Thermosflasche in<br />
die Gläser gießt. Prad hat das größte Theater weitum. Das<br />
Publikum kommt von weither, in Bussen und mit der Bahn,<br />
aus dem ganzen Land und aus dem Ausland. Hier gibt<br />
es Theater nach jedem Geschmack, Opern, Musicals, die<br />
großen Dramen der Weltliteratur und avantgardistische<br />
Performances. Der Wettbewerb ist außerordentlich, sagst<br />
du, seitdem es zwei Ensembles gibt, deren Spielpläne<br />
den Vergleich mit den großen Bühnen Europas nicht zu<br />
scheuen brauchen. Die dänische Regisseurin, sagst du,<br />
hat ein kluges Händchen gezeigt, als sie das letzte Stück<br />
im Herbst nicht auf der großen Bühne, auch nicht im<br />
Studio, sondern im Apfelkühlhaus gezeigt hat. Du hältst<br />
dein Punschglas in das Licht der Sonne, das das Getränk<br />
glitzern lässt. Der Raum im Kühlhaus ist, sagst du, wie<br />
58<br />
Leben Vom kürzeren Ende des Tages her
59<br />
<strong>Energie</strong>autarkes Prad. Weder Unternehmen noch der italienische Staat zeigten jemals Inter-<br />
esse daran, eine <strong>Energie</strong>versorgung in diesem abgelegenen Ort aufzubauen. So nahmen die<br />
Bewohner das selbst in die Hand. Mitte der 1920er-Jahre wurde das erste Wasserkraftwerk<br />
eröffnet, betrieben von einer kleinen Genossenschaft<br />
Daran sind heute fast alle Familien und Betriebe des Dorfes beteiligt. Mittlerweile versorgt ein<br />
grüner Mix aus Wasserkraft, Biomasse, Biogas und Sonnenenergie die Gemeinde komplett mit<br />
Strom und Wärme. Produktionsüberschüsse werden verkauft, der Erlös fließt zurück in die<br />
lokalen wirtschaftlichen Kreisläufe. Die Strompreise liegen derzeit 25 Prozent unter dem nationalen<br />
Durchschnitt. Der ausgeklügelte rein regenerative <strong>Energie</strong>mix bescherte Prad 2010<br />
den Sieg in der Champions-League europäischer Gemeinden bis zu 5.000 Einwohner<br />
Toni Bernhart und Elisabeth Hölzl
Elisabeth Pichler-Wellenzohn ist seit über 30 Jahren Sekretärin der „<strong>Energie</strong>-Werk-<br />
Prad Genossenschaft“. Sie verwaltet auch die Schlüssel jener Mitglieder, denen<br />
neben einem haushaltsüblichen auch ein stärkerer 350-Volt-Stromanschluss zur<br />
Verfügung gestellt wird. Bei Bedarf wird der Schlüssel abgeholt, die zusätzliche<br />
<strong>Energie</strong>kraft genutzt, der Verbrauch abgelesen, der Anschluss verplombt und der<br />
Schlüssel wieder im E-Werk abgegeben<br />
gemacht für Theater, ein weißer Kubus ohne Fenster, fünfzehn<br />
mal fünfzehn Meter in der Fläche und fünfzehn Meter<br />
hoch, so ein Würfel ohne Fenster passt für jedes Stück,<br />
egal, ob es ein altes oder neues ist, wie es ja auch ganz<br />
egal ist, ob man ein neues oder altes Stück spielt, sofern<br />
es mit der Zeit, in der es spielt, und mit der Zeit, in der wir<br />
leben, und du sagst, du meinst das ganz allgemein, klar<br />
und deutlich zu tun hat. Da spielt es überhaupt keine Rolle,<br />
ob die Banken und die Wirtschaft klar und deutlich angesprochen<br />
sind, auch die gegenwärtigen politischen und<br />
landwirtschaft lichen Krisen spielen keine Rolle, weil die<br />
Gegenwart immer eine Krise ist. Du wunderst dich, sagst<br />
du, warum die Menschen verzweifeln, wenn der Strom<br />
ausfällt, du bist gerüstet mit Taschenlampen und Kerzen in<br />
jedem Raum. Es ist nicht gut, wenn jemand abhängig ist.<br />
Wer auf etwas wartet, ist abhängig. Nur wer nicht wartet,<br />
ist unabhängig. Und dann sagst du, vor dem Strom sind<br />
60<br />
Leben Vom kürzeren Ende des Tages her<br />
alle Menschen gleich. Dann schweigen wir ein Weilchen<br />
und lassen die Stille der Berge auf uns wirken. Wir hören<br />
nichts hier oben, weil Winter ist und die Murmeltiere<br />
schlafen.<br />
Prad hat den billigsten Strom in ganz Italien und<br />
Europa, und er ist deshalb kein schlechter, sagst du, ganz<br />
im Gegenteil. Er eignet sich vorzüglich zum Kochen und<br />
Backen, auch in der vegetarischen und sogar der veganen<br />
Küche, die vom progressiveren Flügel des Bäuerinnenverbandes<br />
vertreten wird, auch zum Güllerühren oder für das<br />
Betreiben von Betonmischanlagen ist der Prader Strom bestens<br />
geeignet. Was sein Temperament und seine Eleganz<br />
betrifft, sagst du, steht der Prader Strom dem Strom zum<br />
Beispiel aus sizilianischer oder südspanischer Pro duktion in<br />
nichts nach, in gar nichts, ganz im Gegenteil, er übertrifft<br />
ihn noch um ein Vielfaches. Man hört das sofort, wenn man<br />
zum Beispiel Vorschlaghämmer, Schlag bohr maschinen
Arbeiter in der Vergärungsanlage. Hier wird aus Gülle, Mist und Abfallobst Biogas gewonnen. Dieses gelangt über eine unterirdische<br />
Leitung zu zwei Fernwärmezentralen, wo es in Strom und Wärme umgewandelt wird<br />
61 Toni Bernhart und Elisabeth Hölzl
Macher und Visionäre. Toni Angerer (links oben) gehört zum Technikerteam, Martin Niederegger (Mitte unten) treibt die <strong>Energie</strong>wende<br />
technisch voran. Georg Wunderer, dessen Großvater zu den <strong>Energie</strong>pionieren des Dorfes gehört, ist der Geschäftsführer<br />
und Visionär der <strong>Energie</strong>genossenschaft. Sein Rat ist international gefragt. Wunderers neuestes Projekt: Ein intelligentes<br />
Stromnetz, das jederzeit weiß, wie viel Strom gerade produziert wird und die Nachfrage daran anpasst<br />
62 Leben Vom kürzeren Ende des Tages her
oder Druckluftkompressoren betreibt, man sieht das sofort.<br />
Es ist ein Genuss, sagst du. Wir trinken darauf, stoßen<br />
mit den Gläsern aber nicht an, um die Bergesruhe nicht zu<br />
stören.<br />
Auch wenn das Theater hier in Prad vom Publikum<br />
gefeiert und von der Presse hoch gelobt wird, wenn es aber<br />
um die gesellschaftliche Relevanz geht, sagst du, wenn es<br />
also darum geht, was zählt in Prad und in der Welt, und du<br />
sagst, dass das ein für alle Mal gesagt sein muss, dann<br />
hat≈der Müll die größere Bedeutung. Der Müll fördert den<br />
Gemeinschaftssinn, sagst du. Das ist ein Phänomen, das<br />
es kein zweites Mal gibt, im ganzen Tal nicht, über das<br />
wir blicken, während wir sitzen, hier oben auf dem Berg,<br />
kein zweites Mal. Auch vor dem Müll sind alle Menschen<br />
gleich, sagst du. Wenn du jemanden treffen willst, sagst<br />
du, bringst du samstags deinen Müll zur Sammelstelle,<br />
da triffst du jeden, den du treffen willst, alle sind da, jeder<br />
63<br />
Heißes Wasser für die Waschküche des Campingplatzes Kieferhain. Mit Abfallholz aus Sägewerken und<br />
Hackholz, das zum Teil aus den umliegenden Wäldern stammt, werden drei Öfen beheizt. Das heiße Wasser<br />
fließt über ein rund 20 Kilometer langes Fernwärmenetz zu den angeschlossenen Gebäuden<br />
Toni Bernhart und Elisabeth Hölzl<br />
bringt den Müll auf seine Weise, jeder bringt ihn so, wie er<br />
es am besten kann, manche mit dem Fahrrad, manche zu<br />
Fuß, die meisten im Auto oder mit dem Traktor. Auch eine<br />
Frau im Lamborghini war schon da, sagst du, sie hat drei<br />
Saftflaschen in die Glastonne geworfen. Es geht hier nicht<br />
um das Trennen oder Sammeln von Müll, das ist eine monastische<br />
und private Angelegenheit in den eigenen vier<br />
Wänden unter Ausschluss der Öffentlichkeit, was zählt,<br />
sagst du, ist das Hinbringen des Mülls, das Zusammenströmen<br />
der ganzen Dorfgemeinschaft auf dem Müllsammelplatz,<br />
der jeweils donnerstags am Nachmittag und samstags<br />
am Vormittag geöffnet hat. Du kannst dir vorstellen,<br />
sagst du, dass das ähnlich ist wie früher auf dem Kirchplatz,<br />
Menschen stehen zusammen in Gruppen und sprechen<br />
miteinander, die ganze Woche wird verhandelt, niemand<br />
ist eigentlich da wegen des Mülls allein oder der<br />
Sonntagsmesse, sagst du, und gießt uns heißen Punsch
nach, der in der Wintersonne dampft. Du bringst gerne<br />
deinen Müll zur Sammelstelle. Manchmal, sagst du, bist du<br />
mehrere Stunden dort, ohne Müll wären wir allein, wir wären<br />
einsam und verlassen in unseren vier Wänden und hätten<br />
nichts, was wir mit den anderen teilen könnten.<br />
Wer es urbaner mag, sagst du, bringt seinen Müll<br />
nach Glurns. Die Sammelstelle dort ist rund um die Uhr<br />
geöffnet, an allen Tagen der Woche. Es ist dort alles wie in<br />
Prad, nur größer, heller und freundlicher. Es gibt Container<br />
für Flach- und Rundglas, differenziert nach vier Farben,<br />
für Hohlkörper mit oder ohne Deckel, Alteisen, Papier, Karton,<br />
Schaumstoffe, Hecken- und Rasenschnitt extra, altes<br />
Bratöl und Motorenöl, Fungizide, Herbizide, Pestizide, Kosmetika<br />
und Waschmittel, die auf einer besonderen mobilen<br />
Waage gewogen werden, Elektroschrott, Waschmaschinen,<br />
Kühlschränke und Röhrenbildschirme haben eigene separate<br />
Abstellflächen, Bauschutt, Holzmüll mit oder ohne<br />
Eisenanteil und an drei Tagen in der Woche auch Tierkadaver.<br />
Auch die Müllsammelstellenmitarbeiter sind dort<br />
64<br />
Lebendes Geschichtsbuch. Peppi Stecher betreibt seit 1946 ein Gemischtwarengeschäft an der Hauptstraße.<br />
Als das erste Wasserkraftwerk in Betrieb genommen wurde, war die heute über 90-Jährige vier<br />
Jahre alt<br />
Leben Vom kürzeren Ende des Tages her<br />
netter. Sie vermitteln allen das Gefühl, dass alle herzlich<br />
willkommen sind mit ihrem Müll und als Person. Das ist<br />
auch der tiefere Grund, sagst du, warum die Menschen den<br />
Müll lieber nach Glurns bringen statt nach Prad. Sonst<br />
könnte man den Müll ja einfach der Müllabfuhr überlassen,<br />
was aber niemand gerne macht. Auch du, sagst du, bringst<br />
lieber deinen Müll nach Glurns. Dort fehlt noch ein Café. Es<br />
ist sehr still hier oben auf dem Berg. Es wäre schön, wenn<br />
es bei der Müllsammelstelle ein Café gäbe, sagst du, man<br />
könnte sich noch besser unterhalten. Café Desire, sagst du,<br />
sollte es heißen, und zeichnest mit dem Punschglas in der<br />
Hand den Namen in großen Lettern in den Winterhimmel.<br />
Trotzdem, Prad ist schön, sagst du, denn der Gemeinsinn<br />
ist hier ausgesprochen ausgeprägt, ebenso die<br />
Liebe zu Gemeinsamkeit, Gemeinschaft und zu allem<br />
Gemeinsamen, auch wenn du lieber, wie du sagst, ferne<br />
Weltengegenden bereist und die Stimmen der Vögel hörst,<br />
die du verstehen kannst als weltumspannendes Netz. Alle<br />
ziehen gemeinsam am gleichen Strang, alle machen alles
gemeinsam hier in Prad, das ist schön, sagst du, man kann<br />
hier in Prad gar nichts machen, ohne dass immer alle<br />
gleich helfen wollen, auch wenn es darum geht, die Farbe<br />
der Vorhänge an den Fenstern der Hinterseite des Hauses<br />
zu wählen, immer sind alle da und denken mit. Deshalb<br />
treffen sich auch alle gerne beim Müll, sei es in Prad oder,<br />
weil es dort herzlicher zugeht, im urbaneren Glurns, und<br />
bald auch im Café Desire, das du eröffnen wirst.<br />
Weißt du, sagst du, während wir unser viertes Glas<br />
Punsch aus den dickwandigen Gläsern trinken, und blickst<br />
zu mir herüber, manchmal möchtest du auch im Sommer,<br />
wenn es sehr heiß ist, dampfenden Punsch aus dick wandigen<br />
Gläsern trinken. Dann blickst du wieder geradeaus,<br />
während du weitersprichst. Es kann schon sein, sagst<br />
du, dass dann so etwas wie eine doppelte Hitze eintritt,<br />
Hitze von außen von der Sonne und Hitze von innen vom<br />
Punsch. Diese doppelte Hitze steigert sich zur Glut, die<br />
ei nen frösteln macht. Dann ist es plötzlich wieder kühl.<br />
Dann sagst du eine Weile nichts.<br />
65<br />
Wochenmarkt in Prad. „Prad ist schön, sagst du, denn der Gemeinsinn ist hier ausgesprochen ausgeprägt,<br />
ebenso die Liebe zu Gemeinsamkeit.“<br />
Toni Bernhart und Elisabeth Hölzl<br />
Wir haben noch die Gläser voll, sagst du. Wir trinken<br />
aus. Die Thermosflasche ist leer, sagst du, nachdem wir<br />
das vierte Glas Punsch getrunken haben. Du wickelst die<br />
zwei dickwandigen Gläser, die jetzt klebrig sind, in das<br />
blau-weiß-karierte Geschirrtuch und steckst sie zusammen<br />
mit der leeren Thermosflasche in den Rucksack zurück.<br />
Die Sonne steht noch am Himmel, aber schon tief, an diesem<br />
frühen Winternachmittag auf dem Berg.<br />
Toni Bernhart (*1971), Literaturwissenschaftler und Theaterautor<br />
in Berlin, seit 2008 Koordinator der Graduiertenschule<br />
für die Künste und die Wissenschaften an der Universität<br />
der Künste Berlin. Aktuelle Veröffentlichtung: „Das Laaser<br />
Spiel vom Eigenen Gericht“, Folio, 2010.
Gustav Hofer<br />
Stärkt die<br />
Kultur<br />
Illustration — Gino Alberti<br />
„Rettungsroutine“ – dieser seltsame Be-<br />
griff wurde von der Gesellschaft für deut-<br />
sche Sprache zum „Wort des Jahres“ ge-<br />
kürt, mit der Rechtfertigung, … es stehe<br />
für die immer wiederkehrenden Maßnahmen<br />
zur Rettung des Finanzsystems.<br />
Nun mag dieser Begriff für den<br />
deutschen Sprachgebrauch eine Neuigkeit<br />
darstellen, für Kulturschaffende in<br />
Italien ist die „Rettungsroutine“ jedoch<br />
eine gute alte Bekannte, deren Portemo n-<br />
naie allerdings in den Jahren immer dün-<br />
ner geworden ist. Tatsächlich sind die<br />
Förderungen im Mutterland der abendländischen<br />
Kultur in den vergangenen<br />
Jahren dahingeschmolzen wie Schnee in<br />
der Frühlingssonne. „Kultur macht nicht<br />
satt“, hat es der ehemalige Meister der<br />
kreativen Bilanzen Ex-Finanzminister<br />
Giulio Tremonti einmal auf den Punkt<br />
gebracht, als er die erneuten Kürzungen<br />
im Kulturhaushalt rechtfertigen sollte.<br />
Dabei bestätigten eine Reihe von<br />
Untersuchungen, dass gerade in Italien<br />
der Weg aus der Krise über die Kultur<br />
laufen müsste. Ein investierter Euro in<br />
Kultur bringt drei Euro Gewinn – so das<br />
Resultat einer Mailänder Studie. Die Realität<br />
schaut aber bisher anders aus, und<br />
daran hat auch die Übergangsregierung<br />
von Mario Monti nichts geändert. Den<br />
Kahlschlag im Kulturbereich hat die Regierung<br />
der Techniker weitergeführt.<br />
Positive Lichtblicke<br />
2012 hat es trotz der finanziellen Schwierigkeiten<br />
durchaus auch positive Lichtblicke<br />
gegeben. Das Filmjahr 2012 hat mit<br />
einem unerwarteten Comeback begonnen:<br />
Die über 80-jährigen Gebrüder Taviani<br />
gewannen mit „Cesare deve morire“<br />
den Goldenen Bären auf der Berlinale.<br />
Auch in Cannes ging das italienische<br />
Qualitätskino nicht leer aus: Matteo Garrones<br />
„Reality“ heimste den Grand Prix<br />
ein und auf internationalen Festivals rund<br />
um den Globus füllten italienische Spielund<br />
Dokumentarfilme die Kinosäle.<br />
Bringt das Weniger an Ressourcen<br />
also ein Mehr an Kreativität? Bewahrheitet<br />
sich das Klischee „Not macht erfinderisch“?<br />
Blickt man etwa auf den italienischen<br />
Dokumentarfilm, erlebt man eine<br />
lebendige Szene, mit Filmemachern, die<br />
neue dramaturgische Wege einschlagen,<br />
auf unkonventionelle und frische Art<br />
66 Leben Stärkt die Kultur<br />
Geschichten des Lebens erzählen und<br />
ohne Komplexe die Grenze zwischen Fiktion<br />
und Realität verschwimmen lassen.<br />
Das Fehlen an Geldgebern gibt den Filmemachern<br />
die künstlerische Freiheit,<br />
sich nicht klassischen Formatvorgaben<br />
anpassen zu müssen. Finanzielle Mittel<br />
Dabei bestätigten<br />
eine Reihe von Untersuchungen,<br />
dass gerade<br />
in Italien der Weg aus der<br />
Krise über die Kultur<br />
laufen müsste. Ein in Kultur<br />
investierter Euro<br />
bringt drei Euro Gewinn.<br />
von Fernsehsendern oder dem Kulturmi-<br />
nisterium sind in Italien Mangelware und<br />
so trifft man auf den internationalen Filmmärkten<br />
und Pitchings reihenweise italienische<br />
Kollegen, die im Ausland jene finanzielle<br />
Unterstützung suchen, die ihnen<br />
in ihrer Heimat verwehrt bleibt. Italienische<br />
Produzenten von Dokumentarfilmen<br />
sind mittlerweile gern gesehene Gäste,<br />
die den internationalen Markt oft besser<br />
kennen als die finanzierungsverwöhnten<br />
Kollegen nördlich der Alpen. Die Einführung<br />
der Filmförderung der Business<br />
Location <strong>Süd</strong>tirol – Alto Adige (<strong>BLS</strong>),<br />
die als Standortagentur Produktionen<br />
auf <strong>Süd</strong>tiroler Boden unterstützt, ist dabei<br />
eine Ausnahme und ein Hoffnungsschimmer<br />
für hunderte Filmprofis, die<br />
südlich der Brennergrenze noch hoffen,<br />
Geld für ihre Geschichten zu finden.<br />
Während sich der Dokumentarfilm<br />
in Italien an sein Stiefmütterchen-Dasein<br />
längst gewöhnt hat, war 2012 für den<br />
italienischen Spielfilm ein hartes Jahr.<br />
Niedrigere öffentliche Förderungen sind<br />
dabei nur eines der Probleme. Vor allem<br />
das Sterben der Kinosäle und die sinkende<br />
Zahl der Kinobesucher stellt die<br />
Filmindustrie vor neue Herausforderungen,<br />
die Kreativität und Mut erfordern.<br />
Kultur als „Gut der Allgemeinheit“<br />
Das sind zwei Elemente, die die italienische<br />
Theaterszene teilweise bereits um-
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gesetzt hat. Über Jahrzehnte wurden mit<br />
öffentlichen Mitteln die immer gleichen<br />
Regisseure und Produktionen überfinanziert.<br />
Oligarchische Strukturen bestehend<br />
aus einer Mischung aus Politik und Kultur<br />
wurden so über Jahre gefestigt – mit dem<br />
Resultat eines fast völligen künstlerischen<br />
Stillstandes der Bühnenkunst. Gegen<br />
dieses Klientelsystem hat sich im Juni<br />
2011 eine Gruppe von Schauspielern, Dramaturgen<br />
und Theatermachern aufgelehnt<br />
und das älteste Theater Roms, das<br />
Teatro Valle, das nach den Einschnitten<br />
im Kulturhaushalt geschlossen wurde,<br />
besetzt. Seitdem machen sie dort Programm<br />
und haben ohne öffentliche Mittel<br />
einen lebendigen Kulturpol im Herzen<br />
Roms aufgebaut. Ihrem Beispiel folgten<br />
Theaterbesetzungen in Neapel, Mailand,<br />
Pisa und Venedig. Im Mittelpunkt steht<br />
dabei die Idee von Kultur als „Gut der<br />
Allgemeinheit“ und die Forderung, öffentliche<br />
Finanzspritzen an einen Qualitätsanspruch<br />
zu koppeln. Gleichzeitig setzen<br />
sich die Theater-Besetzer für gerechte<br />
Arbeitsbedingungen und faire Löhne im<br />
Kulturbetrieb ein.<br />
Wenn Kultur zum treibenden Motor<br />
eines kriselnden Landes wie Italien<br />
werden soll, ist es unabdingbar, genau<br />
diese Punkte in den Mittelpunkt zu stellen.<br />
Gute Ideen und nicht gute Beziehungen<br />
müssen gefördert werden, daran sollten<br />
sich Kulturschaffende, aber vor allem<br />
die Politik gewöhnen. Artikel 9 der italienischen<br />
Verfassung besagt: Die Republik<br />
fördert die Entwicklung der Kultur. Das<br />
heißt, dass der Staat einerseits Kultur<br />
finanziell unterstützen muss – doch dies<br />
allein reicht nicht. Eine neue Kulturpolitik<br />
muss guten Ideen offen gegenüberstehen,<br />
deren Umsetzung unterstützen und deren<br />
Machern entgegenkommen.<br />
So ist auch in Italien eine kulturelle<br />
Renaissance möglich, denn an Potenzial<br />
und Ideen hat es diesem Land<br />
nie gefehlt.<br />
Gustav Hofer (*1976), seit 2000 freier<br />
Mitarbeiter beim Kultursender ARTE und<br />
Gestalter von Dokumentarfilmen in Rom.<br />
Aktuelle Dokumentation: „Italy: Love it or<br />
leave it“, 2011.<br />
67 Gustav Hofer
68 Leben Ideen und Techniken einer nachhaltigen <strong>Energie</strong>versorgung<br />
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69<br />
Something Fantastic
70<br />
Perspektiven<br />
Wissen<br />
Im Avantgardistisch: kleinen Dorf Prad Nachhaltige im oberen Architektur Vinschgau hat ist Querden- mehr als<br />
kertum ein bisschen Tradition Wärmedämmung 23 Nach hundertneunzig – fünf Vorbilder Jahren mit steht Sinn<br />
der fürs Weinbauer Schöne 71 Alois Mitgehangen: Lageder dem Alpine industriealisierten,<br />
Seilbahnen er-<br />
biodynamischen obern die Großstädte Betrieb 77 vor Trendig: — sein Fahrräder Credo: veredelte für jede<br />
Lebenslage Qualität für 80 die breite Abgefahren: Masse 43 Mit Wasserstoffautos In Italien wird liebend über<br />
