Warum Huckleberry Finn nicht süchtig wurde... Ref ... - Kinderleicht
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<strong>Warum</strong> <strong>Huckleberry</strong> <strong>nicht</strong> <strong>süchtig</strong> <strong>wurde</strong> -<br />
Chancen der Salutogenese<br />
Eckhard Schiffer, Quakenbrück<br />
Textvorlage des mündlichen Vortrages am 14. Juni in Seefeld<br />
Meine sehr geehrten Damen und Herren,<br />
die Eingangsüberlegung, die ich Ihnen heute mitgebracht habe, lautet :<br />
Wer (in unseren Breiten) ausreichende Frei-Räume des Spielens und des Dialoges<br />
vorfindet, hat die besten Aussichten (im Rahmen seiner Möglichkeiten), ein lebendiges<br />
Innenleben, Fantasie, Lebensfreude, Selbstwertgefühl und die ihm gegebenen<br />
Lerntalente mit Lust zu entfalten. Dies heißt zugleich, dass ein möglicher - als<br />
positiv erlebter - Unterschied zwischen Rausch und Nichtrausch gering erscheint.<br />
In der Verrechnung mit dem „Kater“ und weiteren Folgewirkungen erscheint der<br />
Rausch <strong>nicht</strong> als bedeutsamer Gewinn.<br />
Mit anderen Worten: Die viel bemühte „starke Persönlichkeit“ hat in den Frei-Räumen<br />
(oder auch den Intermediärräumen) des Spielens und des Dialoges ein so starkes<br />
Köhärenzgefühl mit lebensbejahendem Selbstwertgefühl, Lebensfreude sowie<br />
innerer Lebendigkeit und Stimmigkeit entfaltet, dass Erfahrungen mit Suchtstoffen,<br />
bzw. Suchthandlungen dann <strong>nicht</strong> zu existentiell bedeutsamen Verlockungen<br />
werden.<br />
Wie das geschieht und was mit dem Kohärenz-Gefühl weiterhin noch gemeint ist, ist<br />
Inhalt der folgenden Ausführungen.<br />
Zur weiteren Erläuterung des Kohärenzgefühles zunächst noch eine kleine<br />
Geschichte:
<strong>Huckleberry</strong> <strong>Finn</strong> ist in Mark Twains Geschichten um Tom Sawyer der Bürgerschreck<br />
– faul, verwahrlost, ohne festen Wohnsitz; der Vater ein gewalttätiger Säufer, von der<br />
Mutter ist schon gar <strong>nicht</strong> mehr die Rede. Nach unseren heutigen Vorstellungen wäre<br />
demnach <strong>Huckleberry</strong> <strong>Finn</strong> hochgradig gefährdet. Offensichtlich kommt der Huck<br />
jedoch gut über die Runden. Der Leser sympathisiert mit ihm, die Geschichten laden<br />
ein, sich mit Huck zu identifizieren.<br />
Auf der Flucht vor seinem eigenen Vater, der ihm nach dem Leben trachtet, trifft<br />
Huck den entflohenen Sklaven Jim. Beide müssen um ihr Leben fürchten. Das Floß,<br />
das sie finden und mit dem sie auf dem Mississippistrom flussabwärts flüchten, wird<br />
Bild1<br />
zu ihrem Freiraum und Fluchtort. Unser Text knüpft an eine Passage an, innerhalb<br />
derer sie an einer geschützten Uferstelle Halt machen, um in einer Höhle auf einem<br />
offenen Feuer ihr Mittagessen zu bereiten:<br />
„Wir nahmen noch’n paar Fische von den Haken, die inzwischen angebissen hatten<br />
und warfen die Angelschnüre wieder aus. Dann machten wir alles zum Mittagessen<br />
(in unserer Höhle) fertig (...)<br />
Sehr bald <strong>wurde</strong> es dunkel, und es fing an zu donnern und zu blitzen. (...) Gleich<br />
hinterher fing es an zu regnen, und bald goss es wie mit Eimern. Und der Wind<br />
heulte, wie ich’s noch nie gehört hatte (...)<br />
‘Jim, ist das <strong>nicht</strong> schön?’ fragte ich. ‘Ich möchte nirgendwo anders sein als hier.<br />
Gib mir noch mal’n Stück Fisch und ‘nen heißen Maiskuchen.’ “<br />
2<br />
2
Auf dem Bild zu dieser Textpassage aus dem „<strong>Huckleberry</strong> <strong>Finn</strong>“ fühlen sich die<br />
beiden offensichtlich wohl. Ihnen schmeckt es ausgezeichnet, obwohl ihr Mahl -<br />
Fisch und Maiskuchen – verhältnismäßig bescheiden ist und draußen die Welt<br />
unterzugehen scheint. Die beiden haben augenscheinlich keine Angst, fühlen sich in<br />
ihrer Freundschaft gut aufgehoben und geborgen. Und eben diese Freundschaft ist<br />
es, die in ihrem sonst eher einsamen Leben Sinn stiftet. Zusammen fühlen sie sich<br />
stark, zusammen meistern sie die Anforderungen, die die Wildnis und der Strom<br />
Mississippi mit all den dazugehörigen Gefahren an sie stellen...<br />
Huck hat trotz seiner chaotischen Bindungserfahrungen ein starkes Kohärenzgefühl!<br />
Das Kohärenzgefühl meint eine Grundstimmung oder Grundsicherheit, innerlich<br />
zusammengehalten zu werden, <strong>nicht</strong> zu zerbrechen und gleichzeitig auch äußeren<br />
Halt und äußere Unterstützung zu finden. Der Kohärenzsinn beschreibt eine mit<br />
diesem Gefühl einhergehende und an gedankliche Aktivitäten geknüpfte Weltsicht:<br />
Meine Welt ist verständlich, stimmig, geordnet; auch Probleme und Belastungen, die<br />
ich erlebe, kann ich in einem größeren Zusammenhang begreifen (Dimension der<br />
Verstehbarkeit). Das Leben stellt mir Aufgaben, die ich lösen kann. Ich verfüge auch<br />
über innere und äußere Ressourcen, die ich, um mein Leben zu meistern, einsetzen<br />
kann (Dimension der Handhabbarkeit). Für meine Lebensführung ist Anstrengung<br />
sinnvoll. Es gibt Ziele und Projekte, für die es sich zu engagieren lohnt<br />
(Sinndimension).<br />
