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Claire Inkognito

Claire musste aufpassen. Beim Klavierspielen hätte sie sich beinahe verplappert. Eine Studentin, deren Eltern auch hier leben und die sowieso zum Klavierspielen nach Hause geht, braucht die ein eigenes Appartement? Wegen der Selbständigkeit hatte sie erklärt. „Wer ist denn eigentlich Claire Melloh?“ wollte Matthis wissen, als Claire mit dem Kaffee kam. „Wieso?“ Claire erstaunt. „Entschuldigung, ich habe bei dir auf den Schreibtisch geschaut, und da stand zweimal auf einer Adresse 'Claire Melloh bei Schubert'“ erläuterte Matthis. „Na, die wohnt auch hier.“ reagierte Claire in einem Tonfall, als ob es sich um die unbedeutendste Selbstverständlichkeit der Welt handele. „Mit zwei Claires wohnt ihr zusammen?“ wollte es Matthis doch genauer wissen. „Na ja, Claire ist eben heute bei uns ein genauso üblicher Vorname wie früher in Frankreich.“ Claire dazu in gewohnter Schnoddrigkeit. „Und wo hat sie ihr Zimmer?“ wurde es für Matthis langsam spannend. „Die ist nur ganz selten hier. Du hast sie ja auch noch nie gesehen. Die schläft auch ausschließlich zu Hause.“ begründete es Claire, aber ihre Mimik verformte sich schon zu einem Grinsen. So einen Unfug konnte sie Matthis nicht erzählen. Was sollte sie tun?

Claire musste aufpassen. Beim Klavierspielen hätte sie sich
beinahe verplappert. Eine Studentin, deren Eltern auch hier leben
und die sowieso zum Klavierspielen nach Hause geht, braucht
die ein eigenes Appartement? Wegen der Selbständigkeit hatte
sie erklärt. „Wer ist denn eigentlich Claire Melloh?“ wollte Matthis
wissen, als Claire mit dem Kaffee kam. „Wieso?“ Claire erstaunt.
„Entschuldigung, ich habe bei dir auf den Schreibtisch geschaut,
und da stand zweimal auf einer Adresse 'Claire Melloh bei
Schubert'“ erläuterte Matthis. „Na, die wohnt auch hier.“
reagierte Claire in einem Tonfall, als ob es sich um die
unbedeutendste Selbstverständlichkeit der Welt handele.
„Mit zwei Claires wohnt ihr zusammen?“ wollte es Matthis doch
genauer wissen. „Na ja, Claire ist eben heute bei uns ein genauso
üblicher Vorname wie früher in Frankreich.“ Claire dazu
in gewohnter Schnoddrigkeit. „Und wo hat sie ihr Zimmer?“
wurde es für Matthis langsam spannend. „Die ist nur ganz selten
hier. Du hast sie ja auch noch nie gesehen. Die schläft auch
ausschließlich zu Hause.“ begründete es Claire, aber ihre Mimik
verformte sich schon zu einem Grinsen. So einen Unfug
konnte sie Matthis nicht erzählen. Was sollte sie tun?

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Elvi Mad<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong><br />

Matthis und l'amour fou<br />

Erzählung<br />

Un amour impossible. Qui devient possible.<br />

C'est tout un monde qui s'écroule. François Brunet<br />

<strong>Claire</strong> musste aufpassen. Beim Klavierspielen hätte sie sich<br />

beinahe verplappert. Eine Studentin, deren Eltern auch hier leben<br />

und die sowieso zum Klavierspielen nach Hause geht, braucht<br />

die ein eigenes Appartement? Wegen der Selbständigkeit hatte<br />

sie erklärt. „Wer ist denn eigentlich <strong>Claire</strong> Melloh?“ wollte Matthis<br />

wissen, als <strong>Claire</strong> mit dem Kaffee kam. „Wieso?“ <strong>Claire</strong> erstaunt.<br />

„Entschuldigung, ich habe bei dir auf den Schreibtisch geschaut,<br />

und da stand zweimal auf einer Adresse '<strong>Claire</strong> Melloh bei<br />

Schubert'“ erläuterte Matthis. „Na, die wohnt auch hier.“<br />

reagierte <strong>Claire</strong> in einem Tonfall, als ob es sich um die<br />

unbedeutendste Selbstverständlichkeit der Welt handele.<br />

„Mit zwei <strong>Claire</strong>s wohnt ihr zusammen?“ wollte es Matthis doch<br />

genauer wissen. „Na ja, <strong>Claire</strong> ist eben heute bei uns ein genauso<br />

üblicher Vorname wie früher in Frankreich.“ <strong>Claire</strong> dazu<br />

in gewohnter Schnoddrigkeit. „Und wo hat sie ihr Zimmer?“<br />

wurde es für Matthis langsam spannend. „Die ist nur ganz selten<br />

hier. Du hast sie ja auch noch nie gesehen. Die schläft auch<br />

ausschließlich zu Hause.“ begründete es <strong>Claire</strong>, aber ihre Mimik<br />

verformte sich schon zu einem Grinsen. So einen Unfug<br />

konnte sie Matthis nicht erzählen. Was sollte sie tun?<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 1 von 29


Clair <strong>Inkognito</strong> Inhalt<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong>..............................................................................3<br />

Eva................................................................................................. 3<br />

Das unsichtbare Klavier..................................................................3<br />

Evas Maske..................................................................................... 4<br />

Typisch die Melloh.......................................................................... 4<br />

Künstlername................................................................................. 6<br />

Wer ist <strong>Claire</strong> Melloh?..................................................................... 7<br />

<strong>Claire</strong>s Locken................................................................................ 9<br />

Matti, Fremder oder Vertrauter?...................................................10<br />

Liebe ist Liebe..............................................................................11<br />

Matthis der Realist........................................................................12<br />

Verhängnisvolle Erklärung............................................................12<br />

Das Referat...................................................................................13<br />

L'amour fou.................................................................................. 13<br />

Clara Wieck...................................................................................15<br />

Ricco und Hellen........................................................................... 17<br />

Leben wie alle anderen.................................................................18<br />

Das bin ich.................................................................................... 18<br />

Vielleicht nur eine Illusion............................................................20<br />

Es ist vorbei.................................................................................. 21<br />

Einladung für Matthis...................................................................22<br />

Ohne dich will ich auch nicht........................................................ 23<br />

Geburtstagsfeier...........................................................................24<br />

Unerwartetes am Baggersee........................................................25<br />

Libido streicheln........................................................................... 26<br />

<strong>Claire</strong> Schubert muss sterben....................................................... 27<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 2 von 29


<strong>Claire</strong> Inkgnito<br />

Eva<br />

Klein und still war sie. Als bedrückt oder verschüchtert sah man sie nicht. Ihre<br />

Gesichtszüge wirkten eher, als ob sie für sich immer leicht innerlich schmunzelte.<br />

Sie sonderte sich auch nicht ab, stand immer dabei, wenn die anderen etwas<br />

besprachen, nur sagte sie eben nichts. Niemand hätte etwas gegen Eva<br />

gehabt, bloß übersahen die anderen sie immer, sie wurde fast nicht wahrgenommen.<br />

In der Schule war sie nicht schlecht. Ihre Arbeiten gehörten stets zu<br />

den besten, und ihre Antworten auf die Fragen der Lehrerin waren immer korrekt.<br />

Nur wurde sie nie von sich aus aktiv, ergriff nie die Initiative. Eva lud man<br />

auch nicht zum Spielen nach Hause. Ausdrücklich benannte es niemand oder<br />

konnte es gar nicht benennen, aber intuitiv sah jeder einen Nachmittag mit<br />

Eva. Sie würde nichts tun und sagen, säße oder stünde nur herum. Langeweile<br />

sah man mit Eva auf sich zukommen. <strong>Claire</strong>, eine Mitschülerin, erzählte Eva,<br />

was sie gerade im Klavierunterricht gelernt hätte. „Eva, das ist so klasse, ich<br />

mag es so gern. Ich brauche keine Noten mehr, mache die Augen zu, und meine<br />

Finger finden automatisch die richtigen Tasten. Ist das nicht geil?“ erklärte<br />

sie. Jetzt veränderte sich Evas Mimik, sie lachte. „Du musst das hören. Ich<br />

kann dir das mal zeigen. Komm doch mal zu mir.“ forderte <strong>Claire</strong> sie auf. Das<br />

Lachen war verschwunden und Evas Gesicht zeigte, dass sie überlegte. „Unser<br />

Fahrer kann dich abholen.“ schlug <strong>Claire</strong> vor, „Oder du kommst einfach von der<br />

Schule aus mit zu mir, dann ist er ja sowieso da.“ „Nein, nein, meine Mami<br />

bringt mich wohl.“ lehnte Eva ab. „Wann soll ich denn kommen?“ „Ganz egal,<br />

nur Donnerstag von drei bis vier da geht’s nicht. Dann ist Ricco da.“ meinte<br />

<strong>Claire</strong>.<br />

Das unsichtbare Klavier<br />

<strong>Claire</strong> hatte am Fenster auf den Wagen von Evas Mutter gewartet. Sie stürmte<br />

raus, um Eva am Tor zu empfangen. Besuch von Mitschülerinnen bekam <strong>Claire</strong><br />

sonst auch nicht, aber nicht, weil sie vermuteten sich mit <strong>Claire</strong> zu langweilen,<br />

sondern wegen ihrer Eltern. Im dritten Schuljahr umarmt man sich nicht zur<br />

Begrüßung, da gibt man sich einen Boxhieb oder schneidet Grimassen, die die<br />

Freude über das Treffen zum Ausdruck bringen. So auch <strong>Claire</strong> und Eva.<br />

„Boah!“ entfuhr es Eva als sie in das große Entree kamen. „Hier kann man ja<br />

fangen spielen.“ begutachte sie es. „Dann tu's doch, lauf doch, ich fang dich.“<br />

meinte <strong>Claire</strong> lachend. Eva lachte nicht, aber rannte los, rannte überall hin,<br />

schlug Haken, rannte die Treppe rauf und an der anderen Seite wieder runter.<br />

Beim Laufen hatte sie auch angefangen zu lachen, konnte vor Lachen nicht<br />

mehr laufen und ließ sich auf den Boden fallen. <strong>Claire</strong> stürzte sich auf sie, und<br />

kitzelte die sich vor Lachen windende Eva noch weiter. Sie gingen in <strong>Claire</strong>s<br />

Zimmer. „Und wo ist das Klavier?“ wollte Eva wissen. „Wenn ich es nicht brauche,<br />

stelle ich es immer in den Schrank, weißt du?“ erklärte <strong>Claire</strong> cool. „Aber<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 3 von 29


jetzt gebrauchen wir es doch. Du wolltest mir ja etwas vorspielen. Hol' es sofort<br />

raus.“ forderte Eva sie mit bibberndem Zwerchfell auf. <strong>Claire</strong> öffnete die<br />