gerne den Brenner mit Händen 87 Ideenreich: und Füßen Innovativ gesprochen, Mobilitätsprojek kann man te<br />
in dabei <strong>Süd</strong>tirol Sprechenergie 90 Umkehren: spare? Plädoyer Über <strong>Energie</strong>effizienz für mehr Gemeinsinn trotz<br />
91 wilder Aufbrechen: Gestik schreibt Wie aus Wolf Wissen Haas Taten 44 Fixies, werden Mountain- 92<br />
bike und Klapprad: Wie sieht das grünste Fortbewegungsmittel<br />
aus? 47
Wojciech Czaja<br />
Grüne Bausteine
Ein bisschen Wärmedämmung, ein<br />
paar grüne Lippenbekenntnisse und<br />
ein medial verwertbares KlimaHaus-<br />
Zertifikat zum Abschluss? Das ist<br />
zu wenig. Nachhaltigkeit ist ein komplexes<br />
Zusammenspiel von vielen<br />
unterschiedlichen Komponenten. Sie<br />
lässt sich nicht über einen Kamm<br />
scheren, sondern muss von Projekt<br />
zu Projekt in dividuell abgewogen<br />
werden. Fünf Beispiele aus <strong>Süd</strong>tirol.<br />
Es passiert nicht oft, dass der Firmensitz eines Industrieunternehmens<br />
den Weg auf die Architekturbiennale in Venedig<br />
findet. Dem <strong>Süd</strong>tiroler Bergsportspezialisten Salewa<br />
wurde dieses seltene Glück zuteil. Das von Cino Zucchi<br />
Architetti und Park Associati geplante Projekt wurde auf der<br />
Biennale 2010 im italienischen Pavillon ausgestellt. In der<br />
Folge wanderte das Salewa-Headquarter durch sämtliche<br />
internationale Gazetten und wurde für seine außergewöhnliche<br />
Architektur gelobt. Dass es sich bei dem monströsen<br />
Cluster, der wie ein schwarzer Berg kristall neben der Autobahn<br />
steht, um ein Vorzeigeprojekt in puncto Nachhaltigkeit<br />
handelt, ging in der Mediendiskussion allerdings unter.<br />
Ökologisch und sozial nachhaltig. Der Hauptsitz des Bergsportspe-<br />
zialisten Salewa im Bozner Gewerbegebiet Foto: Oskar Da Riz<br />
Das Salewa-Gebäude ist ein sogenanntes<br />
KlimaHaus B nach <strong>Süd</strong>tiroler Standards und somit besonders<br />
sparsam im <strong>Energie</strong>- und Ressourcenverbrauch.<br />
Außerhalb <strong>Süd</strong>tirols spricht man eher von Niedrigenergie-<br />
und Passivhaus. Doch der Salewa-Bürokomplex zeichnet<br />
sich nicht nur durch ökologische, sondern auch durch soziale<br />
Nachhaltigkeit aus. Das 27.000 Quadratmeter große<br />
72 Wissen Grüne Bausteine<br />
Gelände verfügt über Büros, Innovations- und Technologiecenter,<br />
über ein Logistikzentrum, einen eigenen Kindergarten<br />
sowie über die mit 2.000 Quadratmetern Kletterfläche<br />
größte Kletterhalle Italiens. Damit wird das Ge lände<br />
regelmäßig auch von Kindern und Jugendlichen genutzt.<br />
„Nachhaltigkeit wird oft sehr einseitig interpretiert<br />
und wird meist nur mit Passivhausqualität und Hightech-<br />
Lösungen in Verbindung gebracht“, sagt Filippo Pagliani,<br />
Projektleiter bei Park Associati, auf Anfrage von „<strong>Nord</strong> &<br />
<strong>Süd</strong>“. „Doch das ist ein Irrglaube, denn Nachhaltigkeit ist<br />
vor allem ein intelligentes Nutzungskonzept mit einfacher<br />
Wartung und entsprechend niedrigen Lebenszykluskosten.<br />
Nur wenn alle Komponenten zusammenspielen, kann<br />
man von einem nachhaltigen Gebäude sprechen.“<br />
Um die von der Sonne gewonnene <strong>Energie</strong>menge<br />
im Sommer zu reduzieren, wurde die <strong>Süd</strong>fassade mit einer<br />
mikroperforierten Aluminiumhaut überzogen. Darüber<br />
hinaus wurde das gesamte Gebäude in eine hochwertige<br />
Wärmedämmung aus Schaumglas eingepackt. Auf dem<br />
Dach befindet sich eine 2.100 Quadratmeter große Fotovoltaikanlage,<br />
die pro Jahr rund 400 Megawattstunden<br />
Strom produziert. Damit kann ein großer Teil des Stromverbrauchs<br />
abgedeckt werden. Geheizt und gekühlt wird<br />
das 40 Mil lionen Euro teure Hauptquartier – die reinen<br />
Baukosten belaufen sich auf 20 Millionen – mit Erdwärme.<br />
Erst kürzlich wurde das Projekt für seine Bemühungen mit<br />
dem KlimaHaus Award 2012 ausgezeichnet.<br />
„Leider passiert es heute noch sehr selten, dass bei<br />
der Errichtung eines Gebäudes die Lebenszykluskosten<br />
errechnet werden“, sagt der Wiener Architekt Martin<br />
Treberspurg. „Und wenn, dann dreht sich meist alles nur<br />
um laufende Betriebskosten. Die Abbruch- und Entsorgungskosten<br />
eines Gebäudes oder auch nur einzelner Gebäudeteile<br />
werden völlig außer Acht gelassen. Und das,<br />
obwohl wir längst wissen, dass nicht jedes Haus auf dieser<br />
Welt für die Ewigkeit gebaut ist!“<br />
Die Baustoffindustrie, die über eine der mächtigsten<br />
Lobbys der Welt verfügt, breitet über dieses heikle Thema<br />
geschickt den Mantel des Schweigens aus. Statt am Klimaschutz<br />
ist sie vor allem an der Vermarktung ihrer hochgepriesenen<br />
Bau- und Dämmstoffe interessiert. Ein grünes<br />
Umwelt-Logo und ein paar Lippenbekenntnisse werden<br />
schon reichen. Die oft horrende Gesamtenergiebilanz der<br />
einzelnen Produkte wird meist verschwiegen. Ein Beispiel<br />
aus dem Nachbarland: Allein in Österreich werden jährlich<br />
rund 10 Millionen Quadratmeter Wärmedämmverbundsystem<br />
verbaut. Tendenz steigend. Damit könnte man ein<br />
Haus dämmen, das so groß wie die Wiener Innenstadt und<br />
fast zwei Kilometer hoch ist. Alles Sondermüll.<br />
Umso wichtiger ist es, dass sich Auftraggeber und<br />
Architekten auf Produkte und Technologien einigen, die<br />
nicht schon in 10 oder 20 Jahren ihr Lebensende erreicht<br />
haben und entsorgt werden müssen. Niederschwellige,<br />
leicht instand zu haltende Technologien sind eine Möglichkeit,<br />
dieses Ziel zu erreichen. Mineralische oder nachwachsende<br />
Rohstoffe sind eine andere. Schaumglas beispielsweise<br />
ist eine zwar etwas kostenintensivere, aber aufgrund<br />
seiner Lebenserwartung und Recyclingfähigkeit durchaus
Zwischen Kirchplatz und<br />
historischen Altbauten. Das<br />
neue Rathaus in St. Lorenzen<br />
bei Bruneck<br />
Fotos: Marion Lafogler<br />
sinnvolle Alternative zu den erdölbasierten EPS-Dämmstoffplatten,<br />
die am Ende ihrer Dienste aus dem Kreislauf<br />
fallen und zu 100 Prozent entsorgt werden müssen.<br />
Nachhaltiges Vogelgezwitscher<br />
Nicht nur große Bauvorhaben, hinter denen zumeist wirtschaftlich<br />
potente Industrieunternehmen stehen, setzen<br />
auf die Nachhaltigkeitskarte. Es sind auch und vor allem<br />
die kleinen und unscheinbaren Eingriffe in bestehende<br />
Stadtstrukturen, die sich am Ende des Tages als ökologisch<br />
vertretbare Projekte herausstellen. Denn: Gesünder für die<br />
Klimabilanz ist allemal ein Gebäude im Stadtverband, wo<br />
die zusätzlich anfallenden Belastungen wie Verkehr, Infrastruktur<br />
und Heizung weitaus<br />
geringer ausfallen als bei einem<br />
Bauwerk auf der grünen Wiese.<br />
Das neue Rathaus in St. Lorenzen,<br />
das mitten im ensemblegeschützten<br />
Dorfkern zwischen Kirchplatz<br />
und historischen Altbauten liegt,<br />
ist so ein Beispiel.<br />
Wie der Salewa-Hauptsitz<br />
in Bozen ist es rundum mit 20<br />
Zentimeter starken Mineralschaumplatten<br />
verkleidet. „EPS-<br />
Kunststoffe haben bei gleicher Dämmstärke zwar etwas<br />
bessere Dämmeigenschaften als Schaumglas, doch dafür<br />
schneiden sie in der ökologischen Gesamtenergiebilanz<br />
73 Wojciech Czaja<br />
weniger gut ab“, erklärt Architekt Armin Pedevilla. „Wir<br />
werden es uns eines Tages nicht mehr leisten können, fossile<br />
Rohstoffe zu verbauen. Schon gar nicht, wenn wir nicht<br />
einmal wissen, wie wir diese Materialien eines Tages entsorgen<br />
sollen.“ Im Gegensatz zu Österreich und Restitalien<br />
ist in <strong>Süd</strong>tirol in den letzten Jahren ein Trend zu mineralischen<br />
Dämmstoffen zu erkennen. Darüber freut sich auch<br />
die Feuerwehr, denn brandschutztechnisch ist man den<br />
Kunststoffen damit weit voraus.<br />
Anders als die meisten Bürobauten verfügt das Gemeindehaus<br />
über eine kontrollierte Raumlüftung mit Wärmerückgewinnung<br />
sowie über Heizung und Kühlung mittels<br />
Erdwärme. Zum wohltemperierten Raumempfinden<br />
trägt nicht zuletzt die Abwärme von Mensch und Computer<br />
bei. Mit Erfolg: Mit einem jährlichen<br />
Heizwärmebedarf von nicht<br />
einmal 4 kWh/m 2 erreicht das mit<br />
Gold zertifizierte KlimaHaus, das<br />
2008 sogar mit der Auszeichnung<br />
Best KlimaHaus prämiert<br />
wurde, fast Nullenergie-Standard<br />
und ist damit erwiesenermaßen<br />
einer der energie- und ressourcenschonendsten<br />
öffentlichen<br />
Bauten <strong>Süd</strong>tirols. „Bei allen ökologischen<br />
und technischen Maßnahmen<br />
darf man nicht darauf vergessen, dass sich die<br />
Menschen in den von uns geplanten Häusern letztendlich<br />
wohlfühlen müssen“, sagt Pedevilla. „Das beste Zertifikat
ist sinnlos, wenn die Nutzer und Bewohner unglücklich<br />
sind, weil sie im Frühling und Sommer nicht die Fenster<br />
öffnen und den Vögeln beim Zwitschern zuhören können.“<br />
Neben den großen Fixverglasungen gibt es daher kleine,<br />
öffenbare Lüftungsflügel, die für ein Minimum an auditiver<br />
Lebensqualität sorgen. Pedevilla: „Der Lüftungsquerschnitt<br />
ist so klein, dass der Wirkungsverlust zu vernachlässigen<br />
ist. Selbst im heißesten Sommer haben die offenen Fenster<br />
auf die Gesamtenergiebilanz des Hauses de facto keinen<br />
Einfluss.“<br />
74<br />
Schulbau rettet Kirchturm<br />
Wie sehr man mit Architektur und traditionellen Baustoffen<br />
zur Qualität einer ganzen Stadt beitragen kann, zeigt<br />
sich an der Grundschule in Sterzing. Am Rande der Gemeinde<br />
errichtete das Architekturbüro Calderan Zanovello<br />
ein ungewöhnliches Schulhaus im KlimaHaus-B-Standard.<br />
Der <strong>Energie</strong>verbrauch ist gering. Und die mitsamt Rinde<br />
roh belassenen Lärchenstämme an der Fassade, die der<br />
Schule ihr unverwechselbares Aussehen verleihen, sind<br />
Unverwechselbares Aussehen. Blicke auf die neue Grundschule<br />
in der Fuggerstadt Sterzing Fotos Seite 67 und<br />
70/71: CEZ Calderan und Zanovello<br />
nicht nur ein Plädoyer für den Einsatz nachwachsender<br />
Rohstoffe, sondern auch ein Tribut an die historische Bauweise<br />
in ländlichen Regionen. Die Metapher sitzt. Die<br />
wahre Nachhaltigkeit dieses Projekts begründet sich jedoch<br />
nicht in den Eckdaten des Gebäudes, sondern in<br />
seinem urbanen Kontext. Fast könnte man meinen, dass<br />
hier ein städtebauliches Ensemble gerettet und wiederhergestellt<br />
wurde.<br />
„Die Schule steht im Sterzinger Moos, in unmittelbarer<br />
Nähe der Gemeindekirche“, erzählt Architekt Carlo<br />
Calderan. „Jahrhundertelang stand die Kirche fast einsam<br />
auf diesem Areal. Es ist ein wunderschönes, landschaftliches<br />
Panorama, das sich hier einst aufgetan haben muss.“<br />
Doch in den letzten zwei Jahrzehnten wurde im Hinter-<br />
Wissen Grüne Bausteine<br />
grund der Kirche gebaut, gewütet und zersiedelt wie auch<br />
überall sonst auf der Welt. Das Resultat ist ein unschöner<br />
Einfamilienhausteppich mit 08/15-Häusern wie aus dem<br />
Fertighauskatalog. Mit dem Bau der Schule, die sich formal<br />
und farblich stark zurücknimmt, wurde der quirlige Häuserhintergrund<br />
ausgeblendet. Ein bisschen wirkt die<br />
Schule wie ein Bühnenbild für das Sakrale.<br />
Nicht nur die Optik, auch die technischen Eckdaten<br />
des 7,6 Millionen Euro teuren Gebäudes zeugen von Sensibilität.<br />
Um das Grundwasser nicht zu verdrängen und die<br />
ohnehin schon kritische Schieflage des nahe gelegenen<br />
Kirchturms durch den Wasserdruck nicht noch zusätzlich<br />
zu verstärken, wurde auf eine Unterkellerung des Schulgebäudes<br />
verzichtet. Stattdessen wurde der Lehmboden<br />
im Bereich der Schule mittels Kies tragfähig gemacht.<br />
Im Gegensatz zu einem Kellerfundament hat diese Maßnah<br />
me auf den Grundwasserspiegel keinerlei Einfluss. Die<br />
Wasser säule bleibt gleich. Darüber wurde eine 50 Zentimeter<br />
dicke Fundamentplatte betoniert, die schließlich das<br />
gesamte Gebäude trägt. Ohne Eingriff ins geologische Mikrosystem<br />
scheint die Schule nun wie ein Floß auf dem<br />
sumpfigen Boden zu schwimmen. Auch das ist ökologische<br />
Nachhaltigkeit.
75<br />
<strong>Energie</strong>fokus Altbau<br />
Und dennoch: Allen schönen Architekturinitiativen zum<br />
Trotz ist es nicht der Neubau, der unsere größte ökologische<br />
Aufmerksamkeit verdienen sollte, sondern der Umgang<br />
mit dem baulichen Erbe der zweiten Hälfte des 20.<br />
Jahrhunderts. „Bis zum Zweiten Weltkrieg war die Architektur<br />
und Besiedelungspolitik in Europa in Ordnung“,<br />
meint Vittorio Magnano Lampugnani, Professor für Geschichte<br />
des Städtebaus an der ETH Zürich. „In den Nachkriegsjahrzehnten<br />
jedoch sind die Städte und Peripherien<br />
in einer Art und Weise gewachsen, dass wir bis heute damit<br />
beschäftigt sind, die Fehler von damals wiedergutzumachen.“<br />
Die Korrektur bezieht sich nicht nur auf urbane Aspekte,<br />
sondern auch auf die Qualität des Gebauten. In der<br />
europaweiten Wohnungsnot der Nachkriegsjahre hatte<br />
man verständlicherweise andere Sorgen als die Erfüllung<br />
technischer und bauphysikalischer Sollwerte. Doch das ist<br />
heute anders. „Sanierungen sind ein wichtiges, ja vielleicht<br />
sogar das wichtigste Aufgabengebiet für die nächsten<br />
Jahre und Jahrzehnte“, sagt Christian Moser von Brida Moser<br />
Architekten. „Vor allem in den 1960er- und 1970er-<br />
Jahren sind in ganz Europa viele Gebäude entstanden, die<br />
Wojciech Czaja<br />
den heute notwendig gewordenen Anforderungen an<br />
Klima- und Umweltschutz längst nicht mehr gerecht werden.<br />
Hier anzusetzen, ist weitaus effizienter als jeder noch<br />
so gute Neubau.“<br />
Sanierungen sind ein wichtiges, ja<br />
vielleicht sogar das wichtigste<br />
Aufgaben gebiet für die nächsten Jahre<br />
und Jahrzehnte.<br />
Christian Moser<br />
Die Sanierung der Wohnhausanlage in Milland in der<br />
Gemeinde Brixen ist so ein Beispiel. Vor dem Umbau hatte<br />
die in den Jahren 1976 bis 1978 von Rudi Zingerle errichtete<br />
Anlage einen Heizwärmebedarf von 155 kWh/m 2 a. Nachdem<br />
die Fassade mit zwölf Zentimeter Mineralschaum<br />
gedämmt und die alten Fenster gegen neue Holz-Alu-Verbundfenster<br />
mit Wärmeschutzglas ausgetauscht wurden,<br />
ist der Heizwärmebedarf nun auf 69 kWh/m 2 a gesunken.<br />
Das ist weniger als die Hälfte. Am Dach gibt es eine 90<br />
Quadratmeter große Sonnenkollektoranlage, die die Warmwasseraufbereitung<br />
im ganzen Haus unterstützt. Außerdem<br />
wurden einige der einst großen Vierzimmerwohnungen<br />
unterteilt und zu kleineren Ein- und Zweizimmerwohnungen<br />
umstrukturiert. Diese bauliche Maßnahme ist<br />
vor allem eine Reaktion auf die veränderten demografischen<br />
Werte und auf den heutzutage höheren Bedarf an<br />
Singlewohnungen.<br />
Die Sanierung aller 66 Wohnungen – ursprünglich<br />
waren es 52 – beläuft sich auf 6 Millionen Euro. „Natürlich<br />
wäre es möglich gewesen, den Heizwärmebedarf der Wohnungen<br />
mit einer kontrollierten Wohnraumlüftung zusätzlich<br />
zu reduzieren, doch dieser Schritt wäre sehr aufwendig<br />
und kostspielig gewesen“, so Moser. „Im Wohnbau muss<br />
man solche Entscheidungen abhängig von Lage, Mietkosten<br />
und Amortisationszeit individuell treffen. Da gibt es<br />
keine pauschale Formel.“<br />
Derzeit noch lassen sich in Italien bei einer thermischen<br />
Sanierung 36 Prozent der Investitionskosten in einem<br />
Zeitraum von zehn Jahren steuerlich absetzen. Im<br />
Gegensatz zum Neubau ist die Nutzung bestehender Bausubstanz<br />
somit ein großer finanzieller Anreiz. Doch die<br />
weitsichtig kluge Förderungsmaßnahme der Regierung,<br />
die in <strong>Süd</strong>- und Mitteleuropa seinesgleichen sucht, droht<br />
zu verschwinden. Am 30. Juni 2013 soll der steuerliche<br />
Anreiz zwar nicht abgeschafft, doch wesentlich unattraktiver<br />
gemacht werden. „Ich finde diesen Schritt sehr bedauerlich“,<br />
meint der auf ökologische Bauweise spezialisierte<br />
Bozner Architekt Manuel Benedikter. „Aufgrund der klimatischen<br />
Verhältnisse und des Landschaftsschutzes wird es<br />
in Zukunft immer wichtiger werden, alte Bausubstanz zu<br />
sanieren. Der bevorstehende Schritt der italienischen Regierung<br />
ist definitiv ein Schritt rückwärts.“
Historische Bauten prägen das Stadtbild<br />
europäischer Städte. Wir müssen<br />
alles unternehmen, um diese Bauwerke<br />
möglichst energieeffizient, aber auch<br />
mit Rücksicht auf ihre Architektur und<br />
ihren kulturellen Wert zu sanieren.<br />
76<br />
Manuel Benedikter<br />
Beispiel für Klima- und Denkmalschutz. Das sanierte Haus<br />
Glauber in Bozen Foto: Manuel Benedikter<br />
Wissen Grüne Bausteine<br />
<strong>Energie</strong>reduktion um 93 Prozent<br />
Technische Leuchtturm-Projekte wie die vielfach publizierte<br />
Sanierung des Hauses Glauber könnten damit ein<br />
für alle Mal verschwinden. Die 1749 errichtete Orangerie<br />
auf dem Ansitz Kofler, in der sogar schon Wolfgang Amadeus<br />
Mozart zu Gast war, wurde 2006 von Benedikter<br />
thermisch saniert in den ursprünglichen Zustand rückgebaut.<br />
Auf diese Weise ist es gelungen, den jährlichen Heizwärmebedarf<br />
des denkmalgeschützten Hauses von 450<br />
kWh/m 2 auf 30 kWh/m 2 a zu senken. Das ist eine Reduktion<br />
um 93 Prozent.<br />
Gedämmt wurde, wo es aufgrund des bestehenden<br />
Wandstucks erforderlich war, stets auf der Innenseite<br />
des Gebäudes, Kastenfenster wurden ausgetauscht, historische<br />
Details wie Geländer, Fensterläden und sogar die<br />
üppige Fas sadenbegrünung wurden nach Möglichkeit<br />
erhalten. Nicht nur ein Architekturprojekt, sondern ein sensibles,<br />
baukulturelles Forschungsprojekt wurde hier realisiert.<br />
Für historisch wertvolle Bauwerke, bei denen in Europa<br />
stets das Totschlägerargument vorausgeschickt wird,<br />
Klimaschutz und Denkmalschutz seien ein Widerspruch<br />
und ließen sich nicht miteinander vereinen, ist das Haus<br />
Glauber ein überzeugendes Beispiel, dass es doch geht.<br />
Derzeit wird das Objekt thermisch evaluiert. Nächstes Jahr<br />
soll das Monitoring abgeschlossen sein.<br />
Ob sich die Situation nach dem 30. Juni 2013 wieder<br />
bessern wird? Die Europäische Akademie Bozen (Eurac)<br />
befasst sich seit einiger Zeit mit der Erhaltung, Pflege und<br />
Restaurierung von historischen Kulturgütern. „Wir wollen<br />
den <strong>Energie</strong>bereich und die Denkmalpflege stärker miteinander<br />
verbinden“, sagt Alexandra Troi, stellvertretende<br />
Leiterin des Eurac-Instituts für erneuerbare <strong>Energie</strong>n<br />
und Head des Wissenschaftsprojekts 3ENCULT. „Historische<br />
Bauten prägen das Stadtbild europäischer Städte.<br />
Wir müssen alles unternehmen, um diese Bauwerke<br />
möglichst energieeffizient, aber auch mit Rücksicht auf<br />
ihre Architektur und ihren kulturellen Wert zu sanieren.“<br />
Wie es scheint, hat das Kapitel Nachhaltigkeit noch<br />
lange nicht seinen Höhepunkt erreicht. Ganz im Gegenteil.<br />
Die ersten Zeilen sind geschrieben. Uns steht ein Roman<br />
mit verschiedenen, raffiniert gekreuzten Handlungssträngen<br />
bevor: mit Neubauten, Altbauten, Umwidmungen,<br />
thermischen Sanierungen, futuristischen Landmarks, sensiblen<br />
Eingriffen, individuellen Abwägungen und dem<br />
Know-how vieler Experten. Es wäre schön, wenn Wirtschaft<br />
und Politik ihre Aufgabe als Herausgeberinnen dieses<br />
Opus magnum wahrnehmen würden, anstatt sich<br />
durch Lobbying, finanzielle Eigen interessen und kurzfristig<br />
gedachte Budgetkürzungen aus der Affäre zu ziehen.<br />
Wojciech Czaja (*1978), freier Autor und Architekturjournalist<br />
unter anderem für „Der Standard“, „Der Spiegel“ und „Detail“.<br />
Die Architekten Margot Wittig und Rudi Zancan, Mitglieder der<br />
Baukulturgruppe der Architekturstiftung <strong>Süd</strong>tirol, haben für<br />
diesen Beitrag zehn Bauprojekte vorgeschlagen.
