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63 KABALE KABALE UND LIEBE


KABALE UND LIEBE<br />

> VON FRIEDRICH SCHILLER <<br />

Premiere am 28. März 2009 im <strong>Schauspiel</strong>haus<br />

Keine Pause<br />

www.staatstheater-stuttgart.de


schauspielstuttgart<br />

kabale und liebe<br />

Besetzung<br />

präsident von walter, Jörg Lichtenstein<br />

am Hof eines deutschen Fürsten<br />

ferdinand, Christoph Gawenda<br />

sein Sohn, Major<br />

hofmarschall von kalb Florian von Manteuffel<br />

lady milford, Susana Fernandes Genebra<br />

Favoritin des Fürsten<br />

wurm, Benjamin Grüter<br />

Haussekretär des Präsidenten<br />

miller, Boris Koneczny<br />

Stadtmusikant<br />

dessen frau Rahel Ohm<br />

luise, Minna Wündrich<br />

dessen Tochter<br />

ein kammerdiener<br />

des fürsten Bernhard Baier<br />

regie Claudia Bauer<br />

bühne Hendrik Scheel<br />

kostüme Daria Kornysheva<br />

musik Smoking Joe<br />

dramaturgie Sabine Westermaier<br />

regieassistenz Laura Tetzlaff<br />

bühnenbildassistenz Jelena Nagorni<br />

kostümassistenz Leah Lichtwitz<br />

Dinah Lichtwitz<br />

s: 4 ˚ s: 5 ˚<br />

schauspielstuttgart<br />

kabale und liebe<br />

dramaturgieassistenz Verena Eitel<br />

inspizienz Bernd Lindner<br />

souffleur Frank Laske<br />

regiehospitant Johannes Siegmund<br />

bühnenbildhospitantin Camila Durán<br />

kostümhospitantin Anika Billard<br />

Technische Direktion: Karl-Heinz Mittelstädt // Technische Direktion<br />

<strong>Schauspiel</strong>: Andreas Zechner // Technische Einrichtung: Jürgen Zott //<br />

