Für Jürgen
Frohe Weihnachten!
„Mittelamerikanischer Staat mit sechs Buchstaben. Der erste ist ein P. Hm.“
„Pömpel.“ Raphaela pustet auf ihre Fingernägel und schraubt umständ-
lich den Nagellack zu, dann sieht sie Urielle an.
„Pömpel!?“
Urielle rückt ihre Brille gerade und legt die Feder langsam in die Schale.
„Was denn?“
„Nichts. Gar nichts, ich hab nur keine Lust mehr. Wann musst du los?“
Raphaela sieht auf die Uhr und sagt: „Oh.“ Sie wirft den Nagellack (Höl-
lenrot) in ihre Handtasche, richtet ihren Busen und betrachtet kritisch ihre Nä-
gel, ohne dabei die Stirn zu runzeln (Faltengefahr). „Findest du die Farbe zu
gewagt?“, fragt sie und schwenkt die Hand vor Urielles Gesicht.
Urielle lässt ihre Blicke über Raphaela gleiten. Sie trägt ein enges kurzes
Kleid, dessen Farbe penibel auf den Nagellack abgestimmt ist. Rot. Aber kein
Höllenrot, das Rot des Kleides ist eine Nuance dunkler. Diese stilistische Fein-
heit bemerkt Urielle natürlich nicht, noch wüsste sie die Genialität, die hinter
solch einer feinen, aber akzentuierten Farbabstufung steckt, zu würdigen.
Raphaelas Busen sprengt fast den Ausschnitt. Urielle schiebt die Brille
bis zur Nasenwurzel hoch und kneift die Augen zusammen. Ist er schon wieder
größer geworden? Sie räuspert sich und sagt: „Nein, die Farbe ist nicht zu ge-
wagt.“
Raphaela kramt in ihrer Handtasche und zieht einen Spiegel und einen
Haarreif heraus, platziert ihn (den Haarreif, nicht den Spiegel) über der Stirn
und zupft einige wasserstoffblonde Wellen darüber. Sie schüttelt vorsichtig den
Kopf, bis jede Strähne an ihrem Platz sitzt, holt eine Dose Haarspray aus der
Handtasche und fixiert das Ganze unter einer chemischen Wolke, die just in
diesem Augenblick die Polschmelze einleitet. „Perfekt“, murmelt sie und lächelt
sich im Spiegel an.
Urielle nimmt die Brille ab, reibt sich die Schläfen, zieht die Brille wieder
auf und summt eine beruhigende Melodie. „Raphaela“, sagt sie dann und zeigt
mit dem Finger auf den Haarreif, genauer gesagt auf die Hörner, die daran be-
festigt sind und im Wasserstoffblond glitzern wie das Blut einer
zentaurianischen Bachschnecke im Sonnenlicht. „Was ist das?“
„Luzi besteht darauf.“ Raphaela zuckt mit den Schultern. „Arbeitsklei-
dung. Allerdings passte dieses furchtbar gewöhnliche Rot nicht ansatzweise
zum Nagellack, deswegen habe ich es etwas aufgepeppt. Moment!“ Sie steht auf
und stöckelt zum Küchenschrank, schaltet die Beleuchtung über der Arbeits-
platte ein und dreht den Kopf im Licht hin und her (natürlich sehr vorsichtig,
um die kunstvolle Frisur nicht zu gefährden). Die Hörner glitzern und glimmen
in allen erdenklichen (auf Höllenrot abgestimmten) Rottönen. „Wahnsinn, nicht
wahr? Effektfarbe!“
Urielle nickt. Aber es ist kein zustimmendes Nicken, eher das Be-
wusstwerden der Tatsache, dass sie adoptiert worden sein muss. Sie beobachtet