7 7<br />
Susanne Pitro<br />
Die Renaissance<br />
des Seils<br />
Im vergangenen Jahrhundert ermöglichten<br />
Seilbahnen die schrittweise Erschließung<br />
der Berge, nun schließen sie<br />
Lücken in den Nahverkehrsnetzen großer<br />
Städte. Ein Ausflug in die urbane<br />
Nische eines alpinen Verkehrsmittels.<br />
Susanne Pitro<br />
Blick auf die Rittner Seilbahn Foto: David Schreyer<br />
Das Nahverkehrsnetz von <strong>Süd</strong>tirols Landeshauptstadt endet<br />
auf einer Höhe von 1.221 Höhenmetern. Die letzten 950<br />
Meter legen Pendler, Touristen und Städter, die auf dem<br />
idyllischen Hochplateau Ritten abschalten wollen, schwebend<br />
zurück. Alle vier Minuten können sie in der architektonisch<br />
prägnanten Talstation gleich hinter dem Bozner<br />
Bahnhof in eine der Gondeln steigen, die von frühmorgens<br />
bis spätabends auf der ersten Dreiseilumlaufbahn Italiens<br />
zirkulieren. Ein knapp 12-minütiges Fahrerlebnis als Alternative<br />
zu 17 kurvigen Straßenkilometern: Dieses Angebot<br />
hat alle Erwartungen von <strong>Süd</strong>tirols Verkehrsplanern übertroffen.<br />
Bei der Eröffnung im Jahr 2009 zeigte sich Mobilitäts-Landesrat<br />
Thomas Widmann zuversichtlich, innerhalb<br />
von drei Jahren auf 200.000 Benutzer zu kommen. Tatsächlich<br />
befördert die Rittner Seilbahn mittlerweile knapp eine<br />
Millionen Menschen im Jahr.<br />
Was in der 100.000-Einwohner-Stadt Bozen funktioniert,<br />
hat auch in Großstädten wie London, New York, Rio<br />
de Janeiro oder Hongkong Erfolg. Seit gut einem Jahrzehnt<br />
expandiert die Seilbahn von ihrem gebirgigen Stammgebiet<br />
in Richtung urbanen Raum. Ob Umlaufbahn, Pendelbahn<br />
oder Standseilbahn: All jene Technologien, die in der Vergangenheit<br />
dafür entwickelt wurden, die Versorgung und<br />
den Transport in einer alpinen Bergwelt zu ermöglichen,
werden im 21. Jahrhundert als ressourcen- und umweltschonende<br />
Lösung spezifischer urbaner Mobilitätsbedürfnisse<br />
entdeckt. Die Player auf diesem neuen Markt<br />
der seilgezogenen urbanen Transportsysteme kommen<br />
nach wie vor aus dem Herzen der Alpen: die <strong>Süd</strong>tiroler Leitner-Gruppe<br />
mit Zentrale in Sterzing sowie die Doppelmayr-<br />
Gruppe, die im nahen Vorarlberger Wolfurt zu Hause ist<br />
und den italienischen Markt seit vier Jahrzehnten von <strong>Süd</strong>tirol<br />
aus bearbeitet.<br />
Es sind zwei Familienunternehmen mit jeweils mehr<br />
als hundert Jahren Geschichte, die sich heute nach zahlreichen<br />
Übernahmen den Weltmarkt für Seilbahnen teilen.<br />
Während sich Doppelmayr bei seinen Einkaufstouren vorwiegend<br />
auf den Seilbahnbereich beschränkte, wo es heute<br />
mit rund 60 Prozent Weltmarktführer ist, übernahm Leitner<br />
neben dem französischen Seilbahnkonkurrenten Poma<br />
auch Firmen in den Bereichen Pistenfahrzeuge und Beschneiungstechnik<br />
und entwickelte sich damit zum Anbieter<br />
von Berg- und Wintertechnologie, dessen Palette an<br />
Produkten am umfangreichsten ist. Parallel dazu begann<br />
Präsident Michael Seeber die Abhängigkeit seines Betriebes<br />
vom Wintergeschäft zu reduzieren. „Dass wir hier langfristig<br />
kein großes Entwicklungspotenzial mehr haben, ist<br />
ein Fakt, der sich bereits vor mehr als zehn Jahren auf dem<br />
US-Markt abzeichnete“, sagt er. Seine Antwort? Die Diversifikation<br />
in Zukunftsbranchen, in denen starke Synergien<br />
mit Leitner-Technologien bestehen. Neben Windgeneratoren<br />
und Nutzfahrzeugen gehören dazu auch die seilgezogenen<br />
urbanen Transportsysteme – ein Markt, auf dem die<br />
<strong>Süd</strong>tiroler wenig überraschend erneut auf ihren Vorarlberger<br />
Konkurrenten treffen.<br />
Landesrat Thomas Widmann (rechts) und Michael Seeber, Präsident<br />
von Leitner Technologies, auf der Fahrt von Bozen auf den<br />
Ritten Foto: Ivo Corrà<br />
78<br />
Am Puls der Zeit<br />
Denn der Einsatz von Seilbahnen und seilgezogenen<br />
Systemen im urbanen Raum trifft in vielen Belangen den<br />
Puls der Zeit. Dieser manifestiert sich in den Großstädten<br />
dieser Welt auch in Problemen wie heillosem Verkehrschaos,<br />
Smog, Platzmangel oder der fehlenden Anbindung<br />
Wissen Die Renaissance des Seils<br />
rasch wachsender Siedlungsräume. Entsprechend schlagend<br />
sind die Verkaufsargumente der beiden Seilbahnbauer:<br />
Ihre Lösungen sind verhältnismäßig schnell gebaut,<br />
haben einen geringen Platzbedarf, kollidieren nicht mit<br />
anderen Verkehrsteilnehmern und fahren beziehungsweise<br />
schweben einfach über Hindernisse und Staus hinweg.<br />
Mit Investitionskosten, die je nach Ausführung zwischen<br />
knapp 10 und 35 Millionen Euro pro Kilometer liegen,<br />
und geringen Betriebskosten sind sie nicht nur günstiger<br />
als die meisten herkömmlichen städtischen Verkehrsmittel<br />
– allen voran die U-Bahn mit Investitionskosten von<br />
rund 300 Millionen Euro pro Kilometer. Auch in Sachen<br />
Umweltbilanz schlagen sie laut einer Studie des österreichischen<br />
Strategieberaters ClimatePartner ab einer Auslastung<br />
von 50 Prozent selbst Alternativen wie die Bahn:<br />
Während eine Seilbahn demnach im Schnitt 27 Gramm<br />
CO 2 pro Person und Kilometer verbrauche, geht die Studie<br />
von Vergleichswerten von 30 Gramm für die Bahn, 38,5<br />
Gramm für einen Diesel-Linienbus und 248 Gramm für<br />
einen Benzin-Pkw aus.<br />
Das sind Argumente, mit denen beispielsweise derzeit<br />
in Hamburg für eine Hafen-City-Seilbahn geworben<br />
wird, die auf „innovative Weise den lange versprochenen<br />
Sprung über die Elbe schaffen und einen wichtigen Beitrag<br />
zur Stadtentwicklung leisten soll“, wie es auf der Promotion-Website<br />
heißt. Es handelt sich um ein Projekt, das noch<br />
vor wenigen Jahren kaum denkbar gewesen wäre. Denn bis<br />
dahin galten Stadtseilbahnen in Europa noch als „U-Bahn<br />
für die Dritte Welt“, sagt Thomas Pichler, Vertriebsleiter von<br />
Doppelmayr Italia. Zwar schwebten beispielsweise die Besucher<br />
der Expo 2000 in Hannover mit Begeisterung in<br />
einer Leitner-Kabinenbahn über das Ausstellungsgelände,<br />
doch die Vorstellung, dass die Seilbahn eine sinnvolle Ergänzung<br />
urbaner öffentlicher Nahverkehrssysteme sein<br />
könnte, schien zu der Zeit selbst bei Doppelmayr weltfremd.<br />
„Wir hatten als Europäer aufgrund von Themen wie Brandschutz<br />
oder der Beeinträchtigung von Anrainern immer eine<br />
gewisse Skepsis, Seilbahnen in eine Stadt zu bauen“, sagt<br />
Thomas Pichler. Keine derartigen Sorgen machten sich dagegen<br />
Kunden in <strong>Nord</strong>afrika und <strong>Süd</strong>amerika, die um die<br />
Jahrtausendwende begannen, Seilbahnen zu bestellen, um<br />
damit auf vergleichsweise kostengünstige Art Verkehrsprobleme<br />
in ihren Städten zu lösen.<br />
Sozialisierung durch Anbindung<br />
Mittlerweile hat sich vor allem in <strong>Süd</strong>amerika ein wahrer<br />
Boom der Stadtseilbahn entwickelt. Dies hängt auch mit<br />
der gesellschaftlichen Bedeutung zusammen, die dem Verkehrsmittel<br />
dort zugeschrieben wird, meint Michael Seeber.<br />
Vorzeigeprojekt dafür ist die von Leitner gebaute<br />
„Aerial Tramway“ in Rio de Janeiro, wo eine 3,4 Kilometer<br />
lange Kabinenbahn mit sieben Stationen eine Favela<br />
mit rund 300.000 Bewohnern mit dem nächstgelegenen<br />
Bahnhof verbindet. „Während sich die Menschen davor<br />
ein bis zwei Stunden lang einen Weg durch diesen chaotischen<br />
Siedlungsraum bahnen mussten, um einzukaufen<br />
oder ihren Arbeitsplatz zu erreichen, steigen sie nun auf
Linea Rossa – die seilgezogene MiniMetro in Perugia Foto: Leitner<br />
dem nächsten Hügel in eine Seilbahn und sind in wenigen<br />
Minuten beim Bahnhof“, so Seeber. Spätestens seit Londons<br />
Bürgermeister Boris Johnson im April 2012 als erster<br />
Fahrgast in einer Gondel die Themse überquerte, beginnt<br />
auch in Europas Städten das Eis zu brechen, meint Doppelmayr-Italia-Vertriebsleiter<br />
Thomas Pichler. Das Prestigeprojekt<br />
seines Mutterhauses, das mit einer mehr als einen<br />
Kilometer langen Gondelbahn die Landzunge Greenwich<br />
Peninsula mit den Royal Docks verbindet, hat nicht zuletzt<br />
wegen seiner Nutzung für Olympia 2012 sowie eines millionenschweren<br />
Sponsorings der Fluggesellschaft Emirates<br />
für breite Beachtung gesorgt.<br />
Als urbanes Verkehrsmittel salonfähig wurde die<br />
Seilbahn in unseren Breitengraden aber zunächst einmal<br />
über die Adaption einer anderen Technologie. Unter den<br />
Marken MiniMetro (Leitner) und Cable Liner (Doppelmayr)<br />
entwickelten die beiden Unternehmen die klassische<br />
Standseilbahn zum sogenannten People Mover weiter. Was<br />
aussieht wie eine futuristische Straßenbahn, ist ein vollautomatisches<br />
seilgezogenes Verkehrsmittel, das zumeist auf<br />
leisen Gummirädern über Schienen aus Beton oder Stahl<br />
rollt. Bei einer ähnlichen Beförderungskapazität wie jener<br />
von Bussen oder Straßenbahnen punkten People Mover<br />
auf kurzen bis mittleren Strecken mit einer extremen Steig-<br />
und Kurvenfähigkeit, staufreiem Fahren und kurzen Intervallen.<br />
Erleben kann man dies in Europa beispielsweise<br />
in Zürich, Venedig oder Frankfurt, wo MiniMetros oder<br />
Cable Liner für unkomplizierte und schnelle Transfers auf<br />
Flughäfen oder zwischen Parkhäusern und Büro- oder<br />
Stadtzentren sorgen.<br />
79<br />
Nachhaltiges Mobilitätskonzept<br />
Zur Krönung geführt wurde das System aber bislang<br />
im italienischen Perugia. Die dort 2008 eröffnete MiniMetro,<br />
die mit bis zu 25 Wagen in engen Kurven von einem<br />
großen Parkplatz am Stadtrand über eine Neubauzone zum<br />
Bahnhof und schließlich auf den Hügel der Altstadt führt,<br />
Susanne Pitro<br />
überzeugt gleich auf mehreren Ebenen:<br />
an gefangen beim Design des französischen<br />
Stararchitekten Jean Nouvel über<br />
die F i nanzierung im Rahmen einer Public-<br />
Private-Partnership bis hin zur Technologie,<br />
die beim bislang ein zigen kuppelbaren<br />
People Mover sieben Stationen<br />
mit unterschiedlichen Abständen erlaubt.<br />
Vor allem aber ist die nach ihren rot lackierten<br />
Schienenkörpern „Linea Rossa“<br />
benannte MiniMetro das Rückgrat eines<br />
nachhaltigen Mobilitätskonzeptes, mit<br />
dem die verwinkelte Altstadt wesentlich<br />
vom Autoverkehr ent lastet werden<br />
konnte.<br />
Liegt die Zukunft der Seilbahn also<br />
in der Stadt? Zumindest bislang lautet<br />
die Antwort: Die Masse macht immer<br />
noch der Berg. Immerhin werden laut<br />
Thomas Pichler 80 bis 85 Prozent des<br />
Doppelmayr-Umsatzes von 600 Millionen Euro mit dem<br />
Wintergeschäft gemacht. Bei Leitner trägt der urbane<br />
Bereich bislang mit rund einem Zehntel zum Konzernumsatz<br />
von 800 Millionen Euro bei. Doch die Tendenz geht<br />
klar nach oben. „Im Moment laufen sehr viele Verhandlungen<br />
und Projekte“, sagt Michael Seeber, „allerdings<br />
Seilbahn über den Dächern von Caracas Foto: Doppelmayr<br />
sind diese im urbanen Bereich auch viel zeitaufwendiger<br />
als im Wintersportbereich.“ Während dort meist schon eine<br />
Genehmigung für eine bestimmte Trasse vorliegt, heißt es<br />
in Städten erst einmal Varianten auszuarbeiten, politische<br />
Überzeugungsarbeit zu leisten und gegen die Bürokratie<br />
zu kämpfen. Nichtsdestotrotz: In der Vision des <strong>Süd</strong>tiroler<br />
Vorzeigeunternehmers wird der Umsatzanteil der urbanen<br />
Seilbahn langfristig auf 20 bis 30 Prozent wachsen. „Als<br />
unverbesserlicher Idealist gehe ich aber davon aus, dass<br />
dieser zum Berggeschäft dazu statt davon wegkommt.“<br />
Susanne Pitro (*1970), Redakteurin bei der Tageszeitung<br />
„Dolomiten“, dem Wochenmagazin „ff“ (1998–2007); seit 2007<br />
freischaffende Journalistin.
Nicolò Degiorgis<br />
Fest im Sattel<br />
Vorbei sind die Zeiten, als das Fahrrad noch als Fortbewegungsmittel für all jene<br />
galt, die sich kein Auto leisten konnten. Ob schlicht, aufgepeppt oder auch mit<br />
Retroelementen versehen: Zweiräder genießen heute vor allem bei Jüngeren Kultstatus<br />
und sind aus deren Freizeit nicht mehr wegzudenken. Und in Städten sind sie<br />
längst Mobilitätsvehikel <strong>Nummer</strong> eins: umweltfreundlich, vielseitig nutzbar, in der<br />
Regel auch preiswert in Anschaffung und Unterhalt sowie gesundheitsfördernd.<br />
Der Markt für Zweiräder boomt und mit Pedelecs und E-Bikes kündigt sich der<br />
nächste Schub an. Auf Rädern mit Hilfsantrieb können Urlauber und Ältere nicht nur<br />
bequem Berge und Landschaft entdecken – sie sind auch eine umweltfreundliche<br />
Alternative zu Bussen und Autos.