Schranktür, machte eine Körperbewegung, als ob sie etwas herauszöge und<br />

schloss den Schrank wieder. „Hier ist es.“ sagte <strong>Claire</strong>, „Es ist unsichtbar,<br />

davon gibt es ja 'ne ganze Menge. Nymphen und Elfen sieh'ste ja auch nicht.“<br />

und versuchte sich überlegen ernst zu geben. „Ich sehe es aber.“ piepste Eva.<br />

Damit hatte <strong>Claire</strong> nicht gerechnet, jetzt bereitete sie sich für das Weitere zum<br />

Lachen vor. „Ich bin nämlich eine Fee. Meine Mutter wird es wohl wissen, und<br />

Feen können das Unsichtbare auch sehen.“ lautete Evas Erläuterung. Die<br />

beiden starrten sich an, und ohne ein Wort ließen sie sich lachend zum Kitzeln<br />

und Balgen auf <strong>Claire</strong>s Bett fallen. „Jetzt will ich es aber wirklich hören, <strong>Claire</strong>.“<br />

forderte die in einer Kampfpause halb aufgerichtete Eva. Im Salon stand der<br />

Flügel. Eva staunte zwar, aber jetzt still. <strong>Claire</strong> schloss die Augen und spielte.<br />

Eva ließ sich in die Klänge fallen und war betört. Noch ganz eingenommen, mit<br />

lachenden Augen und breiten Lippen berührte sie <strong>Claire</strong>s Wange vorsichtig mit<br />

ihren Fingerspitzen, und dann bekam <strong>Claire</strong> ein Küsschen. „Kannst du noch<br />

mehr spielen?“ fragte Eva. „Natürlich.“ reagierte <strong>Claire</strong> nur, und sie musste<br />

immer weiter spielen, fast alles, was sie in den drei Jahren gelernt hatte. Eva<br />

sah sich im Wunderland, sie staunte und war begeistert. „So etwas würde ich<br />

auch gerne können, aber ein Klavier und Musikunterricht das können meine<br />

Eltern nicht bezahlen.“ erklärte Eva. Sie erzählte von sich zu Hause und ihren<br />

Eltern, ebenso <strong>Claire</strong> und sie sprachen bestimmt so lange, wie <strong>Claire</strong> gespielt<br />

hatte, redeten heftig und intensiv. So hatte gewiss noch nie jemand Eva erlebt.<br />

<strong>Claire</strong> gegenüber zeigte sie sich, ließ erkennen, wer sie wirklich war, sonst<br />

spürte sie das Bedürfnis, sich zu verbergen hinter der Maske ihres unauffällig,<br />

schweigsamen Verhaltens. Warum? Dazu hatte sie <strong>Claire</strong> nichts erzählt, und<br />

<strong>Claire</strong> war es auch hinterher erst richtig bewusst geworden, dass die Eva heute<br />

Nachmittag mit der aus der Schule nicht viel gemeinsam gehabt hatte.<br />

Evas Maske<br />

Ob sie mal etwas Schlimmes erlebt hatte? <strong>Claire</strong> ließ es nicht in Ruhe, sie<br />

musste Eva fragen: „Eva, als du bei mir warst, bist du ganz anders gewesen<br />

als jetzt und sonst immer in der Schule. Wie kam das eigentlich?“ Eva hob die<br />

Schultern, und die Form ihrer Lippen sagte auch, dass sie es nicht wisse. „War<br />

schon immer so. Schlimm?“ fragte sie zurück. „Nein, schön war das, war doch<br />

klasse, dir hat's doch auch Spaß gemacht?“ reagierte <strong>Claire</strong>. Eva nickte und<br />

fügte erläuternd hinzu: „Meine Omi sagt, andere zeigten sich wie der Kaiser in<br />

seinen neuen Kleidern ganz nackt und würden verspottet, ich liefe wie ein Ritter<br />

in seinem Panzer herum, und keiner könne erkennen, wer wirklich darin<br />

stecke.“. „Ich hab's aber gesehen, Frau Ritterin.“ verkündete <strong>Claire</strong> stolz, während<br />

beide lachten. „Ja, wird schon so sein, dass ich's bei dir gespürt habe:<br />

„<strong>Claire</strong> ist in Ordnung, der kannst du vertrauen.“ Es fühlt sich einfach anders<br />

an bei dir. Das war aber schon vorher in der Schule so, sonst wäre ich nicht zu<br />

dir gekommen.“ erläuterte Eva.<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 4 von 29


Typisch die Melloh<br />

Einen Panzer, eine Maske, die ihre wirkliche Identität verbarg, das meinte<br />

<strong>Claire</strong> für sich auch dringend zu benötigen. Damals in der Schule hätte sie so<br />

etwas schon gebraucht. Sie hatte sich gewehrt, nach der vierten Klasse nicht<br />

ins Internat gewollt, wie ihre Eltern es dringend wünschten. Laut schreiend<br />

hatte sie sich mit ihrer Mutter gezankt. Sie würde das Kind, das in ihrem eigenen<br />

Bauch gewachsen sei, einfach abgeben an fremde Leute in den Schweizer<br />

Bergen. Andere Mütter liebten ihr Kinder, wovon <strong>Claire</strong> bei ihrer sonst auch gewiss<br />

überzeugt war, sie wollten sie am liebsten ständig um sich haben, aber sie<br />

könne ihre Tochter, deren Zuhause genauso gut hier sei, wie ihr eigenes, anscheinend<br />

gar nicht weit genug fortschicken. <strong>Claire</strong> wollte hier bleiben, in ihrer<br />

Welt, und hatte panische Angst dort herausgerissen zu werden. Sie würde als<br />

Selbstmordattentäterin das ganze Internat mit allen Schülerinnen und Lehrern<br />

in die Luft sprengen, hatte sie gedroht. Wenn die Sprache auf die Vorzüge der<br />

Erziehung in Internaten zu kommen schien, bekam <strong>Claire</strong> regelmäßig Tobsuchtsanfälle.<br />

Auch den Therapeuten, zu dem ihre Mutter mit <strong>Claire</strong> gegangen<br />

war, konnte sie dazu bringen, ihren Eltern zu raten, es doch lieber hier zu versuchen.<br />

Er gab ihrer Mutter noch Erklärungen und Ratschläge, von denen der<br />

wichtigste war, dass sie ein anderes Kindermädchen gebrauche. Frau Günther<br />

möge zwar eine sehr erfahre Pädagogin sein, aber eine junge Frau finde sicher<br />

eher Zugang zu <strong>Claire</strong>. Dass sie sich in so frühen Jahren gegen den festen Entschluss<br />

ihrer Eltern durchgesetzt hatte, war ein Exempel für's ganze Leben in<br />

allen späteren Meinungsverschiedenheiten zwischen ihr und den Eltern. Das<br />

hatte <strong>Claire</strong> aber gar nicht beabsichtigt. <strong>Claire</strong> wollte ein Mädchen sein wie die<br />

anderen auch, wollte hier zu Hause zur Schule gehen, wollte mit ihren Freundinnen,<br />

die auch hier bei ihren Eltern wohnten, spielen und leben, wollte dazu<br />

gehören. In der Grundschule war es <strong>Claire</strong> noch nicht besonders aufgefallen,<br />

aber auf dem Gymnasium wurde es zunehmend schwerer, wie alle anderen zu<br />

leben. Sie war eben nicht eine von denen, die wie alle anderen sind. Dass sie<br />

immer von ihrem Fahrer zur Schule gebracht und wieder abgeholt würde, hatte<br />

ihre Mutter mit den schlimmen Wölfen erklärt, die heute nicht mehr im Wald,<br />

sondern auf den Straßen lebten, kleine Mädchen fingen, sie zu Tode quälten,<br />

und die Leichen dann verscharrten oder in einen tiefen See werfen würden.<br />

Jetzt begann sich <strong>Claire</strong> zu fragen. Natürlich wurden auch andere mehr oder<br />

weniger häufig von den Eltern abgeholt, aber die meisten standen den Wölfen<br />

immer frei zur Verfügung. Wahrscheinlich wussten ihre Eltern, dass die Wölfe<br />

<strong>Claire</strong> nicht zu Tode quälen, sondern von ihnen sehr viel Geld fordern würden,<br />

damit sie ihre Tochter zurück bekämen. Es war doch nichts Auffälliges an ihr.<br />

Sie war doch genauso ein Mädchen wie Janine, Anne und Lena, sie konnte sich<br />

auch mit ihnen ganz normal unterhalten, aber für nähere Beziehungen schien<br />

eine Wand zu existieren. Im Unterricht war es nicht anders. Wenn ihre Hausarbeit<br />

oder ihr Beitrag gelobt wurde, sah sie missmutige Gesichter unter den Mitschülern.<br />

„Natürlich, typisch die Melloh.“ schienen sie zu sagen. Die Lehrer lobten<br />

sie anscheinend, so meinte man, um ihren Eltern zu gefallen. Nur in Kunst,<br />

Musik und Sport war es anders. Beim Basketball geht’s nur darum, dass der<br />

Ball in den Korb kommt, da hat das Geld deiner Eltern kein Mitwirkungsrecht,<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 5 von 29


aber sonst schien es ständig in den Köpfen der Mitschülerinnen und Mitschüler<br />

sowie ihrer Eltern präsent. Es gab doch auch andere, deren Eltern sicher nicht<br />

minderbemittelt waren. Die Eltern von Thomas zum Beispiel galten doch auch<br />

als sehr reich, aber zu dem Vermögen ihrer Eltern schien wohl eine riesige<br />

Lücke zu klaffen, die sie in eine andere Liga katapultierte. <strong>Claire</strong> hatte ihre<br />

Eltern mal nach ihrem Besitz gefragt. Ihr Vater hatte drumherum geredet und<br />

wusste es angeblich selber nicht, auf der Liste der Reichsten von Bill Gates und<br />

Aldi waren sie allerdings nicht vertreten. Wozu auch, wenn <strong>Claire</strong> es gewusst<br />

hätte, was hatte das mit ihr zu tun? Aber der Reichtum ihrer Eltern bestimmte,<br />

wer sie in den Augen der anderen war. Eva war und blieb die einzige, die <strong>Claire</strong><br />

selber sah und die sich <strong>Claire</strong> auch selber zeigte. Nur einen anderen Namen<br />

hätte sie haben müssen, und sie wäre für ihre Mitschülerinnen und Mitschüler<br />

ein anderer Mensch gewesen.<br />

Künstlername<br />

Den hatte sie sich zu Studienbeginn direkt zugelegt. Sie konnte zwar nicht ihren<br />