3<br />
3
Beispiel <strong>Huckleberry</strong> <strong>Finn</strong>: Er kannte sich in dem Urwald, auf dem Mississippistrom<br />
und auch mit dem Wetter aus (Verstehbarkeit). Er wusste, wie man preisgünstig ein<br />
Floß organisiert, ein Feuer macht, das <strong>nicht</strong> zu viel Rauch entwickelt und wie man<br />
Fische fängt und brät (Handhabbarkei). Das Wichtigste war aber die Sinnhaftigkeit,<br />
die er in den gegenwärtigen Beziehungen zu seinen Freunden, insbesondere zu<br />
seinem Freund Jim erlebte und auf die er existentiell angewiesen war. (Dies im<br />
Unterschied zu verinnerlichten früheren guten Bindungserfahrungen, Beispiel: Dietrich Bonhoeffer)<br />
Entführen möchte ich Sie nun zu <strong>Huckleberry</strong> <strong>Finn</strong>, Pippi Langstrumpf und Momo.<br />
Und zwar in die schon erwähnten Frei-Räume des Spielens oder auch<br />
Intermediärräume. In diesen kann sich das Kohärenzgefühl besonders gut entfalten.<br />
Die Intermediärräume , wörtlich übersetzt: Zwischenräume, sind <strong>nicht</strong> vermessbar,<br />
nur erlebbar. Sie eröffnen sich zwanglos im Spielen und im Dialog und natürlich auch<br />
im spielerischen Dialog oder dialogischen Spiel. Es sind die Räume zwischen der<br />
Fantasie der Kinder und z.B. dem Sandhaufen vor den Kindern. In den Spiel-<br />
Intermediärräumen wie in den dialogischen Intermediärräumen kann man sich<br />
verlieren - und bereichert aus ihnen zurückkehren. Intermediäre Räume sind immer<br />
auch Abenteuerräume.<br />
Bild 2: Brueghel-Bild mit spielenden Kindern<br />
4<br />
4
Passend zur Bedeutung der Intermediärräume als Abenteuerräume heißt es in dem<br />
Buch "Der kompetente Säugling " von Martin Dornes (1993) 1 , in dem er sich auf die<br />
Ergebnisse der beobachtenden Säuglingsforschung bezieht:<br />
„Experimente lehren, dass <strong>nicht</strong> nur Trieb- und Körperlust, sondern auch Entdeckerlust und das<br />
Gefühl, in der Außenwelt sinnvolle Zusammenhänge bewirken und erkennen zu<br />
können, zentrale Motivatoren von Lebensbeginn an sind“.<br />
Die Entdeckung der Welt als spannendes Abenteuer...<br />
Ein zweites Zitat sagt literarisch-pointiert das gleiche und stammt aus der<br />
Autobiografie von Astrid Lindgren:<br />
„Als ich noch in die Vorschule ging, fragte die Lehrerin eines Tages, wozu Gott uns<br />
die Nase gegeben habe, und ein Knäblein antwortete treuherzig: ‘um Rotz darin zu<br />
haben’. Ach, Albin, wie konntest du nur so etwas Dummes sagen, hast du denn<br />
wirklich <strong>nicht</strong> gewusst, dass die Nase dazu da ist, damit wir uns gleich jungen<br />
Hunden durch unser Kinderleben schnuppern und schnüffeln und Seligkeiten<br />
entdecken?“<br />
Und wie werden die Seligkeiten entdeckt? Spielend! In einer Welt ohne Zwang!<br />
Gemeint ist von Astrid Lindgren ein Spielen - wie auf dem Brueghel-Bild - im Sinne<br />
von paidia (griechisch: kindliches Spielen) oder play (altsächsisch: plegan = pflegen),<br />
und das bedeutet leibhaftige Welterfahrung mit allen Sinnen, einschließlich des<br />
Bewegungssinnes sowie der Gefühle (wir sprechen von Affektu-Sensomotorik).<br />
Unser Innenleben wird reich, wenn wir als Kinder die Chance haben, uns mit all<br />
unseren Sinnen, Gefühlen und unserer Motorik zu entfalten. Und zwar im<br />
prozessorientierten Spielen - wie bei Astrid Lindgren. Bei dem prozessorientierten<br />
Spielen ist das Tun selbst und weniger das bewertbare Ergebnis das<br />
Entscheidende. Der Weg ist auch hier, wie so oft im Leben, das Ziel.<br />
Dieses prozessorientierte Spielen ereignet sich also in Intermediärräumen oder<br />
Freiräumen des Spielens. Diese Räume sind frei von den Zwängen,<br />
Leistungsnormen und Pisa-Ängsten der Erwachsenen. Gegenteilig zum Spiel sind<br />
<strong>nicht</strong> Anstrengung und Arbeit. Nein, das Gegenteil vom Spielen ist der Zwang.<br />
Intermediärräume sind frei von Zwang. Nur so entfalten sie ihre heilsame Wirkung.<br />
Das wusste Friedrich Schiller schon vor gut 200 Jahren. Der geniale Donald Winnicott betonte es nochmal vor 50 Jahren und<br />
seit fünf Jahren weiß es auch die neurobiologische Forschung. Und die Neurobiologie hat uns auch darin bestätigt, dass<br />
Intermediärräume nur ohne die affektusensomotorischen Verarmung und Fesselung durch bildgebende Medien entstehen.<br />
1 Dornes, M. (1993): Der kompetente Säugling. Frankfurt/M.: Fischer<br />
5<br />
5
Sehr schön hat Astrid Lindgren schon vor Jahrzehnten in einem Interview die<br />
heilsame (salutogenetische) Wirkung der Intermediärräume beschrieben:<br />
„Kinder sollten mehr spielen, als viele Kinder es heutzutage tun.<br />
Denn wenn man genügend spielt, (…)<br />
dann trägt man Schätze mit sich herum, aus denen man später sein ganzes<br />
Leben lang schöpfen kann.<br />
Dann weiß man, was es heißt, in sich eine warme, geheime Welt zu haben,<br />
die einem Kraft gibt, wenn das Leben schwer wird.<br />
Was auch geschieht, was man auch erlebt, man hat diese Welt in seinem<br />
Innern, an die man sich halten kann. “<br />
Ausflug in die Intermediärräume - ohne Zwang der Leistungsintrojekte<br />
