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Programmheft "Die Blutnacht auf dem Schreckenstein" - Dachau

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wieder zurück. Weitere Häftlinge folgten. Zu einem „Invalidentransport“ aus Sachsenhausen<br />

gehörten unter anderen Bruno Jakob und Erwin Geschonneck. Und schon bald wurde erneut<br />

„der Versuch gemacht, in <strong>Dachau</strong> ein Kabarett <strong>auf</strong> die Beine zu stellen, das ‚Kakadu‘.“ 31 Doch<br />

das Unterfangen scheiterte. „Das Programm konnte [...] nicht durchgeführt werden, weil der<br />

von den Häftlingen <strong>auf</strong>gestellte Posten Warnrufe vernehmen ließ: SS im Anmarsch. Alles<br />

ergriff durch Türen und Fenster die Flucht und dann wurde das offizielle Verbot ausgesprochen.“<br />

32<br />

1943 kam die Wende. In der <strong>Dachau</strong>er Hierarchie gab es eine Umstrukturierung. Obersturmbannführer<br />

Martin Weiss 33 löste den Lagerkommandanten Piorkowski 34 ab und Schutzhaftlagerführer<br />

Zill wurde durch Michael Redwitz ersetzt. „Mit Weiß und Redwitz änderte<br />

sich vieles im Lager, doch nicht weil diese beiden besonders edle ‚Edelmenschen‘ gewesen wären,<br />

sondern weil von Berlin her ein anderer Wind zu wehen begonnen hatte.“ 35 Nach über<br />

drei Kriegsjahren, als „schon Blinde und Blöde sehen mußten, daß die Tage des 1000-jährigen<br />

Reiches gezählt sind“, erinnerten sich „die Herren der SS daran, daß auch die ‚Scheißvögel‘“,<br />

wie sie die Häftlinge zu bezeichnen pflegten, „Arbeitskräfte sind, die für den Endsieg arbeiten<br />

könnten.“ 36 . Das war der wahre Grund, warum die Lagerleitung zuließ, dass, wie es Bruno<br />

Furch später ironisch umschrieb, „so etwas wie ‚KdF‘ hinter Stacheldraht“ 37 stattfand.<br />

Bei einem Tagesabl<strong>auf</strong>, der im Sommer um vier Uhr mit Wecken begann, der zwei zeitraubende<br />

Zählappelle beinhaltete, elf einhalb Arbeitsstunden (von 6-12 Uhr und 13-18.30<br />

Uhr) einschloss und um 21 Uhr mit <strong>dem</strong> Befehl „Alles in die Betten - Licht aus“ endete,<br />

muss man sich zwar fragen, wo hier noch „Freizeitaktivitäten“ Platz haben konnten, doch der<br />

Ende 1940 offenkundig eingestellte „Unterhaltungsbetrieb“ lebte in bisher nicht gekannten<br />

Umfang wieder <strong>auf</strong>. „In wenigen Wochen gab es ein 65 Mann-Orchester unter Leitung des<br />

heutigen Dirigenten des holländischen Symphonieorchesters, Piet van der Hurk (sic), 38 ein<br />

Piccolo-Jazzorchester unter Leitung des Konzertmeisters der Mailänder Scala, Gottipaveri<br />

(sic), 39 eine Schauspielgruppe unter Leitung des Regisseurs Geschonek (sic) [...] und ein Kabarett-<br />

und Revueensemble unter meiner Leitung“, 40 berichtet Willy Horst im „Burgdorfer Tagblatt“.<br />

Außer<strong>dem</strong> wurden ein slawischer Chor, eine russische und eine polnische Volkstanzgruppe<br />

ins Leben gerufen. 41 Erwin Geschonneck 42 , der Blockälteste 43 des „Pfaffenblocks“, 44 gab<br />

in <strong>Dachau</strong> zunächst einmal Vortragsabende. „Ich las aus Tiergeschichten, die natürlich alle<br />

eine tiefere Bedeutung hatten. Eine solche Sammlung war ‚Unter Tieren‘ von Manfred Kyber<br />

45 . Ihre Symbolik ließ sich leicht <strong>auf</strong> das ‚Dritte Reich‘ übertragen und wurde natürlich sofort<br />

von meinen Kameraden verstanden. In einer dieser Geschichten, ‚Unter uns Ungeziefer‘,<br />

spielte eine Wanze die Hauptrolle, ein Baron Plattmagen, der während einer Großkundgebung<br />

des Ungeziefers <strong>auf</strong> einer alten Matratze eine Rede hält. Vorsichtig, aber deutlich genug<br />

habe ich bei dieser Rede die Stimme und die Sprechweise Hitlers nachgeahmt. Es war sehr<br />

riskant, aber es ging alles gut <strong>Die</strong> Kameraden haben atemlos zuhört.“ 46<br />

Der kommunistische Führer-Imitator ist am 27. Dezember 1906 in Bartenstein in Ostpreußen<br />

geboren worden. Sein Vater war Flickschuster und Nachtwächter. 1909 kam die Familie<br />

nach Berlin. Erwin Geschonneck brachte sich als Hausdiener, Zeitungsverkäufer und Gelegenheitsarbeiter<br />

durch, bevor er Anfang der 30er Jahren im Kabarett der „Roten Hilfe“ und in<br />