Ton: Frank Bürger, Gerd-Richard Schaul // Licht: Stefan Bolliger //<br />

Beleuchtung: Peter Krawczyk // Video: Rainer Schwarz // Requisite:<br />

Edgar Girolla, Jörg Schellenberg // Maschinerie: Hans-Werner Schmidt //<br />

Leitung Dekorationswerkstätten: Bernhard Leykauf // Technische<br />

Produktionsbetreuung: Karin von Kries // Malsaal: Maik Sinz //<br />

Bildhauerei: Michael Glemser // Dekorationsabteilung: Donald Pohl //<br />

Schreinerei: Frank Schauss // Schlosserei: Patrick Knopke //<br />

Leitung Maske: Heinz Schary // Maske: Stefan Jankov, Katrin Sahre,<br />

Jutta Wennrich // Kostümdirektion: Werner Pick // Produktionsleitung<br />

Kostüme: Sabine Wagner // Gewandmeisterinnen: Renate Jeschke (Damen),<br />

Anna Volk (Herren) // Färberei: Martina Lutz // Kunstgewerbe:<br />

Heidemarie Roos-Erdle, Daniel Strobel // Modisterei: Eike Schnatmann //<br />

Rüstmeisterei: Rolf Otto // Schuhmacherei: Verena Bähr, Alfred Budenz


schauspielstuttgart<br />

kabale und liebe<br />

DAS PRINZIP FERDINAND<br />

ODER DAS OBJET PETIT A<br />

Eine beliebte Süßigkeit, die es in jeder Bäckerei und in<br />

jedem Supermarkt zu kaufen gibt, ist die Kinderüberraschung,<br />

ein hohles von farbigem Papier umhülltes<br />

zwanzig Gramm schweres Schokoladenei, außen braun,<br />

innen weiß. Im Inneren des Eis befindet sich ein weiteres<br />

gelbes Plastikei, in dem sich wiederum ein kleines<br />

Plastikspielzeug oder winzige Teile, die sich zu einem<br />

Spielzeug zusammenbasteln lassen, befinden. Die meisten<br />

Kinder packen, wenn sie eine Kinderüberraschung<br />

bekommen, das Ei ungeduldig aus, brechen die Schokolade<br />

entzwei, ohne sie zu essen, weil sie völlig auf das Spielzeug<br />

fixiert sind. Die Faszination, die dieses verborgene<br />

Spielzeug auf Kinder ausübt, veranschaulicht laut Slavoj<br />

Žižek auf vollkommene Weise Jacques Lacans These:<br />

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schauspielstuttgart<br />

kabale und liebe<br />

»Ich liebe dich, aber unerklärlicherweise liebe ich etwas in<br />

dir, das mehr ist als du selbst und daher zerstöre ich dich.«<br />

Es verkörpert, so Žižek, das objet petit a in seiner reinsten<br />

Form: ein Gegenstand, der die zentrale Leere unseres<br />

Begehrens füllt; das unergründliche ,Etwas‘, das ein gewöhn-<br />

liches Objekt erhaben werden lässt; der verborgene Schatz,<br />

in der Mitte des Dings, das wir begehren.<br />

Kinderüberraschung gibt es in Deutschland seit 1974, die<br />

Fiktion der romantischen Liebe als Motiv des menschlichen<br />

Begehrens seit dem 12. Jahrhundert. Verfolgt man<br />

dieses Motiv bis heute ist eines augenfällig: Die großen<br />

Liebenden der Weltliteratur sind nicht die, die es in den<br />

sicheren Hafen der Ehe schaffen, sondern jene, die an den<br />

steilen Klippen ihrer Liebe zerschellen. Die romantische<br />

Liebe in Reinform ist per se unglücklich. Sie ist eine privilegierte<br />

Form des Leidens, garantiert sie doch, dass das<br />

Leben des Liebenden gefährlich, groß und tragisch ist. In<br />

ihrer schönsten Form entwickelt sie einen Sog, dem dieser


nicht widerstehen kann und der ihn in einem Triumph<br />

verzehrt und vernichtet.<br />

Zurück zum Ei: Obwohl sich das kleine Plastikspielzeug<br />

in materieller Hinsicht von dem Ei aus Schokolade unterscheidet,<br />

ist es der ursächliche Grund, das Ei zu kaufen.<br />

Dieses harmlose Stückchen Abfall der Konsumwelt füllt<br />

also die Lücke in der Schokolade selbst. Auf die romantische<br />

Liebe übertragen, steht es für die magische<br />

Eigenschaft, die den Liebenden eben gerade dieses und<br />

nicht jenes Objekt begehren lässt. Das Erkennen der<br />

magischen Eigenschaft des Objekts ist gleichzusetzen mit<br />

der Liebe auf den ersten Blick. Ohne jedes Vorzeichen<br />

wird der Liebende der Magie des Objekts gewahr und<br />

macht es zur optimalen Projektionsfläche seiner<br />

geheimsten Wünsche.<br />