Namen ändern, worum es ihr im Prinzip auch nicht ging, sie wollte nur wie<br />

bei Künstlern selbstverständlich unter einem anderen Namen auftreten. Offiziell<br />

registrieren lassen hatte sie es sogar. Sie sei Pianistin und trete auch als Illusionistin<br />

auf, war ihr zur Begründung eingefallen. Bei einer Psychologiestudentin<br />

nicht fernliegend. Was wollte sie denn später als Psychologin machen,<br />

hatten ihre Eltern sich qualvoll gefragt, aber außer einem Hinweis keine weiteren<br />

Versuche unternommen, sie zum Studium der Wirtschaftswissenschaften<br />

oder wenigstens doch Jura zu bewegen. Jetzt hatte sie in einem Seminar zum<br />

'Selbstbild und Fremdbild' ein Referat übernommen, ein Referat zum Identitätsbegriff.<br />

Es sollte aus zwei Teilen bestehen, ein Teil würde den theoretischen,<br />

historischen Bereich behandeln, während der andere sich mit der aktuellen<br />

Situation in der psychologischen Diskussion und Praxis befassen sollte.<br />

Zwei Studenten sollten es gemeinsam machen. Ein junger Mann hatte sich<br />

noch gemeldet, und die beiden sprachen nach dem Seminar kurz miteinander.<br />

„Möchten sie, dass wir uns hier treffen, oder wäre es ihnen in einem Café lieber?“<br />

fragte der junge Mann. <strong>Claire</strong> überlegte. „Beides nicht. Sie kommen zu<br />

mir, da können wir soviel Kaffee trinken wie wir wollen, wir können bei Bedarf<br />

den Computer benutzen, und Kuchen besorge ich wohl.“ war <strong>Claire</strong>s Ansicht.<br />

Also Mittwoch, 15:30 Uhr bei Schubert wollte man sich treffen. „Haben sie sich<br />

schon mal mit dem Identitätsbegriff befasst?“ erkundigte sich der junge Mann<br />

bei <strong>Claire</strong>. Die zog eine abwägende Schnute und meinte dann lapidar: „Hat<br />

doch jeder schon mal, oder? Irgendwann will doch jeder wissen, wer er eigentlich<br />

ist.“ Die Augen des jungen Mannes signalisierten Einverständnis. „Haben<br />

sie sich denn auch schon mal gefragt, woran es in ihrer Identität liegt, dass sie<br />

ein Bedürfnis zu haben scheinen, Kommilitoninnen mit 'sie' anzureden?“ fragte<br />

<strong>Claire</strong> und lauerte mit schelmischem Gesicht auf die Antwort. Der junge Mann<br />

war offensichtlich erschrocken. „Nie tue ich das. Ich heiße Matthis, Matthis Ferra.<br />

Spreche dich ständig mit sie an, und mir selbst fällt es noch nicht einmal<br />

auf. Warum ich mich so verhalten habe, weiß ich vielleicht zum Ende des Studiums,<br />

wenn ich mein Unbewusstes entschlüsseln kann.“ meinte Matthis Ferra.<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 6 von 29


Ein wenig mehr hätte er allerdings auch jetzt schon sagen können. <strong>Claire</strong> war<br />

ihm einfach wie eine Frau erschienen, zu der man nicht 'du' sagt. Ihre Größe,<br />

die mehr als schulterlangen üppig gestylten Locken, dazu ihr recht erwachsen<br />

wirkender Gesichtsausdruck, hoben sie vom Durchschnitt der Studentinnen ab.<br />

Ihr Aussehen vermittelte etwas leicht Glamouröses. So hatte Matthis sie wahrgenommen,<br />

und solche Frauen duzt man automatisch nicht. „<strong>Claire</strong>, heiße ich,<br />

und Schubert, das weißt'e ja.“ sagte die immer noch schmunzelnde <strong>Claire</strong>. „Ich<br />

würde lieber den zweiten Part übernehmen, wenn du einverstanden wärest.<br />

Das liegt mir näher.“ meinte <strong>Claire</strong> zum Referat. Matthis sinnierte kurz und erklärte:<br />

„Theorie und Geschichte mache ich, glaube ich, auch lieber. Dann hätten<br />

wir das ja schon geklärt.“ „Ich denke, Mead und Erikson gehören noch zur<br />

Geschichte. Damit sollte dein Referat enden. Über die beiden aber ausführlich,<br />

dann sind wir beim Übergang zu meinem Teil, während du die wissenschaftstheoretischen<br />

und linguistischen Aspekte nur kurz der Vollständigkeit halber erwähnen<br />

solltest.“ schlug <strong>Claire</strong> vor. „Sollen wir nicht mal jeder eine grobe<br />

Struktur entwerfen und die dann noch mal besprechen?“ lautete Matthis Vorschlag.<br />

„Na klar, wie lange brauchst du denn?“ stimmte <strong>Claire</strong> zu. Nächste Woche,<br />

gleicher Termin, gleicher Ort, wollte man sich wieder treffen. „Matthis, das<br />

ist aber kein schöner Name, oder find'st du den gut?“ eröffnete <strong>Claire</strong> plötzlich<br />

dem überraschten Matthis. Der lachte laut. „Solange ich mich kenne, heiße ich<br />

schon so. Ich oder auch andere, die ich kenne, hatten nie etwas dagegen. Aber<br />

du meinst, ich sollte mir lieber einen anderen Namen zulegen?“ fragte Matthis.<br />

„Nein, in Ordnung ist er ja schon, nur wie er klingt, welche Assoziationen er<br />

hervorruft. Man könnte ja Matthis den Maler sehen, nur daran denke ich nicht.<br />

Matthis ist für mich ein schlichter Mensch, der abhängig arbeitet und sich nicht<br />

viel Gedanken macht. Eher das Gegenteil von Matthis dem Maler, aber wie ich<br />

zu dem Bild komme, weiß ich nicht. Hast du denn keinen zweiten Namen, haben<br />

doch die meisten.“ erläuterte <strong>Claire</strong> ihre Sicht. „Ein schlichter abhängiger<br />

Arbeiter hat so etwas nicht, der kann sich nur einen leisten.“ antwortete Matthis<br />

scherzhaft. „Matti hört sich doch gut an. So werde ich dich nennen.“ legte<br />

<strong>Claire</strong> fest, stoppte aber und sinnierte. „Ich bin aber nicht Puntilas Tochter, damit<br />

das klar ist.“ musste sie noch anfügen. „Die hieß doch auch Eva, nicht<br />

wahr? <strong>Claire</strong>, finde ich, ist ein schöner Name. Was will man da auch sonst sagen?<br />

Klärchen oder Clara etwa?“ überlegte Matthis. „Nein, Clara nicht, das ist<br />

verboten. So heißt meine Freundin, Liebste, Mutter, Madonna, meine Göttin<br />

eben.“ reagierte <strong>Claire</strong>. Die Augen des stumm lachenden Matthis zeigten, dass<br />

er eine Erläuterung erwartete. Die bekam er aber nicht.<br />

Wer ist <strong>Claire</strong> Melloh?<br />

In der Woche darauf traf man sich wieder, und fand einen Grund, weshalb man<br />

sich auch in der nächsten Woche wieder treffen müsse. Das erste Treffen hätte<br />

ja ausgereicht. Die beiden wussten was sie zu tun hatten, aber jetzt besprachen<br />

sie jeden Schritt in der Entwicklung ihrer Referate. Sie verfassten nicht<br />

jeder einen Teil, sondern gemeinsam zwei Teile, wobei der eine jeweils als Lektor<br />

und Korrektor des anderen fungierte. Natürlich unterhielten sie sich auch<br />

über anderes, Privates, über Biographisches. <strong>Claire</strong> musste aufpassen. Beim<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 7 von 29


Klavierspielen hätte sie sich beinahe verplappert. Eine Studentin, deren Eltern<br />

auch hier leben und die sowieso zum Klavierspielen nach Hause geht, braucht<br />

die ein eigenes Appartement? Wegen der Selbständigkeit hatte sie erklärt.<br />

„Wer ist denn eigentlich <strong>Claire</strong> Melloh?“ wollte Matthis wissen, als <strong>Claire</strong> mit<br />

dem Kaffee kam. „Wieso?“ <strong>Claire</strong> erstaunt. „Entschuldigung, ich habe bei dir<br />

auf den Schreibtisch geschaut, und da stand zweimal auf einer Adresse '<strong>Claire</strong><br />

Melloh bei Schubert'“ erläuterte Matthis. „Na, die wohnt auch hier.“ reagierte<br />

<strong>Claire</strong> in einem Tonfall, als ob es sich um die unbedeutendste<br />

Selbstverständlichkeit der Welt handele. „Mit zwei <strong>Claire</strong>s wohnt ihr<br />

zusammen?“ wollte es Matthis doch genauer wissen, obwohl er viel mehr aus<br />

anderen Gründen zweifelte. „Na ja, <strong>Claire</strong> ist eben heute bei uns ein genauso<br />

üblicher Vorname wie früher in Frankreich.“ <strong>Claire</strong> dazu in gewohnter<br />

Schnoddrigkeit. „Und wo hat sie ihr Zimmer?“ wurde es für Matthis langsam<br />

spannend. „Die ist nur ganz selten hier. Du hast sie ja auch noch nie gesehen.<br />

Die schläft auch ausschließlich zu Hause.“ begründete es <strong>Claire</strong>, aber ihre<br />

Mimik verformte sich schon zu einem Grinsen. So einen Unfug konnte sie<br />

Matthis nicht erzählen. Was sollte sie tun? Sagen, dass sie darüber nicht<br />

sprechen dürfe, oder Matthis über ihre wirkliche Identität aufklären? „Der Matti<br />

glaubt das gar nicht, was ich ihm gerade erzählt habe, oder?“ sagte <strong>Claire</strong> und<br />

Matthis schüttelte nur lächelnd den Kopf. „Die beiden <strong>Claire</strong>s wohnen schon<br />

hier, aber beide in mir selbst. Ich habe zwei Identitäten, verstehst du? Für dich<br />

und an der Uni bin ich die <strong>Claire</strong> Schubert, und wenn ich nach Hause fahre,<br />

dann wird aus mir die <strong>Claire</strong> Melloh. So einfach ist das.“ erläuterte es <strong>Claire</strong>.<br />

„Warum musst du dich verstecken oder verbergen?“ fragte Matthis, dem im<br />

Gegensatz zu allen anderen bei 'Melloh' nichts einzufallen schien. „Ich bin<br />

tatsächlich selten hier, bin meistens zu Hause. Wir können uns ja beim<br />

nächsten mal bei mir zu Hause treffen, dann verstehst du vielleicht ein<br />

bisschen.“ lautete <strong>Claire</strong>s Antwort. Als sie Matthis die Adresse nannte, kam ihm<br />

plötzlich die Erleuchtung. „Aber wobei behindert dich das denn, wenn du die<br />

