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Kurs „Röntgenstrukturanalyse“, Teil 1: Der kristalline Zustand

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<strong>Kurs</strong> <strong>„Röntgenstrukturanalyse“</strong>,<br />

<strong>Teil</strong> 1: <strong>Der</strong> <strong>kristalline</strong> <strong>Zustand</strong><br />

Beispiel 1: Difluoramin<br />

M. F. Klapdor, H. Willner, W. Poll, D. Mootz, Angew. Chem. 1996, 108, 336.<br />

Gitterpunkt, Gitter, Elementarzelle, Gitterkonstanten, Metrik, Struktur<br />

●1 Gitterpunkte sind Punkte gleicher Umgebung, sie spannen ein Gitter auf, das aus<br />

Elementarzellen zusammengesetzt ist. Eine Elementarzelle ist durch ihre Basisvektoren<br />

definiert. Die folgenden üblichen Schreibweisen für Basisvektoren sind äquivalent: a = a1 =<br />

[100], b = a2 = [010] und c = a3 = [001]. Die Beträge der Basisvektoren und die Winkel<br />

zwischen ihnen sind die Gitterkonstanten, die als a, b, c, α, β, γ, seltener als a1, a2, a3, α1, α2,<br />

α3, bezeichnet werden (α bzw. α1 ist der Winkel zwischen b und c, etc.). Die sechs<br />

Gitterkonstanten werden kurz die Metrik der Elementarzelle genannt. Die mit einer „Basis“<br />

gefüllte Elementarzelle ist der Baustein einer Struktur. In einer unendlich ausgedehnten<br />

Struktur sind die Elementarzellen ununterscheidbar, es liegt Translationssymmetrie vor, die<br />

Basisvektoren sind Symmetrieelemente.<br />

Beachte: Man verwechsle die [...]-Notation für Vektoren nicht mit derjenigen für Flächen, (hkl):<br />

[110] ist eine Flächendiagonale, die durch die Basisvektoren a und b aufgespannt wird, (110) ist<br />

die Fläche, die die Basisvektoren a und b bei 1/h, 1/k und 1/l schneidet, also bei 1, 1, ∞.<br />

Primitive Elementarzellen<br />

Wieviele Gitterpunkte enthält die Elementarzelle der Difluoraminstruktur in der Fläche und<br />

im Raum?<br />

Die Zelle ist primitiv, dies führt zum ersten Buchstaben des Raumgruppensymbols: P…<br />

(Translations-)Symmetrie<br />

●2 Eine Struktur hat meist eine charakteristische Symmetrie, die über die Translationssymmetrie<br />

der Basisvektoren hinausgeht. Zu deren Beschreibung dient die Nomenklatur von<br />

Hermann-Mauguin, die andere Symbole verwendet als die Schoenflies-Nomenklatur, in der<br />

die Gruppentheorie ausschließlich Punktsymmetrie beschreibt.


Tabelle: 1. Spalte: Symmetrieelemente nach Schoenflies; 2. Spalte: … nach Hermann-Mauguin; 3.<br />

Spalte: häufigere abgeleitete Translationssymmetrieelemente. 4. Spalte: Translationsbetrag.<br />

Beachte weitere Punktsymmetrieelemente, von denen sich keine Translationssymmetrie-Elemente<br />

ableiten: Drehspiegelachsen Sn in Schoenflies’ System, Drehinversionsachsen ¯1, ¯3, ¯4, ¯6 bei<br />

Hermann-Mauguin; beachte bei Schoenflies: S1 ≡ σ, S2 ≡ i, bei H-M.: ¯2 ≡ m.<br />

Blickrichtungen, Raumgruppe<br />

C2 2 21 ½<br />

C3 3 31, 32 ⅓, ⅔<br />

C4 4 41, 42, 43 ¼, …<br />

C6 6 61, 62, …, 65 …<br />

σ m<br />

a, b, c ½<br />

n ½ + ½<br />

d ¼ + ¼<br />

Miteinander verträgliche Symmetrieelemente bilden eine der 230 Raumgruppen. Die<br />