Adrenalin auf zwei Rädern. Downhiller in der Umgebung von Bozen<br />
81 Nicolò Degiorgis
82 Wissen Fest im Sattel
(Bild links) Kultobjekt Fahrrad. Hier ein Eingangrad, kurz Fixie, in einer Garage in Bozen (Bild rechts) Fahrradkurier in Bozen.<br />
Wer sich in der Stadt berufsbedingt schnell bewegen und verstopften Straßen und der Parkplatzsuche entgehen will, muss auf<br />
das Auto verzichten<br />
83 Nicolò Degiorgis
Pimp up my Fahrrad. Aufgemotzte Zweiräder (Bild links) unterstreichen die Renaissance des guten alten Radls.<br />
In Städten greifen gerade ältere Menschen gerne auf E-Bikes (Bild Mitte) zurück<br />
84 Wissen Fest im Sattel
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Umweltfreundlich reisen. Das Reiserad ist speziell für die Bedürfnisse von Urlaubern konzipiert worden.<br />
Auch noch mit rund 50 Kilogramm Gepäck kann der Fahrer sicher lenken und bremsen<br />
85<br />
Nicolò Degiorgis
Neuer Trendsport. Bike-Polo erobert die Asphaltplätze<br />
86 Wissen Fest im Sattel
Wasser, Berge, Stromleitungen und eine Autobahn – mehr,<br />
sagt Walter Huber, brauche er nicht, um den <strong>Nord</strong>en und<br />
den <strong>Süd</strong>en Europas mit einem „grünen Korridor“ zu verbinden.<br />
Das ist schon anspruchsvoll genug. Doch bei dem Projekt<br />
geht es noch um viel mehr: Der Leiter des Instituts für<br />
Innovative Technologien in Bozen entwickelt nicht weniger<br />
als ein Konzept, um den Verkehr umweltschonender zu<br />
machen und das Autofahren aus seiner Abhängigkeit vom<br />
Erdöl zu befreien.<br />
Sein Plan ist eine Wasserstoffstraße, die zwischen<br />
den Gipfeln der Alpen entlang der Brennerautobahn von<br />
München in Deutschland nach Verona in Italien führen soll.<br />
Der 69-Jährige glaubt, dass <strong>Süd</strong>tirol als Antreiber für dieses<br />
Zukunftsprojekt geradezu „prädestiniert“ sei. Denn das<br />
Land verfüge über ein riesiges Reservoir von ungenutzter<br />
<strong>Energie</strong> aus Wasserkraft, die sich ideal für die Herstellung<br />
des Wasserstoffs nutzen lasse. Schon 2016 sollen Fahrer,<br />
deren Autos Wasserstoff statt Benzin oder Diesel verbrennen,<br />
genügend Tankstellen vorfinden, wenn sie die Alpen<br />
via Brenner überqueren. Und wer den dynamischen Chemiker<br />
mit dem Bürstenhaarschnitt erlebt, hat keinen Zweifel,<br />
dass er nicht eher locker lassen wird, bis die H2-Autobahn,<br />
so der offizielle Projektname, steht.<br />
87<br />
Benjamin Reuter<br />
Sauber über den<br />
Brenner<br />
Es ist eines der ambitioniertesten Projekte<br />
Europas: Schon 2016 sollen Autos<br />
mit Wasserstoff statt mit Benzin oder<br />
Diesel von München nach Verona fahren<br />
können – ohne die Natur zu verpesten.<br />
Der <strong>Süd</strong>tiroler Visionär Walter Huber<br />
baut jetzt dafür Tankstellen auf und<br />
nutzt den grünen Strom des Landes als<br />
Quelle.<br />
Benjamin Reuter<br />
Weltweite Zukunftsprojekte<br />
Huber steht mit seiner Vision nicht allein. Überall auf der<br />
Welt machen sich Regierungen und Investoren gerade<br />
daran, die notwendige Versorgungsstruktur für das Wasserstoffzeitalter<br />
aufzubauen – ob vom kanadischen Vancouver<br />
nach Los Angeles in den USA oder in der japanischen<br />
Präfektur Fukuoka. Die Europäische Union unterstützt<br />
mehrere Wasserstoffprojekte. Sie fördert die Anschaffung<br />
von Brennstoffzellenbussen für den öffentlichen<br />
Nahverkehr und gibt Geld, damit Forscher die Erzeugungstechnologien<br />
für den Treibstoff weiterentwickeln. So soll<br />
nach und nach eine funktionierende Wasserstoffinfrastruktur<br />
entstehen. Doch nirgendwo sonst ist ein Projekt so eng<br />
mit einem Namen verknüpft wie in <strong>Süd</strong>tirol: dem Hubers.<br />
Und Huber hat mächtige Verbündete. Zum Beispiel Daimler-Chef<br />
Dieter Zetsche. Im November 2011 verkündete der<br />
auf der Internationalen Automobilausstellung in Frankfurt:<br />
„Jetzt beginnt das Jahrhundert des Wasserstoffs. Wasserstoff<br />
ist das bessere Erdöl.“<br />
Längst wetteifern die großen Autokonzerne darum,<br />
wer das erste serienmäßig gefertigte Wasserstofffahrzeug<br />
überhaupt auf den Markt bringt. Es könnte der koreanische<br />
Hyundai-Konzern sein, der 2013 das erste Auto vorstellen<br />
will. Daimler plant, 2014 mit dem B-Klasse-Modell F-Cell<br />
nachzuziehen. 2015 wollen dann auch Opel, Toyota und<br />
Honda mit ersten Fahrzeugen an den Start gehen.<br />
Die Euphorie der Autobauer für den Wasserstoffantrieb<br />
kommt nicht von ungefähr: Brennstoffzellen-Autos<br />
fahren mit einer Tankfüllung rund 600 Kilometer; heutige<br />
reine Elektrofahrzeuge müssen schon nach rund 150 Kilometern<br />
an die Steckdose. Und wird der Wasserstoff ausschließlich<br />
mit grünem Strom produziert, belastet er die<br />
Umwelt mit praktisch keinerlei Schadstoffen. Aus dem<br />
Auspuff tropft reines Wasser. Genau diese Eigenschaft<br />
fasziniert Walter Huber an der Technologie. Er will <strong>Süd</strong>tirols<br />
saubere Wasserkraft dafür nutzen, Wasserstoff per<br />
Elektrolyse umweltfreundlich herzustellen. Wird Wasser<br />
„unter Strom gesetzt“, spaltet es sich in Sauerstoff und<br />
Wasserstoff. Letzterer wandert in den Tank.<br />
Wasserstofffahrzeuge haben eine Brennstoffzelle.<br />
In ihr läuft der Prozess rückwärts. Der Wasserstoff reagiert,<br />
getrennt durch eine Membran, mit Sauerstoff. Dabei entsteht<br />
elektrischer Strom, der in einer Batterie gespeichert<br />
wird, die den Elektromotor antreibt. Alle 100 Kilometer, so<br />
Hubers Vorhaben, sollen Autofahrer zwischen München<br />
und Verona eine Wasserstofftankstelle ansteuern können.<br />
Der Treibstoff würde in einem Elektrolyseur direkt an den<br />
Tankstellen hergestellt.<br />
Aber wird es so bald überhaupt genügend Wasserstoffautos<br />
geben, sodass sich der Aufbau dieses grünen<br />
Tankstellennetzes rentiert? „Ohne Frage“, sagt Huber, und<br />
verweist auf die ständig steigenden Preise für Benzin und<br />
Diesel. Daher lohne es sich zunehmend, auf alternative<br />
Kraftstoffe umzusteigen. Dass dies tatsächlich geschehen<br />
wird, daran haben auch die US-Marktforscher von Pike<br />
Research keinen Zweifel. Sie schätzen, dass 2020 weltweit<br />
schon mehr als eine Million Wasserstoffautos fahren und
88<br />
0 KM<br />
163 KM<br />
278 KM<br />
334 KM<br />
429 KM<br />
C I R C A H U N D E R T<br />
K I L O M E T E R<br />
Wissen Sauber über den Brenner<br />
Europa neben den USA dabei eine Vorreiterrolle einnehmen<br />
wird.<br />
Reif für den Markt<br />
Hätte Huber mit seiner Vision eines grünen Korridors Erfolg,<br />
würde ein Herzensanliegen von ihm wahr. Der Brenner<br />
und der Wasserstoff beschäftigen ihn seit Jahren – zunächst<br />
als Bahnprojekt. Anfang der 2000er-Jahre prüfte er<br />
als Vorsitzender einer Kommission, wie umweltverträglich<br />
des Bau des Brennerbasistunnels ist. Die ersten Züge sollen<br />
den 55 Kilometer langen Stollen 2025 durchqueren.<br />
Nur wäre der Bau eines Eisenbahntunnels in den Alpen<br />
allein nichts sonderlich Spektakuläres. Doch beim Brennertunnel<br />
soll der Strom aus den Oberleitungen auch dafür<br />
verwendet werden, Wasserstoff zu produzieren. Das allerdings<br />
ist eine Premiere.<br />
Der Plan von Walter Huber ist eine<br />
Wasserstoffstraße, die zwischen den<br />
Gipfeln der Alpen entlang der Brennerautobahn<br />
von München in Deutschland<br />
nach Verona in Italien führen soll.<br />
Auf den Wasserstoff als neues Benzin wurde Huber<br />
erstmals 1998 aufmerksam. Damals besuchte er mit einer<br />
Delegation der <strong>Süd</strong>tiroler Landesregierung in München<br />
den Autobauer BMW. Es war die Zeit der ersten Wasserstoffeuphorie<br />
bei den Pkw-Herstellern. BMW setzte auf<br />
Tanks, die Wasserstoff in flüssigem Zustand speichern.<br />
Und kündigte für 2004 die Serienproduktion von Wasserstoffautos<br />
an – genauso wie Daimler. Aus dem Termin<br />
wurde nichts. Mit rund einer halben Million Euro waren die<br />
Autos viel zu teuer. Mercedes musste erleben, dass der<br />
neuartige Antrieb bei Minusgraden den Start verweigerte.<br />
Bei BMW erwies sich zudem die Tanktechnik als zu aufwendig.<br />
Denn um Wasserstoff zu verflüssigen, muss er auf<br />
minus 253 Grad abkühlen – und im Tank auf diesem Temperaturniveau<br />
gehalten werden, was sehr viel <strong>Energie</strong> verbraucht.<br />
Inzwischen setzen alle Hersteller auf Gastanks,<br />
die den Wasserstoff bei einem Druck von 700 bar speichern.<br />
Der <strong>Energie</strong>aufwand für die Verflüssigung entfällt<br />
damit weitgehend.<br />
„Heute“, beteuert Christian Mohrdieck, der den Bereich<br />
Brennstoffzellen- und Batterieantriebe bei Daimler<br />
leitet, „sind die Probleme gelöst, und die Technik ist reif für<br />
den Markt.“ Tatsächlich fuhren drei Mercedes F-Cell vergangenes<br />
Jahr bei einer Weltumrundung jeweils 30.000<br />
Kilometer ohne Probleme. Auch der Kaltstart bei minus 25<br />
Grad klappte. Deshalb ist Walter Huber zuversichtlich,<br />
dass sich jetzt auch die Kunden von den Fahrzeugen überzeugen<br />
lassen. Die erste Tankstelle seiner Wasserstoffstraße<br />
entsteht an der Autobahnausfahrt Bozen-<strong>Süd</strong>. Ihr
Bis 2017, so schätzen Mobilitätsexperten der Europäischen Union in Brüssel,<br />
könnten die Kosten für die Wasserstoffherstellung um mehr als die Hälfte sinken.<br />
angeschlossen ist ein Forschungs- und Informationszentrum.<br />
Von Herbst 2013 an sollen dann auch fünf Busse der<br />
Bozner Verkehrsbetriebe den Zukunftstreibstoff tanken.<br />
Insgesamt sind für das Projekt rund 16 Millionen Euro veranschlagt.<br />
Geldgeber sind die Brennerautobahn AG, die EU<br />
in Brüssel, die italienische Regierung in Rom und ein regionaler<br />
Entwicklungsfonds.<br />
Das Forschungszentrum macht Bozen zu einem<br />
Spitzenzentrum der Wasserstoffforschung in Europa. Die<br />
Wissenschaftler wollen hier vor allem erproben, in welcher<br />
Konzentration sie Wasserstoff Erdgas und Diesel beimischen<br />
können, um diese sauberer zu machen. Gelingt das,<br />
könnten auch Pkw mit Erdgasantrieb oder herkömmlichen<br />
Verbrennungsmotoren teilweise mit dem neuen Treibstoff<br />
fahren. Überdies arbeitet Huber an der Entwicklung von<br />
Kleinstelektrolyseuren, die Strom von Solaranlagen in Wasserstoff<br />
umwandeln. Der könnte bei Bedarf, etwa nachts,<br />
wenn die Sonne nicht scheint, wieder verstromt werden.<br />
Und die Forscher erkunden, wie wirtschaftlich sich die<br />
Elektrizität, die Windräder am Brenner erzeugen könnten,<br />
für den Bahnbetrieb des Basistunnels nutzen ließe.<br />
89<br />
Preiswerter als Benzin und Diesel<br />
Spätestens 2016 will Huber auch Wasserstofftankstellen<br />
im bayerischen Rosenheim und im österreichischen Kufstein<br />
eröffnen. Weitere sind an der Brennergrenze zwischen<br />
Italien und Österreich sowie in Verona und eventuell<br />
in Trient geplant. Das Projekt steht und fällt mit der Möglichkeit,<br />
Wasserstoff kostengünstig zu produzieren. Huber<br />
sieht dafür in <strong>Süd</strong>tirol alle Voraussetzungen gegeben. 953<br />
Wasserkraftwerke habe das Land, rechnet er vor. Davon<br />
hätten allerdings nur 20 ein Speicherbecken. Das bedeutet:<br />
Nachts, wenn die Menschen kaum Strom verbrauchen,<br />
rauscht das Wasser ungenutzt durch die Turbinen, weil die<br />
Betreiber der Kraftwerke es nicht aufhalten können. Genau<br />
mit dieser bisher verschenkten <strong>Energie</strong> will Huber künftig<br />
den Wasserstoff produzieren. Der soll zunächst ausreichen,<br />
um täglich 15 Busse und 100 Pkw zu betanken. Nach<br />
seiner ersten überschlägigen Schätzung wäre jedoch genug<br />
Nachtstrom vorhanden, um Tausende Autos entlang<br />
der Brennerstrecke mit dem grünen Sprit zu versorgen.<br />
Und preiswerter als Benzin oder Diesel wäre der<br />
Wasserstoff überdies. Autofahrer in Italien zahlen für den<br />
herkömmlichen Treibstoff für eine Strecke von 100 Kilometern,<br />
rund 13 Euro. Wären sie mit Wasserstoff unterwegs,<br />
kämen sie für die gleiche Strecke mit rund sieben Euro<br />
davon, hat Huber ausgerechnet. Selbst wenn noch Steuern<br />
dazu kommen, ist er sich sicher: „Konkurrenzfähig ist Wasserstoff<br />
heute schon, in Zukunft wird er noch billiger.“ Ein<br />
Grund dafür: Die besonders teuren Elektro lyseure, die das<br />
Wasser aufspalten, wurden bisher allenfalls in Kleinserie<br />
gebaut. Künftig werden Technologiekonzerne wie Siemens<br />
Benjamin Reuter<br />
in München sie in Massen fertigen, wodurch ihre Preise<br />
purzeln. Bis 2017, so schätzen Mobilitätsexperten der Europäischen<br />
Union in Brüssel, könnten die Kosten für die Wasserstoffherstellung<br />
um mehr als die Hälfte sinken. Huber<br />
genügt das noch nicht. Er plant Zusatzgeschäfte, um die<br />
Wirtschaftlichkeit zu erhöhen. So will er den Sauerstoff, der<br />
bei der Elektrolyse entsteht, an Krankenhäuser verkaufen<br />
und an Kläranlagen liefern. Die können damit ihre Faulbecken<br />
belüften. Der Verkauf würde zusätzlich Geld in die<br />
Kassen spülen. Erste Gespräche laufen bereits.<br />
Anfangs von nicht wenigen belächelt, könnte Hubers<br />
Pioniertat <strong>Süd</strong>tirol schon in wenigen Jahren eine zentrale<br />
Stellung beim Aufbau einer europaweiten Wasserstoffversorgung<br />
einbringen. Als Scharnier zwischen dem <strong>Nord</strong>en<br />
und dem <strong>Süd</strong>en Europas. Denn auch in Deutschland sollen<br />
bis 2015 mindestens 50 Wasserstofftankstellen entstehen,<br />
vor allem in Ballungsräumen und entlang der Autobahnen.<br />
Und auch skandinavische Länder wie Schweden oder<br />
Norwegen haben vor, ihre viele Wasserkraft künftig verstärkt<br />
für diese grüne Treibstoffproduktion zu nutzen.<br />
Dann könnte der grüne Korridor nicht nur von München<br />
nach Verona verlaufen, sondern sich von Oslo bis Palermo<br />
er strecken. Walter Huber hätte nichts dagegen. Es wäre<br />
die Krönung seines Lebenswerks.<br />
Benjamin Reuter (*1979), freier Journalist, schreibt unter an-<br />
derem für „Die Zeit“, „WirtschaftsWoche“ und „Zeit Online".
Innovativ mobil in <strong>Süd</strong>tirol<br />
Am TIS innovation park in Bozen<br />
entwickelt wurde der erste<br />
Erdgas-Wasserstoff-Panda: ein<br />
Kleinwagen, der 14 Prozent<br />
weniger CO 2 ausstößt als ein mit<br />
Methangas betriebenes Modell.<br />
Völlig emissionsfrei sind die<br />
Elektrofahrräder der Bozner TC<br />
Mobility. Mit den Eigenmarken<br />
„Frisbee“ und „Dinghi“ zählt das<br />
Unternehmen zu den Marktführern<br />
im Bereich E-Bikes in<br />
Italien.<br />
Intergreen ist ein Pilotprojekt der<br />
Stadt Bozen gemeinsam mit dem<br />
TIS und dem Austrian Institute of<br />
Technology in Wien.<br />
90 Wissen Innovativ mobil in <strong>Süd</strong>tirol<br />
Ein Prototyp, für den die beteiligten Un-<br />
ternehmen (Iveco DV, Röchling Automo-<br />
tive, GKN Driveline, Hofer Powertrain und<br />
Multienergy Alpengas) völlig neue Komponenten<br />
entwickelt haben: selbstregulierende<br />
aerodynamische Klappen, ein<br />
leichteres und reibungsärmeres Übertragungssystem<br />
sowie hochtechnologische<br />
Glas- und Plastikfasermaterialien.<br />
Ebenfalls elektrobetrieben, aber ungleich<br />
spritziger ist der Sportwagen „Fisker<br />
Karma“, der vom <strong>Süd</strong>tiroler Unternehmer<br />
Gianfranco Pizzuto als Gesellschafter<br />
mitproduziert und exklusiv in Italien und<br />
anderen europäischen Ländern vertrieben<br />
wird.<br />
Intergreen sammelt und vernetzt mobili-<br />
tätsrelevante Daten der Stadt Bozen, so<br />
etwa Verkehrsaufkommen und Luftverschmutzung,<br />
und erlaubt es somit, die<br />
Verkehrsströme im Stadtgebiet möglichst<br />
umweltverträglich zu lenken. Flankierende<br />
Sensibilisierungskampagnen<br />
sollen die Bürger zum Überdenken ihres<br />
Mobilitätsverhaltens anregen.
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Norbert Lantschner<br />
Alte und<br />
neue<br />
Baustellen<br />
Illustration – Gino Alberti<br />
Wie Nebelschleier umgarnen uns politische<br />
Ankündigungen über verschiedenste<br />
Reformen, mal versprechen sie<br />
weniger Bürokratie, dann kündigen<br />
sie energiebewusste Bauverordnungen an<br />
oder rufen zum Schutz des Klimas auf.<br />
Doch dies alles lenkt davon ab, dass das<br />
Fundament ein falsches ist: Wettbewerb<br />
bestimmt den Gang der Welt. Die Wirtschaft<br />
ist auf Konkurrenz ausgerichtet,<br />
womit zwangsläufig eine Spirale des<br />
Immer-Mehr, Immer-Größer und Immer-<br />
Schneller in Gang gesetzt wird. Das Versprechen,<br />
dass dabei auch ein Besser<br />
herauskommen würde, löst sich nicht<br />
selbstverständlich ein.<br />
91<br />
Bei der Weltkonferenz in Rio de<br />
Janeiro 1992 rang man um den Konsens,<br />
dass der Mensch von seiner Umwelt abhängig<br />
ist und dass die Rückkopplung<br />
weltweiter Umweltveränderungen auf<br />
sein Verhalten zu berücksichtigen ist. Ziel<br />
war es, die Weichen für eine weltweite,<br />
nachhaltige Entwicklung zu stellen. Am<br />
Ende der Konferenz gab es ein wichtiges<br />
Ergebnis – nämlich die Klimaschutzkonvention.<br />
Nach Einschätzung der Klimaschutzexperten<br />
muss der Ausstoß an<br />
Kohlendioxid bis 2050 weltweit um mindestens<br />
60 Prozent reduziert werden, um<br />
den Klimawandel in „ungefährlichen“<br />
Grenzen zu halten. Was aber ist in den<br />
vergangenen 20 Jahren passiert? Der<br />
Ausstoß der klimagefährlichen Gase hat<br />
weltweit um 49 Prozent zugenommen!<br />
Statt auf die Bremse zu treten, haben wir<br />
aufs Gaspedal gedrückt. Im wahrsten<br />
Sinn des Wortes, denn erstmals dürften<br />
auf der Erde über eine Milliarde<br />
Autos zirkulieren. Aber<br />
nicht nur die Mobilität und der<br />
Transport haben einen unzähmbaren<br />
Hunger nach <strong>Energie</strong>,<br />
sondern auch Häuser, die<br />
Landwirtschaft, die Industrie.<br />
Das Immer-Mehr, Immer-Größer<br />
und Immer-Schneller ist<br />
ohne den gigantischen <strong>Energie</strong>einsatz<br />
unvorstellbar, der zu<br />
85 Prozent aus nicht erneuerbaren<br />
<strong>Energie</strong>n wie Kohle,<br />
Erd öl und Erdgas gedeckt<br />
wird. Und wer ist dafür verant-<br />
wortlich? Die Regierungen, die<br />
es nicht geschafft haben, ihre<br />
selbst auferlegten Verpflichtungen<br />
zu erfüllen? Oder trifft<br />
es auch jeden Ein zelnen von<br />
uns, der durch seine indivi duelle Ent-<br />
scheidung ebenso zu diesem Immer-Mehr<br />
beiträgt? Konkurrenz – auf individueller<br />
Ebene Rivalität – gehört zu jenen Kräften,<br />
die mehr Unheil als Nutzen gebracht haben.<br />
Es gibt keinen „gesunden“ Wettkampf<br />
und wenn man in der Wirtschaft<br />
auch lieber von Wettbewerb spricht, so<br />
geht es immer um Macht, die in irgendeiner<br />
Form Unterlegene erzeugt. Es stellt<br />
sich daher die Frage: Ist Konkurrenz die<br />
richtige Antriebskraft, um die Ziele von<br />
Rio zu verwirklichen?<br />
Ich glaube nicht. Wir brauchen<br />
also neue Ideen, um in den nächsten Jahren<br />
und Jahrzehnten zu sicherer, bezahl-<br />
Norbert Lantschner<br />
barer und umweltverträglicher <strong>Energie</strong> zu<br />
kommen. Die Schweiz zeigt, wie es funktionieren<br />
könnte. Dieses kleine Land hat<br />
gleich zwei Revolutionen vor, um den<br />
Wohlstand seiner Bürger zu wahren. Zum<br />
einen soll der Gesamtenergieverbrauch<br />
bis 2050 um zwei Drittel gesenkt und<br />
zum anderen der Restbedarf an <strong>Energie</strong><br />
zu 75 Prozent aus erneuerbaren Quellen<br />
bezogen werden. Dieses anspruchsvolle<br />
Projekt nennt sich „Die 2000-Watt-Gesellschaft“,<br />
Ausdruck der Vision einer<br />
nachhaltigen Zukunft: klimaverträglich,<br />
energieeffizient und global gerecht. Neben<br />
Nachhaltigkeit ist vor allem Partizipation<br />
ein Wegbereiter für eine zukunftsfähige<br />
Entwicklung.<br />
Italien hat in Sachen <strong>Energie</strong> keine guten<br />
Karten. Es muss schon heute nahezu 90<br />
Prozent seines <strong>Energie</strong>bedarfes importieren.<br />
Für Unternehmen und Bürger ist<br />
<strong>Energie</strong> im internationalen Vergleich ungleich<br />
teurer. Trotzdem findet das Thema<br />
<strong>Energie</strong> in Italien nicht jene Aufmerksamkeit<br />
wie in anderen Industrieländern. Da<br />
die <strong>Energie</strong>kosten steigen und inzwischen<br />
70 Milliarden Euro pro Jahr überschreiten,<br />
fließt ein nicht unerheblicher Teil des<br />
Die Wirtschaft ist auf<br />
Konkurrenz ausgerichtet,<br />
womit zwangsläufig eine<br />
Spirale des Immer-Mehr,<br />
Immer-Größer und<br />
Immer-Schneller in Gang<br />
gesetzt wird.<br />
Reichtums ins Ausland. Italiens <strong>Energie</strong>-<br />
plan stammt aus dem Jahr 1987, eine auf<br />
breiter Basis diskutierte Er neuerung ist<br />
dringend erforderlich.<br />
Das Potenzial Italiens liegt vor al-<br />
lem im Bereich der Gebäudesanierung<br />
und im Neubau. Gebäude beanspruchen<br />
etwa ein Drittel des nationalen <strong>Energie</strong>bedarfs.<br />
Durch Wände, Dächer, Fenster<br />
und überaltete Heizanlagen wird zu viel<br />
und sinnlos <strong>Energie</strong> und somit Geld verschwendet.<br />
Es existieren zwar Technologien,<br />
Systeme und Materialien, die eine<br />
Senkung des <strong>Energie</strong>verbrauchs der Häuser<br />
um 80 Prozent ermöglichen würden.