Auch Schiller wusste schon, wie prekär es ist, den Anderen<br />

zum Bild seiner Obsession zu machen. In kabale und liebe<br />

wird die Liebe zwischen Luise und Ferdinand Gegenstand<br />

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kabale und liebe<br />

eines ,satanisch feinen Gewebs‘, das sich die narzisstischpassionierte<br />

Liebe Ferdinands zu nutze macht. Von Anfang<br />

an deklariert Ferdinand unmissverständlich seinen Besitzanspruch:<br />

»Dieses Weib ist für diesen Mann«.<br />

Seine Hybris zu glauben, die Geliebte zu erkennen –<br />

»Ich schau durch deine Seele, wie durch das klare Wasser<br />

dieses Brillanten.« –, ist vergleichbar dem Versuch der<br />

Überraschungsei-Sammler durch Schütteln, Wiegen und<br />

Horchen, bereits vor dem Kauf auf den Inhalt des Eis<br />

zu schließen. Die Profis unter ihnen haben das Glück zu<br />

75% ins Schwarze zu treffen, während Ferdinands<br />

Trefferquote im Verlauf des Dramas immer mehr gegen<br />

Null geht. Luise bleibt zwar das alleinige Objekt seines<br />

Begehrens, dessen Ursache liegt jedoch mehr und mehr<br />

außerhalb von ihr.<br />

Der magische erste Augenblick, der Luise für Ferdinand<br />

zu seiner vom ,Gott der Liebenden‘ bestimmten Frau werden<br />

ließ, wird zunehmend vom sekundären Beweggrund seiner<br />

Liebe, sich von seinem Vater bzw. der von ihm verhassten<br />

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kabale und liebe


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kabale und liebe<br />

Gesellschaft abzugrenzen, überlagert. Ferdinand stilisiert<br />

die Geliebte zur Hauptfigur eines heroisch-empfindsamen<br />

Liebesdramas, ohne je seine Vorstellungen von Liebe mit<br />

denen seiner Geliebten abzugleichen. Zurecht wirft Luise<br />

ihm vor: »Man verliert ja nur, was man besessen hat, und<br />

dein Herz gehört deinem Stande.« Je mehr Hindernisse<br />

sich ihrer Liebe in den Weg stellen, umso rigoroser werden<br />

Ferdinands Forderungen an sie. Als Luise die Flucht<br />

mit ihm ablehnt und sein schwelendes Misstrauen mit<br />

dem Auffinden des von Wurm diktierten Briefs auf fruchtbaren<br />

Boden fällt, tauscht er das Bild der Heiligen mit<br />

dem der Natter, die er zertreten muss.<br />

»Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des<br />

Wortes Mensch ist und er ist nur da ganz Mensch, wo er<br />

spielt.« Schiller bestimmt den freien Menschen als authentischen,<br />

mit sich selbst übereinstimmenden Menschen.<br />

In unserer Version von kabale und liebe wird die<br />

scheinbar unfreieste Figur, entstaubt vom christlichen<br />

*** Übrigens wird in regelmäßigen Abständen gefordert, die unter Sammlern<br />

kurz Ü-Ei benannte Süßigkeit zu verbieten, da Kinder womöglich nicht zwischen<br />

dem essbaren Anteil (Schokolade ist gleich Objekt des Begehrens) und dem sich<br />

s: 10 ˚<br />

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kabale und liebe<br />

und bürgerlichen Sittenkodex des späten 18. Jahrhunderts,<br />

die sechzehnjährige Luise zur freiesten Figur von allen.<br />

Der Verzicht ihre Liebe zu leben garantiert ihr Bestehen.<br />

Alle anderen Figuren bleiben ,Sklaven eines einzigen<br />

Marionettendrahts‘, allen voran Ferdinand. Er, der die<br />

anderen am ,Riesenwerk seiner Liebe hinaufschwindeln‘<br />

lassen will, wird Opfer seiner Liebe. In seiner Wut und<br />

Verzweiflung, dass sein Bild der Geliebten sich immer<br />

weniger mit der Wirklichkeit deckt, zerstört er sie und<br />

sich. Erst im Angesicht des Todes, erlebt er wie beim<br />

ersten Anblick von Luise noch einmal den Zauber der<br />

Liebe, fallen für einen ewigen Moment objet petit a und<br />

Objekt des Begehrens in eins.<br />

sabine westermaier<br />

innerhalb befindlichen Spielzeug (objet petit a ist gleich Ursache des Begehrens)<br />

unterscheiden können. Die Kinder, so heißt es, könnten sich bei dem Versuch,<br />

auch das Spielzeug zu essen, gefährlich verschlucken.