6<br />
6
Bilder 3 – 10: Intermediärräume mit:<br />
spielerisch-dialogischen Begegnungsmöglichkeiten - ohne Zwang<br />
Sportlicher Maxi-Leistung<br />
Wandlung vom erleidenden Objekt zum selbstgestaltenden Subjekt<br />
Spiegelneuronen und Ambivalenzüberwindung<br />
Verweilen können<br />
Wahrgenommenwerden im Dialog<br />
Unsere leibhaftige Welterfahrung in diesen Räumen wird weitgehend unbewusst (als<br />
implizit-prozedurales Wissen) gespeichert. Es handelt sich um ein Wissen, das weitgehend<br />
ohne Worte auskommt, sich aber über innere Bilder uns vermitteln kann. Die<br />
Lebendigkeit unseres Denkens und Erlebens speist sich aus diesen Bildern, die<br />
unsere vormaligen Sinneserfahrungen in jeweiligen Kontexten aktuell<br />
vergegenwärtigen.<br />
Hierfür zum Beispiel „Baum“ als inneres Bild: Wenn wir noch wie auf dem bald 500 Jahre alten Brueghel-Bild die Welt mit<br />
allen Sinnen erfahren, dann wird all das, was wir - beim Klettern im Baum - als Muskelanspannung, Schwindel, Kratzer,<br />
überwundene Angst und nachfolgenden Stolz bislang gespürt haben oder im Frühjahr als Freude am zarten Grün empfinden,<br />
an dem Duft der Blüten sowie im Herbst an der bunten Einfärbung und dem Aroma des Laubes, verbunden mit dem Erfassen<br />
der „handschmeichlerischen“ Glätte von Kastanien - im Kontrast zu deren pieksigen Schale - oder der sommerlichen Süße der<br />
7<br />
7
Kirschen (dann wird all das) in dem Augenblick in unserem impliziten Gedächtnis mitaktiviert, wenn wir „Baum“ denken und<br />
diesen als inneres Bild vor uns haben.<br />
Ein (weiteres) Beispiel: selbst gemachte Brombeermarmelade, die das Pflücken der<br />
Brombeeren an einem sonnigen Spätsommertag und das Abenteuer der<br />
Marmeladenproduktion „von innen her“ noch mitschmecken lässt...<br />
Je mehr affektu-sensomotorische Vorerfahrungen spielerisch gemacht werden, je<br />
mehr also auch unsere inneren Bilder damit verknüpft werden, desto lebendiger wird<br />
unsere Fantasie und umso reicher unser ganzes Innenleben. Wir bedürfen dann<br />
keiner ständigen neuen äußeren Reize und Sensationen, „um etwas zu erleben“.<br />
Hierfür genügt dann ein einfaches Stück Holz, um daraus ein Auto, ein Schiff, ein<br />
Pferd eine Puppe oder sonst etwas werden zu lassen. Fantasie lässt zaubern! So<br />
kann ich dann auch ohne aktuelle intensive Außenreize verweilen: die Lebendigkeit<br />
der inneren Bilder ermöglicht das!<br />
Jedoch – wie wir alle wissen – spielen Kinder heute kaum noch „auf der Straße, auf<br />
der Wiese, im Wald ...“<br />
Im Gegenteil, sie verpassen sich selbst freiwillig das, was zu meiner Jugendzeit noch<br />
das Allerschrecklichste war, nämlich Stubenarrest!<br />
Bilder 11 – 13: „Klausi“ und Familie Sprachlos ….<br />
8<br />
8
weitere Folgen… Sprechen lernt man dialogisch über Spiegelneurone<br />
…und<br />
Klausi hat kein starkes Kohärenzgefühl. Er frisst Süßigkeiten und Pommes, trinkt<br />
Cola, lernt schlecht, wird dümmer und immer trauriger.(s. Christian Pfeiffer) Die Intensität<br />
seiner Außenwahrnehmung muss die fehlende Innenwahrnehmung ersetzen. Von<br />
daher sind Rausch und Rauschhandlung für Ihn auch hochattraktiv.<br />
Exkurs: Die „kicks“ der Außenreize beim Fastfood, den Horror-DVDs und<br />
Jahrmarktmaschinen - Symptome der Suchtnähe<br />
9<br />
9
Was braucht Klausi aber wirklich? Klausi braucht jemanden, der ihn in die<br />
Intermediärräume des Spielens und des Dialoges entführt, Ihn ermutigt in die Bäume<br />
zu klettern, Brombeermarmelade zu kochen und Bilder zu malen. Das geht zunächst<br />
über Beziehung - Wege in die Suchtferne<br />
Das prozessorientiertes Spielen in Intermediärräumen mit anderen zusammen in der<br />
Gruppe (Peer-Group) ermöglicht ein starkes Kohärenzgefühl - des Einzelnen wie<br />
auch der Gruppe. Denn es bedeutet, auch dann noch Freude am Spielen haben zu<br />
können, wenn ich dabei desillusioniert werde, das heißt erlebe, dass die anderen<br />
schneller laufen oder schwimmen, besser klettern, gewandter mit dem Ball umgehen<br />
oder sich besser ausdrücken können. Die intrinsisch begründete Lust auf Welt (s.<br />
Dornes) bleibt innerhalb solcher Spielerfahrungen trotz Enttäuschungen erhalten. Ich<br />
bedarf dann auch <strong>nicht</strong> zwingend der Rauschmittel und –handlungen, um<br />
Enttäuschungen zu verkraften oder um „kicks“ zu erleben.<br />
Entscheidend ist bei solch einem Spielen das Miteinander, das freudige Wahrnehmen<br />
und Wahrgenommenwerden – ohne Zwang und Leistungsdruck.<br />
Selbstwertgefühl und Lebensfreude als wesentliche Bestandteile des<br />
Kohärenzgefühles werden weiter gefördert.<br />
Das geht schon früh los.<br />
„Im dritten bis sechsten Lebensmonat (er)folgt die Einstimmung im Spiel von<br />
Angesicht zu Angesicht. Es ist die Zeit der Lächelspiele, bei denen sich<br />
normalerweise die Augen der beiden in einem vom Kind bestimmten Rhythmus treffen<br />
(Hervorhebung E.S.). Der Gesichtsausdruck wird vom jeweiligen Interaktionspartner<br />
gespiegelt, die Bewegungen sind aufeinander abgestimmt.(...) Die Körpermotorik von<br />