Tochter von den Mellohs bist?“ erkundigte sich Matthis. „Ganz Unrecht hast du<br />

nicht. Ich muss mich sowieso immer mit Melloh eintragen. Ein Schein für<br />

Schubert ist wertlos. Aber das hat schon eine Geschichte, deine Identität<br />

wächst und entwickelt sich nicht unabhängig davon, wie du von anderen<br />

wahrgenommen wirst. Früher spielte man nicht mit unehelichen Kindern, sie<br />

wurden behandelt wie Aussätzige. Für uneheliche Kinder gilt das nicht mehr,<br />

aber das Geld deiner Eltern ist ein Vorurteil, das die Wahrnehmung deiner<br />

Person dominiert. Ich bin mir gar nicht so sicher, dass wir uns so<br />

selbstverständlich unterhalten könnten, wenn du es von Anfang an gewusst<br />

hättest.“ erläuterte <strong>Claire</strong>. „Meine Wahrnehmung hat deine wirkliche Identität<br />

bestimmt sofort erkannt, hat es nur meinem Bewusstsein nicht mitgeteilt,<br />

deshalb werde ich dich auch gewiss mit 'sie' angesprochen haben.“ scherzte<br />

Matthis. „Na ja, aber ein bisschen edel wirkst du schon.“ fügte er hinzu. „Was<br />

hat das denn zu bedeuten? Darf ich nicht so herumlaufen, wie es mir gefällt.<br />

Der Name reicht anscheinend doch nicht. Ich muss auch noch in Sack und<br />

Asche gehen, die Cinderella spielen, mich demütigen, dafür Buße tun, dass<br />

meine Eltern so reich sind, erst dann hätte ich eine Chance in die Gemeinschaft<br />

aufgenommen zu werden. Ich selber darf ich niemals sein.“ <strong>Claire</strong> darauf. „Sei<br />

nicht böse <strong>Claire</strong>. Ich finde deine Locken wunderschön, nur üblich ist so etwas<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 8 von 29


nicht.“ reagierte Matthis. „Zum Allgemeinen gehören auch die Extravaganzen.<br />

Wenn du weißt, wieso es zu meiner Lockenpracht kommt, lachst du dich tot.<br />

Die breiteste Basis zur Beurteilung anderer ist eine riesige Bank aus<br />

Vorurteilen, und aus der bedienst du dich genauso fleißig.“ meinte <strong>Claire</strong>.<br />

Matthis starrte ins Leere, er dachte nach. „Da hast du dich sicher schon oft und<br />

intensiv mit deiner eigenen Identität auseinander gesetzt. Dein Referat wird<br />

bestimmt durchwoben sein von persönlicher Betroffenheit, stelle ich mir vor.“<br />

meinte Matthis. „Neu ist das nicht für mich, da hast du schon Recht, aber bei<br />

dem Referat geht’s auch nicht um Biographisches. Das kann ich dir ja jetzt<br />

privat erzählen, wo du schon mein Pseudonym geknackt und meine wirkliche<br />

Identität herausbekommen hast.“ bemerkte <strong>Claire</strong> dazu und lachte.<br />

<strong>Claire</strong>s Locken<br />

„Das ist Bianca.“ stellte <strong>Claire</strong> Matthis eine etwa dreißigjährige Frau vor, als er<br />

sie zu Hause besuchte. „Sie ist meine Nanny. Nein, nein, nein, alle Namen, die<br />

du für deinen liebsten, teuersten, wundervollsten und kostbarsten Menschen<br />

auf dieser Welt finden kannst, das ist Bianca für mich, nur meine Nanny ist sie<br />

nicht.“ erläuterte <strong>Claire</strong>, während Bianca schmunzelnd grinste. „Und das ist<br />

Matti, Bianca. Meinst du, dass ich ihn als Freund nehmen sollte?“ stellte sie<br />

Matthis vor. Jetzt lachte Bianca und Matthis ebenso. „Aber das geht ja nicht.<br />

Ich heirate ja schon Ricco. Nur, ich glaube, das wird nicht gut gehen. Er ist so<br />

selten hier, und dann ist er auch noch so frech.“ gab <strong>Claire</strong> weitere Erläuterungen,<br />

während Bianca grinste und Matthis nichts verstand. „Stell dir vor, er hat<br />

gesagt, er nimmt mich nur, wenn er keine bessere findet. Würdest du mir so<br />

etwas auch sagen?“ fragte <strong>Claire</strong> Matthis. „Du bist so verrückt, bei dir bekäme<br />

ich Angst, da würde ich überhaupt nichts sagen, nur schweigen.“ antwortete<br />

Matthis. „Meine Liebste, du fühlst dich wohl, nicht wahr?“ fragte Bianca. „Vielleicht,<br />

muss wohl, oder?“ meinte <strong>Claire</strong>. „Ricco ist mein Klavierlehrer, den kenne<br />

ich noch vier Jahre länger als Bianca. Ihm habe ich schon im ersten Schuljahr<br />

versprochen, dass ich ihn später mal heiraten würde. Ricco war mein<br />

Freund und Gott, ein Zauberer. Ich habe ihn immer geliebt und bewundert, nur<br />

jetzt ist er so selten hier, meistens auf Konzertreise, aber einen anderen Klavierlehrer?<br />

Ich bitte dich, so untreu kann ich gar nicht sein.“ erläuterte <strong>Claire</strong>.<br />

„Soll ich dir mal etwas vorspielen, magst du das? Du musst einfach sagen,<br />

wenn's dir nicht gefällt, oder wenn's dich langweilt. Komm mit.“ forderte <strong>Claire</strong><br />

Matthis auf und ging voraus in den Salon. <strong>Claire</strong> spielte etwas von Chopin, versenkte<br />

ihren Kopf wie Marco Tezza in die Klaviatur, kam mit einem Schwung<br />

wieder hoch und warf mit einem Kopfschwung die wilden Haare aus dem Gesicht.<br />

„Verstehst du jetzt?“ fragte sie Matthis anschließend. „Wundervoll hast du<br />

gespielt, <strong>Claire</strong>, aber was soll ich verstehen?“ wollte der wissen. „Die Haare!“<br />

sagte <strong>Claire</strong> nur. „Was ist mit deinen Haaren? Sie sehen ein bisschen wüster<br />

aus, leicht verwegen, noch viel schöner.“ reagierte Matthis. „Ach, Quatsch, du<br />

Blödi. Beim Spielen meine ich, sind sie dir da gar nicht aufgefallen. Das gibt ein<br />

so wundervolles Bild, wenn die Martha Argerich, die beste Pianistin der Welt,<br />

kennst du doch, oder? Matti! Matti! sich in die Tasten versenkt, sieht man nur<br />

noch Haare, ihre voluminöse schwarze Mähne. Wenn sie dann zurückkommt<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 9 von 29


schwingt sie die Haare aus dem Gesicht und erweckt den Eindruck aus einer<br />

anderen Welt zu kommen. Andere können und machen das auch, nur die sittsamen,<br />

braven japanischen Mädels nicht.“ erläuterte <strong>Claire</strong> es. „Es tut mir leid,<br />

<strong>Claire</strong>. Ich habe nur meine Ohren auf den Empfang der durch die Pianistin erzeugten<br />

Klangwelten ausgerichtet gehabt, mit Theatralischem hatte ich überhaupt<br />

nicht gerechnet. Wenn es dir nichts ausmacht, wäre es doch nicht<br />

schlecht, wenn du es nochmal spielen könntest.“ bat Matthis. „Da musst du<br />

aber immer mit rechnen, selbst beim Sprechen, immer die Augen auf. Also gut,<br />

nochmal.“ belehrte <strong>Claire</strong> und begann wieder zu spielen. Matthis fand es<br />

fantastisch, ja, sie war Pianistin und eine große Tragöde. Ein wundervolles<br />

Erlebnis ungewohnter Art. Matthis hielt <strong>Claire</strong>s Kopf in beiden Händen an den<br />

hinteren Unterkiefern und gab ihr zwischen die Haare einen Kuss auf die Stirn.<br />

Er ließ sie nicht los, zögerte, blickte <strong>Claire</strong> kurz an und küsste sie auf den<br />

Mund. <strong>Claire</strong> sagte nichts, sie hatte ihre Lippen ja auch zu einem Kussmund<br />

geformt. War doch schön, dachte sie schlicht. Konnte man doch machen, sie<br />

musste Matthis deshalb ja nicht heiraten.<br />

Matti, Fremder oder Vertrauter?<br />

Als ein leichtes Hochgefühl konnte man es gewiss bezeichnen, was <strong>Claire</strong> beflügelte,<br />

jedoch warum sie sich so wohlfühlte, konnte sie nicht bestimmen. Sie<br />

fand Matthis ganz nett, aber mit amourösen Anwandlungen war ihre momentane<br />

emotionale Lage sicher nicht zu begründen. Matthis war einfach ganz normal,<br />

so wie er redete und wie er sich zu ihr verhielt. Sie hatten sich an drei<br />

Nachmittagen kennengelernt, das bestimmte die Basis ihrer Kommunikation,<br />

da war auch das Geld der Eltern und die Villa machtlos geworden, <strong>Claire</strong>s und<br />

Matthis Umgang miteinander konnten sie nicht mehr beeinflussen. Über ihre<br />

Referate sprach heute keiner von beiden. <strong>Claire</strong> musste viel von sich erzählen,<br />

sehr ausführlich sprachen sie auch über Bianca. Sie hatte gerade angefangen<br />

zu studieren und wollte sich als Kindermädchen ein wenig dazu verdienen. Erfuhr<br />

dann erst, dass es eine volle Stelle sein sollte und nebenbei studieren<br />

nicht möglich wäre. Da das Salaire aber so üppig war, sie keine eigene Wohnung<br />

bezahlen musste, und der Unterhalt auch inklusiv war, hatte sie gedacht,<br />

jetzt gut sparen zu können, und in wenigen Jahren, <strong>Claire</strong> war schon zehn, zu<br />

studieren. Wie sich alles entwickelte, konnte sie nicht vorausahnen. Für <strong>Claire</strong><br />

war sie die Welt, Freundin, Lehrerin, Partnerin und in gewisser weise häufig<br />

auch Ersatzmutter. Mit und von Bianca lebte <strong>Claire</strong>, und Bianca nahm die Rolle<br />

an. Bei Mellohs war ihr zu Hause, so wie sie es sonst noch nie erfahren hatte.<br />