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kabale und liebe<br />

Lass auch Hindernisse wie Gebirge zwischen uns treten,<br />

ich will sie für Treppen nehmen und drüber hin in deine Arme fliegen.<br />

Kartentelefon Nr. 0711 20 20 90<br />

s: 13 ˚<br />

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kabale und liebe


Vor ein paar Jahren wurde im britischen Fernsehen<br />

ein charmanter Werbespot für eine Biermarke<br />

gesendet. Er begann mit einer Begegnung<br />

wie in einem Märchen: Eine junge Frau läuft am<br />

Fluss entlang, sieht einen Frosch, setzt ihn sanft<br />

auf ihren Schoß, küsst ihn, und natürlich verwandelt<br />

er sich in einen schönen jungen Mann. Doch<br />

die Geschichte ist noch nicht vorbei: Der junge<br />

Mann wirft einen hungrigen Blick auf sie, zieht<br />

sie an sich, küsst sie – und sie verwandelt sich in<br />

eine Bierflasche, die der Mann triumphierend in<br />

der Hand hält. Für die Frau hat ihre Liebe und<br />

Zuneigung (die durch den Kuss signalisiert wird)<br />

einen Frosch in einen schönen Mann verwandelt,<br />

eine volle phallische Gegenwart. Für den Mann<br />

geht es darum, die Frau auf ein Partialobjekt zu<br />

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kabale und liebe<br />

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kabale und liebe<br />

reduzieren, den Grund seines Begehrens. Wegen<br />

dieser Asymmetrie kann es keine Geschlechtsbeziehung<br />

geben: Entweder haben wir eine Frau<br />

mit einem Frosch oder einen Mann mit einer<br />

Bierflasche. Was wir niemals haben werden, ist<br />

das natürliche Paar der schönen Frau und des<br />

Mannes: Der phantasmatische Gegenpart dieses<br />

idealen Paars wäre die Figur eines Frosches, der<br />

eine Bierflasche umarmt – ein inkongruentes Bild,<br />

das, anstatt die Harmonie der sexuellen Beziehung<br />

zu garantieren, ihren lächerlichen Misston herausstreichen<br />

würde. (...) Besteht nicht die ethische<br />

Aufgabe unserer heutigen Künstler darin, uns mit<br />

dem Frosch zu konfrontieren, der eine Bierflasche<br />

umarmt, wenn wir in unseren Tagträumen unsere<br />

Geliebte umarmen? ° slavoj žižek<br />

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kabale und liebe<br />

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kabale und liebe<br />

Liebe ist und bleibt für die alteuropäische Tradition trotz<br />

erkannter Besonderheit ein konstituierendes Merkmal der<br />

Gesellschaft selbst. (...) Die philosophischen und religiösen<br />

Generalisierungen, die die Grenzen der einzelnen Gesellschaft<br />

und damit das Liebesgebot auf die Menschen schlechthin auszuweiten<br />

trachten, behalten einen utopischen Erfolg. Der evolutionäre<br />

Erfolg lag in der entgegengesetzten Richtung: nicht in<br />

einem Universellwerden, sondern in der Einschränkung und<br />

Mobilisierung des Mediums; nicht darin, dass man alle liebt,<br />

sondern darin, dass man einen beliebigen ausgewählten anderen<br />

Menschen liebt. Die das abdeckende Konzeption der Liebe wird<br />

seit dem ausgehenden Mittelalter geschaffen und setzt sich in<br />

der Neuzeit durch. Sie deutet Liebe als amour passion, als<br />

Leidenschaft. Vordem explizit ausgegrenzt und als menschliche<br />

Unvermeidlichkeit ohne gesellschaftliche Funktion behandelt,<br />

wird Passion nun zum führenden Merkmal. Mit ihr verbinden<br />

sich in der heute geläufigen, ja fast schon trivialisierten<br />

Vorstellung Sinnmomente wie: willenloses Ergriffensein und<br />