Kind und Bezugsperson stellt sich aufeinander ein, so dass von einem<br />
„gemeinsamen Tanz“ gesprochen wird.“ 2 Und im Hinblick auf das melodiöse Lallen,<br />
Brabbeln und Summen könnte man von einem fröhlichen Duett sprechen. 3 So geht<br />
es ohne Zwang weiter!<br />
2 Milch 2000, S. 19<br />
3 Braten 2011, S.832<br />
10<br />
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Bilder 14- 17: Lebensfreude beim Plantschen und Wahrnehmung der Antlitzhaftigkeit in den<br />
Lächeldialogen - „Oxytocin statt Drogen“ (dazu gleich mehr)<br />
Eine Gruppe in Intermediärräumen, die prozessorientiert ohne Zwang spielt, hat<br />
mehrere Geheimnisse. Eines dieser Geheimnisse ist vor sechs Jahren von der<br />
neurobiologischen Forschung gelüftet worden. Kinder, die in den Intermediärräumen<br />
einer solchen Gruppe spielen, wo es also mehr um den Spielprozess als um das<br />
Ergebnis, den Sieg, geht, produzieren im Gehirn die Nervenwachstumsfaktoren<br />
(brain derived neurotropic factor), die eine notwendige biologische Voraussetzung für<br />
das erfolgreiche Lernen darstellen. Verkürzt: nur Kinder, die auf diese Weise spielen<br />
können, können auch erfolgreich lernen. Und dazu gehören auch<br />
Beziehungsfähikeit, Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit weitere Ressourcen für<br />
das Kohärenzgefühl zu finden.<br />
Und es gibt noch ein weiteres Geheimnis einer solchen Gruppe spielender Kinder.<br />
Eine solche Gruppe entfaltet nämlich eine Haltefunktion, die man sonst in der<br />
Psychologie einer liebevollen Mutter zuschreibt (holding function).<br />
Die Geborgenheit und das Wohlbefinden, das wir in der Gruppe empfinden, wenn wir<br />
mit anderen zusammen in dieser Weise spielen, hat auch sein neurobiologisches<br />
11<br />
11
Korrelat. Denn es wird im Gehirn vermehrt das hochwirksame Oxytocin<br />
ausgeschüttet. Und eben dieser Stoff wird auch bei Mutter und Kind ausgeschüttet,<br />
indem die Mutter liebevoll ihr Kind auf dem Arm trägt.<br />
Exkurs: Oxytocin...<br />
Das Oxytocin sorgt also dafür, dass wir uns in liebevollen und freundschaftlichen<br />
Beziehungen wohlfühlen, worüber eben diese Beziehungen stabilisiert werden.<br />
Diesen Kindern fällt dann der Schritt von der Autonomie zur verantworteten<br />
Autonomie, das heißt vom play zum fair play <strong>nicht</strong> schwer. Fairplay meint den<br />
anderen wahrnehmen, sich nach seinen Möglichkeiten entfalten lassen, ihn <strong>nicht</strong> zur<br />
Seite schubsen oder ausschalten müssen.<br />
Hierüber kann sich ein starkes Element entfalten, das die gegenwärtig immer mehr<br />
wuchernde Konkurrenzmentalität, die auch schon Kinder und Jugendliche erfasst,<br />
mildern könnte. Im Fairplay ist mein Gegenüber zwar mein spielerischer Gegner,<br />
mein Konkurrent, trotzdem verliere ich dessen - das sei etwas altmodisch<br />
ausgedrückt - Antlitzhaftigkeit <strong>nicht</strong> aus den Augen. Er bleibt trotz aller Rauferei mein<br />
Spielkamerad.<br />
Erinnert sei auch an die Spiele von Pippi Langstrumpf oder von Tom Sawyer,<br />
<strong>Huckleberry</strong> <strong>Finn</strong> und ihren Freunden. In diesen Spielen ging es oftmals wild zu, es<br />
gab Gehässigkeiten, Gemeinheiten, aber keiner <strong>wurde</strong> ausgeschaltet. Der<br />
freundschaftlich-tragende Zusammenhalt und die Geborgenheit durch die<br />
Haltefunktion der Gruppe <strong>wurde</strong>n <strong>nicht</strong> zerstört. Elemente wie wertschätzende<br />
Wahrnehmung, Zusammenhalt und Geborgenheit durch die Haltefunktion der<br />
Gruppe sind Grundlage des Kohärenzgefühles einer Gruppe.<br />
Ich darf in diesem Zusammenhang noch mal wiederholen:<br />
In dem Konzept zur Gesundheitsentstehung, dem Salutogenesekonzept von Aaron Antonovsky, ist<br />
das Kohärenzgefühl die entscheidende Grundlage von Gesundheit. Kohärenz kommt aus dem<br />
Lateinischen und bedeutet eben so viel wie Zusammenhang, Zusammenhalt, eine inneren und<br />
äußeren Halt haben. Sich innerlich und äußerlich getragen, gehalten und „stimmig“ fühlen und sich<br />
auch selber innerlich und äußerlich Halt verschaffen können.<br />
Gefragt wird in dem Salutogenesemodell – in Unterscheidung zum Pathogenese-Modell -<br />
nach dem, was gesund macht beziehungsweise gesund erhält<br />
12<br />
12
Schemata: Gesundheitsförderung als Synergie von Prävention und Salutogenese<br />
Exkurs: Ottawa-Konferenz der WHO 1986: das notwendige „Mehr“ in der<br />
Vorbeugung „lag in der Luft“. Das Buch „Huck <strong>Finn</strong>“ habe ich Ende der Achtziger konzipiert...<br />
13<br />
13
Wie ein solches Kohärenzgefühl, das sich in einer Gruppe entfaltet, schließlich<br />
„aussieht“, zeigt folgende Bilderserie: Es geht hier um eine bildnerische<br />
Gemeinschaftsproduktion in einem zweiten Schuljahr, in dem die Kinder auf einer<br />
1 x 1 Meter großen Leinwand jeweils eine Blume malen konnten. Keine Blume <strong>wurde</strong><br />
übermalt. Die Kinder entdeckten, dass ihre Blume zusammen mit den anderen<br />
jeweils viel schöner aussieht, als wenn sie alleine auf der Leinwand zu sehen<br />
gewesen wäre...<br />