Diese brachliegende „<strong>Energie</strong>quelle“ wird<br />
allerdings übersehen. Bei grüner <strong>Energie</strong><br />
wird meist nur an Fotovoltaik, Windräder<br />
oder bestenfalls an Biomasse gedacht.<br />
Die grünste <strong>Energie</strong> ist aber jene, die wir<br />
nicht benötigen!<br />
<strong>Süd</strong>tirol wurde mit dem KlimaHaus-Projekt<br />
Wegbereiter für ein neues, energiebewusstes<br />
Bauen und somit italienweit zur<br />
Vorzeigeprovinz. Der Erfolg dieser Initiative<br />
lag nicht primär im technischen<br />
Know-how, denn darin waren nördliche<br />
Länder schon weiter, sondern darin, eine<br />
neue Form der Kommunikation eingeführt<br />
zu haben. KlimaHaus hat es geschafft, die<br />
Menschen einzubinden und ihre Interessen<br />
in den Mittelpunkt zu stellen. Um ihnen<br />
die Mitsprache zu ermöglichen, galt<br />
es, auch für Laien verständliche Bewertungskriterien<br />
zu entwickeln. Beim Bauen<br />
halten sonst die Experten das Heft in der<br />
Hand, was häufig zu hohen Heizkosten<br />
und schlechter Bauqualität führt. Das<br />
Projekt KlimaHaus hat mit den Instrumenten<br />
der Transparenz, Qualität und Zuverlässigkeit<br />
ein neues Baubewusstsein geschaffen.<br />
Nicht Konkurrenz war die treibende<br />
Kraft, sondern Motivation, Erkenntnis<br />
und der Wille, es besser zu machen.<br />
Im Mittelpunkt standen Menschen, denen<br />
neben <strong>Energie</strong>einsparung und Wohnkomfort<br />
auch der Klimaschutz ein Anliegen<br />
ist. Der Erfolg dieses Projekts gründet<br />
aber auch auf Teilnahme und Mitsprache.<br />
Der Nebel in unseren Köpfen wird<br />
sich lichten, wenn es uns gelingt, neue<br />
Wege einzuschlagen, wenn wir unser<br />
Denken öffnen und Kreativität zulassen.<br />
Wenn Wettbewerb und Konkurrenz, dann<br />
solche um die besten Ideen! Unsere Zukunft<br />
hängt von der Fähigkeit ab, ob nachhaltiges<br />
Handeln ein Lippenbekenntnis<br />
bleibt oder ob es als ein ethisches, universales<br />
Prinzip gelebt wird. Gefordert ist<br />
dabei die Politik, die über gesetzliche<br />
Maßnahmen Anreize in diese Richtung<br />
schaffen muss, aber gefordert ist auch<br />
jeder von uns. All unsere Entscheidungen<br />
und unser Handeln haben eine Auswirkung<br />
auf unsere Umwelt. Und hierbei ist<br />
weniger Konkurrenz gefragt, sondern Kooperation.<br />
Ein mutiges Ziel, aber viele<br />
Optionen bleiben uns nicht.<br />
Norbert Lantschner (1956), Vater des<br />
<strong>Süd</strong>tiroler KlimaHauses, bis 2012 Direktor<br />
der KlimaHaus-Agentur in Bozen.<br />
Derzeit Präsident der Stiftung Climabita.<br />
Hans Karl Peterlini<br />
„ Nur noch kurz<br />
die Welt retten “<br />
Fotografie — Christian Martinelli/CubeStories<br />
Der Song schafft es auch zwei Jahre nach seinem Durchbruch<br />
immer noch in Hitsendungen, als wäre die Mission,<br />
die sich Tim Bendzko darin stellt, nun doch nicht ganz<br />
so schnell zu erledigen: … muss nur noch kurz die Welt<br />
retten“ ist ein entlarvend präzises Abbild jenes Widerspruchs,<br />
in dem sich Wissen und Handeln gegenwärtiger<br />
Generationen verbeißen. Dass diese Welt zu retten ist, und<br />
zwar dringend, ist nicht nur fundiert belegt, gehört nicht<br />
mehr nur zu den altehrwürdigen Mahnungen des Club of<br />
Rome, ist über revolutionäre Ansätze ehemaliger Dissensgruppen<br />
in nahezu alle Parteiprogramme westlicher Demokratien<br />
eingegangen, ja ist über die Populärwissenschaft<br />
zum Allgemeinwissen geworden. Nicht mehr die Verzweiflung<br />
über die James-Dean-Generation, „denn sie wissen<br />
nicht, was sie tun“, prägt das Dilemma der Generationen<br />
im neuen Jahrtausend, sondern deren Umkehrung: „denn<br />
sie tun nicht, was sie wissen." Das Dilemma liegt nicht<br />
im Wissen, sondern im folgerichtigen – Heidegger würde<br />
korrigieren: in dem auf Folgen gerichteten – Handeln.<br />
Wenn Lernen, nach der Neuausrichtung mehr oder<br />
weniger aller europäischen Schulprogramme, nicht mehr<br />
bei der Vermittlung von Wissen stehen bleiben, sondern zu<br />
Kompetenzen – sprich: Anwendungsbefähigung – führen<br />
soll, dann hätte die Pädagogik bald ihre Pflicht erfüllt und<br />
das Problem gelöst, ja die Welt tatsächlich im Handumdrehen<br />
gerettet. Niemand kann ernsthaft behaupten, dass<br />
das Know-how für das Angehen der für den Planeten oder<br />
zumindest die Menschheit überlebenswichtigen Veränderungen<br />
fehlt – Theorien und Technologien stehen in Hülle<br />
und Fülle bereit. Würde also ein ausreichender Teil der<br />
Menschheit, die sogenannte notwendige kritische Masse,<br />
dazu übergehen, ihr Wissen in Handeln überzuführen – im<br />
Umgang mit Umwelt, <strong>Energie</strong>, Waren, Zeit und Mitmenschen<br />
– dann stünden wir vor einer sanften Revolution der<br />
Nachhaltigen. Ist das so? Vieles könnte Mut machen, so<br />
das Prosperieren von intelligenten, auch marktfähigen,<br />
92 Wissen Alte und neue Baustellen „Nur noch kurz die Welt retten“
schicken Modellen nachhaltiger Wirtschafts- und Lebensstile,<br />
leicht zugänglich gemacht und vorgelebt durch Good-<br />
Practice-Beispiele, Bildungsanbieter, Beratungsteams,<br />
wie sie auch in <strong>Süd</strong>tirol ein greifbares und qualitativ hochwertiges<br />
Angebot darstellen – siehe Initiativen wie das international<br />
gut verlinkte terra institute in Brixen um<br />
Günther Reifer, Evelyn Oberleiter, Vivian Dittmar mit den<br />
Tagen der Nachhaltigkeit in Kloster Neustift, wie das internationale<br />
Energy Forum ebenfalls in Brixen. Das Amt für<br />
Weiterbildung der Autonomen Provinz Bozen hat die UNO-<br />
Dekade 2005–2014 „Bildung für nachhaltige Entwicklung“<br />
genutzt, um das Projekt gea* – Bildung für eine nach haltige<br />
Entwicklung – umzusetzen mit einem daraus ent wickelten<br />
und weiterführenden Lehrgang 2013. Da dürfte auch einiges<br />
von dem aufgehen und weiterwachsen, was von Hans<br />
Glauber (1933–2008) mit den Toblacher Ge sprächen und<br />
der Gründung des Ökoinstitutes <strong>Süd</strong>tirol begonnen wurde.<br />
Was der Pionierarbeit und den jüngeren An sätzen<br />
ge meinsam ist, lässt sich mit Glaubers Formel von<br />
der Wen de zum Schönen am besten umschreiben – nicht<br />
gries grämiger Verzicht, nicht Rückzug aus der zweiten<br />
oder dritten Moderne, nicht Miesmacherei, sondern eine<br />
Fruchtbarmachung nachhaltiger Prinzipien für ge steigerte<br />
93 Hans Karl Peterlini<br />
Die Welt auf den Kopf<br />
stellen, um sie zu retten.<br />
Im Bild hat der Fotokünstler<br />
Christian Martinelli<br />
dies mit den Bergspitzen<br />
des Hochfirst und des<br />
Granatkogel getan<br />
Lebensqualität, Zwischenmenschlichkeit als tiefster Sinn<br />
von Sozialität, mit ethischen und ökologischen Gütesiegeln<br />
ausgestattetes Wirtschaften. So spie gelt Glaubers<br />
Biografie jene Wende wider, die den Gedanken der Nachhaltigkeit<br />
aus den Nischen von Protestbewegungen<br />
hinaus wuchern und Wirtschaftspraktiken durchwachsen<br />
ließ. Er gehörte zu den jungen Kreativen bei Olivetti in den<br />
Frühzeiten moderner Markt- und Technologieforschung,<br />
war in New York, dann lange in Frankfurt, lernte Horkheimer<br />
und Adorno kennen, solidarisierte sich mit der<br />
Studentenbe wegung der ’68er, schloss Freundschaft mit<br />
Daniel Cohn- Bendit, setzte mit fotografischer Kunstschräge<br />
Zeichen des Widerspruchs. Vom intellektuellen<br />
Wollen und Wissen zum Handeln aber fand er, als in<br />
seinem Heimatort Toblach ein kleines Waldstück für ein<br />
Wirtschaftsprojekt gerodet werden sollte – Glauber begann<br />
sich real und konkret mit den Bedürfnissen und den<br />
Akteuren vor Ort auseinanderzusetzen, rettete das Waldstück<br />
und führte diese Erfahrungen über die Toblacher<br />
Gespräche zurück in einen größeren Diskurs. Die jährlichen<br />
Toblacher Thesen wurden regelmäßig in der „Frankfurter<br />
Rundschau“ abgedruckt und fanden weit über <strong>Süd</strong>tirol<br />
hinaus Resonanz – von theore tischen Entwürfen bis
Was in der Lebenswelt gelernt wird, muss Eingang in die Systeme finden, wenn<br />
es sich nicht an deren strategischer Kälte erschöpfen soll. Es braucht dazu<br />
ein Sprechen von unten nach oben auf vielen Ebenen, um Ohnmacht zu überwinden<br />
und Macht zu verändern. Das pädagogische Mittel dazu ist jenes des einbindenden<br />
Erzählens.<br />
hin zu konkreten Hackschnitzel werken, Radwegenetzen<br />
und den Vorarbeiten für das KlimaHaus.<br />
Die pädagogische Wirkungsmächtigkeit dieser Vita<br />
geht zurück auf ein neugieriges Pendeln zwischen Polaritäten:<br />
der in der Mailänder Gegend sozialisierte urbane<br />
Hans Glauber mit seinen Wurzeln in der engen Toblacher<br />
Heimat, die revolutionäre Suche nach Veränderung,<br />
die frustrationstolerante Aushandlung von Lösungen, die<br />
sanfte Methode, der radikale Ansatz. Sein Credo: Nicht<br />
die Ökonomie durch ökologische Barrieren zu maßregeln,<br />
sondern sie durch den Gedanken der Schönheit von innen<br />
heraus ökologisch zu revolutionieren, nicht die Technik<br />
ein wenig umweltfreundlicher zu dingseln, sondern Nachhaltigkeit<br />
als das Eigentliche zu setzen, ohne das sich Wirtschaften<br />
nicht lohnt, weil es nicht schön, sondern hässlich<br />
und selbstzerstörerisch ist. Für den Umgang mit Umwelt,<br />
Ressourcen, <strong>Energie</strong> bedeutet dies: Nachhaltigkeit nicht als<br />
Beigabe, sondern – im Sinne von Gemeinwohlökonomie –<br />
als bestimmendes Prinzip.<br />
Dies ist nicht nur Messlatte für tatsächliche Veränderung,<br />
sondern auch die Hürde, die das Handeln zu überspringen<br />
hat, wenn es nicht stecken bleiben will im Wissen,<br />
was zu tun wäre, wenn … , ja wenn: Gründe, doch wieder<br />
in kurzfristige Profitstrategien zu verfallen, gibt es immer,<br />
und sei es – für den Konsumenten – beim Kauf eines Hemdes<br />
aus Produktionsstätten der Kinderarbeit oder – für den<br />
Produzierenden – beim Bezug von Strom auch um den<br />
Preis von Landraub, Menschenvertreibung oder Kernspaltung.<br />
Den Vorzeigebetrieben und Nischen, in denen sich<br />
die Wende ermutigend vollzieht, stehen globale Entwicklungen<br />
ungehemmter Zerstörung und Ausbeutung gegenüber.<br />
Die entscheidende Frage wird deshalb am Ende wieder<br />
jene sein, ob Menschen, Gruppen, Systeme, Gesellschaften<br />
lernen oder nicht. Konstruktiver gewendet: wie sie<br />
lernen können, wie der Missing Link vom Wissen zum Handeln<br />
nicht nur im Einzelfall, nicht nur in Vorzeigebetrieben,<br />
nicht nur in bevorzugten Märkten geschlossen werden<br />
kann.<br />
Das Dilemma lässt sich – frei nach dem Philosophen<br />
und Soziologen Jürgen Habermas – im Spannungsverhältnis<br />
zwischen Lebenswelten und Systemen ausloten:<br />
Ge raten Lebenswelten in Krise, wächst dort auch das Bewusstsein<br />
für kooperative Lösungen durch kommunikatives<br />
Handeln. Systeme dagegen werden von strategischem<br />
Handeln dominiert, bei dem es – verkürzt – um den Vorteil<br />
geht. Was in der Lebenswelt gelernt wird, muss Eingang in<br />
die Systeme finden, wenn es sich nicht an deren strategischer<br />
Kälte erschöpfen soll. Es braucht dazu ein Sprechen<br />
94 Wissen „ Nur noch kurz die Welt retten “<br />
von unten nach oben auf vielen Ebenen, um Ohnmacht zu<br />
überwinden und Macht zu verändern. Das pädagogische<br />
Mittel dazu ist jenes des einbindenden Erzählens.<br />
Was Glauber in Toblach gemacht hat, war eine Erzählung<br />
zu beginnen, unter die Leute zu bringen, er hat auf<br />
Bahnhöfen erzählt, wenn er zufällig jemanden getroffen<br />
hat, er hat in Büros von Wirtschaftsbossen und verantwortlichen<br />
Politikern erzählt, in deren Vorzimmern und in deren<br />
Hinterzimmern, unaufhörlich. Solches Erzählen ist der Urtyp<br />
des Vernetzens, denn ein Erzählkreis schafft den anderen:<br />
In Toblach fanden „Gespräche“ statt, die in Frankfurt,<br />
Berlin, Bologna Kreise zogen, in großen Städten und<br />
kleinen Nestern. Vom Klimagipfel in Rio 2012 hätten die<br />
<strong>Süd</strong>tiroler Teilnehmer frustriert heimkommen müssen,<br />
denn wieder haben sich jene, die entscheiden, abgeschottet<br />
von jenen, die mit Hoffnungen hingepilgert waren. Als<br />
sich im Dezember 2012 einige von ihnen bei einer Tagung<br />
in Bozen im Gedenken an Rio 1992–2012 trafen, sprühten<br />
sie trotzdem vor Begeisterung – das Erlebnis, dass Menschen<br />
aus aller Welt sich am Rande der Großen ihre Hoffnungen,<br />
Versuche, Träume erzählt hatten, hat den Mut<br />
wachgehalten, die eigene Erzählung weiterzuspinnen.<br />
Im Lied von Tim Bendzko schwingt ein zweifacher<br />
Fluch mit, die Gehetztheit des Weltenretters als Metapher<br />
für die permanent gesteigerte Geschwindigkeit allen Wirtschaftens<br />
und Lebens. Das Atomkraftwerk, der Naturraubbau<br />
und der Krieg haben eine gemeinsame Matrix, die<br />
Beschleunigung der Problemlösung, der Bedarfsdeckung:<br />
Anstelle mühsamer, rückschlaggefährdeter, oft frustrierender<br />
Prozesse des Erkundens und Austauschens wird auf<br />
den schnellen Schlag, den harten Schnitt gesetzt. Der<br />
zweite Fluch ist das egomane Ich, das glaubt, alles alleine<br />
und selbst lösen zu können, wo nur Kooperation und Partizipation<br />
weiterbringen: Ja, wir müssen dringend diese Welt<br />
retten, aber wir brauchen die Geduld des Austauschens<br />
und Erprobens von Erfahrungen, des Erzählens von Hoffnungen<br />
und Träumen. Pädagogik, die es eilig hat, ist selten<br />
nachhaltig, sie beschleunigt durch Zwang und verwirft<br />
das Wachsende.<br />
Hans Karl Peterlini (*1961), Journalist und Bildungswissenschaftler,<br />
bis 2004 Chefredakteur des <strong>Süd</strong> tiroler Wochenmaga-<br />
zins „ff“, seither freier Autor und Essayist. Veröffentlichung zum<br />
Thema: „Hans Glauber. Utopie des Konkreten“, Raetia, 2011.
95<br />
Perspektiven<br />
Im Gestalten: kleinen Dorf Der Prad Architekt im oberen Carlo Vinschgau Ratti erklärt, hat Querden- wie inkertumtelligente<br />
Tradition Städte 23 funktionieren Nach hundertneunzig 96 Abrüsten: Jahren Für einen steht<br />
der sanften Weinbauer Umgang Alois mit der Lageder Natur dem 100 industriealisierten,<br />
Aufbauen: Auch<br />
biodynamischen in <strong>Süd</strong>tirol entstehen Betrieb viele grüne vor — Jobs sein 101 Credo: Quergedacht: veredelte<br />
Kann Qualität <strong>Energie</strong> für die heilen breite und Masse weiblich 43 In werden? Italien wird 104 liebend Verändern:<br />
gerne mit Mit Händen bewusstem und Füßen Konsum gesprochen, die Welt retten kann man 106<br />
Vorausblicken: dabei Sprechenergie Der Brief spare? des Chefredakteurs Über <strong>Energie</strong>effizienz 110 trotz<br />
wilder Gestik schreibt Wolf Haas 44 Fixies, Mountainbike<br />
und Klapprad: Wie sieht das grünste Fortbewegungsmittel<br />
aus? 47
Alessandra Viola<br />
Die intelligente Stadt<br />
Fotografie — Aurore Valade
Von Michelangelo heißt es, er sei nach<br />
Vollendung des Moses vom Realismus<br />
der Skulptur derart überwältigt und zugleich<br />
irritiert gewesen, dass er mit dem<br />
Hammer draufschlug und rief: „Warum<br />
redest du nicht?“ Die Vorstellung, ein so<br />
perfektes Objekt sei nicht in der Lage<br />
zu kommunizieren, war für den genialen<br />
Bildhauer offenbar unerträglich. Wer<br />
weiß, ob es ihn freuen würde zu hören,<br />
dass ein Architekt, auch er ein Italiener,<br />
das Problem dadurch lösen will, dass<br />
er die Objekte miteinander verknüpft<br />
und sie befähigt, mit uns zu kommunizieren.<br />
Carlo Ratti lehrt am Massachusetts Institute of Technology<br />
(MIT) in Boston Urban Technologies, also Urbanistik und<br />
neue Technologien, und leitet das SENSEable Lab des MIT<br />
sowie das Büro „carlorattiassociati“ mit Sitz in Turin, London<br />
und Boston. Seine Projekte reichen von der Architektur<br />
bis zum Design und beinhalten die Neukonzeption einiger<br />
Objekte und Begriffe, die uns äußerst vertraut sind, etwa<br />
unsere Vorstellung von der Stadt. „<strong>Nord</strong> & <strong>Süd</strong>“ bat Carlo<br />
Ratti zum Interview.<br />
A V (Alessandra Viola) — Die Stadt ist ein festes Gefüge<br />
von Häusern und Menschen, die sich darin bewegen, darin<br />
arbeiten und leben. Gibt es etwas Selbstverständlicheres?<br />
C R (Carlo Ratti) — Im Gegenteil, das Gefüge und die<br />
sozialen Bindungen einer Stadt verändern sich im<br />
Laufe der Zeit. In den letzten Jahrzehnten fand sogar<br />
ein ziemlich rascher Wandel statt.<br />
A V — Wie verändern sich die Städte?<br />
C R — Binnen weniger Jahre wurden die Städte mit<br />
Sensoren und elektronischen Netzwerken überzogen<br />
und haben sich praktisch in Computer unter freiem<br />
Himmel verwandelt. Deshalb beginnen Städte, ihren<br />
Bewohnern auf verschiedenste Weise zu antworten;<br />
Städte können gehört und auf eine Art und Weise<br />
betrieben werden, wie es bisher nicht möglich war.<br />
Eine Stadt zu überwachen bedeutet, eingreifen zu<br />
können, um Dinge in Ordnung zu bringen, die nicht<br />
funktionieren. Es bedeutet, die Stadt zu rationalisieren<br />
und effizienter zu machen. Dabei handelt es<br />
sich nicht um eine technische Spielerei, sondern um<br />
97<br />
Alessandra Viola<br />
etwas wirklich Nützliches: Die Städte beanspruchen<br />
heute gerade einmal 2 Prozent der Erdoberfläche,<br />
beherbergen aber 50 Prozent der Weltbevölkerung,<br />
verbrauchen 75 Prozent der <strong>Energie</strong> und stoßen bis<br />
zu 80 Prozent des gesamten Kohlendioxids aus.<br />
A V — Es ist jetzt oft vom „Internet der Dinge“ die Rede,<br />
einem Netzwerk von Objekten, die Daten und Informationen<br />
übertragen und damit immer intelligenter werden.<br />
Wie wird das unser Leben verändern?<br />
C R — Unser gesamtes Lebensumfeld hat angefangen,<br />
auf uns zu reagieren. So als ob jedes Atom<br />
sowohl zum Sensor als auch zum Aktor würde,<br />
der Daten empfangen, Informationen senden und<br />
sich den empfangenen Daten entsprechend verhalten<br />
kann.<br />
Dies verändert unsere Interaktion als Menschen in<br />
radikaler Weise. Manche sprechen in diesem Zusammenhang<br />
von Smart Citys, aber wir, die dreißig<br />
Leute, die am SENSEable City Lab des MIT in Boston<br />
arbeiten, nennen sie lieber Senseable Citys,<br />
womit „spürbare“, „sinnvolle“, „sensible“ und „sensorgesteuerte“<br />