Raphaela dabei, wie sie den Taschenspiegel über dem Kopf schwenkt, um ihre
Schönheit, sowie ihre Stilsicherheit und ihr Gespür für die richtigen Accessoires
einzufangen, sich daran zu berauschen und sich selbst zu bestätigen, und nickt
noch energischer. „Was glaubst du wohl, was SIE von dieser – äh – aufgepepp-
ten Arbeitskleidung halten wird? Und was für ein Job ist das überhaupt, den du
bei Luzi angenommen hast?“
Raphaela verstaut den Spiegel, das Haarpray, diverse Pinzetten, einen
Kamm, zwei Bürsten, den neuen Fön, ein Paar Wechselpumps, zwei Büstenhal-
ter (einen schwarzen und einen roten, man kann ja nie wissen), einen Strumpf-
halter (schwarz), Gesichtspuder, drei Lippenstifte, Parfum und die Espressoma-
schine in der Handtasche (Höllenrot mit Strasssteinen an den Nähten) und
klemmt sie sich unter den Arm. „Tut mir leid“, sagt sie, „aber ich muss jetzt
wirklich los. Es wäre unhöflich, gleich am ersten Arbeitstag mehr als vier Stun-
den zu spät zu kommen. Wir sehen uns!“
Urielle lauscht dem sich entfernenden Klackern der Pfennigabsätze und
lässt die Stirn auf die Tischplatte knallen. „Eine Adoption“, flüstert sie. „So
muss es gewesen sein.“
„Michaela?“ IHRE Stimme klingt selbst für IHRE Verhältnisse unge-
wöhnlich schrill. „Bist du das? Michaela!“
Michaela stürzt atemlos in die Küche und schließt die Tür. „Das war
knapp!“, sagt sie und stellt die Einkaufstüten auf dem Tisch ab. „Warum liegst
du in gepeinigter Dichterpose auf dem Tisch?“
Urielle hebt ein wenig den Kopf und sagt: „Raphaela.“
Michaela nickt. „Ich bin ihr eben am Fahrstuhl begegnet.“
„Sie hat einen Job. Bei Luzi. Hast du die“, Urielle tippt sich an die Stirn,
„Hörner gesehen?“
Hörnern?“
„Arbeitskleidung. Luzi besteht darauf.“
Urielle setzt sich auf und rückt ihre Brille gerade. „Du wusstest von den
Michaela betrachtet eine Packung Basmatireis aus ökologischem Anbau,
als suchte sie darin den Stein der Weisen und murmelt etwas Unverständliches.
„Du wusstest davon!“ Urielle trommelt mit den Fingern auf die Tisch-
platte. „Hörner!“, sagt sie und trommelt schneller.
„Meine Güte. Urielle, manchmal klingst du genau wie SIE. Ja, Hörner.
Na und?“ Sie dreht Urielle den Rücken zu, räumt die Lebensmittel in den
Schrank und tut sehr beschäftigt. „Was hältst du von Ingwerplätzchen?“, fragt
sie nach einer Weile.
Urielle schiebt ihre Brille hoch und sagt: „Hörner!“
„Okay! Hörner!“ Michaela knallt eine Packung Mehl auf die Arbeitsplat-
te. „Ja, sie trägt bei der Arbeit Hörner, verdammt!“ Ein Blitz schlägt neben Mi-
chaelas Füßen ein. Sie macht einen Schritt zur Seite und ignoriert den aufstei-
genden Qualm. „Raphaela geht arbeiten. Seit 500 Jahren redet jeder auf sie ein,
dass sie mal was Sinnvolles tun soll und jetzt, wo sie sich endlich aufgerafft hat,
willst du ihr das vermiesen, wegen ein paar Hörnerchen?“
Urielle sagt: „Hm.“ Dann stützt sie die Ellbogen auf dem Tisch auf und
legt die Fingerspitzen aneinander.