Bild 18 und 19: Kinder mit Blumenbild<br />
Die Freude der Kinder über<br />
14<br />
das gelungene Werk, mit dem<br />
sie sich identifizierten, ist<br />
ohne Schwierigkeiten zu<br />
erkennen.<br />
Die Identität des Einzelnen geht<br />
in dieser<br />
Gemeinschaftsproduktion <strong>nicht</strong><br />
verloren, sondern ist sogar<br />
erhöht. Und jedes Kind wusste<br />
auch, wer welche Blume gemalt<br />
hat - die jeweils anderen<br />
<strong>wurde</strong>n also mit ihren<br />
Produktionen gleichfalls<br />
wahrgenommen.<br />
Bilder: 20 , 21 und 23 :<br />
14
Blumen-Gemeinschaftsbild und<br />
Entstehungsprozess: Entfaltung des<br />
Kohärenzgefühles im Kontext liebevoller<br />
wechselseitiger Wahrnehmung und Akzeptanz beim<br />
Gemeinschaftsbild. Keine Blüte wird zensiert, kein<br />
Schüler ausgelacht – jeder Mitspieler hat seinen<br />
Platz. Mehmet schaut liebevoll auf das Bild seiner<br />
Mitschülerin – nachdem er zuvor seinen „dicken<br />
Brummer“ in die Mitte des Bildes hatte platzieren<br />
können<br />
Das Kohärenzgefühl in der Gruppe kann wie über diese bildnerische<br />
Gemeinschaftsproduktionen auch über Projektarbeit in der Schule, oder anderenorts,<br />
gefördert werden, wie auf den folgenden Bildern unschwer zu erkennen ist. Diese hat<br />
mir Herr Hans-Martin Haist von der Stiftung Eigen-Sinn, Freudenstadt,<br />
freundlicherweise zur Verfügung gestellt.<br />
Bilder 24 - 29: Schöpferische Projekte für Jugendliche (Hans Martin Haist, Stiftung Eigen-Sinn)<br />
15<br />
15
Ich sagte eben bereits, dass die ersten Begegnungen zwischen Mutter und Kind sich<br />
in spielerisch-dialogischen Freiräumen abspielen, aus denen sich späterhin die<br />
Intermediärräume entwickeln.<br />
Kind und Bezugsperson stellen sich dabei in ihrer Körpermotorik und Lautbildung so<br />
aufeinander ein wie zwei, „die gemeinsam freudig tanzen“ oder im Duett singen.<br />
Diese aktivierende Kraft der spielerisch-dialogischen Begegnung erspüren wir jedoch<br />
<strong>nicht</strong> nur bereits schon in den ersten Tagen des menschlichen Lebens, sondern auch<br />
noch an dessen Ende: gehen wir in ein Altersheim, befreien wir die stumpfsinnig vor<br />
der Glotze hängenden Alten von diesem Medium, singen wir mit ihnen, tanzen wir<br />
mit ihnen – und wir staunen immer wieder neu, wie rege, fröhlich und Geistes-<br />
gegenwärtig diese Menschen sich auf einmal zeigen können.<br />
Über das Musizieren im Allgemeinen sowie über das Singen im Besonderen werden<br />
im Gehirn über die Ausschüttung von Neurotransmitter Prozesse aktiviert, die für das<br />
Lernen von größter Bedeutung sind.<br />
Im Frontalhirn wird das Dopamin ausgeschüttet, das sowohl für die gute Laune wie<br />
auch für die Konzentration und die Impulsregulierung zuständig ist, im zentralen<br />
Höhlengrau sind es die Endorphine, die für Angstfreiheit, Beruhigung und<br />
Schmerzmilderung sorgen.<br />
Und wegen der genannten Neurotransmitterausschüttung insbesondere beim Singen<br />
gibt es Wiegen- und Gutenachtlieder, haben wir gesummt und gepfiffen, wenn wir<br />
früher im Keller Angst hatten und deswegen haben die Menschen früher in Not <strong>nicht</strong><br />
nur gebetet, sondern auch gesungen.<br />
Aber stellen Sie sich vor:<br />
An einem sommerlichen Montagmorgen stehen Sie – <strong>nicht</strong> alkoholisiert – an einer<br />
Straßenbahnhaltestelle. Sie aktivieren Ihr körpereigenes Dopamin-<br />
Belohnungssystem, indem Sie nun aber <strong>nicht</strong> den MP3-Player einschalten, sondern<br />
selber laut und freudig singen: „Geh aus mein Herz ...“ Neben den diagnostischen<br />
16<br />
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Erwägungen seitens der Mitwartenden werden Sie vermutlich auch noch ein<br />
allgemeines Peinlichkeitsgefühl auslösen.<br />
Anders hingegen die Reaktion noch im Grundschulunterricht meiner Frau, in dem<br />
diese gerade eines neues Lied einübt. Die kleine Sonja meldet sich: „Das Lied kenne<br />
ich schon aus dem Kindergarten. Soll ich es mal vorsingen?“ „ Oh ja, gern!“. Die<br />
anderen Kinder hören aufmerksam und anerkennend zu. Keine hämische<br />
Bemerkung; niemand lacht.<br />
Das, was die kleine Sonja aus den Intermediärräumen des Kindergartens mitbringt,<br />
ist eine kostbare, für das Kohärenzgefühl hochbedeutsame, .aber leider immer<br />
seltener werdende salutogenetische Ressource.<br />
Jedes Kind ist zunächst mit seinen kreativ-kommunikativen Ausdrucksformen<br />
identifiziert. Werden sein Lied oder Bild, seine Erzählung oder turnerische Übung<br />
übersehen oder schlecht bewertet, fühlt sich auch das Kind übersehen und<br />
entwertet. Die Folge dessen: Das Kind hört auf sich schöpferisch zu entfalten, lässt<br />
den Superstar suchen, konsumiert statt weiterhin selber zu singen, malen oder zu<br />
erzählen...<br />
<strong>Warum</strong> bloß wird in unserer Gegenwart mit der kostbaren salutogenen Möglichkeit<br />
der prozessorientierten schöpferischen Entfaltung in Intermediärräumen so liederlich<br />
umgegangen? Eine Antwort lässt sich aus neueren Ergebnissen der Affektforschung<br />