s: 17 ˚


krankheitsähnliche Besessenheit, der man ausgeliefert ist,<br />

Zufälligkeit der Begegnung und schicksalhafte Bestimmung für-<br />

einander, unerwartbares (und doch sehnlichst erwartetes) Wunder,<br />

das einem irgendwann im Leben widerfährt, Unerklärlichkeit des<br />

Geschehens, Impulsivität und ewige Dauer, Zwanghaftigkeit und<br />

höchste Freiheit der Selbstverwirklichung. (...) Die Institutionalisierung<br />

der Liebe als Passion symbolisiert die gesellschaftliche<br />

Ausdifferenzierung von Intimbeziehungen. Das wichtigste<br />

Anzeichen dafür neben dem Abstreifen von Verantwortlichkeit<br />

ist der Umstand, dass Indifferenzen und Irrelevanzen explizit<br />

legitimiert werden: dass bei wahrer, echter, tiefer Liebe (...) es<br />

weder auf Stand noch auf Geld, weder auf Reputation noch auf<br />

Familie noch auf sonstige ältere Loyalitäten ankommen kann. Das<br />

Zerstörerische daran wird gesehen – und geradezu mitgenossen.<br />

(...) Trotz aller mittelalterlichen Wurzeln der ,romantischen Liebe‘<br />

ist ihre Institutionalisierung als Ehegrundlage eine entschieden<br />

neuzeitliche Errungenschaft, in den ersten programmatischen<br />

Postulierungen dem Sentimentalismus des 18. Jahrhunderts zu<br />

danken und dort Bestandteil bürgerlicher Kritik aristokratischer<br />

Immoral. Erst damit wird dieses Konzept der Liebe aus den<br />

Beliebigkeiten des rein individuellen Erlebens herausgenommen<br />

und in sozialen Erwartungen festgemacht. Es enthält den<br />

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kabale und liebe<br />

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kabale und liebe<br />

Charakter einer Zumutung – einer Zumutung für die, die passioniertes<br />

Lieben anderer miterleben und billigen müssen; einer<br />

Zumutung vor allem aber auch für die, die sich verlieben müssen,<br />

bevor sie heiraten. (...) Liebe wird zum reflexiven Mechanismus<br />

und auch in dieser Hinsicht zu einer voraussetzungsvollen,<br />

riskierten und störungsanfälligen Institution. Sie wird auf sich<br />

selbst angewandt, ehe sie sich ein Objekt wählt. Man liebt das<br />

Lieben und deshalb einen Menschen, den man lieben kann. (...)<br />

Im Übrigen ist für den Normalfall eine mehr oder weniger klischeeförmige<br />

Außensteuerung dieses auf Liebe gerichteten Liebens<br />

bezeichnend. Die Liebe mag dann zunächst auf ein generalisiertes<br />

Suchmuster gerichtet werden, das eine Erfüllung erleichtern<br />

kann. Setzt nicht ,Liebe auf den ersten Blick‘ voraus, dass man<br />

schon vor dem ersten Blick verliebt war?<br />

° niklas luhmann<br />

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kabale und liebe<br />

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kabale und liebe<br />

Das ,Herz-Stück‘ von kabale und liebe ist das<br />

Wort ,Herz‘ selbst. Hundertundfünfmal kommt<br />

es vor und die Beherztheit mit der alle Figuren<br />

um Liebe und Glück ringen ist gnadenlos.<br />

Untersucht man die zahllosen Regieanweisungen,<br />

die schmerzlich starren Blicke, die Bestürzungen<br />

und Erschütterungen, die Flut der Tränen, die<br />

beherzten Würfe ins Sofa, wird deutlich, dass alle,<br />

auch die sogenannten Bösewichter, befragt<br />

nach dem innersten Beweggrund ihres Handelns,<br />

tragisch Liebende sind. Das Herz konstituiert<br />

sich als Gegenstand des Tausches.<br />

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das menschliche begehren<br />