Städte gemeint sind. Das ist ein<br />
Name, der mehr auf den Menschen zugeschnitten ist<br />
und ihn in den Mittelpunkt rückt, nicht die Technik.<br />
Im SENSEable City Lab versuchen wir herauszufinden,<br />
wie die Technik unser Verständnis der Stadt<br />
verändert, unsere Art, sie zu planen und letztendlich<br />
in ihr zu leben. Die Senseable City ist eine Stadt,<br />
die zu uns spricht und uns über Netzwerke ständig<br />
mit zu verarbeitenden und zu verknüpfenden Daten<br />
versorgt. Das macht unendlich viele Anwendungen<br />
möglich: vom <strong>Energie</strong>verbrauch bis zum Verkehr und<br />
zur Abfuhr und Entsorgung der Abfälle. Alle As pekte<br />
und Dimensionen der Stadt lassen sich dank dieser<br />
umfassenderen Informationen radikal verändern.<br />
A V — Wenn von Smart City die Rede ist, unterliegt man<br />
der Versuchung, sich weit weg gelegene Hightech-Orte<br />
vorzustellen, die erst in jüngster Zeit gebaut wurden. Lässt<br />
sich der Ausdruck auch auf ganz andere Situationen oder<br />
auch auf Länder wie Italien beziehen?<br />
C R — Für Italien ist das Modell der Smart City eine<br />
sehr wichtige Chance. In einem Land, in dem die<br />
Bevölkerung nicht wächst und die Wohnqualität<br />
nicht steigt, sondern aufgrund der Krise die Wohnfläche<br />
pro Kopf tendenziell sogar schrumpft, ist nicht<br />
mehr daran zu denken, die Stadtflächen zu erweitern<br />
wie im letzten Jahrhundert. Es würde dadurch nicht<br />
nur unberührte Natur, greenfield, wie es im Englischen<br />
heißt, unnötigerweise verschlissen, die unausweichliche<br />
Folge wäre, dass die bereits bebauten Gebiete<br />
sich leeren und damit dem Verfall überlassen<br />
würden. In Zukunft wird es immer wichtiger, den<br />
vorhandenen Bestand aufzuwerten und dabei städtebauliche<br />
Fehler zu beheben, auch unter Einsatz
neuer Technologien. Beispiel Verkehr: Es gibt bereits<br />
Autos, die von selbst fahren, und Netze, die es uns<br />
erlauben, auf der Suche nach einem Parkplatz keine<br />
Zeit und kein Benzin zu vergeuden. In Singapur haben<br />
wir ein Labor und ein Team, das sich im Rahmen<br />
des Projekts LIVE Singapore mit urbaner Mobilität<br />
beschäftigt. Es handelt sich um eine Open-Source-<br />
Software, die mit Echtzeitdaten arbeitet, um den<br />
aktuellen Zustand der Stadt zu analysieren. Die Daten<br />
werden mit einer Vielzahl von Kommunikationsapparaten,<br />
Mikroüberwachungssystemen und Sensoren<br />
im urbanen Lebensraum erfasst. Die so gesammelten<br />
Ergebnisse können dazu beitragen, das<br />
Leben in der Stadt besser zu gestalten, auch durch<br />
die Entwicklung neuer Anwendungen.<br />
A V — Die Menge der gesammelten oder verfügbaren<br />
Daten hat in den letzten Jahren unsere Fähigkeit, sie<br />
nutzbringend zu verwenden, deutlich überstiegen. Die<br />
Technik durchdringt bereits alle Aspekte des täglichen<br />
Lebens. Wie können wir sie nutzen, um besser zu leben?<br />
C R — Der Datenaustausch ist heute grundlegend<br />
und kann unter anderem einen sparsamen Umgang<br />
mit <strong>Energie</strong> und Ressourcen fördern. Sich der Verschwendung<br />
bewusst zu sein, kann ein sparsameres<br />
Verhalten auslösen. Wenn wir merken, wie und wie<br />
viel wir verschwenden, hören wir damit eher auf. Mit<br />
dem Projekt Trash Track („Dem Abfall auf der Spur“)<br />
wollten wir den Weg des Mülls verfolgen, nachdem<br />
wir ihn weggeworfen haben. Auf diese Weise haben<br />
wir entdeckt, dass der Zyklus keineswegs linear oder<br />
logisch ist und noch erheblich optimiert und verbessert<br />
werden kann, was in Zukunft auch deutliche<br />
wirtschaftliche Einsparungen ermöglicht. Zu wissen,<br />
dass die weggeworfene Plastikflasche, auch wenn<br />
wir sie aus dem Blick verloren haben, anderswo weiterlebt<br />
und nach einem Monat oder einem Jahr immer<br />
noch irgendwo herumliegt, schärft unser Bewusstsein<br />
und reduziert die Verschwendung. Diese<br />
Daten erstmals zur Verfügung zu haben, war für uns<br />
sehr wichtig. In anderen Fällen sind die Daten bereits<br />
vorhanden, man braucht sie nur noch innovativ zu<br />
nutzen. Mit dem Projekt Enernet zum Beispiel haben<br />
wir die Daten der Wi-Fi-Verbindungen als Parameter<br />
benutzt, der uns sagt, ob sich Menschen in einem<br />
Gebäude aufhalten. Damit kann man das Stromnetz<br />
in Echtzeit ausbalancieren. Diese Methode könnte<br />
mit sehr mäßigen Kosten an vielen Orten eingesetzt<br />
werden, um heute bereits faktisch verfügbare Informationen<br />
zu nutzen und ein so komplexes und dringendes<br />
Problem wie die effiziente Nutzung des<br />
Stromes anzugehen.<br />
A V — Ihre Forschungsergebnisse fanden Anwendung in<br />
der Architektur, aber auch bei Gütern des täglichen Bedarfs<br />
wie Fahrrädern, Küchenherden oder Mobiltelefonen<br />
98 Perspektiven Die intelligente Stadt<br />
und sogar bei künstlerischen Installationen. Wie kommt es<br />
zu dieser Vielseitigkeit?<br />
C R — Das Internet ist dabei, in den physischen<br />
Raum einzudringen, und diese Entwicklung hat unseren<br />
Alltag erfasst. Wir befinden uns heute zwischen<br />
der digitalen und der materiellen Welt, die<br />
unsere Lebensweise verändert. Nehmen wir Formel-<br />
1-Rennen, ein Beispiel, das mir am Herzen liegt,<br />
weil auch ich wie viele andere italienische Jungen in<br />
meinem Zimmer ein Poster von einem Rennwagen<br />
an der Wand hatte. Vor zwanzig Jahren reichten ein<br />
guter Motor und ein guter Fahrer aus, um zu ge winnen.<br />
Heute braucht es dazu ein System der Telemetrie,<br />
das auf der Erfassung von Daten durch Tausende<br />
von Sensoren am Auto und ihrer Auswertung<br />
in Echtzeit beruht.<br />
A V — Überwachungssysteme in Echtzeit kommen mittlerweile<br />
vielfach zum Einsatz. Wie finden sie Eingang in unser<br />
Leben?<br />
C R — Als Beispiel kann ich den Digital Water Pavilion<br />
nennen, ein Gebäude, das wir im Eingangsbereich<br />
zur Expo in Saragossa gebaut haben, praktisch<br />
nur mit einer Handvoll Sensoren und Wasser. Es gibt<br />
keine Türen oder Fenster, sondern nur Wasserfälle,<br />
die den Eindruck kompakter Oberflächen vermitteln<br />
und dazu verwendet werden können, um Bilder darauf<br />
zu projizieren oder darauf zu schreiben. Das Gebäude<br />
„öffnet sich“, wenn sich jemand nähert, lässt<br />
ihn ein und schließt die Wasserwand hinter ihm wieder.<br />
Wenn man das Dach absenkt, verschwindet die<br />
Architektur praktisch ganz, und wer den Pavillon<br />
besichtigt hat, fragt sich oft: Warum hat man ihn<br />
abgerissen? Aber das Schönste passierte, als eines<br />
Nachts die Sensoren ausfielen und in den Wänden<br />
Löcher und Öffnungen entstanden und sich nach<br />
dem Zufallsprinzip wieder schlossen. Nach ein paar<br />
Stunden waren alle jungen Leute von Saragossa da<br />
und spielten mit dem Wasser. Sie können sich vorstellen,<br />
wie groß unsere Überraschung war. Wir haben<br />
daraus gelernt, dass man alles erfinden kann,<br />
auch mit komplexester Technik, aber was die Leute<br />
dann damit machen, wird immer etwas völlig Neues<br />
und Kreatives sein.<br />
Ein bisschen so, als hätte Mose plötzlich angefangen,<br />
mit Michelangelo zu sprechen. Und ihm eine völlig neue<br />
Geschichte erzählt.<br />
Alessandra Viola (*1972), freie Print- und Fernsehjournalistin in<br />
Rom, unter anderem für „L’Espresso“, „La Repubblica“, „Il Sole<br />
24 Ore“ und RAI.<br />
Übersetzung: Walter Kögler
99<br />
Autor
Michil Costa<br />
Vier<br />
Elemente<br />
Alles im Leben ist <strong>Energie</strong>. Wir verbrau-<br />
chen allerdings zu viel davon und stoßen<br />
deshalb an natürliche Grenzen. Es wird<br />
nicht mehr lange dauern, bis die Vorräte<br />
an fossilen Brennstoffen ausgeschöpft<br />
sein werden. Dagegen sind die Elemente<br />
Luft und Erde, Feuer und Wasser seit<br />
jeher unsere natürlichen <strong>Energie</strong>quellen.<br />
Luft, Erde, Feuer und Wasser<br />
Wir atmen keine saubere Luft. Immer<br />
noch bauen wir Straßen, die noch mehr<br />
Autos anlocken. In Italien kommen auf<br />
1.000 Einwohner mehr als 600 Kraftfahrzeuge,<br />
das ist ein Spitzenwert in Europa.<br />
Dabei geht es auch anders: Am Rhein ist<br />
eine Fahrradstraße geplant, welche die<br />
Ausmaße einer Autobahn haben wird. In<br />
London hat der Stararchitekt Renzo Piano<br />
für sein neues Hochhausprojekt bewusst<br />
sehr wenige und nur für den Notfall<br />
bestimmte Parkplätze vorgesehen.<br />
Sind die Italiener weniger innovativ und<br />
unsensibel in Umweltfragen? Vielleicht.<br />
Bisher hatten sie selten den Mut, solche<br />
Wege zu beschreiten.<br />
Ähnlich steht es um unsere Erde,<br />
deren Ressourcen wir ausbeuten. Im Jahr<br />
2010 legte der südafrikanische Umweltrechtler<br />
Cormac Cullinan der UN-Generalversammlung<br />
eine Universalerklärung<br />
über die Rechte der Erde vor. Sein Vorschlag:<br />
Zu ihrem Schutz soll sie zur<br />
Rechtsperson werden. In Ecuador ist dieser<br />
Paradigmenwechsel schon Realität:<br />
Vertreter des Flusses Vilcabamba gewannen<br />
einen Rechtsstreit gegen die eigene<br />
Regierung, die das Wasser wirtschaftlich<br />
nutzen wollte.<br />
Das Feuer wurde in der Antike<br />
verehrt und respektiert. Als die Men-<br />
schen lernten, es für sich nutzbar zu ma-<br />
chen, wärmten sie sich daran und berei-<br />
teten darauf ihre Nahrung zu. Das Feuer<br />
ist jedoch ein ambivalentes Wesen: Es ist<br />
heilsam, reinigend und zugleich zerstörerisch.<br />
Jährlich fallen riesige Flächen an<br />
Wald dem Feuer zum Opfer – willentlich.<br />
Für die Herstellung von Biokraftstoff wie<br />
etwa Palmöl werden Hunderte Hektar<br />
Wald brandgerodet. Wenn wir weiter so<br />
mit unserer Umwelt umgehen, berauben<br />
wir uns der ureigensten Lebensgrundlage.<br />
Im übertragenen Sinn: Das Spiel<br />
mit dem Feuer kann uns teuer zu stehen<br />
kommen.<br />
Im Wasser, das mehr als zwei Drittel<br />
der Erdoberfläche ausmacht, leben<br />
mehr als 200.000 verschiedene Arten<br />
von Lebewesen, die uns Nahrung und die<br />
Hälfte des Sauerstoffs liefern, den wir<br />
zum Atmen benötigen. Aber was machen<br />
wir? Wir überfischen die Meere. Die<br />
meisten der großen Fischarten sind ausgestorben.<br />
Die Flüsse, die in Tibet entspringen,<br />
versorgen die Hälfte der Weltbevölkerung<br />
mit Wasser. Im Gegenzug<br />
plündern, verschmutzen, privatisieren<br />
und vergewaltigen wir die Gewässer und<br />
damit unsere Mutter Erde, unsere Pachamamma,<br />
wie sie von den Andenvölkern<br />
liebevoll genannt wird.<br />
100 Perspektiven Vier Elemente<br />
Gemeinwohlbilanz<br />
Es ist noch nicht alles verloren. Luft und<br />
Erde, Wasser und Feuer sind Allgemeingüter,<br />
mit denen wir sorgsam und sanft<br />
umgehen müssen. Es geht um nichts<br />
we niger als den Erhalt und die Rechte<br />
der Erde, auf der wir leben. Nicht die<br />
wirt schaftlichen Aspekte werden uns da-<br />
bei antreiben.<br />
Für unseren Hotelbetrieb haben<br />
wir einen Weg eingeschlagen, der ein<br />
neues Bewusstsein in die Praxis umsetzt.<br />
Wir messen unser unternehmerisches<br />
Tun nicht nur am Umsatz, sondern auch<br />
an den 17 Kriterien der Gemeinwohlbilanz,<br />
die sich an Werten wie Gerechtig-<br />
Mensch und Natur. „Luft, Erde, Wasser und Feuer sind Allgemeingüter, mit denen wir sorg-<br />
sam und sanft umgehen müssen.“ Foto: Gustav Willeit<br />
keit, Menschenwürde, ökologische Verantwortung,<br />
Demokratie, Mitgefühl oder<br />
Solidarität orientiert. Im Jahr 2011 haben<br />
über 100 Pionierunternehmen freiwillig<br />
eine solche Bilanz erstellt. In <strong>Süd</strong>tirol<br />
sind es heute fünf von 850 Hotels, die<br />
dasselbe Wirtschaftsmodell für sich etabliert<br />
haben. Damit sich für die Zukunft<br />
Entscheidendes zum Wohl unserer Erde<br />
verändert, benötigt es viel mehr davon.<br />
Michil Costa (*1961), engagierter Um-<br />
weltschützer und Gastronom, führt mit<br />
seiner Familie das Hotel La Perla in<br />
Corvara im Gadertal.<br />
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101<br />
Ariane Löbert<br />
Grün wirtschaften<br />
Fotografie — Jasmine Deporta<br />
Der Bereich der Green Economy wächst<br />
rasant. Viele Arbeitsplätze werden in<br />
den kommenden Jahren durch nachhaltiges<br />
Wirtschaften entstehen. Auch in<br />
<strong>Süd</strong>tirol.<br />
Ariane Löbert<br />
Ökologisch nachhaltig, wirtschaftlich profitabel und gleichzeitig<br />
sozial ausgewogen – das ist die Formel der Green<br />
Economy. Früher nannte man derlei schlicht Nachhaltigkeit.<br />
Das Konzept ist also alles andere als neu und lässt sich<br />
auch nicht auf einige wenige Wirtschaftsbereiche reduzieren.<br />
Fast jeder Installateur bietet heute auch umweltrelevante<br />
Dienstleistungen an, indem er Solaranlagen, Wärmepumpen<br />
oder Biomasseheizungen installiert. Längst nicht<br />
jeder zur Green Economy gezählte Betrieb erwirtschaftet<br />
seinen gesamten Umsatz in diesem Bereich und längst<br />
nicht alle Mitarbeiter eines Unternehmens mit Nachhaltigkeitsanspruch<br />
verrichten Tätigkeiten, die sich als „grün“<br />
bezeichnen lassen. Ein Umstand, der es nicht leichter<br />
macht, die Green Economy sicher zu qualifizieren und zu<br />
quantifizieren, sagt Sepp Walder, Projektmanager im Bereich<br />
Umwelt und <strong>Energie</strong> des TIS innovation park in Bozen,<br />
der Unternehmensbrutstätte und Innovationspartner in<br />
einem ist. Für <strong>Süd</strong>tirol will er im Rahmen einer jüngst angelaufenen<br />
Studie jetzt erstmals einen detaillierten Überblick<br />
verschaffen.<br />
Dass das nachhaltige Wirtschaften seit Jahren ein<br />
enormes Wachstum erlebt, ist dennoch gut dokumentiert.<br />
Laut dem Umwelttechnologie-Atlas des deutschen Bundesumweltministeriums<br />
ist der weltweite Markt für Umwelttechnik<br />
und Ressourceneffizienz zwischen 2007 und 2010<br />
um rund 12 Prozent pro Jahr gewachsen und hat heute ein<br />
Volumen von knapp zwei Billionen Euro.<br />
Auch in <strong>Süd</strong>tirol hat die Green Economy in den<br />
vergangenen 20 Jahren bemerkenswerte Zuwächse verzeichnet.<br />
Zählte man 1990 erst 110 Betriebe zum grünen<br />
Produktionshalle von Progress. Das Unternehmen aus Brixen hat sich auf das energieeffiziente Bauen spezialisiert<br />
und unter anderem eine Außenwand mit integrierter Warmedämmung entwickelt
Wirtschaftszweig, waren es 2010 bereits 464 mit insgesamt<br />
rund 4.000 Beschäftigten. Die aktuelle Weltwirtschaftskrise<br />
hat diese Vorwärtsentwicklung zwar etwas<br />
verlangsamt, größere Einbrüche blieben jedoch aus, was<br />
die These bestätigt, dass nachhaltiges Wirtschaften Unternehmen<br />
krisenfest macht.<br />
Die Erfindungen von Alberto Volcan reduzieren den Abfall und<br />
sind vollständig biologisch abbaubar<br />
Erfinder und Rebellen<br />
In diesem Sinne krisenfest ist auch der Erfinder Alberto<br />
Volcan. Der 71-jährige Ingenieur, Computerentwickler und<br />
Weltreisende hat diverse Patente an den Wänden seines<br />
Bozner Büros hängen, allein zwölf davon beschäftigen sich<br />
mit der Verwertung all dessen, was bei der Verarbeitung<br />
von Äpfeln übrig bleibt. Apfelreste sind Volcans große Leidenschaft.<br />
Aus ihnen stellt er nicht nur Ölabscheider für die<br />
Industrie her, er macht auch Papier daraus und sogar eine<br />
Art Kunstleder. Zu seinen neuesten Erfindungen zählen<br />
kompostierbare Windelfüllungen aus Apfelgranulat und<br />
Solarthermiepaneele, die dank der getrockneten Apfelreste<br />
weit mehr Wärme produzieren als herkömmliche Modelle.<br />
„Derzeit laufen dazu Feldversuche an der landwirtschaftlichen<br />
Versuchsanstalt Laimburg“, sagt der Erfinder. Besonders<br />
stolz ist er darauf, dass seine Produkte Abfall reduzieren<br />
und dabei völlig ungiftig und komplett biologisch abbaubar<br />
sind. Die Testphase längst überwunden hat Volcans<br />
102 Perspektiven Grün wirtschaften<br />
Apfelpapier mit dem schönen Namen Cartamela. Das Papier<br />
mit dem edlen Schilfton wird in Verona hergestellt und<br />
italienweit verkauft. Auch Toiletten- und Küchenpapier gibt<br />
es ebenso wie Apfelkisten und „Apfelsixpacks“ für den Supermarkt<br />
– da kehrt der Apfel gewissermaßen zu sich selbst<br />
zurück.<br />
Nicht mal halb so alt wie der drahtige Bozner Erfinder,<br />
aber nicht minder kreativ sind die Gründer von Re-<br />
Bello. Das Ökomodelabel stellt trendige T-Shirts aus organischer<br />
Baumwolle und anderen, weniger bekannten Naturfasern<br />
wie Bambus und Eukalyptus her. Die mit verschiedenen<br />
Ökosiegeln zertifizierten Shirts werden<br />
überwiegend in Deutschland, aber auch in Österreich, der<br />
Schweiz und den Benelux-Ländern verkauft – und zwar<br />
nicht im klassischen Bioladen, sondern in angesagten Boutiquen<br />
und Modeketten. „Wir sind 2010 mit 3000 selbst<br />
designten T-Shirts gestartet“, sagt Daniel Tocca, der Re-<br />
Bello gemeinsam mit seinen Freunden Emanuele Bacchin<br />
und Daniel Sperandio gegründet hat. Heute verkauft man<br />
bereits 20.000 Stück und ab Herbst sollen Hosen und<br />
Strickwaren die Kollektion erweitern. Hochwertige und<br />
ökologisch korrekte Shirts mit unverwechselbarem Stil<br />
haben sich für die Jungunternehmer als echte Marktlücke<br />
erwiesen, die Nachfrage steigt und steigt. „Wir wollen ein<br />
Toplabel im Ökomodebereich werden“, sagt Tocca denn<br />
auch selbstbewusst. Design und Vermarktung erfolgen von<br />
Leifers aus, produziert wird in der Türkei und in Griechenland,<br />
wo auch die Mehrzahl der Rohmaterialien nach biologischen<br />
Richtlinien angebaut und verarbeitet wird. Derzeit<br />
bastelt man gemeinsam mit dem TIS und mit Unterstützung<br />
des Landes <strong>Süd</strong>tirol an neuen, möglichst einheimischen<br />
Materialien – „an Apfelreste denken wir dabei aller-<br />
Die trendigen T-Shirts von Re-Bello werden in angesagten<br />
Modeketten verkauft<br />
dings nicht“, meint Daniel Tocca. Ein Fernziel ist, auch in<br />
Italien zu produzieren, denn ein „Made in Italy“ ist im<br />
Mode- und Designbereich immer noch so etwas wie ein<br />
Adelstitel. Ein „Made in <strong>Süd</strong>tirol“ wird es allerdings, ebenso<br />
wie beim Apfelpapier, nicht geben, dazu fehlen hierzulande<br />
schlicht die entsprechenden Industriezweige.