18<br />

Agitpropgruppen wie „Sturmtrupp links“ mitwirkte, sowie als Komparse an der Piscatorbühne<br />

<strong>auf</strong>trat. Größere Rollen spielte er dann nach seiner Emigration in den Kolchostheatern von<br />

Dnjepropetrowsk und Odessa.<br />

Im Lager inszenierte er das erste Stück. Es war das Schauspiel „Thomas Paine“ und<br />

stammte von einem zum NS-Funktionär mutierten expressionistischen Autor - von <strong>dem</strong><br />

Präsidenten der Aka<strong>dem</strong>ie für deutsche Dichtung und der Reichsschrifttumskammer<br />

Hanns Johst.<br />

Der 1927 bei Albert Langen erschienene Text 47 war mit Bedacht gewählt. „Nach der Lektüre“,<br />

so erinnert sich Viktor Matejka, „überlegten wir uns, daß wir dieses Drama doch <strong>auf</strong>führen<br />

könnten; das wäre möglicherweise ein Fußtritt, den man den Nazis geben könnte.“ 48 Wie vorauszusehen<br />

war, gab es mit der Genehmigung keinerlei Schwierigkeiten. Rieth, der Schulungsleiter<br />

der SS, zu dessen Bürodienst Matejka abgestellt war und <strong>dem</strong> der „unkonzessionierte<br />

Theaterdirektor“ 49 das Stück zuerst vorlegte, „las nur den Namen Johst [...] und das genügte<br />

ihm. Ohne <strong>auf</strong> Inhalt oder Erscheinungsdatum zu schauen, setzte er dann beim Kommandanten<br />

durch, daß wir das Stück <strong>auf</strong>führen dürfen.“ 50<br />

Hauptfigur des Dramas ist der amerikanische Journalist Thomas Paine, „dessen Leben<br />

und Sterben“, wie es in einer der Buchausgabe lose beigelegten, pathetischen Inhaltsangabe<br />

heißt, „in jäher Lichtfülle, in grausiger Dunkelheit an uns vorüberzieht.“ 51 Paine hat sich als<br />

Verfasser glühender Aufrufe, als Propagandist entschieden für die Unabhängigkeit Neu-Englands<br />

und den Freiheitskampf eingesetzt. Er reist als Ehrenbürger der französischen Revolution<br />

nach Europa, um dort für sein Vaterland zu verhandeln. In Paris stimmt der überzeugte<br />

Republikaner aus Menschlichkeit gegen die Hinrichtung von Ludwig XVI. und wird dar<strong>auf</strong>hin<br />

selbst in den Kerker geworfen. Nach siebzehnjähriger Haft - was zwar nicht den historischen<br />

Tatsachen entspricht, aber der Handlung mehr Dramatik verleiht - kehrt er zurück ins<br />

freie Amerika. Doch dort hat man ihn vergessen und er begeht Selbstmord. 52<br />

In <strong>dem</strong> mehr als fünf Jahre vor Johsts Parteieintritt geschriebenen Werk sind ideologisch<br />

eindeutige Töne schwer überhörbar. „Thomas Paine - Führer und Gefahr … Leidenschaft,<br />

Sehnsucht, Demut und Übermut, er geht verloren als persönliches Schicksal, um Melodie zu<br />

werden. <strong>Die</strong> Tränen des Thomas Paine, die Tränen über Thomas Paine weinen wir über uns,<br />

unser persönliches Sagen und Versagen, und sein letztes Rezitativ singen wir als Lobgesang<br />

des herrischen und herrlichen Lebens: Wir, Kameraden, wir!“ heißt es im Vorwort. 53 Das die<br />

Selbst<strong>auf</strong>gabe des Einzelnen zu Gunsten einer Gemeinschaft, einer „Nation“ preisende,<br />

bühnenwirksame Poem kann aber auch anders gelesen werden. Erwin Geschonneck inszenierte<br />

es als „Stück gegen die koloniale Unterdrückung und betonte den Kampf gegen die<br />

Beseitigung der Menschenrechte.“ 54 <strong>Die</strong> Schauspieler, zu denen auch ein Schwarzer gehörte,<br />

der in <strong>Dachau</strong> einsaß und der „<strong>dem</strong> ganzen Spektakel [...] eine gewisse Atmosphäre“ 55 gab,<br />

hatten eine komplizierte Aufgabe zu bewältigen. Erstmals traten sie vor Wachpersonal und<br />

Häftlingen gemeinsam <strong>auf</strong>. Sie mussten ihr Spiel so ausrichten, dass beide Adressaten das<br />

Gesehene in ihrem Sinne interpretieren konnten und dass es beide - ästhetisch wie ideologisch -<br />

befriedigte. Der Balanceakt gelang. „<strong>Die</strong> Premiere des Thomas Payne-Stückes (sic) gefiel <strong>dem</strong>

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