ist das begehren des andern<br />

Das Subjekt begehrt nur, insoweit es<br />

den Andern selbst als begehrend<br />

erfährt, als den Sitz eines unergründlichen<br />

Begehrens, als ob ein opakes<br />

Begehren von ihm oder ihr ausginge.<br />

Der andere wendet sich nicht nur mit<br />

einem rätselhaften Begehren an mich,<br />

er konfrontiert mich auch mit der<br />

Tatsache, dass ich selbst nicht weiß,<br />

was ich wirklich begehre, mit dem<br />

Rätsel meines eigenen Begehrens. (...)<br />

Geliebt zu werden lässt mich unmittelbar<br />

die Kluft zwischen dem fühlen, was<br />

ich als endliches Wesen bin, und dem<br />

unergründlichen X in mir, das Liebe<br />

hervorruft. Lacans Definition von Liebe<br />

– »Liebe heißt, etwas geben, das man<br />

nicht hat ...« – muss daher ergänzt<br />

werden – » ... und zwar jemandem, der<br />

es nicht will.« ° slavoj žižek


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kabale und liebe<br />

luise. Nicht doch, mein Vater! Das sind nur Schauer, die sich um<br />

das Wort herum lagern – Weg mit diesem, und es liegt ein Brautbette<br />

da, worüber der Morgen seinen goldenen Teppich breitet und die<br />

Frühlinge ihre bunten Girlanden streun. Nur ein heulender Sünder<br />

konnte den Tod ein Gerippe schelten; es ist ein holder niedlicher<br />

Knabe, blühend, wie sie den Liebesgott malen, aber so tückisch nicht<br />

– ein stiller dienstbarer Genius, der der erschöpften Pilgerin Seele<br />

den Arm bietet über den Graben der Zeit, das Feenschloss der ewigen<br />

Herrlichkeit aufschließt, freundlich nickt und verschwindet.<br />

Dem Tod haftet etwas Anstößiges an, das freilich von anderer<br />

Beschaffenheit ist als das Unanständige des Liebesaktes. Der Tod<br />

ruft Tränen hervor, das sexuelle Verlangen zuweilen Lachkrämpfe.<br />

Doch ist das Lachen dem Weinen nicht so entgegengesetzt, wie es<br />

den Anschein hat: der Gegenstand des Lachens und der Gegenstand<br />

des Weinens ist immer an eine Art Gewalt gebunden, die den regelmäßigen,<br />

den gewohnten Lauf der Dinge plötzlich unterbricht. Im<br />

Allgemeinen sind es unerwartete Ereignisse, die Tränen hervorrufen,<br />

andererseits kann uns aber auch ein unverhofftes glückliches<br />

Ereignis derart erregen, dass wir vor Freude weinen. Das sexuelle<br />

Chaos entlockt uns gewiss keine Tränen, aber immer löst es<br />

Verwirrung, manchmal sogar Bestürzung aus, und dann bleibt nur<br />

noch die Alternative, dass wir entweder lachen oder uns der Gewalt<br />

der Umarmung überlassen. ° georges bataille<br />

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Andy Warhol hat in den siebziger Jahren eine schöne kleine<br />

Theorie entwickelt. Für ihn gibt es vier Faktoren, die verliebt<br />

machen: Gesicht, Körper, Geld und Macht respektive Ansehen.<br />

Zur richtigen Partnerwahl müssen Sie nur Ihre Liebesliga<br />

bestimmen, dann steht dem Glück nichts mehr im Wege. Dies<br />

verlangt aber eine gewisse Aufrichtigkeit sich selbst gegenüber.<br />

Bewerten Sie bei sich und beim Objekt Ihres Begehrens<br />

die vier Faktoren nach drei Noten: Spitze, Mittel und Nichts.<br />

Danach wissen Sie in welcher Liebesliga Sie, in welcher der<br />

andere spielt. Wenn Sie also z.B. Gesicht ,Spitze‘, Körper und<br />

Geld ,Mittel‘ und Macht ,Nichts‘ haben, spielen Sie mit allen<br />

Menschen, die ebenfalls einmal Spitze, zweimal Mittel und einmal<br />

Nichts haben, in derselben Liga. Dabei ist es gleichgültig,<br />

welche der vier Faktoren jeweils mit Spitze, Mittel oder<br />

Nichts bewertet sind. Zur Bestimmung der Mitgliedschaft in<br />

einer Liga reichen die puren Zahlenverhältnisse. Auf diese<br />

Weise können Sie leicht feststellen, welche Menschen zu<br />

Ihnen passen. Sie dürfen nur nicht schummeln. Viel Glück.