Wirtschaft im Wandel<br />
Mangelware sind oft auch gut dotierte Jobs für Akademiker.<br />
Hochschulabgänger tun sich zuweilen schwer, in <strong>Süd</strong>tirol<br />
eine ihrer Qualifikation entsprechende Beschäftigung zu<br />
finden. Weit stärker nachgefragt sind hierzulande Facharbeiter<br />
mit Zusatzqualifikationen im Umwelt- und <strong>Energie</strong>bereich.<br />
Inzwischen haben auch die Berufsschulen diese<br />
Entwicklung erkannt und beginnen spezielle Ausbildungsgänge<br />
anzubieten. In Meran gibt es bereits eine Weiterbildung<br />
zum „Solarteur“, einem geschützten Titel, der seinen<br />
Träger als Experten für<br />
Solartechnik und erneuerbare<br />
<strong>Energie</strong> ausweist,<br />
und in Schlanders<br />
will man in diesem<br />
Jahr mit einer Ausbildung<br />
zum Baubiologen<br />
starten. Spezialisierungen<br />
für Elektro- und<br />
Anlagentechniker<br />
ebenso wie für Installateure<br />
sollen folgen.<br />
Weiterbildung, die sich<br />
auch für die Beschäftigten<br />
rechnet – zusätzliche<br />
Kompetenzen<br />
erhöhen die Arbeitsplatzsicherheit<br />
und<br />
machen sich auch in<br />
der Lohntüte positiv<br />
bemerkbar.<br />
An der Freien<br />
Universität Bozen kann<br />
man einen Bachelor in Innovation Engineering erwerben,<br />
es gibt einen KlimaHaus Master, der Planer zu Experten<br />
im Bereich des energieeffizienten Bauens ausbildet, und<br />
ein Doktoratsstudium in Erneuerbaren <strong>Energie</strong>n und Technologie.<br />
Derzeit suchen die Absolventen ihr Glück noch<br />
häufig im Ausland, aber nach und nach zeigen die Forschungs-<br />
und Entwicklungsbemühungen verschiedenster<br />
Unternehmen, aber auch von TIS und Europäischer Aka-<br />
103 Ariane Löbert<br />
demie Bozen Wirkung und wandeln die immer noch stark<br />
von Handwerk, Tourismus und Landwirtschaft geprägte<br />
Wirtschaftsstruktur und damit auch die Beschäftigungsmöglichkeiten<br />
im Land.<br />
Ein Unternehmen, das diese Entwicklung seit Langem<br />
begleitet und vorantreibt, ist das Brixner Bauunternehmen<br />
Progress. Als Hersteller von Betonfertigteilen war<br />
man von Anbeginn an der Entwicklung des KlimaHauses,<br />
einem von der öffentlichen Hand zertifizierten Niedrigenergiehaus,<br />
beteiligt und hat sich verstärkt dem energieeffizienten<br />
Bauen zugewandt. Herausgekommen ist dabei<br />
unter anderem die sogenannte Thermowand®, eine Außenwand<br />
mit integrierter Wärmedämmung, die Bauten im<br />
sogenannten KlimaHaus-Standard ermöglicht. Das sind<br />
Neubauten, die nur mehr 5 Liter Heizöl pro Quadratmeter<br />
Wohnfläche und Jahr verbrauchen. Ebenfalls eine Eigenentwicklung<br />
ist die sogenannte Klimadecke® – ein Deckenelement<br />
mit integriertem Heiz- und Kühlsystem. „Das Prinzip<br />
der Deckenheizung ist besonders interessant, weil es<br />
im Winter für Wärme und im Sommer optimal für Kühlung<br />
sorgt“, sagt Hanno Töll, der bei Progress Innovationsprojekte<br />
koordiniert. Für die Thermowand wurde jüngst im<br />
Rahmen der Innovation School des TIS eine Lebenszyklusanalyse<br />
erstellt. Dabei wird der Lebenslauf eines Produktes<br />
von der Entwicklung bis zur endgültigen Beseitigung<br />
analysiert. Betrachtet werden sämtliche <strong>Energie</strong>- und Materialflüsse,<br />
die in das Produkt einfließen. „Für uns war das<br />
eine sehr interessante<br />
Erfahrung, die uns<br />
ganz neue Einblicke in<br />
unseren Betrieb gegeben<br />
hat“, sagt Hanno<br />
Töll. Jetzt mache man<br />
sich an die Umsetzung<br />
der Erkenntnisse.<br />
Viele neue<br />
Geschäftsfelder<br />
Die Erfolgsgeschichte<br />
KlimaHaus ist ein wesentlicher<br />
Motor der<br />
Green Economy in<br />
<strong>Süd</strong>tirol. Den weitaus<br />
größeren Teil der Gebäude<br />
machen aber<br />
auch hierzulande die<br />
Altbauten aus. Deren<br />
energetische Sanierung<br />
ist Herausforderung<br />
und Chance gleichermaßen. Als eines der größten<br />
Probleme erweist sich dabei meist die Finanzierung. Sie<br />
stellt private Eigentümer, ganz besonders Eigentümergemeinschaften<br />
von Mehrfamilienhäusern, oft vor unlösbare<br />
Probleme. Neue Möglichkeiten bieten sogenannte Esco-<br />
Finanzierungen, bei denen ein Investor die Kosten für die<br />
Sanierung übernimmt und sich anschließend durch die<br />
erzielten Einsparungen refinanziert. Eine abgespeckte
Variante ist das <strong>Energie</strong>contracting, bei dem nur die Kosten<br />
für die Heizanlage vorfinanziert werden. In <strong>Süd</strong>tirol<br />
beackert die Firma Eneralp dieses noch junge Geschäftsfeld<br />
derzeit quasi in Alleinstellung. „In Zeiten explodierender<br />
Öl- und Gaspreise steigt die Nachfrage nach Biomasseheizungen“,<br />
sagt Jürgen Viehweider, der Eneralp gemeinsam<br />
mit seinem Bruder Thomas leitet. Die Heizanlagen<br />
werden von ihnen geplant, eingebaut und auch<br />
gewartet. Nach Ende der Vertragslaufzeit geht die Anlage<br />
ins Eigentum der Auftraggeber über.<br />
Die Green Economy wird von der UNO erklärtermaßen<br />
als Antwort auf die vordringlichsten globalen Problemfelder<br />
wie Klimawandel, Ressourcenknappheit und Bevölkerungswachstum<br />
gesehen. Laut UN-Schätzungen werden<br />
in diesem Bereich in den kommenden Jahrzehnten<br />
weltweit zwischen 15 und 60 Millionen neue Jobs entstehen.<br />
Auch Beratungs- und Planungsfirmen im Umwelt- und<br />
<strong>Energie</strong>bereich werden eine immer stärkere Bedeutung<br />
bekommen, Planungsbüros wie die Bozner Energytech. Die<br />
Gebäudetechnik der Handelskammer in Bozen oder des<br />
Firmensitzes der Salewa-Gruppe wurden hier projektiert<br />
und bauleitend betreut. Das Unternehmen, das ähnlich wie<br />
Eneralp aus der Initiative zweier Ingenieure entstanden<br />
ist, ist mittlerweile im gesamten oberitalienischen Raum<br />
bis hinunter nach Rom tätig. „Wir werden überall dort hinzugezogen,<br />
wo energetisches Know-how gefragt ist“, fasst<br />
Laut UN-Schätzungen werden im<br />
Bereich Green Economy in<br />
den kommenden Jahrzehnten weltweit<br />
zwischen 15 und 60 Millionen neue Jobs<br />
entstehen.<br />
Norbert Klammsteiner, einer der beiden Unternehmensgründer,<br />
zusammen. Längst arbeitet man mit namhaften<br />
Architekten wie David Chipperfield oder Matteo Thun<br />
zusammen. „<strong>Energie</strong> ist heute ein wesentlicher Kostenfaktor<br />
für die Wirtschaft“, sagt Klammsteiner, deshalb setzen<br />
immer mehr Unternehmen auf Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen,<br />
<strong>Energie</strong>erzeugung und sinnvolle <strong>Energie</strong>- und<br />
Ressourcennutzung.<br />
Die Notwendigkeit zu sparen und neue Wege zu gehen,<br />
ist eine der wesentlichen Antriebsfedern für die Green<br />
Economy und schafft viele neue Berufsfelder und Arbeitsplätze.<br />
Auch in <strong>Süd</strong>tirol.<br />
Ariane Löbert (*1969), freie Journalistin in Bozen, unter anderem<br />
für das Wochenmagazin „ff“, „<strong>Süd</strong>tirol Panorama“ und RAI-Sender<br />
Bozen.<br />
104 Perspektiven Grün wirtschaften Energisch und energetisch<br />
Waltraud Mittich<br />
Energisch<br />
und<br />
energetisch<br />
Ihren Wörtern auf der Spur zu bleiben,<br />
ist eine Möglichkeit, Aufschluss zu bekommen<br />
über eine Gesellschaft. <strong>Energie</strong><br />
ist ein derartiges Schlüsselwort. Es<br />
kommt aus dem Griechischen, wie die<br />
meisten unserer Signalwörter. Ironie<br />
des Schicksals angesichts der heutigen<br />
Si tuation: <strong>Energie</strong> bedeutet Wirken. Alle<br />
wollen wir energisch sein, dynamisch,<br />
effi zient, berechenbar. So ähnlich, wie<br />
Mephisto es in Goethes Faust meint:<br />
„Was ihr nicht rechnet, glaubt ihr, sei<br />
nicht wahr.“ Gleichzeitig wiederum wollen<br />
wir nicht nur rational sein. Wir lassen<br />
uns auf das Qi ein, auf die tantrischen<br />
Chakras, importierte <strong>Energie</strong>zentren, wie<br />
auch auf drinks, die energy versprechen.<br />
Positive <strong>Energie</strong> würden wir ebenfalls<br />
gern ausstrahlen: Die Aura, ihre Schwin-<br />
gungen, deren <strong>Energie</strong>n haben es uns<br />
angetan. <strong>Energie</strong> als Lebenskraft, als<br />
sexuelle <strong>Energie</strong>, elan vital, den vigore<br />
– die firmeza sollten wir gesondert be-<br />
nennen. Die vierte Bedeutungsebene von<br />
<strong>Energie</strong>, von der unser Weiterbestehen<br />
abhängt, meint die verschiedenen <strong>Energie</strong>träger<br />
wie Mineralöl, Erdgas, Braunund<br />
Steinkohle, Uran und die alternativen<br />
bzw. erneuerbaren wie Wind-, Wasser-,<br />
Solarkraft.<br />
Wir haben unglaublich viele neue<br />
Wörter für unsere <strong>Energie</strong>wirtschaft<br />
erfunden, besonders in der deutschen<br />
Sprache. Der letzte große Wortwurf<br />
nennt sich <strong>Energie</strong>wende. Eingeläutet<br />
wurde sie – wieder einmal – von den<br />
Deutschen. Sie sind gut im Wortfinden<br />
für solcherlei, aber auch sensibel, es ist
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nicht nur die german angst, die sie antreibt.<br />
Ein weiteres deutsches Neuwort<br />
nennt sich <strong>Energie</strong>sparampel, das Wort<br />
gehört zur Serie <strong>Energie</strong>sparen, <strong>Energie</strong>sparlampen<br />
usw. Davon reden nun alle<br />
oft und viel. Genauso wie von der <strong>Energie</strong>effizienz,<br />
die zu einer <strong>Energie</strong>einsparung<br />
beim <strong>Energie</strong>effizienzhaus und dem<br />
entsprechenden Auto führen soll. Es geht<br />
aber auch die Rede von einem <strong>Energie</strong>effizienzmythos.<strong>Energie</strong>einsparungsgesetze<br />
und -verordnungen sollen dieses<br />
doch recht unvollständige <strong>Energie</strong>-Wörter-Bild<br />
abrunden.<br />
Ich will aber nicht abschließen,<br />
ohne meinen persönlichen sprachlichen<br />
Spitzenreiter einzubringen: Er nennt sich<br />
Energetisches Sanieren. Die Philosophen<br />
bezeichnen als energetisch die Grundlage<br />
und das Wesen allen Seins. Das<br />
kann beim Sanieren nicht gemeint sein.<br />
Energetik als Ausgleich zum Gleichgewicht<br />
nach C. G. Jung kommt dem Gan-<br />
zen möglicherweise näher. Aber nein,<br />
es handelt sich doch wieder nur um eine<br />
<strong>Energie</strong>sparmaßnahme, es geht um die<br />
Abdichtung eines Bauwerks.<br />
Unser <strong>Energie</strong>hunger ist unstillbar.<br />
Nicht nur die sprachlichen Neubildungen<br />
beweisen es. Und <strong>Energie</strong> haben, ist<br />
für uns gleichbedeutend mit Verprassen,<br />
Verpulvern, Verpuffen. Durch den Schornstein<br />
jagen ist ein Sprachbild aus vormodernen<br />
Zeiten. Es wäre an der Zeit,<br />
unsere <strong>Energie</strong>n anders zu bündeln, sie<br />
in einen besseren Kapitalismus, jedenfalls<br />
in eine andere <strong>Energie</strong>wirtschaft zu<br />
investieren. Aus <strong>Süd</strong>tirol gibt es diesbe-<br />
züglich positive Meldungen. Ich nenne<br />
zwei Beispiele: Die Kleinstadt Bruneck<br />
im Pustertal ist eine von 20 Gemeinden<br />
Italiens, die ihren <strong>Energie</strong>bedarf zu 100<br />
Prozent aus erneuerbaren <strong>Energie</strong>n<br />
deckt. Der <strong>Energie</strong>mix speist sich aus<br />
drei kleinen Wasserkraftwerken, einer<br />
Fernwärmanlage, Solar- und Fotovoltaikanlagen,<br />
einer Biogasanlage und in Zukunft<br />
auch aus Geothermie. Das Dorf<br />
Toblach wurde von der RES Champions<br />
League für beste europäische <strong>Energie</strong>kon<br />
zepte ausgezeichnet.<br />
Das Thema <strong>Energie</strong> ist in <strong>Süd</strong>tirol<br />
derzeit jedoch auch ein brenzliges – so<br />
brenzlig, dass es einen Sonderbeauftragten<br />
für <strong>Energie</strong> braucht, weil politische<br />
<strong>Energie</strong>misswirtschaft einen <strong>Energie</strong>skandal<br />
ausgelöst hat. Wenn wir imstande<br />
wären, all unsere <strong>Energie</strong>n in europäische<br />
<strong>Energie</strong>konzepte zu stecken,<br />
von der Profitmaximierung abzusehen,<br />
genossenschaftlich zu denken und zu<br />
handeln, wenn wir, Männer und Frauen<br />
zusammen, eine weibliche <strong>Energie</strong>wirtschaft<br />
zustande brächten – weiblich im<br />
Sinne von gerecht, emphatisch, bescheiden,<br />
fürsorglich –, dann bräuchten wir<br />
uns um die Zukunft des Planeten weniger<br />
Sorgen zu machen. Wir müssen es schaffen,<br />
die Areale im Gehirn, die für Akti -<br />
vismus, Aggression, allzu energisches<br />
Handeln verantwortlich sind, weniger zu<br />
beanspruchen.<br />
Ich glaube, dass die <strong>Energie</strong>wende<br />
vorangetragen wird von der Generation,<br />
die nach 1980 geboren ist. Junge Männer,<br />
die sich eine andere Unternehmenskultur<br />
105 Waltraud Mittich<br />
wünschen, weil sie sich mehr Privatleben<br />
erwarten vom Leben, junge Frauen an<br />
den Schaltstellen der Macht, weniger<br />
risikobereit und somit mehr auf wirtschaftliche<br />
Risiken achtend. Sie werden<br />
zusammen unsere <strong>Energie</strong>wirtschaft in<br />
das Postwachstum führen und sich ein<br />
wenig vom Überfluss verabschieden.<br />
Energetisch heilen bedeutet in der<br />
alternativen Medizin, dass der Heiler<br />
seine eigenen <strong>Energie</strong>n einsetzt, um den<br />
Heilungsprozess in Gang zu bringen. Der<br />
Glaube versetzt dabei Berge. Aber vielleicht<br />
ist doch manches wahr, was wir<br />
nicht rechnen können. Ans Handauflegen<br />
glaube ich nicht, wohl aber daran, dass<br />
der weniger energische Einsatz von <strong>Energie</strong><br />
heilsam wäre und wir uns so selbst<br />
heilen könnten.<br />
„Unser <strong>Energie</strong>hunger ist unstillbar."<br />
Foto: André Karwath aka Aka, cc-Lizenz<br />
Waltraud Mittich (*1946), Schriftstellerin<br />
in Bruneck. Aktuelle Buchveröffentli-<br />
chung: „Du bist immer auch das Gerede<br />
über dich“, Raetia, 2012.
Juliet Schor<br />
Was uns wirklich<br />
reicher macht<br />
Illustration — Ika Künzel<br />
2008 stand der globale Kapitalismus am Abgrund. Das<br />
Finanzsystem drohte zusammenzubrechen und konnte<br />
nur mit umfassenden Regierungsgarantien und massiven<br />
Geldspritzen gerettet werden. Dennoch wurden weltweit<br />
Vermögenswerte in Höhe von 50 Billionen Dollar auf einen<br />
Schlag ausradiert. Und das ist nur ein Teil der Tragödie,<br />
die uns bedroht. Die Forschung zeigt, dass wir Menschen<br />
unseren Planeten weit schneller ausplündern, als er sich<br />
regenerieren kann. In den Weltmeeren breiten sich die Zonen<br />
aus, in denen kein Leben mehr existiert; einst fruchtbares<br />
Farmland verwandelt sich in Wüsten. Die Arten vielfalt<br />
schrumpft dramatisch. Setzen sich die gegen wärtigen<br />
Trends fort, so warnen Wissenschaftler, werden die Ozeane<br />
bis 2050 leergefischt sein. Dabei ist Fisch die wich tigste<br />
Nahrungsquelle für Milliarden von Menschen.<br />
Doch es gibt einen Ausweg aus der ökonomischen<br />
Krise mit steigenden Preisen für Nahrungsmittel und <strong>Energie</strong><br />
und der Furcht vor einer Klimakatastrophe. Ich benutze<br />
dafür das Wort „Fülle“, Englisch „Plenitude“. Es ist ein<br />
Sy nonym für die Großzügigkeit der Natur. Plenitude bietet<br />
uns die Chance wiederzuentdecken, was uns wirklich<br />
reicher macht, zum Beispiel die Rückbesinnung auf ein<br />
starkes Miteinander. Plenitude bedeutet, nach anderen<br />
Maximen zu leben als nach denen, die in den vergangenen<br />
25 Jahren dominiert haben. Dieser Lebensstil orientiert<br />
sich im Kern an ökologischen und sozialen Zielen, aber er<br />
ist keine Verzichtsideologie. Im Gegenteil: Er bringt mehr<br />
Lebensqualität als das Festhalten am „Business as usual“,<br />
das nur dazu führen wird, dass unsere natürlichen und ökonomischen<br />
Lebensgrundlagen zerstört werden.<br />
Wie die meisten Nachhaltigkeitsvisionen, die in den<br />
zurückliegenden Jahren vorgestellt worden sind, setzt<br />
auch Plenitude auf den Einsatz hochentwickelter grüner<br />
Technologien. Ohne sie würden wir einer ungewissen Zukunft<br />
entgegenblicken. Aber mein Ansatz ist nicht auf<br />
Technik fixiert. Mit ihr allein können wir die Probleme nicht<br />
106 Perspektiven Was uns wirklich reicher macht<br />
lösen. Was wir darüber hinaus brauchen, ist eine neue<br />
Art des Arbeitens und Konsumierens. Wir müssen unser<br />
tägliches Leben neu gestalten. Kurzum: Wir brauchen<br />
ein alter natives Wirtschafts- und Lebensmodell und nicht<br />
bloß ein neues <strong>Energie</strong>system.<br />
Der Übergang in eine nachhaltige Wirtschaft wird<br />
Jahrzehnte dauern, und Plenitude ist auch eine Strategie,<br />
die sicherstellt, dass es uns in dieser Zeit des Übergangs<br />
weiterhin gut geht. Der Charme dieses Ansatzes ist es,<br />
dass er sich sofort umsetzen lässt. Wir müssen nicht darauf<br />
warten, bis die grünen Technologien sich durchgesetzt<br />
haben. Und auch die Regierungen müssen nicht unbedingt<br />
mitmachen: Jeder kann für sich alleine loslegen – und<br />
viele tun es schon. Plenitude ist aber mehr als die private<br />
Antwort auf ein kollektives Problem. Jene Menschen, die<br />
die Grundsätze von Plenitude bereits umsetzen, sind Pioniere<br />
einer Veränderung auf der untersten Ebene, ohne die<br />
das schrecklich aus den Fugen geratene Gesamtsystem<br />
nicht wieder ins Gleichgewicht kommen wird.<br />
Vier Prinzipien<br />
Aus der Sicht des Einzelnen gibt es vier Prinzipien, die Plenitude<br />
ausmachen. Das erste Prinzip ist eine neue Nutzung<br />
der Zeit. Seit etlichen Jahren beobachten wir den Trend,<br />
dass die Menschen in den Industrieländern immer länger<br />
arbeiten und gleichzeitig immer größere Teile ihres Einkommens<br />
für teure Freizeitvergnügen und besinnungslosen<br />
Konsum verwenden. Alles ist marktorientiert. Es ist an<br />
der Zeit, dass wir diesen Trend umkehren und uns wieder<br />
stärker Aktivitäten jenseits des Markts zuwenden. Konkret<br />
bedeutet dies, Einkommen gegen zusätzliche freie Zeit einzutauschen.<br />
Und diese zum Beispiel in Projekte zu investieren,<br />
die der Umwelt wieder auf die Beine helfen. Oder sie<br />
dafür zu nutzen, unsere zwischenmenschlichen Beziehungen,<br />
die immer öfter zugunsten der Einkommenserzielung<br />
vernachlässigt werden, wieder intensiver zu<br />
pflegen.<br />
Der zweite Grundpfeiler von Plenitude heißt: Selbstversorger<br />
werden. Das bedeutet, die Dinge und Dienstleistungen<br />
des täglichen Gebrauchs – wann immer möglich<br />
– selbst herzustellen, anzupflanzen und zu erbringen, anstatt<br />
sie zu kaufen. Auf diese Weise lässt sich nicht nur der<br />
tägliche Stress reduzieren. Mehr Zeit aufs Selbermachen<br />
zu verwenden, eröffnet auch eine wichtige Erkenntnis: Je<br />
weniger man sich selbst unter Kaufzwang setzt, desto weniger<br />
Geld ist man gezwungen zu verdienen. Das wiederum<br />
bringt ein Gefühl der Befreiung und des Wohlbefindens<br />
mit sich. Die Wirtschaftskrise hat gerade in den USA<br />
die Do-it-yourself-Bewegung massiv gestärkt, die bis dahin<br />
vor allem von den Pionieren der Nachhaltigkeit wiederentdeckt<br />
worden war. Moderne, auch für Laien gut zu bedienende<br />
Maschinen, erhöhen die Produktivität des Selbermachens<br />
zudem enorm, wodurch das Ganze auch wirtschaftlich<br />
interessant wird.<br />
Der dritte Pfeiler ist ein neuer Materialismus, der<br />
sich in einem unserer Erde gegenüber respektvolleren Konsumverhalten<br />
widerspiegelt. Es liegt auf der Hand, dass die
heutige Verbrauchskultur nicht respektvoll ist. In den<br />
wohlhabenden Ländern hat sich in den vergangenen Jahrzehnten<br />
das Tempo, in dem Produkte gekauft und weggeworfen<br />
werden, extrem gesteigert. Dabei wissen die Verbraucher<br />
relativ wenig darüber, woher die Produkte kommen<br />
und wie sehr ihre Herstellung und ihre Nutzung die<br />
Umwelt schädigen. In den USA konsumiert ein durchschnittlicher<br />
Verbraucher heute drei Mal so viel wie 1960.<br />
Diese gi gan tische Steigerung hat die globalen Material-<br />
107 Juliet Schor<br />
flüsse enorm beschleunigt – und damit den globalen<br />
Ressourcen verbrauch: 1980 förderten und verwerteten die<br />
Menschen 40 Milliarden Tonnen Metalle, fossile <strong>Energie</strong>träger,<br />
Biomasse und Mineralien. 25 Jahre später sprang<br />
die jährliche Verwertung um 45 Prozent auf 58 Milliarden<br />
Tonnen. Dabei steht diese gigantische Menge nur für jenen<br />
Teil der Rohstoffe, die tatsächlich Eingang in die Produkte<br />
finden. Weitere rund 39 Milliarden Tonnen werden während<br />
der Produktionsprozesse verbraucht.