Symmetrieelemente werden in der Reihenfolge der Blickrichtungen dem Symbol P<br />

nachgestellt, falls die Zelle primitiv ist (siehe unten). Bei der Difluoramin-Struktur beziehen<br />

sich die Symmetriesymbole auf die drei Basisvektoren selbst. „Beziehen“ heißt, dass<br />

Symmetrieachsen abgefragt werden, die parallel zur Blickrichtung verlaufen und<br />

Symmetrieebenen, die senkrecht zur Blickrichtung stehen. Beachte: Die Basisvektoren<br />

ergeben sich aus dem doppelten Abstand der Symmetrieelemente!<br />

Asymmetrische Einheit, allgemeine Punktlage, Multiplizität, die International Tables for<br />

X-Ray Crystallography<br />

Symmetrie außer der Translationssymmetrie führt dazu, dass die Elementarzelle durch einen<br />

Bruchteil ihres Volumens definiert ist, der asymmetrischen Einheit. Eine Struktur ist durch<br />

die Angabe der Raumgruppe, der Basisvektoren der Elementarzelle und der „Füllung“ der<br />

asymmetrischen Einheit festgelegt. Die asymmetrische Einheit wird üblicherweise mit<br />

Atomen gefüllt, deren Schwerpunkte in Form von Achsabschnitten x, y, z – seltener x1, x2, x3<br />

– des Koordinatensystems angegeben wird, das von den Basisvektoren aufgespannt wird.<br />

Befindet sich ein Objekt an einem Ort der Elementarzelle, der keine Punktsymmetrie<br />

aufweist, so besetzt es die allgemeine Lage der Raumgruppe. In den Internationalen Tabellen<br />

ist diese bei jeder Raumgruppe zusammen mit einigen weiteren Angaben als erste tabelliert.<br />

Die Zeile mit der allgemeinen Lage lautet zum Beispiel bei der Raumgruppe Pca21:<br />

4 a 1 (1) x, y, z (2) ¯x, ¯y, z + ½ (3) x + ½, ¯y, z (4) ¯x + ½, y, z + ½<br />

Die erste Zahl ist die Multiplizität, die angibt, wieviele Objekte insgesamt die Elementarzelle<br />

füllen, wenn eines in die Lage x, y, z gelegt wird. Das als zweites erscheinende Zeichen ist<br />

das Wyckoff-Symbol, es folgt die Lagesymmetrie, das ist die Punktsymmetrie der Lage – bei<br />

der allgemeinen Lage also definitionsgemäß 1. Es folgen die Achsabschnitte für alle<br />

Objektpositionen in der Elementarzelle. ¯y steht für −y. Man beachte, dass stets auch die<br />

Translationssymmetrie der Basisvektoren angewendet werden kann, dass also zu jedem<br />

2


Achsabschnitt ganze Zahlen addiert werden können, −y kann also durch 1 − y, etc., ersetzt<br />

werden.<br />

Zu welchem Koordinatentripel führt im Beispiel die 21-Achse?<br />

Kristallklasse<br />

Zu welcher Kristallklasse gehört Difluoramin, d. h. welche makroskopische Symmetrie hat<br />

ein Difluoramin-Kristall?<br />

Man beachte, dass ein realer Kristall nur Punktsymmetrie aufweisen kann. Bei der Rücktransformation<br />

der Translationssymmetrie-Elemente in Punktsymmetrieelemente werden aus<br />

230 Raumgruppen 32 Kristallklassen. Die Kristallklasse entscheidet über viele physikalische<br />

Eigenschaften der Substanz (Piezoelektrizität, nichtlinear optische Eigenschaften, ...).<br />

Kristallsystem, Holoedrie, Meroedrie<br />

Die Symmetrie eines Punktes ist in der Regel höher als die Symmetrie eines Moleküls, das<br />