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kabale und liebe<br />

Das Prinzip Luise<br />

oder das Gesetz ist das Begehren<br />

Der französische Psychoanalytiker Jacques Lacan<br />

bezeichnet das Erlernen der Sprache als<br />

magische Schwelle. Mit der Überschreitung dieser<br />

Schwelle tritt das Kleinkind in eine Welt ein,<br />

aus der es nicht mehr in das Stadium der präsprachlichen<br />

Phase zurückkehren kann und sich<br />

fortan der symbolischen Ordnung, der Ordnung<br />

der Sprache, mit all ihren Konventionen und<br />

Strukturen unterordnen muss. Auch in der Liebe<br />

können solch magische Schwellen gefunden werden.<br />

Und vergleichbar dem Kleinkind, das die


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kabale und liebe<br />

einmal erlernte Sprache nicht wieder<br />

verlernen kann, kann auch der Liebende<br />

nicht wieder hinter eine einmal übertretene<br />

Schwelle, in eine vergangene Liebes-Phase<br />

zurückkehren.<br />

Luise weiß – bewusst oder unbewusst – um diese<br />

magische Schwelle in ihrer Liebe zu Ferdinand.<br />

Sie erkennt, dass das Ideal ihrer Liebe mit<br />

dem Eintritt in die Realität, also dem Versuch<br />

einer gemeinsam gelebten Zukunft mit dem<br />

Geliebten, unabwendbar zerstört werden würde.<br />

Ihre Liebe ist das pure, reine Gefühl noch<br />

unangetastet von jedweden Forderungen, An-<br />

sprüchen und Bedürfnissen. »Ich will ja nur<br />

wenig – an ihn denken – das kostet ja nichts.«<br />

Luise ist eine genügsam Liebende, ihre Liebe<br />

herrscht in ihren Gedanken und ihrer Sprache<br />

über den Geliebten, nicht in der Tat oder dem<br />

körperlichen Begehren. Es ist eine Liebe, der<br />

die Distanz nichts anhaben kann, da sie sich<br />

im Sehnen und nicht in der Erfüllung offenbart.<br />

Ihre Verankerung in der Welt der reinen<br />

Vorstellung schützt sie vor einer Funktionalisierung<br />

und Instrumentalisierung in ein<br />

kulturelles und soziales System. So wie auch<br />

das nicht-sprechende Kleinkind noch vor der<br />

Unterordnung seiner selbst als Subjekt durch<br />

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kabale und liebe<br />

die Sprache geschützt ist, ist Luises Liebe<br />

frei von jedem äußeren Einfluss. Was würde<br />

wohl aus Luises Liebe werden, würde sie<br />

versuchen sie zu leben? Aus dem Selbstzweck<br />

Liebe würde ein kultureller und sozialer<br />

Faktor, der einem Alltag voller Hindernisse<br />

standhalten, sich in eine von unzähligen<br />

Variablen strukturierte Realität als nur eine<br />

Variable von vielen einordnen müsste. Auch<br />

wenn ihre Liebe all dies aushalten könnte, so<br />

schön wie in den ersten Momenten des Verliebtseins<br />

wäre sie nie wieder. Gerade durch den<br />

Verzicht – »Auch will ich ihn ja jetzt nicht.<br />

Ich entsag’ ihm für dieses Leben.« –, diese<br />

Liebe leben zu wollen, kann sie ihre Vollkommenheit<br />

erhalten.<br />

Luise ist wie eine Bungee-Springerin, deren<br />

Wonne nicht im eigentlichen Akt, dem Sprung,<br />

liegt, sondern in dem Moment davor.<br />

Der Sprung selbst, die Überwindung<br />

der Angst, der Adrenalin-Kick,<br />

das Gefühl des freien Falls, all<br />

dies ist für Luise nicht reizvoll.


