10.10.2013 Aufrufe

Band I/ 2013 (6,7mb) - critica – zeitschrift für philosophie ...

Band I/ 2013 (6,7mb) - critica – zeitschrift für philosophie ...

Band I/ 2013 (6,7mb) - critica – zeitschrift für philosophie ...

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

halb christlicher Gemeinden sieht dieses Spannungsfeld<br />

anders aus. Martina Bretz schreibt am<br />

20.09.2009 in der “Berliner Zeitung“ mit Blick auf<br />

Bernard McGinns Thesen auf der Mediävistentagung<br />

in Köln, dass das Christentum nach wie vor<br />

stark apokalyptische Züge hat. 8 Die Vorstellung<br />

einer apokalyptischen Ordnung impliziert Zeitgeschichte<br />

im Dienst nicht nur der Religion, sondern<br />

auch der Politik. Mit dem Erscheinen des Messias<br />

beginne das tausendjährige Reich, heißt es in der<br />

Offenbarung des Johannes <strong>–</strong> und in den Milleniarismen<br />

des Joachim von Fiore, der drei Weltalter<br />

imaginierte, die sich bezüglich ihrer Perfektion<br />

stetig steigerten. 9 Für Michael Leys Untersuchung<br />

zur Ideologie totalitärer Systeme 10 ist das Weltbild<br />

der Romantik gnostisch-apokalyptisch und<br />

bedient sich nicht nur heilsgeschichtlicher Entwürfe,<br />

die bis auf die Offenbarung des Johannes<br />

und die mystische Weltenlehre des Abts Joachim<br />

von Fiore im 13. Jahrhundert zurückreichen, sondern<br />

auch antiker Mysterienlehren, die Christus<br />

und Dionysos <strong>–</strong> den Gott der Tragödie, <strong>für</strong> Bataille<br />

den Gott der transgression <strong>–</strong> gleichsetzen 11 . Für<br />

Hölderlin ist Christus der Adventsgott, <strong>für</strong> Schelling<br />

der letzte Gott, der da kommen wird. Apokalypse<br />

und Eschatologie: Interessepunkte des<br />

Opfers, und dieses Opfer ist, in der christlichen<br />

Ikonographie der künstlerischen Darstellung, ein<br />

blutiges, sogar ein blutüberströmtes Opfer, wenn<br />

es in der „Matthäuspassion“ von Bach heißt: „O<br />

Haupt voll Blut und Wunden“. Niklaus Largier<br />

beschreibt, dass in der christlichen Religion auch<br />

8 Martina Bretz, a.a.O.: “So vertrat Bernard McGinn<br />

die These, die christliche Religion sei auch heute noch<br />

wesentlich apokalyptisch und eschatologisch und<br />

müsse es sein. Immanuel Kant hatte jede Spekulation<br />

über ein übernatürliches Ende der Welt schroff<br />

zurückgewiesen. Durch den apokalyptischen Gestus<br />

verliere das Christentum jene liberale Denkungsart,<br />

die seine „Liebenswürdigkeit“ ausmache. Dass<br />

die Einnahme einer eschatologischen Perspektive<br />

nicht, wie Kant be<strong>für</strong>chtete, mit „Schwärmerei“<br />

gleichzusetzen ist, bewies die Kölner Tagung.“<br />

9 zu Milleniarismen in der Politik totalitärer Systeme<br />

(namentlich des deutschen Faschismus) vgl. M. Ley,<br />

Apokalyptische Bewegungen in der Moderne, in: ders. ,<br />

Julius H. Schoeps, Der Nationalsozialismus als politische<br />

Religion, Bodenheim 1997, S. 14.<br />

10 ebenda, S. 17.<br />

11 ebenda.<br />

I | 13 CRITICA<strong>–</strong>ZPK<br />

34<br />

die „Blutmeditation“ 12 eine Rolle spielte, indem<br />

die Geissler des Mittelalters, die diese „Blutmeditation“<br />

im großen Stil vorantrieben, sich meditativ<br />

in die biblischen Schilderungen und in die<br />

so genannten Erbauungstexte <strong>–</strong> zum Beispiel die<br />

Legenden von Jacopone von Todi <strong>–</strong> von der Geißelung<br />

Christi versenkten und die Kreuzigungsszene<br />

Christi zu Anlass nahmen, sich selbst zu<br />

peitschen, um solcherart eine imaginäre Nachfolge<br />

Christi zu verwirklichen. Diese Geißelung in<br />

vermeintlicher imitatio Christi wurde mitunter so<br />

exzessiv betrieben, dass Blut floss. Niklaus Largier<br />

berichtet auch von der Dominikanerin Elsbeth<br />

von Oye (eine Zeitgenossin Heinrich Seuses), die<br />

sich derart geißelte, dass sie Umstehende in der<br />

Kapelle mit ihrem Blut bespritzte. 13 Heinrich Seuse<br />

selbst tätowierte sich den Namen Jesu in die<br />

Brust, Christina Ebner schnitt sich ein von Blut<br />

triefendes Kreuz in die Brust, 14 und viele andere<br />

Kleriker und auch Laien trachteten danach, sich<br />

gleichsam selbst zum blutigen Opfer zu machen,<br />

um somit biographisch einen eigenen Bezug zum<br />

Christusbild ihrer Epoche aufzubauen.<br />

Opfer ohne Sinn? Nerval und die Ungewissheit des Blutvergießens<br />

Apokalypse ist eine Großmetapher gründend auf<br />

einem ikonographischen System des Opferkults,<br />

doch die apokalyptische Vision wird sinnlos, wenn<br />

der Opferkult als solcher und somit auch seine<br />

Zentralisierung des Blutes nicht mehr verstanden<br />

wird. Dieses Unverständnis ist ein modernes Unverständnis;<br />

wir fragen mit Jan Philipp Reemtsma<br />

und seinen aktuellen Studien zur Gewaltsoziologie,<br />

welchen Sinn all dieses Blutvergießen haben<br />

mag, das uns erschreckend anmutet. 15 Die Moderne<br />

kennzeichnet sich nicht nur durch eine Distanz<br />

zum Religiösen, was ihr von Historikerseite den<br />

Beinamen „Zeit der Säkularisierung“ eingetragen<br />

hat, sondern auch durch eine Distanz zur Gewalt<br />

und die Frage nach der Legitimität der Gewalt ist<br />

12 N. Largier, Lob der Peitsche. Eine Kulturgeschichte der<br />

Erregung, München 2001, S. 157.<br />

13 ebenda, S. 49.<br />

14 ebenda.<br />

15 vgl. J. P. Reemtsma, Vertrauen und Gewalt, Hamburg<br />

2008.

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!