Michaela stöhnt. „Bitte nicht, ich bin wirklich nicht in Stimmung für ei-
nen deiner Vorträge.“
Urielle schnauft, nimmt die Arme herunter und legt die Hände flach auf
die Tischplatte. „Gut“, sagt sie. „Ich schweige. Nur eine Frage noch: Um was
für einen Job handelt es sich überhaupt? Warum zum Geier muss Raphaela die-
se Hörner tragen? Und was sagt SIE zu dem Ganzen?“
„Nun ja“, sagt Michaela und nimmt die große Backschüssel aus dem
Schrank. „Du weißt ja, dass Luzi einige Startschwierigkeiten hatte, seit sie sich
selbstständig gemacht hat. Die Sache mit der Erdwärme ist ja gehörig in die
Hose gegangen, seit die Subventionen gestrichen wurden und ihre Steuerberate-
rin mit der Kohle durchgebrannt ist. Erinnerst du dich daran? SIE hatte eine
Heidenarbeit damit, den ganzen Qualm aus der Atmosphäre zu kurbeln. Und
dann noch die hohen Kredite und die Kosten für die Angestellten …“
„Michaela! Könntest du bitte auf den Punkt kommen? Was treibt Ra-
phaela da unten?“
Michaela bindet ihre Schürze um, wirft vier Päckchen Butter in die
Schüssel und schlägt zwölf Eier hinein. Urielle klopft mit den Fingerspitzen auf
den Tisch. Michaela gibt sieben Pfund Mehl und zwei Kilo Zucker zu den Ei-
ern und der Butter in die Schüssel, reibt zwei Pfund Ingwer und verrührt das
Ganze zu einer Ingwer-Ei-Butter-Mehl-Zucker-Pampe. (Mit der Hand. Von
Küchenmaschinen hat sie seit dem Vorfall mit der Nudelmaschine die Nase
voll. Vorerst.) Dann sagt sie: „Raphaela ist Arbeitsvermittlerin in Luzis neuem
Jobcenter. Luzi meinte, der Laden würde besser laufen, wenn ihre Angestellten
einheitliche Arbeitskleidung tragen. Samt Hörnern.“ Sie steckt ihren Finger in
die Ingwer-Ei-Undsoweiter-Pampe und leckt ihn ab.
Urielle reibt sich die pochenden Schläfen. „Ein Jobcenter“, sagt sie. „Ra-
phaela ist Arbeitsvermittlerin in einem Jobcenter.“ Sie schließt die Augen und
lässt die Information tief in ihr zentrales Nervensystem eindringen. Die Neuro-
nen beginnen zu blubbern wie Brausekügelchen und hüpfen im Großhirn her-
um, bis die Hirnrinde Blasen schlägt. Dann knallt sie die Stirn auf die Tischplat-
te und bricht in unkontrolliertes Lachen aus. „Arbeitsvermittlerin“, keucht sie
und wischt sich die Tränen aus den Augen.
siert!“
Michaela stemmt die Hände in die Hüften. „Du bist unglaublich bla-
Urielle sagt „Arbeitshaver“ (zumindest klingt es so) und verschluckt sich
keuchend und prustend am Rest des Wortes. Als sie sich soweit unter Kontrolle
hat, dass sie nur gelegentlich von Lachanfällen geschüttelt wird, schnäuzt sie
sich in ihr Taschentuch und richtet ihre Brille. „Okay“, sagt sie, hält einen Mo-
ment die Luft an und unterdrückt ein Kichern.
Michaela sieht sie vorwurfsvoll an und sagt nichts. Dann rollt sie den
Teig aus und beginnt kleine dicke Engel auszustechen, legt sie vorsichtig auf das
Backblech und schiebt es in den Ofen. Sie wischt die Hände an der Schürze ab
und räuspert sich. „Es wäre sehr nett von dir“, sagt sie dann, immer noch zum
Ofen gewandt, „wenn du IHR nichts von Raphaelas Job sagen würdest. SIE
denkt, Raphaela leistet ihr soziales Jahr bei der Heilsarmee ab.“
Urielle presst eine Hand aufs Zwerchfell, atmet tief ein und aus und
starrt Michaela an (Michaela starrt zurück).
Das Telefon klingelt. Michaela nimmt den Hörer ab, dreht an der Kurbel
und sagt: „Michaela.“ Nach einer Weile nickt sie langsam und sagt: „Hm …
Nun reg dich bitte nicht auf, das ist bestimmt nur eine kleine Verzögerung. SIE
hat sicher schon … Ja, ich bringe das in Ordnung, okay. Bis dann!“ Sie legt den
Hörer auf und sieht Urielle an. „Kann es sein“, sagt sie, „dass du etwas verges-
sen hast?“
Urielle versucht nachzudenken, aber das Bild von Raphaela in einer Uni-
form der Heilsarmee will einfach nicht zur Seite rücken, um anderen Gedanken
Platz zu machen. „Nicht, dass ich wüsste“, sagt sie also nur und zuckt die
Schultern.