Was für sie zählt, wenn sie in die Tiefe schaut,<br />

ist der Moment der Erhabenheit über die Welt,<br />

zur gleichen Zeit von allem losgelöst und ganz<br />

und gar im Gefühl der Nähe mit allem aufzugehen.<br />

Der Sprung, so schön er ist, würde diese<br />

Einheit vergänglich werden lassen. Und so<br />

verweilt sie im perfekten Moment, zelebriert<br />

seine Schönheit, den Genuss des Verzichts, der<br />

hier nichts beschränkt, sondern im Gegenteil<br />

alles möglich macht.<br />

Luise liebt um der Liebe willen. Jeder kennt<br />

diese genügsamen Momente des ersten Verliebtseins,<br />

in denen ein Gedanke an die geliebte<br />

Person das vollkommene Glück bedeutet, der<br />

Anblick des Geliebten ausreicht um die Welt in<br />

einen Ort der bedingungslosen Glückseligkeit<br />

zu verwandeln. Das Gefühl der ersten Berührung,<br />

des ersten Kusses, die so nie wiederkehren.<br />

Und jeder kennt sie, die hilflosen Versuche<br />

die Perfektion dieser ersten Momente wiederherzustellen.<br />

Denn die Befriedigung eines Begehrens macht<br />

aus dem Begehren ein Besitzen, und nur zu oft<br />

ist der nächste Schritt, der auf das Besitzen<br />

folgt, der Überdruss. Wir entlieben uns und<br />

ziehen weiter zum nächsten Objekt unseres<br />

Begehrens. So stellt sich die Nicht-Befriedigung<br />

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kabale und liebe<br />

unseres Begehrens als eigentlich erstrebenswerter<br />

Zustand heraus, der uns vor der<br />

Enttäuschung und dem Schmerz einer entschwindenden<br />

Liebe schützt. Gleichzeitig wird das<br />

beständige Begehren als größerer Genuss als<br />

eine schnelle, kurzfristige Befriedigung<br />

kultiviert. »Denn die Lust setzt dem Genießen<br />

Grenzen, die Lust als inkohärentes Band des<br />

Lebens.« Das Prinzip des Verzichts ist nicht<br />

nur ein entbehrendes, sondern vielmehr ein<br />

erhaltendes.<br />

Wenn die Vergänglichkeit der Liebe zur<br />

Wesenhaftigkeit ihrer selbst gehört, bleibt<br />

den Liebenden nichts anderes als aktiv zu<br />

werden und selbst die magischen Schwellen,<br />

die Grenzen im Genießen permanent neu<br />

zu erschaffen. Das Begehren selbst wird zum<br />

Gesetz, denn jede Liebe ist endlich, das<br />

Begehren aber ist es nicht. ° Verena Eitel


impressum<br />

textnachweis<br />

Carl Hegemann, Die Liebesligen oder jenseits von klug und blöde, 1000 Theorien (18), in:<br />

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 8. Januar 2000;<br />

Niklas Luhmann, Liebe, Eine Übung, Frankfurt am Main 2008, S. 30 – 41;<br />

Slavoj Žižek, Lacan, Eine Einführung, Frankfurt am Main 2008, S. 61, 62, 64, 78f;<br />

Georges Bataille, Die Tränen des Eros, Hrsg. Gerd Bergfleth, S 35 f.;<br />

Slavoj Žižek, Die gnadenlose Liebe, Frankfurt am Main 2001, S.32 – 37;<br />

Slavoj Žižek, Faktor X. Das Ding und die Leere;<br />

1. Das unergründliche Genießen, Konzeption, Regie und Produktion: Anne von der Heiden,<br />

Thomas Knoefel und Klaus Sander. Audio-Cd, 78 Minuten, Köln 2003<br />

herausgeber<br />

<strong>Schauspiel</strong> <strong>Stuttgart</strong> / Staatstheater <strong>Stuttgart</strong><br />

intendant<br />

Hasko Weber<br />

redaktion<br />

Sabine Westermaier, Verena Eitel<br />

gestaltung<br />

Strichpunkt, <strong>Stuttgart</strong> / www.strichpunkt-design.de<br />

druck<br />

Engelhardt und Bauer<br />

s: 34 ˚

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