Punktgitter „kristallisiert“ daher in einer Obergruppe, die Raumgruppe der konkreten Struktur<br />

ist eine Untergruppe der holoedrischen Symmetrie. Punktgitter gehören zu einer von nur<br />

sieben Symmetriegruppen, die die sieben Kristallsysteme definieren.<br />

¯1 triklin<br />

2/m 1 2/m 1 monoklin [010] (unique axis b)<br />

mmm 2/m 2/m 2/m orthorhombisch [100], [010], [001]<br />

4/mmm 4/m 2/m 2/m tetragonal [001], [100]*, [110]*<br />

¯3m ¯3 2/m rhomboedrisch (hex. Achsen) [001], [100]*<br />

6/mmm 6/m 2/m 2/m hexagonal [001], [100]*, [120]*<br />

m¯3m 4/m ¯3 2/m kubisch [100]*, [111]*, [110]*<br />

Schreibweise: Kurzsymbol, erweitertes Symbol, Kristallsystem. 2/m etc., bezeichnet eine<br />

zweizählige Achse entlang einer Blickrichtung und eine Spiegelebene senkrecht dazu. Die<br />

jeweiligen Blickrichtungen sind für jedes Kristallsystem einzeln definiert (letzte Spalte; […]*<br />

bezeichnet Richtungen, die aufgrund einer Symmetrieoperation auch anders benannt werden<br />

können, z. B. sind im tetragonalen System [100] und [010] wegen der Wirkung der 4-zähligen<br />

Achse äquivalent.<br />

Beachte: Über die Zugehörigkeit einer Struktur zu einem Kristallsystem entscheidet deren<br />

Symmetrie, nicht deren Metrik. Beziehungen zwischen den Gitterkonstanten (z. B. a = b, α = β = γ<br />

= 90° bei tetragonalen Kristallen) sind eine Folge der Symmetrie. Ein orthorhombischer Kristall,<br />

bei dem zufällig a und b gleich sind, wird dadurch nicht tetragonal.<br />

P21/c, die häufigste Raumgruppe für nichtchirale Molekülverbindungen, Chiralität,<br />

Polarität<br />

Die Raumgruppe P21/c gehört zum monoklinen Kristallsystem (zu welcher Kristallklasse?).<br />

Die Standardblickrichtung ist [010], daher manchmal die ausführliche Notation P1 21/c 1.<br />

Chiralen Verbindungen (Moleküle, die keine Drehinversionsachsen bzw. Drehspiegelachsen<br />

3


4<br />

aufweisen) stehen nur einige Kristallklassen zur Verfügung: triklin: 1 = C1, monoklin: 2 =<br />

C2, orthorhombisch: 222 = D2, tetragonal: 4 = C4 und 422 = D4, trigonal: 3 = C3 und 32 = D3,<br />

hexagonal: 6 = C6 und 622 = D6, kubisch: 23 = T und 432 = O.<br />

Welche der folgenden Verbindungen können in der Raumgruppe P21/c kristallisieren? D-<br />

Weinsäure, L-Weinsäure, meso-Weinsäure, rac-Weinsäure?<br />

Manche dieser Kristallklassen sind polar, es gibt mindestens einen Vektor, der durch die<br />

Symmetrieelemente der Gruppe nicht umgekehrt wird: alle Cn-Gruppen, nicht aber die<br />

Diedergruppen Dn. Auch Difluoramin-Kristalle sind polar (Kristallklasse mm2 = C2v).<br />

Ca. die Hälfte der nichtchiralen Molekülverbindungen kristallisieren in der Raumgruppe<br />

P21/c, weitere häufige Raumgruppen sind, in der Reihenfolge abnehmender Häufigkeit, P¯1,<br />

P212121, C2/c, P21, und Pbca, die insgesamt mehr als 80 % aller Molekülstrukturen<br />

repräsentieren, d. h. es bleiben weniger als 20 % für die übrigen der 230 Raumgruppen.<br />

Beispiel 2: Ein Lyxose-Komplex aus Fehlingscher Lösung<br />

P. Klüfers, T. Kunte, Eur. J. Inorg. Chem. 2002, 6, 1285–1289.<br />

Zentrierte Gitter, Bravaisgitter<br />

●3 Zentrierte Gitter enthalten mehr als den einen Gitterpunkt einer primitiven Zelle in der<br />

Elementarzelle. A-, B-, C- und I-zentrierte Gitter, die zusätzliche Gitterpunkte auf der A-, B-<br />

oder C-Fläche (die A-Fläche ist die von b und c aufgespannte Fläche, der zusätzliche<br />