„Sintflut“, sagt Michaela.
Urielle nimmt ihre Brille ab und putzt die Gläser mit einem Taschentuch,
als sie mit dem Ergebnis zufrieden ist, setzt sie sie wieder auf und sagt: „Upps.“
Michaela bläst die Luft aus und sagt: „Noah liegt mit diesem riesigen,
selbstgebastelten Holzschiff auf dem Trockenen und wartet auf die Flut. Sie ist
ziemlich sauer. Die Tiere werden auch unruhig. Die Einhörner haben angekün-
digt, dass sie auf keinen Fall länger warten werden und die Greife haben das
Schiff bereits verlassen.“
Urielle hört nur mit halbem Ohr hin, sie kramt in ihren Unterlagen und
sucht die Stelle mit der Sintflut heraus. „Ah“, murmelt sie, „tatsächlich.“ Wie
hatte sie das nur vergessen können? Daran sind nur Raphaela und ihr merk-
würdiger Job schuld! Sie schiebt das Heilsarmee-Bild gewaltsam zur Seite und
sucht tief in ihrem Inneren nach Inspiration, um das Werk angemessen, aber
vor allem zügig, zu beenden. Wo war sie stehen geblieben? Ah, ja, also dann.
Und SIE sprach: Denn von nun an über sieben Tage will ICH regnen
lassen auf Erden vierzig Tage und vierzig Nächte und vertilgen von dem Erd-
boden alles, was nicht Pink ist, nicht glitzert, nicht süß aussieht und schmeckt
oder MIR rechtzeitig meinen Pfefferminztee bringt.
Urielle schüttelt den Kopf und sieht Michaela an. „Was soll das über-
haupt?“, fragt sie. „Warum will SIE den Blauen überfluten?“
„Damit er ganz blau ist. SIE meinte, IHR gingen die unregelmäßigen
Flecken auf die Nerven.“
„Das ist doch ein Scherz?“ Urielle legt die Feder zurück in die Schale
und schiebt ihre Brille hoch. Dann schüttelt sie den Kopf und sagt: „Schon gut,
vergiss es, das war eine dämliche Frage.“ Sie atmet tief ein und aus und setzt die
Feder an. Augen zu und durch.
Und Noah tat, was SIE ihr geheißen (zumindest fast). Sie brachte von al-
len Tieren ein paar auf die Arche und wartete auf die angekündigte Flut.
Urielle reibt sich über die Stirn. „Ich kann das nicht schreiben“, sagt sie.
„Unmöglich. SIE spinnt doch!“
Michaela gießt eine Tasse Pfefferminztee ein und nickt resigniert. „Dass
SIE spinnt, ist ja nun nichts Neues.“ Sie stellt den Tee und Zucker auf das Tab-
lett und seufzt. „Ich muss erst mal. SIE wartet sicher schon.“
SIE sitzt in IHREM Ohrensessel. Die Kurbel quietscht lauter als gewöhnlich
und Michaela lauscht einen Augenblick, bis sie feststellt, dass SIE etwas summt,
das wohl eine Melodie sein soll.
Sie stellt das Tablett auf dem kleinen Tisch ab, schenkt den Tee ein und
rührt drei Stück Zucker hinein. SIE dreht und quietscht und summt und beach-
tet die Teetasse nicht, die Michaela IHR hinhält. „DEIN Tee“, sagt sie deshalb.
„Pssst!“, zischt SIE und dreht und summt konzentriert weiter.
Michaela seufzt. Sie registriert das irre Funkeln in IHREN Augen und
fragt sich, wie lange es wohl noch dauern wird, bis SIE gänzlich durchdreht.
Oder nicht mehr dreht, was in IHREM speziellen Fall wohl zutreffender ist.
Michaela stellt die Teetasse auf das Tablett zurück. Und immer noch
summt SIE und zuckt irgendwie spastisch mit dem Kopf. „Jetzt!“, kreischt SIE.
Summen. „Jetzt, Michaela, guck doch!“ Summmmmmm. „Da, ich schaffe es!“
Summsummmmm.