Als durchgängig glücklich erlebte sie sich. Alle waren immer freundlich zu ihr,<br />

und für <strong>Claire</strong> war sie das Liebste und Wichtigste auf der Welt. Wenn sie als<br />

Kindermädchen nicht mehr gebraucht würde, hätte sie nicht nur ihren Job verloren,<br />

man hätte ihr auch das Leben genommen, in dem sie jetzt lebte. Für<br />

<strong>Claire</strong> war es nicht anders. Ihr Leben, das sei sie mit Bianca. Ohne Bianca könne<br />

es sie nicht geben. Bianca hatte ihr alles ersetzt, was anderen Jugendgruppen,<br />

Freunde und sonstige Kontakte bieten. Das war Biancas Leben, ihr Leben<br />

für und mit <strong>Claire</strong>. Dreimal hatten ihre Eltern es zumindest schon in Erwägung<br />

gezogen, Bianca zu kündigen. Beim letzten mal hatte <strong>Claire</strong> apodiktisch ver-<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 10 von 29


kündet, dass dies nur über ihre Leiche geschehen könne. „Solange ich noch ein<br />

Wörtchen mitzureden habe, bleibt Bianca hier, es sei denn, sie möchte selber<br />

gehen. Sie müssen endlich begreifen, dass sie Bianca gegenüber genauso verantwortlich<br />

sind wie mir gegenüber. Ihre Tochter, das ist zu achtzig Prozent<br />

Bianca und nicht ihr Werk. Bianca hat mir ihr Leben gegeben. Kündigen kann<br />

man das nicht.“ verdeutlichte es <strong>Claire</strong>. Matthis hatte kein Wort gesagt, sondern<br />

<strong>Claire</strong> gespannt gelauscht. Es ergriff ihn, was und wie <strong>Claire</strong> erzählte. Wie<br />

eine spannende Geschichte kam ihm vor, was <strong>Claire</strong> aus ihrem Leben berichtete.<br />

Ein Roadmovie war es, gegenüber der Heimatschnulze seines eigenen.<br />

„Weißt du, Matti, mir fällt gerade auf, dass ich das noch nie jemandem erzählt<br />

habe. Meine Freundin Eva hat natürlich vieles miterlebt und mitbekommen.<br />

Der brauche ich nichts zu erzählen, aber einem Fremden gegenüber habe ich<br />

davon noch nie etwas erwähnt.“ wunderte sich <strong>Claire</strong>. „Einem Fremden?“ fragte<br />

Matthis nachdrücklich erstaunt. „Na ja, du hast gerade herausbekommen,<br />

wer ich bin, aber sonst haben wir doch nur geschäftlich miteinander zu tun gehabt.“<br />

begründete <strong>Claire</strong> ihre Bezeichnung. „Vielleicht hast du Recht, <strong>Claire</strong>.<br />

Der andere ist immer sehr weit weg, und eine große Distanz trennt dich von<br />

ihm, wie du wird er niemals sein. Die Nähe zueinander ist aber sehr variabel<br />

und wird durch gegenseitiges Verständnis und die Anerkennung die du dem anderen<br />

vermittelst, und was du an Anerkennung und Verständnis vom anderen<br />

zu bekommen vermutest bestimmt. Das ist bei uns nicht wenig, scheint mir,<br />

auch wenn's nur geschäftlich war.“ erklärte und scherzte Matthis. „Operazione<br />

molto cordialmente meinst du also, ja das glaube ich auch. Obwohl wir uns nur<br />

wenig kennen, fühle ich mich dir gegenüber sicher und frei. Ich habe gedacht,<br />

dir zu sagen, mit <strong>Claire</strong> Melloh das sei ein Geheimnis, das ich nicht verraten<br />

dürfe, aber nur ganz kurz, es war mir klar, dass ich dir würde vertrauen können.<br />

Und das macht ein verdammt gutes Gefühl, mit Menschen zusammen zu<br />

sein, bei denen du spürst, dass du ihnen vertrauen kannst. Ja, ja, mein lieber<br />

Matti.“ meinte <strong>Claire</strong> lächelnd.<br />

Liebe ist Liebe<br />

„Hättest du denn auch Lust, mit mir etwas anderes zu machen als Referate?“<br />

fragte <strong>Claire</strong>. Als sie's gesagt hatte, merkte sie's, und beide platzten los. „Nein,<br />

Matti, ich habe das wirklich ganz ordentlich, brav und ehrlich gemeint, also ob<br />

du mal mit mir ins Konzert gehen würdest oder so.“ korrigierte sich <strong>Claire</strong> immer<br />

noch lachend. „Ja, sehr gern, <strong>Claire</strong>. Aber was sagst du dann Bianca, dass<br />

ich jetzt dein Freund wäre, oder was?“ fragte Matthis. <strong>Claire</strong> zog eine mokant<br />

grinsende Schnute und ihre Augen blickten schelmisch. „Matti, ich weiß gar<br />

nicht wie das geht mit Freund und so. Ich kenne das nur aus der Literatur und<br />

Filmen, ja und Opern natürlich. Da gibt es doch nichts, wo nicht aus Liebe gestorben<br />

oder gemordet würde. Das möchtest du aber lieber nicht, oder? Neugierig<br />

darauf, wie es für mich wäre, bin ich schon, aber so wären es alles nur<br />

nachgemachte Gefühle. Das muss nicht sein. Wie ein vierzehnjähriges Mädchen<br />

bin ich in dieser Hinsicht. Da konnte auch Bianca mir nichts vermitteln.“<br />

erläuterte <strong>Claire</strong>. „Aber du liebst Bianca doch.“ wandte Matthis ein. „Natürlich,<br />

aber nicht so.“ antwortete <strong>Claire</strong>. „Liebe ist Liebe, ob Mann oder Frau, das<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 11 von 29


spielt keine Rolle. Das andere ist der Sexualtrieb.“ meinte Matthis dazu, und<br />

<strong>Claire</strong> bog sich vor Lachen. „Da müssen wir aber noch mal näher drüber reden.<br />

Bestimmt gibt es in jedem Semester Seminare aus diesem Themenkreis. Da<br />

übernehmen wir dann wieder ein gemeinsames Referat, nicht war?“ schlug<br />

<strong>Claire</strong> vor. Beide lachten und umarmten sich. Vielleicht war das so mit einem<br />

Freund, dachte <strong>Claire</strong>, die sich glücklich wähnte, aber dass Matti ein Mann war,<br />

was sollte das damit zu tun haben? Als sie sich in <strong>Claire</strong>s Appartement getroffen<br />

hatten, fand Matthis <strong>Claire</strong> sehr nett und mochte sie. Er freute sich schon<br />

vorher auf ihr nächstes Treffen, aber jetzt spürte er ein Verlangen, sie im Arm<br />

zu halten und sich mit ihr zu küssen. So etwas Verrücktes. Als tolle Frau hatte<br />

er <strong>Claire</strong> gesehen. Eine andere Liga als er selbst, als Freundin undenkbar.<br />

Daran hatte er auch bislang nie einen Gedanken verschwendet, aber jetzt<br />

begann er davon zu träumen.<br />

Matthis der Realist<br />

Matthis träumte. Er hatte so viel Neues, Unbekanntes erlebt an diesem Nachmittag.<br />

Es hatte ihm ein glücklich, freudiges Hintergrundgefühl vermittelt, das<br />

auch den ganzen Abend noch anhielt. <strong>Claire</strong> war ein Stern. Alles fand Matthis<br />

wundervoll an ihr, aber da war etwas anderes. Ob er mehr von ihrer Identität<br />

erkannt hatte, als dass sie in Wirklichkeit <strong>Claire</strong> Melloh war. Das sowieso. Matthis<br />

hatte sich bestimmt in sie verliebt, auch wenn sie nicht wusste, was sie mit<br />

einem Freund anfangen sollte. Sie würden es gemeinsam lernen und erfahren.<br />

Dass <strong>Claire</strong> Matthis auch gut leiden mochte, stand für ihn fest. Am nächsten<br />

Tag sah Matthis aber auch die Bedingungen, unter denen es sich abspielen<br />

würde. Es wäre nicht nur eine Liebe zwischen <strong>Claire</strong> und Matthis, er wäre der<br />

Freund von <strong>Claire</strong> Melloh. Was er sich davon wohl verspräche, und wie er das<br />

wohl geschafft habe? <strong>Claire</strong> war schließlich die einzige Tochter und zukünftige<br />

Alleinerbin. Bei dem Kindermädchen konnten Mellohs leicht großzügig sein,<br />

aber bei dem Partner ihrer Tochter würden sie schon genauer hinschauen. Den<br />

Sohn eines Bücherwurms, eines Bibliothekars, würden sie das akzeptieren?<br />

Sollte er sich etwa wegen seiner Eltern schämen? Und was wäre denn später,<br />

wenn <strong>Claire</strong> wirklich mal erben sollte? Mit dem Geld wollte er keinesfalls etwas<br />

zu tun haben. Ein wenig mehr als ihm jetzt zur Verfügung stand, hätte ihm<br />

schon gefallen, aber nicht diese unchristlichen Summen. Das war nicht seine<br />

Welt und sollte es auch nie werden, überlegte Matthis. Er mochte <strong>Claire</strong> sehr,<br />

aber alles was damit zusammenhing, konnte er nicht leugnen. Es war ein wundervoller<br />

Nachmittag und ein süßer Traum gewesen. Das würde Matthis nicht<br />

vergessen, aber es musste ein temporäres Ereignis bleiben, bei dem es keine<br />

Fortsetzung oder Weiterentwicklung geben würde. Irgendwelchen Avancen<br />

<strong>Claire</strong>s gegenüber würde er standhaft sein, und er würde auch nicht mit ihr ins<br />

Konzert gehen.<br />

Verhängnisvolle Erklärung<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 12 von 29


Das nächste Treffen sollte wieder bei Mellohs stattfinden, war vereinbart. Matthis<br />

rief <strong>Claire</strong> an, dass es ihm besser auskommen würde, wenn sie sich bei ihr<br />

in der Stadt träfen. Alles verlief wie sonst. Sie sprachen über ihre Referate, und<br />

das war diesmal mehr als üblich. Bevor <strong>Claire</strong> gehen wollte, um nach Hause zu<br />

fahren, fragte sie Matthis: „Hast du irgend etwas? Ist etwas nicht in Ordnung?“<br />

„Nein, wieso? Was soll denn sein?“ reagierte Matthis lapidar nüchtern. <strong>Claire</strong><br />

blickte ihn an. „Du lügst, Matthis. Sag was es ist. Ich habe dir vertraut und erwarte<br />

das auch von dir.“ <strong>Claire</strong> darauf. Matthis Mimik vollzog qualvolle Windungen.<br />