Gitterpunkt fügt dem Gitter den Vektor ½ ½ 0 hinzu, etc.) bzw. in der Raummitte aufweisen,<br />

enthalten 2 Gitterpunkte pro Elementarzelle. 3 Gitterpunkte sind in R-zentrierten Zellen<br />

enthalten, 4 bei der F-Zentrierung. Die Zentrierungen I und F sind die Raum- oder<br />

Innenzentrierung und die Flächenzentrierung. Die durch Zentrierung dem Gitter zugefügte<br />

Translationssymmetrie ist in den Internationalen Tabellen über der allgemeinen Punktlage<br />

angegeben, das Zentrierungssymbol ist der erste Buchstabe des Raumgruppensymbols.<br />

Welche Zentrierung hat das Gitter der Wolframstruktur? ... der CsCl-Struktur? ... der<br />

Rutilstruktur?<br />

Punktgitter „kristallisieren“ in insgesamt 14 Raumgruppen und bilden dabei die 14 Bravais-<br />

Gitter, die durch Kombination der Symmetrie der Kristallsysteme und der in ihnen erlaubten<br />

Zentrierungen entstehen. (Man beachte, dass der gleiche Formalismus Strukturen beschreibt,<br />

deren Bausteine gleichartige Kugeln sind [diese haben die gleiche Symmetrie wie ein Punkt],<br />

welche die Plätze der Punkte eines Punktgitters einnehmen.)<br />

Warum kommen triklin-C, monoklin-I, tetragonal-C, tetragonal-F, hexagonal-I nicht vor?


Spezielle Punktlagen<br />

¯1 P<br />

2/m P, C<br />

mmm P, (A, B, C), I, F<br />

4/mmm P, I<br />

¯3m R<br />

6/mmm P<br />

m¯3m P, I, F<br />

Das nur von Lyxose koordinierte Kupferatom Cu1 hat die Koordinaten ½, 0.2111, ½. Es liegt<br />

also auf der entlang ½, y, ½ in der [010]-Richtung verlaufenden 2-zähligen Achse der<br />

Raumgruppe C2. Das Komplexanion weist daher kristallographische C2-Symmetrie – also<br />

Punktsymmetrie – auf. Nur eine Hälfte des Anions – einschließlich eines halben Cu1-Atoms –<br />

liegt daher in der asymmetrischen Einheit. Das Cu1-Atom besetzt eine spezielle Punktlage,<br />

die im Gegensatz zur allgemeinen Lage eine höhere Punktsymmetrie als 1 aufweist, hier 2.<br />

Die Zähligkeit einer speziellen Punktlage ist ein Bruchteil der Zähligkeit der allgemeinen<br />

Punktlage.<br />

Warum gibt es in der Raumgruppe Pca21 keine speziellen Lagen?<br />

Beachte: die meisten Rechenprogramme benutzen nur die Symmetrie der allgemeinen Lage; auf<br />

ein Atom in spezieller Lage werden alle Symmetrieoperationen der allgemeinen Lage angewendet,<br />

zum Ausgleich wird dem speziell liegenden Atom ein Besetzungsfaktor zugeordnet, welcher der<br />

Quotient aus der Zähligkeit der speziellen Lage und der Zähligkeit der allgemeinen Lage ist.<br />

Beispiel 3: Argon und Kohlendioxid<br />

Obergruppe, Untergruppe, klassen- und translationengleiche Übergänge,<br />

Kristallpathologie<br />

Ar- und CO2-Struktur stehen in einer Ober/Untergruppe-Beziehung.<br />

Ar: Fm¯3m, a = 5.42 Å, 4 Ar in 4 a 0, 0, 0.<br />

CO2: Pa¯3, a = 5.575 Å, 4 C in 4 a 0, 0, 0; 8 O in 8 c x, x, x mit x = 0.11.<br />

Materialien:<br />

Struktur von Difluoramin (2 ×) zum Eintragen von Gitterpunkten (●1), … von Symmetrieelementen<br />

(●2).<br />

●3 Struktur von [(en)2Cu3(β-D-Lyxp1,2,3H–3)(H2O)2] · 4 H2O zur Raumgruppenbestimmung.<br />

Raumgruppen Nr. 5 (unique axis b, cell choice 1), 29, 205, 225 der Internationalen Tabellen.<br />

5

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