Michaela sieht nach oben. SIE stoppt abrupt die Kurbel, dreht kurz in
die entgegengesetzte Richtung und dann wieder andersherum. SIE summt jetzt
noch angestrengter. Die braunen Flecken auf dem Blauen werden plötzlich
komplett von blauen Schlieren überzogen, die sich aber gleich darauf wieder in
die ursprüngliche Lage zurückziehen. Der Blaue ist immer noch blau-braun-
gefleckt. SIE hört auf zu summen und sagt: „Scheiße!“ Dann hört SIE auf zu
drehen und stürzt IHREN Pfefferminztee hinunter. „Warum ist Urielle immer
noch nicht fertig? Warum ist der Blaue immer noch nicht blau?“
Michaela zuckt mit den Schultern und SIE dreht die Kurbel. IHREN
Blick auf IHRE Häschen-Hausschuhe gerichtet. SIE wackelt mit den Füßen
und singt leise „Blau, blau, blau, sind alle meine Farben“ vor sich hin.
Michaela nimmt das Tablett und zieht sich leise zurück. Die Ohren der
Häschen wackeln und SIE kichert. Zumindest summt SIE nicht mehr.
Urielle starrt auf das unvollendete Werk und seufzt. Sie hasst es, unvollendete
Werke zu hinterlassen und sinnt auf einen Kompromiss, der sie zufriedenstellen
würde und den SIE nicht als solchen erkennt. Sintflut geht gar nicht, soviel
steht fest.
Das Telefon klingelt und sie steckt sich die Finger in die Ohren, um den
Inspirationsfindungsvorgang nicht zu unterbrechen. Sintflut, Springflut, Armut,
Hartmut, Tutut. Die Muse will einfach nicht wie sie soll. Genialität ist eine
schwere Bürde und Musen sind fiese, launische Geschöpfe, die direkt aus dem
Höllenschlund gekrochen kommen, zu dem einen und einzigen Zweck, Urielles
Genie zu untergraben und den schöpferischen Prozess zu behindern.
Sie rückt ihre Brille gerade und krempelt die Ärmel auf. Dann eben mit
dem Holzhammer!
SIE überlegte es sich anders und die angekündigte Sintflut blieb aus. Die
Tiere kehrten zurück in ihre Heimat, nur die Einhörner waren so sauer, dass sie
sich von diesem Tag an nicht mehr blicken ließen und tief in die verwunsche-
nen Wälder zurückzogen. Noah dankte IHR für IHRE unermessliche Güte und
…
Urielle kaut sinnend auf der Feder. Was macht Noah eigentlich, wenn sie
keine Arche baut?
Das Telefon klingelt. Schon wieder. Wie soll man bei diesen nervenzer-
renden Unterbrechungen klare Gedanken fassen?
Zum Glück kommt Michaela in die Küche und nimmt den Hörer ab. Sie
nickt, schüttelt den Kopf, nickt wieder, sieht Urielle an und zieht theatralisch
die Augenbrauen hoch. „Hmhm“, sagt sie dann und „Moment!“ Sie hält den
Hörer zu und zieht die Augenbrauen noch ein Stück höher. „Das ist Noah.
Möchtest du dich vielleicht zu dem Thema Sintflut äußern?“
Urielle verschränkt die Arme vor der Brust und lehnt sich zurück, was
ihr hoffentlich einen entspannten und selbstsicheren Ausdruck verleiht. „Die
Sintflut wurde gecancelt“, sagt sie knapp.
Noahs Stimme dringt, durch Michaelas Finger hindurch, verzerrt aus
dem Hörer. Michaela stöhnt, nickt Urielle aber zu. „Okay“, sagt sie, atmet tief
ein und legt den Hörer wieder ans Ohr. „Noah, es gab da eine Planänderung …
Jetzt hör doch erst mal … Nein, SIE wird nicht … Auf keinen Fall, aber du
könntest doch …“ Michaela holt tief Luft und schreit: „Halt die Klappe!“ Stille.