„Ich kann nicht, <strong>Claire</strong>. Es ist nichts Schlimmes.“ druckste Matthis. „Sag<br />

es, bitte, Matti. Ich will es hören.“ forderte <strong>Claire</strong> ihn auf. „<strong>Claire</strong>, es war wunderschön<br />

bei dir letzte Woche. Wir haben uns gut verstanden und es gefiel mir<br />

außerordentlich. Ich habe nur eine Befürchtung, dass aus unserer Beziehung<br />

eventuell mehr werden könnte, als sich gegenseitig gut verstehen, und das<br />

möchte ich nicht.“ erklärte Matthis. <strong>Claire</strong> machte große Augen. Sie verstand<br />

Matthis nicht. „Was meinst du?“ fragte sie ihn, und Matthis erklärte, dass er<br />

sich vorstellen könne, wie sie sich ineinander verliebten, dass er das aber nicht<br />

wolle, weil er die Zusammenhänge sehe, die er <strong>Claire</strong> auch erläuterte. Mitten in<br />

seinen Erläuterungen sprang <strong>Claire</strong> auf, nahm ihre Tasche, lief ohne ein Wort<br />

zur Tür und warf diese laut knallend hinter sich zu.<br />

Das Referat<br />

Im nächsten Seminar fehlte <strong>Claire</strong>, im übernächsten standen ihre Referate auf<br />

der Tagesordnung. Nüchtern, fast tranig trug Matthis seine Ausarbeitungen vor.<br />

Dann kam <strong>Claire</strong>. Am Schluss ihres Referates stand eine Auseinandersetzung<br />

mit Hurrelmanns Identitätsbegriff, den sie heftig kritisierte. Ebenso heftig war<br />

die Diskussion darüber. Hurrelmanns Vorstellungen seien nicht nur einseitig,<br />

sondern gefährlich. Wer sich nicht angepasst verhalte, habe sozialisatorische<br />

Störungen, beschrieb es <strong>Claire</strong>. Sie verteufelte die Präferenz affirmativen Verhaltens<br />

und erklärte den Wert von Widerspenstigkeit und Renitenz. Sie brillierte,<br />

sogar mit konkreten Beispielen von ihr selbst. Auch die nicht ihre Ansicht<br />

vertraten, mussten zugeben, viel mehr erfahren und gelernt zu haben, als von<br />

einer reinen Klärung des Identitätsbegriffes zu erwarten gewesen wäre. Man<br />

hielt sie für eine Feministin, und der Professor sprach sie nach dem Seminar<br />

an. Matthis standen die Tränen in den Augen. Warum? Anscheinend empfand<br />

er sie als seine Liebste und war begeistert von ihrem großartigen Auftritt.<br />

Wenn das ihre Überzeugung war, was sie gesagt hatte, und wie sollte es anders<br />

sein, dann passte sie doch gar nicht in das Haus ihrer Eltern. Matthis wartete.<br />

Ihre wütende Flucht konnte er nicht ertragen. <strong>Claire</strong> sollte es ihm wenigstens<br />

einmal sagen, warum sie so erbost gewesen war. „<strong>Claire</strong>!“ stoppte er sie,<br />

die an ihm vorbei laufen wollte. „Lass uns doch noch einmal miteinander reden.“<br />

bettelte Matthis. „Ich will nichts mehr von dir hören und habe dir auch<br />

nichts zu sagen.“ antwortete <strong>Claire</strong>. „So können wir es ja auch halten, wenn du<br />

es so als richtig empfindest, aber ich sterbe, wenn du mir nicht erklärt hast,<br />

warum. Ich mag dich, <strong>Claire</strong>, immer noch.“ war Matthis Reaktion. <strong>Claire</strong> musterte<br />

ihn und überlegte. „Und wo?“ fragte sie. Die beiden trafen sich wieder in<br />

der Wohnung Schubert.<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 13 von 29


L'amour fou<br />

Auch wenn <strong>Claire</strong> böse auf Matthis war, ein grimmiges Gesicht machen, wenn<br />

er die Wohnung betrat, konnte sie trotzdem nicht. „Du kannst nicht wissen,<br />

was du getan hast. Du sagst mir, du würdest mich nicht lieben können wegen<br />

des Geldes meiner Eltern. Und das sagst du mir, dem ich ausdrücklich erklärt<br />

habe, wie sehr ich darunter zu leiden hatte. Keine materielle Not, sondern psychisch<br />

hat es mich gequält, und dir scheint daran zu liegen, es potenziert fortzusetzen.<br />

Du bist es, der so etwas sagt, dem ich voll vertraute und sicher war,<br />

dass die äußeren Bedingungen keine Rolle spielen würden. Entschuldigen<br />

kannst du das nicht, das nützt nichts. Es hat gezeigt wie du denkst, und das ist<br />

genauso platt und Vorurteils beladen, wie bei den meisten anderen. Liebe, als<br />

menschliche Beziehung, scheinst du nicht zu kennen, zumindest bedeutet sie<br />

dir nicht viel.“ lautete <strong>Claire</strong>s Philippika. Matthis saß mit betroffen gequältem<br />

Gesichtsausdruck in der Couch. „Vielleicht hast du ja in allem Recht, <strong>Claire</strong>.<br />

Vielleicht ist es genauso wie du es sagst, aber vielleicht bin ich auch nur ein<br />

Angsthase.“ meinte Matthis und <strong>Claire</strong> schmunzelte. „Am Abend vorher,<br />

nachdem ich bei euch war, ging es mir so gut. Ich war so kühn, davon zu<br />

träumen, dass wir uns verliebten, und es gemeinsam lernen würden, wie das<br />

mit einem Freund ginge. So schöne Szenen habe ich von uns gesehen, war<br />

verliebt und glücklich. Am nächsten Morgen habe gedacht, werd mal nüchtern<br />

du Spinner. Und das war dann das Ergebnis, also nicht seinen Träumen weiter<br />

nachhängen, mehr war es im Grunde nicht.“ erklärte Matthis. „Und was haben<br />

wir gemacht, als wir verliebt waren?“ erkundigte sich <strong>Claire</strong>. „Wir waren<br />

zärtlich zueinander.“ beantwortete Matthis diese Frage nach einer<br />

Selbstverständlichkeit. „Ja, aber wie?“ wollte <strong>Claire</strong> es genauestens wissen und<br />

lächelte. Matthis lächelte auch. „Ich habe mir zum Beispiel vorgestellt, wie du<br />

am Klavier säßest, ich dir die Locken aus dem Gesicht strich und dir schon<br />

beim Spielen die Wange küsste. Zwischendurch hieltest du kurz inne, weil wir<br />

uns unbedingt küssen mussten, also viel Küssen und sanfte Berührungen. Ja,<br />

so war das in meinen Träumen.“ erläuterte Matthis der schmunzelnden <strong>Claire</strong>.<br />

„Und möchtest du es immer noch so träumen?“ fragte <strong>Claire</strong>. „Du quälst mich,<br />

<strong>Claire</strong>. Was willst du?“ reagierte Matthis. „Vielleicht weiß ich nicht viel über<br />

Liebe. Ich hatte ja noch nie einen Freund, in den ich verliebt war. Aber du sagst<br />

doch, es gibt nur eine Liebe, und die sei immer gleich. Die Liebe ist in dir, der<br />

kannst du nicht befehlen, dass sie verschwinden soll, die hört nicht auf dich.<br />

Wenn du sagst, dass du mich liebst, dann wird es so bleiben. Wenn du meinst,<br />

es sei nicht gut für dich, in mich verliebt zu sein, das wird die Liebe überhaupt<br />

nicht stören. Schau mal, zum Beispiel die Clara Schumann hat ihrem Vater,<br />

einem Tyrannen, in allem immer gehorcht, hat sich auf's Schlimmste<br />

demütigen lassen, aber bei ihrer Liebe zu Robert Schumann, war er machtlos.<br />

Die ließ sich die brave, gehorsame Tochter nicht verbieten, weil man Liebe<br />

nicht verbieten kann, schon erst recht nicht sich selbst. Auch wenn sie auf ewig<br />

unerfüllt bleibt, aber bleiben wird sie in dir.“ erläuterte <strong>Claire</strong>. Matthis starrte<br />

auf die gegenüberliegende Wand, sah <strong>Claire</strong> an und fixierte sie mit liebevollem<br />

Blick. „Schau mal wir haben uns gut verstanden und mochten uns, als ich dich<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 14 von 29


nicht kannte. Die gleiche bist du immer weiter geblieben, auch als ich wusste,<br />

wer du warst. Die gleiche warst du auch nachher und in meinen Träumen, nur<br />

du, nur dich habe ich geliebt, alles andere kam dabei nicht vor. Mein<br />

Empfinden für dich hat sich auch bis heute nicht im geringsten geändert, es ist<br />

eher noch intensiver geworden. Aber ich sehe das andere, und das macht mir<br />

Angst.“ erklärte Matthis. „Du liebst mich, aber die Bedingungen der Umgebung<br />

wollen deine Liebe nicht glücklich werden lassen. So siehst du es?“ erkundigte<br />

sich <strong>Claire</strong>. „Ich weiß es nicht, vielleicht liebe ich dich ja auch.“ meinte sie.<br />

„Was du gesagt hast, hat mir ungeheuer weh getan. Ich bin nach Hause<br />

gekommen, habe getobt, geschrien, geweint. Bianca hat mir geholfen. Ich<br />

werde sie gebrauchen solange ich lebe. Sie ist mein zweites Ich, mein Alter<br />

Ego. Sie kennt mich oft besser als ich mich selbst. Natürlich sei es schlimm,<br />

was du gesagt hättest, aber deshalb allein würde ich nicht so ausrasten, es<br />

müsse etwas Tieferes in mir getroffen worden sein. Du würdest mir vermutlich<br />

sehr viel bedeuten, und dass du es gewesen seist und ich dich dadurch<br />

verloren hätte, sei wahrscheinlich das eigentlich Dramatische, das ich meinte,<br />

nicht ertragen zu können. Kannst du dir das bei deiner Geliebten vorstellen?“<br />

fragte <strong>Claire</strong> grinsend. Matthis streichelte <strong>Claire</strong> lächelnd über die Wange.<br />

„Früher hat man den Leuten aus allen möglichen moralischen und<br />

gesellschaftlichen Gründen die Liebe verboten, heute wird sie einem aus<br />

anderen Gründen unmöglich gemacht.“ sinnierte Matthis. „Wir müssten einfach<br />

flüchten, in ein anderes Land, wo es nur uns beide gäbe und alles mit uns<br />

Verbundene nicht existierte, als deine Elvira Madigan Herr Leutnant.“ scherzte<br />

<strong>Claire</strong>. Das musste sie erklären, denn Matthis kannte es nicht. „Ein Satz in<br />