sowie der beobachtenden Säuglingsforschung ableiten:<br />
Die ersten kreativ-kommunikativen Darstellungsweisen des Kindes sind dessen<br />
Lächeldialoge.<br />
Hierauf freuen sich die Eltern eines jeden Kindes, sofertn sie das Lächeln <strong>nicht</strong><br />
schon vorher verlernt oder selbst nie erfahren haben. „Bis zum Alter von sechs<br />
Monaten gibt es unter normalen Umständen bis zu dreißigtausend solcher<br />
Lächelbegegnungen (...). Es sind dies keine Affektansteckungen sondern echte<br />
Dialoge (...). Mit jeder der dreißigtausend Lächelbegegnungen wächst ein Stück<br />
17<br />
17
Wissen, dass das entstehende Selbst die Quelle der mütterlichen Freude ist. Das<br />
Kind weiß nun, dass es für die anderen ein Geschenk ist.“ 4<br />
Die Erfahrungen, über die schöperische Eigendarstellung in den Lächelbegegnungen<br />
als wertvolles Geschenk wahrgenommen zu werden, begründen ein frühes<br />
Kohärenzgefühl - oder auch, in einer anderen Begrifflichkeit, das Urvertrauen.<br />
Jede weitere schöpferische Aktivität in Intermediärräumen ist nun als Fortsetzung der<br />
Intention der Lächeldialoge zu verstehen! Nimm mich auch weiterhin als wertvolles<br />
Geschenk wahr, vergiss mich <strong>nicht</strong>! Das gilt für Kinder wie für Erwachsene.<br />
Hier liegen höchstbedeutsame salutogenetische Chancen des Spielens und des<br />
freien schöpferischen Gestaltens: Werden diese geachtet und <strong>nicht</strong> entwertet, so<br />
wird auch das Kind - und das innere Kind in jedem Erwachsenen - geachtet und in<br />
seinem Selbstwertgefühl gestärkt.<br />
Werden hingegen die den Lächeldialogen folgenden Eigendarstellungsweisen<br />
einschließlich des – <strong>nicht</strong> nur kindlichen – Bedürfnisses persönliche<br />
Erlebnisse einem aufmerksamen Zuhörer zu erzählen, <strong>nicht</strong> geachtet, dann<br />
überwiegen die Beschämungen. Und irgendwann wird aus den<br />
Beschämungen Selbstverachtung . Selbstverachtung hat aber ein Geheimnis:<br />
Sie ist rauschmittellöslich.<br />
„<strong>Warum</strong> trinkst du?“ fragte der kleine Prinz...<br />
„Weil ich mich schäme“, antwortete der Säufer...<br />
„Und warum schämst Du dich?“<br />
„Weil ich saufe“...<br />
Das erste Lächeln des Kindes erfolgt spontan im Schlaf und wird dann im wachen<br />
Dialog durch das antwortende Lächeln der Eltern verstärkt, was wiederum deren<br />
Lächeln und Freude fördert. Hier findet sich die Grundform eines positiven<br />
selbstverstärkenden Zirkels zur Lebensfreude. Solche selbstverstärkenden Zirkel zur<br />
Lebensfreude können späterhin überall da entstehen, wo ein Kind im Spiel<br />
schöpferisch etwas hervorbringt und darüber sich als Geschenk vermitteln möchte –<br />
z. B. mit seinem Bild. Entscheidend ist dann das annehmende Lächeln und: die<br />
aufmerksame Wahrnehmung des Bildes. Denn das Bild ist das Kind. Bald nachdem<br />
ein Kind einen Stift halten kann, entstehen „Urkreuz“ und „Urknäuel“. Stolz<br />
werden diese schöpferischen Produktionen von den Eltern im Freundes- und<br />
4 Krause, R. (2001): Affektpsychologische Überlegungen zur menschlichen Destruktivität. Psyche – Z<br />
Psychoanal, 55, 934-960.<br />
18<br />
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Verwandtenkreis herumgezeigt und mit Stecknadeln in der Küche und im<br />
Kinderzimmer an die Tapete geheftet. Die Großeltern bekommen die ersten<br />
Bilder zugeschickt.<br />
31: Urkreuz und Urknäuel<br />
Bilder 30 un d<br />
Alle diese spielerisch-schöpferischen Entfaltungen stehen in der Fortsetzung<br />
der Lächeldialoge und bedeuten: „Nimm mich wahr und nimm mich an!“ Und<br />
eben dieses liebevoll wertschätzende Wahrnehmen eines Geschenkes steht<br />
gegen die menschliche Urangst vergessen zu werden und damit zu erfrieren,<br />
zu verhungern und zu verdursten.<br />
Das Drama beginnt daher in dem Augenblick, in dem diese Eigendarstellungsweisen<br />
<strong>nicht</strong> mehr wie das Lächeln freudig angenommen sondern zurückgewiesen werden:<br />
die hochgezogene Augenbraue oder der gequälte Gesichtsausdruck bei falschen<br />
Tönen in der Liedmelodie, die Bemerkung, dass ein Tannenbaum doch <strong>nicht</strong> blau<br />
aussieht oder die fehlende Aufmerksamkeit für die Geschichte, die das Kind so<br />
brennend gern erzählen möchte.<br />
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Bild 32: Katze mit ganz vielen Beinen<br />
Schade, ja geradezu tragisch, wenn dann jemand Vorschriften macht und sagt:<br />
„Aber, eine Katze hat doch gar <strong>nicht</strong> so viele Beine...“ (Was bei diesem Bild aber <strong>nicht</strong><br />
geschah, der Schöpfer dieses Bildes <strong>wurde</strong> vielmehr in seiner Malfreude sehr bestärkt) Die Freude<br />
am prozessorientierten schöpferischen Gestalten wird ausgetrieben und via implizite<br />
soziale Vererbung an die nächste Generation weitergegeben. (Das hat auch etwas mit<br />
dem „Fluch von Pisa“ zu tun: Unterricht als schöpferischer Prozess ist in Vergessenheit geraten.)<br />
Bilder: 33 und 34: Präsentation der Hoffnung des Wahrgenommenwerdens über die Bilder<br />
