Entwicklung, Betreuung und För<strong>de</strong>rung von Vorschulkin<strong>de</strong>rn in <strong>de</strong>r Mittelschicht Seite 16
Briefing Paper 1: <strong>Familie</strong>(n) heute: Hintergrün<strong>de</strong> und Be<strong>de</strong>utung Wir leben in einer Risikogesellschaft. Dieser vom Soziologen Ulrich Beck geprägte Begriff meint, dass in unserer hoch entwickelten Gesellschaft mehr Risiken entstan<strong>de</strong>n sind und laufend entstehen, als unsere staatlichen Kontrolleinrichtungen in <strong>de</strong>r Lage sind, zu bewältigen. Dazu gehören soziale, ökologische, politische, aber auch individuelle Risiken. Diese Risiken bestimmen zunehmend unsere Lebensbedingungen. Damit verbun<strong>de</strong>n ist ein rascher gesellschaftlicher Wan<strong>de</strong>l, <strong>de</strong>r mit vielen Verän<strong>de</strong>rungen und neuen Anfor<strong>de</strong>rungen an Individuen und <strong>Familie</strong>n einhergeht. Erhöhte Mobilität in <strong>de</strong>r Berufswelt, steigen<strong>de</strong> berufliche Anfor<strong>de</strong>rungen o<strong>de</strong>r Ängste um die Sicherheit <strong>de</strong>r Arbeitsplätze, schaffen auch in <strong>de</strong>r <strong>Familie</strong> und <strong>de</strong>r Erziehung <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r Unsicherheiten. Während einerseits heute je<strong>de</strong>r Mensch <strong>de</strong>utlich höhere Chancen hat, sich selbst zu verwirklichen und viel mehr Handlungsspielräume bestehen, fehlen soziale Normen und Vorgaben, welche Handlungs- und auch Erziehungssicherheit geben wür<strong>de</strong>n. Leistungsanfor<strong>de</strong>rungen an Eltern Eltern und <strong>Familie</strong>n sehen sich heute somit mit Lebensbedingungen konfrontiert, die komplex und teilweise auch wi<strong>de</strong>rsprüchlich sind. Daraus erwachsen <strong>de</strong>utlich höhere Leistungsanfor<strong>de</strong>rungen als dies für je<strong>de</strong> Generation zuvor gegolten hatte. Vier Grün<strong>de</strong> hierfür stehen im Vor<strong>de</strong>rgrund: Zunahme <strong>de</strong>r Unsicherheit in <strong>de</strong>r Erziehung: Der Mehrzahl junger Eltern mangelt es heute vor <strong>de</strong>r Geburt <strong>de</strong>s ersten Kin<strong>de</strong>s an Erfahrung im Umgang mit Säuglingen und Kin<strong>de</strong>rn. Deshalb können sie auch kaum mehr wissen, welche Probleme es immer schon in <strong>de</strong>r Erziehung eines Kin<strong>de</strong>s gegeben hat und folge<strong>de</strong>ssen mit <strong>de</strong>r notwendigen Geduld und Distanz zu betrachten wären. Dies dürfte einer <strong>de</strong>r Grün<strong>de</strong> sein, weshalb die Unsicherheit bei heutigen Eltern zugenommen hat. Konzentration auf das einzelne Kind: Weil die mo<strong>de</strong>rne <strong>Familie</strong> heute nur noch ein bis zwei Kin<strong>de</strong>r hat, konzentriert sie sich stark auf je<strong>de</strong>s einzelne. In früheren Generationen bil<strong>de</strong>ten die Geschwister ein eigenes System in <strong>de</strong>r <strong>Familie</strong> und entlasteten dabei ihre Eltern in <strong>de</strong>r Betreuungsaufgabe. Die Kin<strong>de</strong>r waren <strong>de</strong>shalb auch nicht in einem vergleichbaren <strong>Bildungsort</strong> <strong>Familie</strong> Seite 17 Sinn wie dies heute <strong>de</strong>r Fall ist auf die ständige Präsenz <strong>de</strong>r Eltern angewiesen. Fehlen<strong>de</strong> Spielkamera<strong>de</strong>n: Aufgrund <strong>de</strong>s Geburtenrückgangs fehlen oft Geschwister in <strong>de</strong>r eigenen <strong>Familie</strong> und Spielkamera<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>r Nachbarschaft. Deshalb müssen Eltern immer mehr Aktivitäten entwickeln, um ihre Kin<strong>de</strong>r mit an<strong>de</strong>ren Kin<strong>de</strong>rn zusammenzubringen. Diese «Verinselung» <strong>de</strong>r Kindheit hat auch zur Folge, dass (nach wie vor die) Mütter verstärkt zu Transporteurinnen wer<strong>de</strong>n, aber auch zu Mangerinnen, welche die Zeitorganisation <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>rjenigen <strong>de</strong>r <strong>Familie</strong> in Übereinstimmung bringen müssen. Mehr Fachwissen und mehr Diagnostik: Die Leistungsanfor<strong>de</strong>rungen an Eltern haben aber auch <strong>de</strong>shalb zugenommen, weil Medizin, Psychologie und Pädagogik heute über ein viel grösseres Wissen verfügen und ihre Erkenntnisse in vielen Ratgebern an die Eltern weitergeben. Ein ausgeklügelter Apparat an Instrumenten erlaubt heute zu<strong>de</strong>m in fast allen Fachdisziplinen, differenzierte Diagnosen zu stellen, Störungen zu i<strong>de</strong>ntifizieren und diese zu therapieren. Heute haben min<strong>de</strong>stens 60% <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r im Primarschulalter bereits eine Therapie hinter sich. Min<strong>de</strong>stens eines von zehn Kin<strong>de</strong>rn war schon in psychotherapeutischer Behandlung, und mehr als 10% lei<strong>de</strong>n an Schul- und Prüfungsangst. Das ist eine problematische Entwicklung, weil die Suche nach kindlichen Defekten dadurch übermächtig gewor<strong>de</strong>n und sich die Vorstellung darüber, was ‚normal‘ ist, lei<strong>de</strong>r drastisch verän<strong>de</strong>rt hat. Daraus ist eine gefährliche Situation entstan<strong>de</strong>n, welche in Leistungsüberfor<strong>de</strong>rungen umkippen könnte und zwar sowohl <strong>de</strong>r Eltern als auch <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r. Die <strong>Familie</strong>, ihre Beziehungen und Aufgaben Heute gibt es sehr vielfältige <strong>Familie</strong>nformen und auch Muster von Elternschaft. Diese gilt als einzige <strong>de</strong>r menschlichen Beziehungen, die nicht kündbar ist. Insgesamt hat sich die <strong>Familie</strong> – trotz <strong>de</strong>s rasanten gesellschaftlichen Wan<strong>de</strong>ls – als zeitstabiles soziales Beziehungssystem erwiesen, das gegenüber alternativen Lebensformen noch immer bevorzugt wird.