Mozarts Klavierkonzert Numero 21 heißt sogar Elvira Madigan. Ich kann es<br />

spielen und Bianca spielt das Orchester, das hauptsächlich aus Geigen besteht.<br />

Wir lachen uns tot dabei, aber es macht Spaß. Du solltest es dir anhören, oder<br />

kommst du nicht mehr zu mir?“ fragte <strong>Claire</strong>. „Nur unter der Bedingung, dass<br />

wir anschließend flüchten.“ scherzte Matthis, „aber wohin? Also in ein<br />

skandinavisches Land möchte ich nicht. Das hat der Elvira Madigan ja auch<br />

kein Glück gebracht. Ich denke eher an Frankreich, da hat l'amour einen ganz<br />

anderen Stellenwert und eine l'amour fou wäre da nichts Besonderes.“ „Eine<br />

l'amour fou wäre das mit uns, meinst du?“ wollte <strong>Claire</strong> von Matthis wissen.<br />

„Für mich schon ein bisschen. Ich müsste immer die Augen für alle<br />

Bedingungen verschließen. Und deine Eltern? Die würden dich dann doch<br />

sicher am liebsten enterben wollen, wenn es dazu käme.“ meinte Matthis, und<br />

<strong>Claire</strong> lachte sich tot.<br />

Clara Wieck<br />

„Dass das der Matti ist, weißt du ja schon Bianca. Ich habe ihn jetzt als Freund<br />

genommen, aber ich weiß nicht, ob ich ihn liebe. Woher weiß man das denn eigentlich?“<br />

Bianca lachte, sie wusste natürlich, dass Matthis kam und sie ihm<br />

gemeinsam 'Elvira Madigan' vorspielen wollten. Extra geübt hatten sie es noch,<br />

und über die Versöhnung war sie selbstverständlich auch im Detail informiert.<br />

„Du willst doch Psychologin werden,“ begann Bianca schelmisch lächelnd, „da<br />

wirst du doch wissen, dass Liebe sich nicht im Bewusstsein sondern im Unbe-<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 15 von 29


wussten abspielt.“ „Du meinst also wissen kann ich es nie, ob ich Matti liebe.<br />

Nur so ein Gefühl, ein Gespür kann ich dafür haben?“ erkundigte sich <strong>Claire</strong> lachend<br />

nach den Details. „Ja, genau,“ bestätigte sie Bianca, „meistens im<br />

Bauch, oder im Herzen tritt das auf.“ „Wundervoll, das ist wirklich zum verlieben,<br />

und ihr wart beide fantastisch. Besonders Bianca, die hatte ja einen größeren<br />

Part als das Klavier.“ staunte Matthis und musste beide umarmen. „Und<br />

Bianca macht das nur nach Gehör, die ist genauso gut oder besser als ich. Sie<br />

bekommt ja auch noch regelmäßig Unterricht.“ sagte <strong>Claire</strong>. „Den Liebestraum<br />

von Liszt kann ich auch. Fast. Willst du den auch noch hören, da kannst du<br />

dich erst recht verlieben und mir die Haare aus der Stirn nehmen. Machst du?“<br />

fragte <strong>Claire</strong> schelmisch und sie spielte. Jetzt musste sie sich stärker konzentrieren<br />

als bei dem gemächlich fließenden 'Elvira Madigan'. Sie vertiefte sich<br />

zwar in die Tasten, aber warf automatisch ihre Haare selbst zurück. Auf Matthis<br />

konnte sie gar nicht achten, und er wagte es auch nicht, die intensiv<br />

angespannte <strong>Claire</strong> beim Spiel zu berühren. Sie wandte sich erleichtert stolz<br />

lächelnd Matthis zu. „Bezaubernd, du bist großartig. Ich habe nichts gehört,<br />

was nach Fehlern hätte klingen können.“ so Matthis, und er spürte ein<br />

dringendes Bedürfnis, <strong>Claire</strong> zu umarmen und sie zu küssen. <strong>Claire</strong> wehrte es<br />

nicht ab und schlang auch ihre Arme um seinen Hals. „Wenn wir befreundet<br />

sind und du weißt, das du mich liebst,“ „Fühlst,“ unterbrach <strong>Claire</strong> Matthis<br />

verbessernd. „und dein Bauch fühlt, dass du mich liebst, wirst du immer etwas<br />

für mich spielen, ja?“ fragte Matthis. „So etwa?“ fragte <strong>Claire</strong>, spielte den<br />

fröhlichen Landmann und begann sich in improvisierten, veralbernden<br />

Variationen auf den Tasten auszutoben. Beide lächelten sich an. „Du bist<br />

einfach klasse. Warum hast du nicht Musik studiert?“ fragte Matthis. <strong>Claire</strong><br />

lachte laut auf. „Bin ich Fräulein Horrowitz? Die sind heute alle unglaublich gut.<br />

Seitdem klar ist, dass sich das Gehirn anders entwickelt, wenn man sehr früh<br />

zu spielen beginnt, wollen die Eltern alle aus ihren Kindern kleine Mozarts oder<br />

Clara Wiecks machen. Auch wenn sie das nicht werden, aber gegen die hast du<br />

später keine Chance. Ricco zum Beispiel, der ist so toll, kann fast alles spielen,<br />

früher hätte er in den Konzertsälen brillieren können, heute zählt er nur zur B-<br />

Klasse. Noch viel schlimmer ist das bei den Geigenspielerinnen. Biancas<br />

Lehrerin hat ein hervorragendes Examen an der Musikhochschule gemacht,<br />

aber als Solistin in angemessenem Rahmen keine Chance. Musiklehrerin ist sie,<br />

zum Heulen ist das.“ klagte <strong>Claire</strong>. „Wer ist Clara Wieck?“ fragte Matthis. <strong>Claire</strong><br />

schaute ihn mit großen Augen und einem Mund, der bereit war Vorwürfe zu<br />

formulieren an. „Ich müsste sie kennen, nicht wahr?“ äußerte sich Matthis<br />

schon leicht um Vergebung bittend. „Die Frau von Robert Schumann, Clara<br />

Schumann, hieß so, und sie war zu ihrer Zeit sicher genauso berühmt, wie<br />

Robert Schumann. Als Pianistin hat sie in jungen Jahren schon in ganz Europa<br />

Anerkennungen und Preise bekommen. Sie galt als Wunderkind. Wenn du<br />

Klavier lernst, spielst du besonders zu Anfang sehr viel von Schumann, der<br />

Landmann vorhin, der ist auch von ihm. Ich habe immer beim Abendbrot<br />

davon und von Ricco erzählt, und meine Mutter fragte mal, ob ich seine Frau<br />

auch kennen würde? Sie hat mir einen alten 100 D-Mark Schein gezeigt. Der<br />

gehört heute zu meinen absoluten Schätzen. Darauf ist Clara Schumann<br />

abgebildet. Eine schöne Frau, das Bild gefiel mir. Mutter wusste aber auch nur,<br />

dass sie eine tolle Pianistin war und Robert Schumann nicht heiraten durfte, es<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 16 von 29


aber trotzdem getan hatte. Absolut spannend alles und dann dieses tolle Bild.<br />

Frau Günther musste mit mir in die Bibliothek und alles zu Clara Schumann<br />

suchen. Sie musste mir alles vorlesen. Ich konnte ja selbst kaum lesen. Andere<br />

Welten taten sich für mich auf. Sie war ja ein Mädchen, das Klavier spielte wie<br />

ich. Ich habe mich total in sie versenkt, wollte alles noch genauer wissen,<br />

wollte mit ihr leben. Ich habe für sie geweint über die Demütigungen ihres<br />

Vaters, hatte Wut, hätte den Vater umbringen können. Ich habe damals schon<br />

eine ganz andere Welt sehr genau kennengelernt. Formulieren können hätte<br />

ich es nicht, aber deutlich war es mir schon, dass du nicht irgendwann alles<br />

weißt, sondern dass die Anzahl der Fragen umso größer wird, je mehr du<br />

weißt. Clara war mein erstes Forschungsprojekt im zweiten Schuljahr. So<br />

ähnlich wie mit Clara ist es später immer wieder gelaufen, nur Clara ist die<br />

alles überragende Göttin geblieben.“ berichtete <strong>Claire</strong>. Für Matthis schien <strong>Claire</strong><br />

auf dem Wege, sich zu seiner Göttin zu entwickeln.<br />

Ricco und Hellen<br />

Matthis sollte kommen, weil Ricco da wäre, den müsse er unbedingt kennenlernen.<br />

„Wie geht’s deinem Bauch?“ fragte Matthis zur Begrüßung. Eine sonderbare<br />

Frage, die man vielleicht einer Schwangeren stellen würde, dachte <strong>Claire</strong>,<br />

aber sie verstand schon. „Genau weiß ich es nicht. Bauchschmerzen habe ich<br />

nicht, aber wenn ich daran denke, wie du das letzte mal hier warst, kommt es<br />

mir vor, als ob mir ganz warm würde um den Bauch. Meinst du, das könnte etwas<br />

zu bedeuten haben?“ fragte sie mit schelmischen Augen. Matthis antwortete<br />

nicht, er lachte mit geschlossenem Mund. „Biancas Lehrerin ist auch gekommen.<br />

Ricco und sie waren damals an der Hochschule befreundet. Bianca<br />

hatte als Kind kurze Zeit Geigenunterricht bekommen. Sie hatte davon erzählt<br />

und Ricco hatte sie aufgefordert, die Geige doch mal mitzubringen. Sie brauche<br />

unbedingt Unterricht, dann könnten wir gemeinsam spielen. Was war das? Ich<br />

gemeinsam mit Bianca spielen? Etwas Fantastischeres würde es doch nicht geben<br />

können. Eine sehr qualifizierte Lehrerin konnte Ricco wohl besorgen. Das<br />

musste sein. Aber das sei doch Biancas Privatangelegenheit, war die Meinung<br />

meiner Eltern. Quatsch, nur für mich mache sie es, um mich begleiten zu können.<br />

Ihren Unterricht finanzieren sie heute immer noch.“ erzählte <strong>Claire</strong>. „Endlich<br />

sehen wir uns wieder, Ricco. Du lässt mich völlig verkommen.“ scherzte<br />

<strong>Claire</strong>. Sie umarmten sich immer wieder und streichelten sich das Gesicht.<br />

„Bianca wird bald die Kreuzer Sonate spielen könnte, und ich bin nicht in der<br />

Lage, sie auf dem Klavier zu begleiten.“ machte <strong>Claire</strong> vorwurfsvoll deutlich.<br />

Während Hellen, Biancas Lehrerin bei <strong>Claire</strong>s Verkündungen losprustete, meinte<br />