Keine Gekreische mehr vom anderen Ende der Leitung. Gut. „Also: Ich werde
jetzt Raphaela anrufen und sie wird dir einen neuen Job besorgen. Was? … Ja,
sicher mit besseren Konditionen, das ist doch … Und Urlaub … Ja, Weih-
nachtsgeld auch … Überstrapaziere meine Geduld nicht! Ich melde mich dann
… Natürlich!“
Sie knallt den Hörer auf, nimmt ihn wieder ab, dreht die Kurbel und war-
tet. „Raphaela, bitte“, sagt sie und wartet wieder, wiegt den Kopf und summt
eine Melodie mit. „Hallo, Raphaela? Michaela, ja. Ich brauche deine Hilfe …
Nein, ich möchte meinen Look nicht … Nein, keine … Was für Problemzo-
nen? Ich habe keine … Jetzt halt bitte mal die Luft an! Ich schicke dir Noah
vorbei. Sie braucht einen sicheren Job mit garantierten Sozialleistungen …
Nein, die Sintflut wurde gecancelt … Ja, okay, bis später.“
Der Hörer knallt auf die Gabel. Abnehmen, Kurbel drehen, warten.
„Noah, Klappe halten und zuhören! Du hast einen Termin bei Raphaela. Job-
center, Höllenschlund 6, in fünfzehn Minuten. Tschüss!“
Sie legt auf und lehnt sich an die Arbeitsplatte. Ihre Wangen sind gerötet
und sie verdreht die Augen. „Ich hasse diesen Telefonapparat“, sagt sie.
Urielle sagt: „Ha! Meine Rede.“ Dabei kommen ihr glitzernde Visionen
in den Sinn, die nach Weihrauch und Würsten duften und sie zieht sich tief in
ihren Geist zurück. Versonnen greift sie zur Feder und beginnt ein neues Meis-
terwerk, das so voller Friede und Freude ist, dass es ihr Tränen der Rührung in
die Augen treibt.
Michaela sieht Urielle zu. Ihr Gesichtsausdruck erinnert sie erschreckend
an IHREN Gesichtsausdruck, als SIE verzückt die wackelnden Häschenohren
etrachtete, und sie macht sich doch ein wenig Sorgen. „Urielle?“, fragt sie. „Al-
les okay?“
Urielle ist so mit ihrem Genie verschmolzen, dass sie alles um sich her-
um vergessen hat. „Kerzenschimmer“, murmelt sie. „Oh ja!“
Michaela schüttelt den Kopf und holt das Mehl aus dem Schrank. Sie
verspürt das dringende Bedürfnis, eine Tätigkeit auszuüben, die eindeutig be-
legt, dass sie nicht durchgedreht ist und was wäre da angebrachter, als noch ein
Blech Plätzchen zu backen? Zimtsterne. Oder doch Kokosmakronen? Auf je-
den Fall müssen die Plätzchen normal aussehen. Klare, wohlproportionierte
Formen und unauffällige Farben. Braun ist gut, vielleicht eine Glasur? Nein,
eine Glasur könnte falsch verstanden werden. Besser auch keine Zuckerstreusel.
Urielles Feder kratzt über das Pergament und Michaela gibt die Zutaten
in die große Schüssel. Beide sind in ihren eigenen Welten gefangen, selbstver-
gessen, ganz Konzentration. Keine von beiden registriert das ungewöhnliche
Scharren und Rumpeln, das aus dem Kamin in IHR Zimmer dringt und keine
hört den langgezogenen Schrei, das Poltern und IHR Gekreische. Erst als die
Küchentür an die Wand schlägt und ein rotgekleideter, bärtiger, fetter Mann in
die Küche stürzt sehen die Beiden auf.
Michaela hebt abwehrend den Kochlöffel (wobei etwas Teig auf die Flie-
sen tropft), Urielle hebt angriffslustig die Feder. Der fette Mann zupft sich ein
paar Hustenbonbons aus dem Bart, legt einen IHRER Häschen-Hausschuhe
auf den Tisch und sagt: „Hohoho. SIE spinnt doch!“
Urielle und Michaela kneifen die Augen zusammen, starren den Mann an
und sagen: „Noah?“
Noah sagt „Ach so“ und nimmt den Bart ab, in dem immer noch hartnä-
ckig einige Bonbons kleben.