Die Menschheit plündert die Erde<br />
weit schneller aus, als sie sich<br />
regenerieren kann. Machen wir<br />
weiter wie bisher, werden <strong>Energie</strong>,<br />
Transport und Konsumgüter<br />
beständig teurer. Die Wirtschaftskrise,<br />
die auch eine ökologische<br />
Krise ist, hat neue Formen des<br />
Mangels gebracht: Knapp sind<br />
vor allem Einkommen, Arbeitsplätze<br />
und Kredite. Aber der<br />
übliche Weg zurück zu mehr<br />
Wachs tum – ein schuldenfinanzierter<br />
Konsumboom – ist<br />
keine Option mehr, die für uns<br />
in Frage kommt.<br />
Meine Antwort auf die Krise ist,<br />
auf Nachhaltigkeit zu setzen.<br />
Dabei geht es nicht darum, Opfer<br />
zu bringen. Vielmehr plädiere<br />
ich für einen fundamentalen<br />
Wechsel zu grünen Technolo gien,<br />
zu neuen Quellen des Reichtums<br />
und zu einer anderen Art zu<br />
leben.<br />
Übersetzter Auszug aus „Plenitude: The New Economics of True Wealth“,<br />
Penguin Press, 2010.<br />
108<br />
Perspektiven Was uns wirklich reicher macht<br />
Juliet Schor (*1956) ist Soziologieprofes-<br />
sorin am Boston College. Davor lehrte<br />
die Spitzenforscherin mit der überlangen<br />
Liste an Veröffentlichungen Ökonomie<br />
an der Harvard University. Sie ist Autorin<br />
mehrerer Bestseller, die den westlichen<br />
Lebensstil kritisieren. Ihr jüngstes Buch<br />
„Plenitude“ erschien in Australien, in<br />
Japan und in China. Sie ist außerdem<br />
Gründungsmitglied der Bürgerbewegung<br />
des New American Dream, die für<br />
eine neue und bewusstere Konsumkultur<br />
einsteht. Jeder Amerikaner, betont Schor,<br />
kauft durchschnittlich alle fünf Tage<br />
ein neues Kleidungsstück, das er gar<br />
nicht braucht – und gibt dafür weniger<br />
Geld aus, als vielerorts ein Stück Brot<br />
kostet. Die engagierte Autorin ist sich<br />
sicher, dass die Menschen sinnvoll leben<br />
wollen, nur schaffen sie es häufig nicht,<br />
sich von ihren Zwängen zu befreien.<br />
Schor fordert deshalb einen „sinnvolleren<br />
Wohlstand“, der mit weniger Ressourcen<br />
auskommt, dafür aber zu mehr<br />
Zeit und sozialen Kontakten verhilft.<br />
„Arbeite und kon sumiere weniger“,<br />
schreibt die zweifache Mutter in ihrem<br />
Beitrag für „<strong>Nord</strong> & <strong>Süd</strong>“, „schaffe stattdessen<br />
mehr Werte und Produkte selbst<br />
und knüpfe vor allem wieder mehr<br />
menschliche Kontakte.“
Es ist leicht zu erkennen, dass eine Fortsetzung dieser<br />
Ausplünderung unseres Planeten in eine Sackgasse<br />
führt. Viele glauben noch immer, dass unendliches Wachstum<br />
möglich sei, denn der technologische Wandel senke<br />
zwangsläufig den Materialeinsatz. Dahinter verbirgt sich<br />
die Vorstellung, das Bruttoinlandsprodukt (BIP) könne von<br />
Materialverwertung und Umweltverschmutzung so abgekoppelt<br />
werden, dass es ins Unermessliche steigen kann,<br />
während der Materialeinsatz schrumpft.<br />
Doch obwohl heute jeder Dollar des BIP einen geringeren<br />
Materialstrom verursacht, hat das Wachstum des<br />
BIP im Verlauf der vergangenen 25 Jahre diesen Effizienzgewinn<br />
fast überall sogar überkompensiert. Zwischen<br />
1980 und 2005 steigerten die USA und Kanada ihren Materialeinsatz<br />
um 54 Prozent. Die Bevölkerungszahl stieg in<br />
der gleichen Zeit allerdings nur um 35 Prozent. Die Folge:<br />
Obwohl der Materialeinsatz pro Dollar des BIP um etwa<br />
ein Viertel sank, verdoppelte sich seine absolute Menge.<br />
109<br />
Mehr menschliches Miteinander<br />
Wir sollten uns auch klarmachen, dass sich unsere<br />
Konsumkultur drastisch geändert hat. Es geht nicht mehr<br />
so sehr um das Produkt an sich, sondern es ist mehr und<br />
mehr zum Statussymbol geworden. Frei nach dem Motto:<br />
Image ist alles! Besonders eindrucksvoll lässt sich das<br />
an Marken-Sportschuhen zeigen. Ihre Herstellung kostet<br />
nur ein paar Dollar, dennoch sind viele Konsumenten be-<br />
Juliet Schor<br />
reit, dafür 200 Dollar und mehr zu zahlen – allein um<br />
zu zeigen, dass sie es sich leisten können.<br />
Solche Rituale müssen wir aufgeben, wenn es<br />
uns ernst ist mit der Rettung der Erde. Wir müssen nicht<br />
nur kritischer einkaufen, sondern auch verzichten lernen,<br />
um die Umwelt zu schonen. Damit komme ich zum vierten<br />
und letzten Grundpfeiler von Plenitude. Er handelt von<br />
der Notwendigkeit, wieder mehr in das menschliche Miteinander<br />
zu inves tieren. Normalerweise werden soziale Beziehungen<br />
nicht unter wirtschaftlichen Aspekten betrachtet.<br />
Ich tue das sehr wohl. Für mich sind sie eine Form von<br />
Reichtum, die mindestens genauso wichtig ist wie Geld<br />
oder materielle Güter. Denn vor allem in schwierigen Zeiten<br />
überleben und entwickeln sich Menschen weiter, indem<br />
sie füreinander einstehen. Wo allein Business und<br />
Geldverdienen im Vordergrund stehen, leidet dieses Verständnis;<br />
die mensch lichen Beziehungen werden schwächer,<br />
denn niemand hat mehr Zeit, außerhalb seiner Kernfamilie<br />
soziale Bezie hungen zu pflegen. Wir verarmen<br />
emotional wie gesellschaftlich.<br />
Zusammengefasst ergeben die vier Grundsätze<br />
eine einfache Formel: Arbeite und konsumiere weniger –<br />
schaffe stattdessen mehr Werte und Produkte selbst und<br />
knüpfe vor allem wieder mehr menschliche Kontakte.<br />
Diese Einstellung würde die Umwelt entlasten und zugleich<br />
das Leben bereichern. Wir könnten es mehr genießen<br />
und würden aufblühen.
Dieter Dürand<br />
Bunt, vital, einfallsreich –<br />
warum unsere Zukunft voller<br />
Chancen steckt
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Wir alle pflegen unsere Vorurteile – ob wir wollen oder nicht. Kaum haben wir<br />
einen Menschen zum ersten Mal gesehen, schon bilden wir uns ein Urteil über<br />
ihn. Ebenso haben wir zu fast allem eine Meinung, obwohl wir oft herzlich wenig<br />
darüber wissen. Nur so finden wir durch den Alltag, sind in der Lage, trotz unvollständiger<br />
Information Entscheidungen zu treffen. Und dazu sind wir ständig<br />
gezwungen. Ich finde diesen Befund auch nicht weiter schlimm. Solange wir<br />
uns dieser Unzulänglichkeit bewusst bleiben und uns die Bereitschaft bewahren,<br />
unsere Vorurteile im Lichte genauerer Kenntnis zu korrigieren.<br />
Genau das musste ich im Zuge der Arbeit an diesem Heft tun. Als mich das<br />
Redaktionsteam, dem ich an dieser Stelle für die kritische, aber stets kon struktive<br />
Zusammenarbeit herzlich danke, fragte, ob ich die zweite Ausgabe von „<strong>Nord</strong> &<br />
<strong>Süd</strong>“ mit dem Schwerpunkt <strong>Energie</strong> betreuen würde, schoss mir in den Sinn:<br />
<strong>Energie</strong>! Was soll <strong>Süd</strong>tirol denn da schon zu bieten haben? In der Redaktion der<br />
„WirtschaftsWoche“, Deutschlands führendem Wirtschaftsmagazin, kümmere<br />
ich mich seit Jahren um dieses Thema. Und bei kaum einer Recherche waren mir<br />
Projekte oder Unternehmen aus Italiens nördlichster Provinz untergekommen.<br />
Allenfalls in Sachen Solararchitektur besaß sie einen gewissen Ruf. Aber sonst?<br />
Da spielt die Musik doch wohl woanders auf der Welt, dachte ich.<br />
Dennoch erschien mir die Aufgabe nach kurzem Nachdenken journalistisch<br />
reizvoll. Zum einen war da die Chance, ein komplettes Heft mitzugestalten. Und<br />
zum anderen die Möglichkeit, mein Urteil zu überprüfen und den eigenen Horizont<br />
um ein weiteres Mosaiksteinchen zu erweitern. Und siehe da! Schon bei der<br />
Konzeption der Themen zeigte sich: Meine Skepsis war mehr als unbegründet.<br />
<strong>Süd</strong>tirol ist zwar nicht der Nabel der Welt beim Übergang vom fossilen ins Zeitalter<br />
der regenerativen <strong>Energie</strong>erzeugung. Wie sollte es das bei seiner Größe<br />
auch sein. Doch es ist, zumindest bei der Stromproduktion, längst grüner als der<br />
vermeintliche Ökoprimus Deutschland und treibt Innovationen voran, von denen<br />
ausländische Investoren profitieren und lernen können: sei es bei der Nutzung<br />
von Biomasse, neuartigen Windrädern oder energieeffizienten Bautechnologien.<br />
Bei unserem <strong>Energie</strong>streifzug durch die Region haben Sie sich selbst davon<br />
überzeugen können.<br />
Inzwischen verstehe ich, woher der Innovationsgeist rührt, der hier so häufig<br />
anzutreffen ist. Die Menschen in den Tälern waren über Jahrhunderte darauf<br />
an gewiesen, selbst Lösungen für ihr tägliches Überleben zu entwickeln und dabei<br />
sparsam mit den knappen Ressourcen umzugehen. Das hat sie geprägt. Und<br />
dieser Zwang hat sie erfindungsreich gemacht, gerade auch bei der Gewinnung<br />
und Nutzung von <strong>Energie</strong>. So ist es am Ende kein Wunder, dass in <strong>Süd</strong>tirol mehr<br />
Gemeinden energieautark sind als sonst irgendwo in Europa. Und es gibt noch<br />
111 Dieter Dürand
mehr Erfolgsgeschichten: Prad am Stilfser Joch erprobt das Stromnetz der Zukunft,<br />
entlang der Brennerautobahn entsteht eines der ambitioniertesten Wasserstoffprojekte<br />
in Europa und in Kurtatsch bei Bozen residiert mit Ewo ein Unternehmen,<br />
das Vorreiter bei der Einführung der sparsamen LED-Lichttechnologie<br />
ist. Aber nicht nur in <strong>Süd</strong>tirol treiben Wirtschaft, Politik und engagierte Bürger<br />
den grünen Fortschritt voran. In ganz Italien kündigt sich – bei aller gefürch teten<br />
politischen Launenhaftigkeit – ein solcher Wandel an. Das ist erfreulich.<br />
Nun gehört es zur journalistischen Ernsthaftigkeit, auch aufzuzeigen, was im<br />
Argen liegt und verbesserungswürdig ist. Anders entsteht kein realistisches Bild,<br />
auf das Sie, die Leser, nicht nur einen Anspruch haben, sondern Sie wür den uns<br />
alles andere übelnehmen – zu Recht. Wir uns selbst übrigens auch. So finden<br />
Sie selbstverständlich ebenso diese Aspekte im Heft: Beispielsweise ver missen<br />
wir ein entschlossenes Konzept, das Alternativen zum Auto schafft und die oft<br />
verstopften Straßen in den Tälern vom Verkehr entlastet. Meist ver ursachen die<br />
vielen Urlauber die Staus. Andere Regionen in den Alpen setzen bereits konse-<br />
quenter auf Ökotourismus, belohnen etwa die Anreise per Bahn mit Rabatten und<br />
verleihen preisgünstig Elektroautos und E-Bikes. Doch ich bin sicher, dass die<br />
Verantwortlichen bald nachlegen, so wie sie es derzeit mit dem geplanten Technologiepark<br />
in Bozen schon tun. In Deutschland, Frankreich und Österreich sind<br />
die ersten Parks zwar schon vor Jahren entstanden. Aber dafür erhält <strong>Süd</strong>tirol<br />
jetzt einen, der in Sachen <strong>Energie</strong>effizienz vorbildlich werden soll. So kommt man<br />
auf die Überholspur. Beim Versuch, die industrielle Basis zu erweitern, könnte<br />
das schwieriger werden. Lange, vielleicht zu lange, hat die Region vor allem auf<br />
Tourismus, Landwirtschaft und Handwerk gesetzt. Auch weil die herr liche Landschaft<br />
nicht mit Emissionen belastet werden sollte. Jetzt, wo die Produktion<br />
dank moderner Technologien weitgehend sauber geworden ist, wäre das kein<br />
Problem mehr. Nur ist es heute extrem schwierig geworden, pro duzierende Be-<br />
triebe an zulocken, weil inzwischen die ganze Welt um sie buhlt. Doch der jetzt<br />
voran getriebene Aufbau einer leistungsstarken Forschungslandschaft könnte<br />
das Wer ben erleichtern. Ebenso wenn alle in der heimischen Wirtschaft fremde<br />
Inves toren vorbehaltlos willkommen heißen würden. Doch einige wenige stecken<br />
noch im alten Denken fest und finden, man sei in der Vergangenheit doch auch<br />
gut allein zurechtgekommen. In Wahrheit fürchten sie die neue Konkurrenz. Die<br />
Sorge ist grundlos. Die Neuankömmlinge würden den überall fest zustellenden<br />
Aufbruch in <strong>Süd</strong>tirol nur zusätzlich beflügeln, Arbeitsplätze und Umsatz bringen.<br />
Bei allem Tagesgeschäft war uns der Blick voraus mindestens ebenso wich-<br />
tig. Wie können wir den Klimawandel stoppen und die Ausplünderung unseres<br />
Planeten? Welchen Beitrag kann eine neue Art des Konsumierens dazu leisten,<br />
112 Perspektiven Bunt, vital, einfallsreich
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die auf Teilen statt Besitzen setzt? Wie fördert die vernetzte Stadt die Krea tivität<br />
ihrer Bürger? Sie konnten lesen, wie der Co-Präsident des Club of Rome, Ernst<br />
Ulrich von Weizsäcker, die US-Soziologin Juliet Schor und der italienische Architekt<br />
und MIT-Professor Carlo Ratti darüber denken. Dass wir diese drei renommierten<br />
Geistesgrößen gewonnen haben, darauf sind wir ein wenig stolz. Ihre<br />
Antworten reichen weit über den Tag hinaus. Und dieses Heft hoffentlich auch.<br />
Informieren, aufklären, anregen – das war unser Ziel. Wenn Sie dieses Magazin<br />
wie eine spannende Lektüre immer mal wieder gerne in die Hand nehmen,<br />
dann ist es erreicht.<br />
Herzlichst, Ihr Dieter Dürand<br />
113 Dieter Dürand
114
<strong>Nummer</strong> 2 — 2013 — <strong>Nord</strong> & <strong>Süd</strong> Leben, Arbeit, Wirtschaft in <strong>Süd</strong>tirol<br />
115<br />
Biografien der beauftragten Fotografinnen und<br />
Fotografen, Illustratorinnen und Illustratoren sowie<br />
Künstlerinnen und Künstler:<br />
Gino Alberti<br />
(*1962), Künstler, Grafiker und Illustrator in Bruneck und<br />
Wien. Ausstellungen: Galerie Prisma, Bozen, 2012.<br />
Ivo Corrà<br />
(*1969), Fotokünstler aus Bozen, Mitglied des Projektteams<br />
für Vermittlung am Museum für moderne und<br />
zeitgenössische Kunst in Bozen.<br />
Claudia Corrent<br />
(*1980), freie Fotografin in Bozen. Ausstellungen in Rom<br />
und Mailand.<br />
Nicolò Degiorgis<br />
(*1985), Fotokünstler in Bozen, seine Arbeiten werden<br />
regelmäßig in „Financial Times“, „Le Monde“ und<br />
„Vogue“ veröffentlicht. Ausstellungen: Ring Cube Gallery,<br />
Tokyo, 2011; FO.KU.S Gallery, Innsbruck, 2012.<br />
Jasmine Deporta<br />
(*1989), Fotokünstlerin in Bozen. Ausstellungen: G8 Gallery,<br />
Bozen, 2011; Secret Store, Köln, 2012.<br />
Elisabeth Hölzl<br />
(*1962), Künstlerin und Fotografin in Meran. Austellungen:<br />
Emmanuel Walderdorff Galerie, Köln, 2008; Antonella<br />
Cattani contemporary art, Bozen, 2012. Aktuelle<br />
Buchveröffentlichung: „Libera viva”, Verlag für moderne<br />
Kunst, 2012.<br />
Laura Jurt<br />
(*1979), freie Illustratorin in Zürich. Austellungen: Literaturhaus<br />
München, 2011.<br />
Ika Künzel<br />
(*1978), studierte Produktdesign in Bozen und Eindhoven,<br />
Mitarbeit im Arbeitsteam von Konstantin Grcic,<br />
heute freie Illustratorin und Designerin in Berlin.<br />
Christian Martinelli<br />
(*1970), freier Fotokünstler in Meran und Mitgründer des<br />
Kollektivs CubeStories. Ausstellungen: Kunstart, Bozen,<br />
2011; Galerie Son, Berlin, 2012.<br />
Svenja Plaas<br />
(*1980), studierte Grafik-Design in Zürich, lebt und<br />
arbeitet heute als freie Illustratorin und Designerin in<br />
Wien.<br />
Gregor Sailer<br />
(*1980), freier Designer und Fotograf in Tirol. Arbeiten<br />
unter anderem in der Kunsthalle Wien, im Fotomuseum<br />
Winterthur und in der Österreichischen Staatsgalerie.<br />
Aktuelle Buchveröffentlichung: „Closed Cities“, Kehrer,<br />
2012.<br />
David Schreyer<br />
(*1982), Architekt und autodidakter Bildermacher in<br />
Tirol und Wien. Austellungen: Alte Schieberkammer,<br />
Wien, 2010; Galerie Anika Handelt, Wien, 2010.<br />
Something Fantastic<br />
Das Berliner Architektentrio Elena Schütz, Julian Schubert<br />
und Leonard Streich. Buchpublikation: „Something<br />
Fantastic – A Manifesto by Three Young Architects on<br />
Worlds, People, Cities, And Houses“, „Building Brazil“,<br />
„Re-Inventing Construction“, Ruby Press, 2010–2012.<br />
Aurore Valade<br />
(*1981), französische Fotokünstlerin. Ausstellungen: Festival<br />
Les Photaumanles, Beauvais, 2011; French Institute<br />
Saint-Louis de France, Rom, 2012.<br />
Simone Vollenweider<br />
(*1982), freie Grafikdesignerin in Leipzig.
<strong>Nummer</strong> 2 — 2013 — <strong>Nord</strong> & <strong>Süd</strong> Leben, Arbeit, Wirtschaft in <strong>Süd</strong>tirol<br />
Redaktion<br />
Koordinierender Chefredakteur:<br />
Dieter Dürand<br />
Gesamtkonzept und Kuratoren:<br />
Angelika Burtscher, Daniele Lupo<br />
(Lupo & Burtscher), Christian Hoffelner<br />
(CH Studio), Thomas Hanifle, Thomas Kager<br />
(Ex Libris Genossenschaft)<br />
Redaktion, Lektorat, Korrektorat:<br />
Ex Libris Genossenschaft, exlibris.bz.it<br />
Art Direktion und Gestaltung:<br />
CH Studio, ch-studio.net<br />
Lupo & Burtscher, lupoburtscher.it<br />
Texte:<br />
Toni Bernhart, Michil Costa, Wojciech Czaja, Alfred<br />
Dorfer, Dieter Dürand, Felice Espro, Gustav Hofer,<br />
Judith Innerhofer, Lenz Koppelstätter, Norbert<br />
Lantschner, Ariane Löbert, Waltraud Mittich, Donatella<br />
Pavan, Hans Karl Peterlini, Susanne Pitro, Benjamin<br />
Reuter, Ulrike Sauer, Birgit Schönau, Juliet Schor,<br />
Simone Treibenreif, Alessandra Viola, Ernst Ulrich von<br />
Weizsäcker<br />
Fotografie und Illustration:<br />
Gino Alberti, Ivo Corrà, Claudia Corrent, Nicolò<br />
Degiorgis, Elisabeth Hölzl, Laura Jurt, Ika Künzel,<br />
Christian Martinelli, Svenja Plass, Gregor Sailer,<br />
Something Fantastic, Aurore Valade, Simone<br />
Vollenweider, Gustav Willeit<br />
Übersetzungen:<br />
Ex Libris Genossenschaft (Walter Kögler, Silvia<br />
Oberrauch, Alma Vallazza)<br />
Bild auf dem Umschlag:<br />
Oskar Da Riz / Ewo<br />
Bild auf dem Cover:<br />
Elisabeth Hölzl<br />
Bilder im Inhaltsverzeichnis:<br />
S. 6 (links) Ewo (rechts) Ivo Corrà S. 7 (links) Gregor<br />
Sailer (rechts) Elisabeth Hölzl S. 8 (links) David<br />
Schreyer (rechts) Marion Lafogler S. 9 Jasmine<br />
Deporta<br />
Bilder ohne Credits stammen von den Bildagenturen<br />
contrasto (S. 29–37) und südtirolfoto (S. 18–20)<br />
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Herausgeber<br />
Direktor:<br />
Ulrich Stofner<br />
Birgit Mayr<br />
Idee und Entwicklung:<br />
Projektmanagement:<br />
Birgit Oberkofler<br />
Beratung Text:<br />
Bettina König<br />
Auflage: 3.500 Stück<br />
Druckvorstufe und Druck:<br />
Longo, Print and Communication; Printed in Italy<br />
© Business Location <strong>Süd</strong>tirol – Alto Adige,<br />
Bozen, März 2013. Alle Rechte vorbehalten.<br />
Sämtliche inhaltlichen Beiträge der Publikation sind<br />
unveröffentlichte Originalbeiträge und Auftragswerke.<br />
ISBN: 978-88-7283-462-6<br />
Eine jährliche Publikation der Standortagentur<br />
Business Location <strong>Süd</strong>tirol – Alto Adige (<strong>BLS</strong>)<br />
Dompassage 15<br />
39100 Bozen, Italien<br />
T +39 0471 066 600<br />
www.bls.info<br />
service@bls.info
Eine jährliche Publikation der Standortagentur BL S, Business Location <strong>Süd</strong>tirol — Alto Adige
Eine jährliche Publikation der Standortagentur BL S, Business Location <strong>Süd</strong>tirol — Alto Adige<br />
Die Welt der <strong>Energie</strong> ändert sich radikal: Sonne, Wind und Wasser versorgen<br />
uns mit Elektrizität und Wärme. Autos tanken Strom. <strong>Energie</strong>sparen wird zum<br />
Zeitgeist. Der grüne Wandel schafft Jobs und alternative Lebensstile, definiert<br />
Wohlstand neu. Und mitten in Europa gibt es eine Region, in der kreative<br />
Köpfe diesen Aufbruch vorantreiben – <strong>Süd</strong>tirol. Eine Entdeckungsreise durch<br />
das Land der vielen Möglichkeiten.<br />
<strong>Nord</strong> & <strong>Süd</strong> — 2013<br />
12 Euro