„ Bitte, nimm mich auch weiterhin wahr!“ “Schau her! Ist es <strong>nicht</strong> schön…?!“<br />
Rekapitulation der intermediären salutogenetischen Pfade:<br />
1) reiche Innenwahrnehmung - kein andauerndes Angewiesensein auf kicks<br />
2) „Oxytocin statt Drogen“ „Moment of meeting“<br />
3) starkes Selbstwertgefühl (Geschenk) und und keine Entwertunge in der<br />
schöpferische Entfaltung als Fortsetzung der Lächeldialogsituation.<br />
Erfahrung von Sinnhaftigkeit!<br />
Diese Pfade können Kinder zusammen mit ihren Eltern / anderweitigen<br />
Bezugspersonen / Freunden am besten verfolgen, indem sie gemeinsam<br />
prozessorientiert spielen. Das heißt dann, dass <strong>nicht</strong> das Ergebnis des<br />
Spielens, das Produkt, der Sieg oder die Note entscheidend sind, sondern die<br />
Freude am Tun selbst.<br />
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Als kleine Orientierungshilfe hierfür haben wir zusammen mit dem Beltz-Verlag den Flyer „Nehmen Sie sich Zeit“<br />
entwickelt. Diesen Flyer können Sie über e.h.schiffer@t-online.de anfordern. Nach der Falldarstellung werde ich<br />
Ihnen mein Lieblingsbeispiel aus dem Flyer vorstellen.<br />
Falldarstellung:<br />
Wiebke war an einer Magersucht erkrankt. Wichtig war für sie, alles unter Kontrolle zu haben, sich <strong>nicht</strong> gehen zu<br />
lassen. „Mich werden Sie <strong>nicht</strong> zum Weinen kriegen“, verkündete sie gleich in unserem ersten Gespräch ziemlich<br />
energisch.<br />
Was denn ihre Fantasien und Tagträume seien und worauf sie sich denn freuen könne, war eine Frage von mir.<br />
Wiebke zögerte mit der Antwort, bis sie dann schließlich sagte: „In meinem Beruf erfolgreich sein“.<br />
Bereits als Kind hatte Wiebke Leistungsanforderungen und Konkurrenz kennengelernt: Unterricht im Spielen<br />
mehrerer Musikinstrumente, Ballett, Wettbewerbe. Ihre Spieltechnik ist dabei immer perfekter geworden.<br />
Gespielt als Homo ludens hat sie jedoch nie. Sie macht Karriere, vereinsamt aber immer mehr. Als Wiebke eines<br />
Tages an entscheidender Stelle der Erfolg versagt bleibt, bricht ihre Welt zusammen. Sie wirft ihre Instrumente in<br />
die Ecke, steigt aus ihrer Musikerin-Laufbahn aus - und erkrankt an einer Anorexie.<br />
Die Therapie gerät immer wieder ins Stocken. Dies <strong>nicht</strong> zuletzt deswegen, weil Wiebke alles unter Kontrolle<br />
haben muss und kaum etwas spontan sagen kann. Unser Gespräch hat eher den Charakter eines Frage- und<br />
Antwortspieles, wobei Wiebke ihre Antworten stets sehr sorgfältig einer inneren Zensur unterwirft, die die<br />
Entfaltung spontaner Gedanken und Phantasien verhindert.<br />
Das Ganze ändert sich erst, als wir anfangen, gemeinsam zu spielen:<br />
Wiebke schwärzt einen großen, grobfaserigen Papierbogen mit weicher Holzkohle, wobei sie sich ihre Hände<br />
schön schmuddelig macht. Dann geht es darum, dass wir - anfangs gemeinsam, später Wiebke allein - mit einem<br />
Radierstift die uns jeweils erkennbaren Strukturen auf dem Papier nachzeichnen. Dabei kommen gleich zu<br />
Beginn lustige Sachen heraus, über die wir gemeinsam lachen können. Zum Beispiel „Die Füße“, von denen<br />
Wiebke leise kichernd meint, es könnten die des Therapeuten sein.<br />
Bild 35: „Füße“<br />
Zwei folgende Produktionen werden dann für Wiebke, bzw. den weiteren Verlauf der Therapie sehr wichtig.<br />
Nämlich der „Teddybär“ und „Der abgestorbene Teil des Baumes im Feuersturm“. Diese Titel hatte Wiebke ihren<br />
Produktionen gegeben.<br />
Bild 36: Der abge storbene Baum<br />
Wiebkes Kommentar: Der abgestorbene Teil, der verbrennt, steht für die Anorexie, linksseitig grünt der Baum aber<br />
wieder durch…<br />
Wiebke konnte sich immer mehr auf ihre Fantasien zu den Bildern einlassen, ohne diese ständig vorher<br />
kontrollieren und zensieren zu müssen. Rückblickend lässt sich zu den Bildern sagen, dass diese eine erste Spur<br />
zu Wiebkes Hauptthema darstellten: nämlich Ihre Angst, nur geliebt zu werden, wenn sie Leistung zeigt und die<br />
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eigenen Interessen, Sehnsüchte und Bedürfnisse zurückstellt. Hieraus resultierte auch die Tendenz sich zu<br />
„verdünnisieren“.<br />
Wiebke geht es heute gut. Sie führt zwar immer noch ein anstrengendes berufliches Leben, aber sie kann heute<br />
auch spielen - allerdings <strong>nicht</strong> mit ihren Musikinstrumenten.<br />
In einer breit angelegten Untersuchung zum Therapieverlauf von weiblichen und männlichen<br />
Magersuchtpatienten aus dem Jahre 1989 von Deter et al 5 heißt es: „Testpsychologisch konnten ... folgende<br />
Beziehungen festgestellt werden: Je kränker die Patienten ... einzustufen sind, ... um so leistungsorientierter sind<br />
sie und umso mehr haben sie eine Abneigung gegen Spielereien. ( ... )<br />
Jetzt gesundete frühere Anorexie-Patienten zeigen eine intensive Vorliebe für Spiel und Technik im Vergleich zu<br />
den noch stärker Kranken“.<br />
Wie versprochen, stelle ich Ihnen nun als „Wahrnehmungshilfe“ noch mein<br />
Lieblingsbeispiel vor:<br />
Was entdecken Sie auf diesem<br />
Bild?<br />