Urielle schiebt ihre Brille hoch und legt die Feder in die Schale. „Okay“,
sagt sie und reibt sich die Schläfen. „Ich bin nicht sicher, ob ich es wissen will.“
„Aber ich will es wissen!“ Michaela fuchtelt mit dem Kochlöffel herum
und bespritzt die Küchenschränke mit Plätzchenteig. „Warum trägst du einen
Bart, diesen Bauch und diese Klamotten? Was machst du mit IHREM Haus-
schuh? Und was machst du überhaupt hier?“
„Ach so“, sagt Noah noch einmal, zieht den Bart wieder an, breitet die
Arme aus, holt tief Luft und beginnt zu singen:
„Vom Höllenschlund da komm ich her,
ich bring euch gute-he neue Mär,
und Werbegeschenke bring ich viel,
weil Luzi eure Se-he-le will.“
Noah dreht sich einmal ungrazil um die eigene Achse und deutet mit ei-
ner übertriebenen Geste auf den Jutesack, den sie zu ihren Füßen abgestellt hat.
Urielles Brille rutscht auf die Nasenspitze. Sie schiebt sie nicht zurück. Michaela
betrachtet das rote Horn, das unter Noahs verrutschter Mütze hervorlugt und
sagt: „Äh.“
Nach einigem Kramen in dem braunen Sack zieht Noah zwei in rotes
Geschenkpapier gewickelte Päckchen hervor und legt sie auf den Küchentisch.
„So, Feierabend“, sagt sie und setzt sich. „Könnte ich vielleicht ein Bier be-
kommen? Meine Kehle ist vom vielen Singen ganz ausgedörrt!“
Michaela stellt ihr wortlos eine Tasse Pfefferminztee hin und setzt sich
neben Urielle. „Also“, sagt sie streng, „was genau soll das alles?“
Noah nippt an ihrem Tee und verzieht das Gesicht. „Werbemaßnah-
men“, sagt sie dann. „Luzi hat sich entschlossen, ihren Bekanntheitsgrad zu er-
höhen. Ich bin dafür zuständig, die Werbegeschenke zu verteilen. Flächende-
ckend! Ich könnt euch nicht vorstellen, was für ein riesiges Gebiet ich alleine zu
bewältigen habe. Aber die Bezahlung ist gut. Und ich habe einen
niegelnagelneuen Firmenwagen mit zwölf Rentierstärken!“ Sie deutet auf die
Päckchen. „Macht doch mal auf!“
Urielle zuckt mir den Schultern. Ist nun auch egal. Sie wickelt das Ge-
schenkpapier ab.
Michaela sieht ihr skeptisch dabei zu und Noah plappert munter weiter:
„Auf dem Blauen, das war allerdings etwas merkwürdig. Es schien fast so, als
hätten mich die Leute erwartet. Fast alle Häuser waren mit kitschigen Lichter-
ketten geschmückt, dazu überall schmalzige Musik und Kerzengedöns und so.“
Urielle hält inne, sieht auf ihr neues Werk und schiebt unauffällig ein lee-
res Blatt auf das Geschriebene, bevor sie das Päckchen endgültig öffnet. „Ah“,
sagt sie.
Michaela saugt die Luft durch die Zähne ein und sagt: „Oh.“
Noah trinkt den Tee aus und sagt: „Cool, was?“ Dann zieht sie Urielles
Kreuzworträtsel heran und murmelt: „Mittelamerikanisches Land mit sechs
Buchstaben. Hm. Ah, na klar!“ Sie greift sich Urielles Feder und schreibt:
PÖMPEL
SIE kreischt nach Michaela und wackelt mit den Füßen, IHREN Blick auf
IHREN verbliebenen Häschen-Hausschuh gerichtet. Die Häschenohren wa-
ckeln auch. SIE kichert. Die Welten zittern. Gelegentlich wanken sie, verlang-
samen ihren Lauf und beschleunigen ihn wieder. Aber SIE dreht die Kurbel,
wie SIE es schon immer tat. Dreht und dreht (und wackelt) und dreht.
© Simone Keil
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