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Verstehen heißt Wiedererfinden - Freinet-Kooperative eV

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Ganzheit zu erfassen. Seit 1949 spricht Célestin <strong>Freinet</strong><br />

in sei nem Buch: L‘éducation du travail‘ von der Notwendigkeit<br />

einer guten physischen Gesundheit (<strong>Freinet</strong> 1949).<br />

Darü ber waren wir befremdet:<br />

‘Was denn nun noch? Was haben wir als Lehrer mit<br />

der physischen Gesundheit zu tun? Das ist überhaupt nicht<br />

unsere Aufgabe. Wir müssen Lesen, Rechnen und Rechtschreibung<br />

unterrichten. Wir werden uns doch nicht zusätzlich<br />

in den sechs Stunden, die wir täglich Unter richt<br />

haben, auch noch mit der Gesundheit der Kinder be fassen.<br />

Das ist nicht unsere Arbeit. Das ist ausschließlich Aufgabe<br />

der Eltern.‘<br />

Aber uns ist bald bewusst geworden, dass - wenn ein<br />

Kind krank ist, wenn es schlecht geschlafen hat, wenn<br />

es zu viel oder zu wenig gegessen hat, wenn es müde ist,<br />

wenn es ..., - es einfach nicht gut lernen kann. Wenn es<br />

aber lacht, ist es ein sicheres Zeichen dafür, dass es sich<br />

wohl fühlt und gesund ist. Das weiß inzwischen nahezu<br />

jedes Kind. Aber das ist nur ein Aspekt der globalen<br />

Gesundheit. Es gibt nämlich auch die intellektuelle Gesundheit,<br />

die psychologische Gesundheit und die ‚soziale‘<br />

Gesundheit, die in ständiger Interaktion mitein ander verbunden<br />

sind. Wenden wir uns der ersten mit dem Beispiel<br />

einer ziemlich dramatischen Begebenheit zu:<br />

„Seit drei Tagen halten vier Personen im Leichenschauhaus<br />

eines Krankenhauses die Totenwache bei einem<br />

17-jährigen Jugendlichen, der sechs Monate nach dem Tod<br />

seines Vaters (der durch einen Autounfall starb) ebenfalls<br />

von einem Auto getötet wurde. Eine Fliege kommt, eine<br />

Person macht eine ungeschickte Geste, um die Fliege wegzujagen.<br />

Da bricht die Mutter des Kindes in Lachen aus.“<br />

Das Beispiel zeigt, dass der menschliche Geist es selbst<br />

unter den schlimmsten Umständen nicht schafft, in dauernder<br />

Anspannung zu verharren.<br />

Übrigens hat wohl jeder irgendwann einmal das irr-<br />

witzige Lachen erlebt, das einen einfach so während einer<br />

Trauerzeremonie überfällt. An dieser Stelle warne ich die<br />

Teilnehmer:<br />

„Wartet, wir werden schon bald ein Beispiel für dieses<br />

Phänomen hier erleben.“<br />

Dann leite ich zum Kapitel des Wahnsinns über. Aber,<br />

siehe da, kaum habe ich begonnen, fängt die Gruppe an zu<br />

lachen; denn ich habe mich verhaspelt, weil jemand gehustet<br />

hat, weil ein Stuhl gequietscht hat, weil jemand zu spät<br />

herein gekommen ist, kurzum aus einem nichti gen Anlass,<br />

der in keinem Verhältnis zur Intensität des Lachens steht,<br />

das er hervorgerufen hat. Es ist so ein drucksvoll, dass ich<br />

meine Schlussfolgerungen zum Besten geben muss:<br />

„Wie ihr seht, braucht man nicht lange zu warten. Die<br />

Geschichte, die ich euch erzählt habe, und das Stück Theorie,<br />

das ich euch vorgetragen habe, haben euch mit ihrer<br />

Ernsthaftigkeit und Schwere in eine Anspannung versetzt.<br />

Das konnte nicht so weitergehen. Und ihr habt den erstbesten<br />

Anlass genommen, um diese Anspannung zu lösen.<br />

Denn in Wirklichkeit war der Witz von Jean-Marc nicht<br />

toll. Jedenfalls rechtfertigte er kaum das große Lachen,<br />

mit dem ihr ihn quittiert habt. Aber es hat ausge reicht um<br />

mit dem Lachen anzufangen.“<br />

Natürlich protestiert Jean-Marc: „Pass auf, Paul, das ist<br />

das zweite Mal, das du mich festnagelst. Und außerdem ist<br />

deine Theorie falsch.“<br />

Dadurch verdoppelt sich das Lachen. Jetzt sind die Leute<br />

in so guter Stimmung, dass sie ihre ganze Aufmerk samkeit<br />

dem widmen können, was ich jetzt sagen möchte:<br />

„Man hat lange geglaubt, dass der Mensch ein ‚homo<br />

sapiens‘ ist. Aber viele Forscher (Atlan, Morin und noch<br />

andere) sagen, dass das wahre Wesen des Menschen das<br />

des ‚homo sapiens demens‘ ist; d.h., dass er zwischen zwei<br />

Extremen steht, zwischen dem Anspruch nach Weisheit<br />

(womit Wissenschaftlichkeit und Besonnenheit gemeint<br />

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