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Bild 36: Gutenachtgeschichte und Therapie<br />
Richtig, es geht hier um das<br />
Zuhören bei der<br />
Gutenachtgeschichte und bei der<br />
Therapie.<br />
In beiden Situationen geht es um<br />
das Erzählen und Zuhören.<br />
Exkurs zum Erzählen und guten<br />
Zuhören: Ich höre gut zu, wenn<br />
ich zu dem, was ich höre, eigene<br />
innere Bilder entwickele...<br />
1) Da beide die gleiche<br />
Geschichte hören, entwickeln sie<br />
auch ähnliche eigene innere<br />
dann sind sie aufeinander eingestimmt und damit sich auch nahe.<br />
Bilder und auch dazugehörige<br />
ähnliche Stimmungen. Und wenn<br />
zwei ähnliche Stimmungen haben,<br />
2) In dieser Nähe und Übereinstimmung kann die Gelassenheit der Mutter/des<br />
Therapeuten auf das Kind/den Patienten abfärben. Gelassenheit meint nun <strong>nicht</strong><br />
Gleichgültigkeit, sondern einen „ausreichend großen inneren Topf“ für heftige<br />
Gefühle und Impulse, die darin <strong>nicht</strong> so schnell „überkochen“. Dann benötige ich<br />
späterhin auch <strong>nicht</strong> so schnell Zigaretten oder Alkohol, um mich zu beruhigen.<br />
5 H.C. Deter u.a. (1989): Langzeitwirkung der Psychotherapie von Anorexia nervosa, Z.f.<br />
Psychosomatische Med. und Psychoanalyse, 35. Jg.<br />
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4) Wenn wir innere Bilder beim Zuhören entwickeln, dann können unsere Gefühle<br />
über diese eigenen inneren Bilder „vom Gefühlsufer zum Sprachufer kommen“<br />
und dort verarbeitet werden. Gelangen diese Gefühle <strong>nicht</strong> vom Gefühlsufer zum<br />
Sprachufer, dann können sie uns „Löcher in den Magen brennen“ oder unseren<br />
Blutdruck „auf 180“ bringen. Alternativ dazu können die Gefühle durchbrechen,<br />
wenn wir sie gerade überhaupt <strong>nicht</strong> brauchen - z. B. wenn wir im Straßenverkehr<br />
gelassen bleiben sollten. Insbesondere dann, wenn wir, wie unsere hyperaktiven<br />
Kinder, uns vordrängeln, unbedingt jetzt überholen müssen.<br />
4) Die inneren Bilder, die sich beim guten Zuhören einstellten, ermöglichen aber<br />
noch einen weiteren wichtigen Schritt: Diese Bilder stellen sich dann <strong>nicht</strong> nur ein,<br />
wenn wir etwas vorgelesen bekommen, sondern auch, wenn wir selbst etwas lesen,<br />
so dass der Text - auch ohne Bilder - uns <strong>nicht</strong> mehr „zutextet“. Zugleich stellt sich<br />
implizit die gemütliche Stimmung von der Gutenachtgeschichte ein, wenn wir uns mit<br />
einem Buch zurückziehen.<br />
Wenn Sie also jemanden kennen, der gerne eine Gutenachtgeschichte hört, dann<br />
gehen Sie noch heute Abend zu ihm hin und erzählen Sie ihm eine. Sie tun auf diese<br />
Art und Weise auch etwas für Ihr eigenes Wohlbefinden, denn auch Sie bringen über<br />
ihre inneren Bilder Ihre Gefühle vom Gefühlsufer zum Sprachufer. Wie gut das tut,<br />
das wussten noch unsere Großeltern, indem sie sich im Winter vor das Herdfeuer<br />
setzten, sangen und Geschichten erzählten.<br />
Und ich danke Ihnen, dass Sie meiner Gutenachtgeschichte am Vormittag so<br />
aufmerksam zugehört haben.<br />
Literaturverzeichnis<br />
Dornes, Martin (1993): Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen. Fischer, Frankfurt/Main.<br />
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Huizinga, Johan (1956): Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. jRowohlt, Reinbek.<br />
Lindgren, Astrid (1977): Das entschwundene Land. Oettinger, Hamburg.<br />
Krause, Rainer (2001): Affektpsychologische Überlegungen zur menschlichen Destruktivität.<br />
Psyche – Z Psychoanal (2001), S. 941.<br />
Milch, Wolfgang (2000): Kleinkindforschung und psychosomatische Störungen. Psychotherapeut, S. 19.<br />
Schiffer,Eckhard (1993/2010): <strong>Warum</strong> <strong>Huckleberry</strong> <strong>Finn</strong> <strong>nicht</strong> <strong>süchtig</strong> <strong>wurde</strong>. Anstiftung gegen Sucht und Selbstzerstörung bei<br />
Kindern und Jugendlichen. 10. Auflage, Weinheim und Basel: Beltz.<br />
Schiffer, Eckhard (1997): Der kleine Prinz in Las Vegas. Spielerische Intelligenz gegen Krankheit und Resignation. Beltz,<br />
Quadriga, Weinheim und Berlin.<br />
Schiffer, E. (2001): Wie Gesundheit entsteht. Salutogenese: Schatzsuche statt Fehlerfahndung. Weinheim und Basel:<br />
Beltz.<br />
Schiffer, E. (2002): Nachdenken über Zappelphilipp – ADS: Beweg-Gründe und Hilfen. Weinheim und Basel: Beltz.<br />
Schiffer, E.&Schiffer, H.(2004): LernGesundheit. Lebensfreude und Lernfreude in der Schule und anderswo. Weinheim und<br />
Basel: Beltz.<br />
Schiffer, E.(2008): <strong>Warum</strong> Tausendfüßler keine Vorschriften brauchen. Intuition. Wege aus einer normierten<br />
Lebenswelt. Weinheim und Basel: Beltz<br />
Winnicott, D.W. (1979): Vom Spiel zur Kreativität. Klett-Cotta, Stuttgart.<br />
Winnicott, D.W. (1984): Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Fischer, Frankfurt/Main.<br />
Zulliger, Hans (1979): Heilende Kräfte im kindlichen Spiel. Fischer, Frankfurt/M.<br />
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