Ricco: „Du hast ja Recht Bianca. Gut ist das für dich nicht, aber die Konzerte<br />

brauche ich zum Leben. Wenn ich hier bin, hätte ich allerdings auch wohl ein<br />

wenig länger Zeit. Wir könnten uns für die Zwischenzeit ja mehr vornehmen.“<br />

„Ricco, hier, das ist mein Freund Matti.“ stellte <strong>Claire</strong> Matthis stolz vor. „Was ist<br />

das denn? Was wird denn aus unserer Hochzeit, wenn du mir schon vorher untreu<br />

bist?“ beschwerte sich Ricco grinsend. „Das musst du Weiberheld gerade<br />

sagen. Hat es denn je Zeiten gegeben, in denen du nicht wenigstens eine<br />

Freundin hattest.“ warf <strong>Claire</strong> ihm vor. „Ja, so ist das.“ bestätigte Hellen, „Für<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 17 von 29


ihn besteht die Welt nur aus seinem Klavier und Amore.“ „Ricco du wirst wieder<br />

bei uns einen Auftritt haben.“ verkündete <strong>Claire</strong>. „Jetzt gleich mit Hellen, nicht<br />

wahr?“ vermutete Ricco. „Nein, meine Mutter wird Fünfzig. Sie wollte das nicht<br />

feiern, aber alle anderen bestehen darauf, und jetzt will sie's auch. Du musst<br />

mir für den nächsten und übernächsten Monat deine freien Termine sagen. Hellen<br />

du machst auch mit? Sicher, nicht war?“ erkundigte sich <strong>Claire</strong>. Anhand von<br />

Riccos Terminkalender wurden drei mögliche Termine für Frau Mellohs Geburtstagsparty<br />

festgelegt. „Aber nicht wieder boxen.“ erinnerte sich Ricco lachend.<br />

„Sie hat mir mit sechs Jahren die Show gestohlen. <strong>Claire</strong> meinte von Anfang<br />

an, ich sei ein Zauberer. Sie hat ihren Eltern immer so von mir vorgeschwärmt,<br />

dass ich mal auf einem großen geschäftlichen Empfang von ihnen spielen durfte.<br />

Die süße kleine <strong>Claire</strong> sollte mir anschließend die Blumen überreichen. Das<br />

tat sie auch freudig strahlend, nur bekam ich dann ein Boxhieb in den Bauch.<br />

Der ganze Saal lachte und hatte seinen Spaß. Was ich gespielt habe, war sicher<br />

schnell vergessen, aber <strong>Claire</strong>s Boxer, den haben alle behalten.“ erzählte<br />

Ricco.<br />

Hellen und Ricco blätterten noch kurz gemeinsam die Noten durch, vereinbarten<br />

und verständigten sich und begannen zu spielen. Fantastisch! Ein Konzert<br />

für Piano und Violine für das Matthis draußen gewiss viel Geld bezahlt hätte,<br />

bei Mellohs gab's das einfach mal so am Nachmittag. Er, Bianca und <strong>Claire</strong> applaudierten.<br />

„Wundervoll, ihr solltet öfter zusammen auftreten. Das war doch<br />

absolut klasse. Wollt ihr das nicht auch bei Mutters Geburtstagsparty spielen?“<br />

fragte <strong>Claire</strong>. „Warum nicht?“ sagten die Minen von Hellen und Ricco, die sich<br />

anschauten. Sie erzählten noch von Konzertauftritten, Biancas Entwicklung,<br />

möglichen Perspektiven für Hellen. Matthis stand nur daneben und hörte zu.<br />

Leben wie alle anderen<br />

Ein toller Nachmittag war es gewesen. Mit <strong>Claire</strong>, die so leben wollte, wie alle<br />

anderen. Ihr Künstlername schütze sie vor den Nachteilen, die sich für sie aus<br />

der Wahrnehmung als Melloh-Tochter ergeben könnten, aber ein übliches,<br />

durchschnittliches Leben führte sie deshalb noch lange nicht, und Matthis war<br />

sicher, dass sie darauf auch tatsächlich keinerlei Wert legen würde. Wie eine<br />

Prinzessin lebte sie, nur ihr schien es selbstverständlich. Seinen Eltern ging es<br />

nicht schlecht, aber Matthis hatte kein Kindermädchen gehabt, das rund um<br />

die Uhr für ihn dagewesen wäre. Wenn er Klavierunterricht gehabt hätte, wäre<br />

das bei einem ortsansässigen Musiklehrer erfolgt und nicht bei einem Absolventen<br />

der Musikhochschule. Musikunterricht auch noch für's Kindermädchen<br />

bezahlen? Matthis lachte, alles undenkbar. Er fand <strong>Claire</strong>s Leben wundervoll,<br />

nur seins war es nicht. Ihr Alias machte aus ihr keinen anderen Menschen, verschaffte<br />

ihrer Persönlichkeit keine neue Identität. Ein Leben wie alle anderen<br />

führen, das konnte <strong>Claire</strong> gar nicht und hätte es auch nicht gewollt. Eine Phrase<br />

war es, die sie für sich proklamierte. So sah es Matthis. Sie war deshalb<br />

kein übler Mensch, im Gegenteil, Matthis liebte sie. Und ihre Freundin Eva schien<br />

das ja auch wohl so zu sehen. Aber reden musste er mit <strong>Claire</strong> darüber, er<br />

wollte sich auch nicht einfach von <strong>Claire</strong>s Welt begeistert vereinnahmen lassen,<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 18 von 29


seine eigene Identität nicht verlieren.<br />

Das bin ich<br />

Es gab Semesterferien und Matthis fragte <strong>Claire</strong> nach ihren Plänen. <strong>Claire</strong><br />

schmunzelte. „Sollte ich eine Fahrradtour machen oder lieber wandern, was<br />

meinst du?“ fragte sie Matthis lächelnd. „Habt ihr denn keine Yacht?“ wollte der<br />

wissen. „Mit einem kleinen Boot segeln, das würde ich schon mal gern ausprobieren.<br />

Ja, sollen wir einen Segelkurs machen? Meine Eltern mögen das nicht<br />

mit diesen Yachten. Die haben einen Bunker auf den Seychellen. Als Kind war<br />

ich zweimal da, aber was soll ich in Madagaskar. Ich habe hier immer genug<br />

Wichtiges zu tun, das ist viel spannender.“ antwortete <strong>Claire</strong>, „Und du, was<br />

willst du machen?“ fragte sie Matthis. „Ich wollte eigentlich nach Portugal.“ erklärte<br />

der. „An die Algarve?“ fragte <strong>Claire</strong>. „Nein, überall hin, nur dahin nicht.“<br />

reagierte Matthis. „Aber ich wollte auch noch jobben, damit ich ein bisschen<br />

flüssiger bin.“ fügte er hinzu. „Und wo?“ erkundigte sich <strong>Claire</strong>. „Ich habe<br />

schon mal öfter in einem Café Bedienung gemacht.“ antwortete Matthis. „Au<br />

ja, dann komme ich immer ins Café und gebe dir ganz viel Trinkgeld.“ meinte<br />

<strong>Claire</strong> und lachte. „Ich kann mich ja mal erkundigen, ob sie dich nicht auch als<br />

Aushilfskellnerin gebrauchen können, dann bist du auch ein bisschen flüssiger.“<br />

erkläre Matthis. <strong>Claire</strong>s Mine nahm ernst säuerliche Züge an. „Was soll das<br />

Matti?“ fragte sie. „Ach, ich weiß nicht, war nur so dahin geplappert.“ reagierte<br />

Matthis. <strong>Claire</strong> blickte ihn nachdenklich fragend an. „Du bist doch nicht<br />

neidisch, weil ich nicht zu arbeiten brauche. Es ist etwas anderes, das dich<br />

beschäftigt. Warum sprichst du nicht mit mir darüber. Aber überlege dir, was<br />

du sagst, du sprichst mit deiner potentiellen Geliebten.“ gab <strong>Claire</strong> zu<br />

bedenken. „Das ist ja das Dilemma. Du bist ein wundervoller Mensch, eine<br />

wundervolle Frau, und ich mag dich sehr, aber dass du jemand wie alle<br />

anderen wärst, sein könntest oder auch nur wirklich sein wolltest, ist, glaube<br />

ich, eine Illusion, der du nachhängst.“ erklärte Matthis. „Weil ich nicht zu<br />

arbeiten brauche wie du, oder was?“ wollte <strong>Claire</strong> es näher erläutert haben.<br />

Matthis verdeutlichte ihr, was sie für ein Leben führe, dies für<br />

selbstverständlich halte und keinesfalls ein Bedürfnis verspüre, daran etwas zu<br />

ändern, dass sie nicht wie alle anderen lebe, sondern eher wie eine Prinzessin.<br />

„Als Mensch bist du großartig, aber dein Leben ist nicht meines.“ verdeutlichte<br />

es Matthis. <strong>Claire</strong> sinnierte und meinte dann: „Ich glaube, du hast schon Recht,<br />

aber das ist es nicht, was meine Identität ausmacht. Eine Frau, die sich nur<br />

etwas zu wünschen braucht und es bekommt. Es mag sein, dass es sich<br />

faktisch so verhält, aber das bin nicht ich. Schau mal, ich hatte als Kind eine<br />

Autorennbahn gesehen, fand sie toll und bekam sie natürlich. Mehrere<br />

Nachmittage haben Eva und ich geforscht, bis wir sie endlich fertig<br />

funktionierend zusammengebaut hatten. Wir waren absolut darin vertieft. Das<br />

war spannend und toll. Als sie fertig war, haben wir die Autos flitzen lassen und<br />

waren begeistert. Aber als Eva nach Hause musste, meinte sie: „Eigentlich ist<br />

das Schrott.“ Ich habe sie nicht mehr gefragt und auch nicht mit Bianca<br />

darüber gesprochen, aber den ganzen Abend ging es mir durch den Kopf. Eva<br />

hatte Recht. Es war ein stupides Ding. Man konnte jetzt immer nur das gleiche<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 19 von 29


wiederholen. Ein stumpfsinniges Spielzeug war es jetzt, wo es fertig war. Ich<br />

habe alles auseinandergenommen und wieder eingepackt. Eine Lehre ist mir<br />

das gewesen. So etwas ist mir nie wieder passiert. Etwas haben zu wollen, um<br />

stolz zu sein, es zu besitzen, das gab es für mich nicht mehr. Vielleicht bin ich<br />

da schon anders als viele, oder die meisten Durchschnittsmenschen mit viel<br />

weniger Geld.“ <strong>Claire</strong> dazu. „So sehe ich dich auch nicht, <strong>Claire</strong>, als ob dir<br />

daran läge, unsinnige Besitztümer anzuhäufen. Du lebst aber unter<br />

Bedingungen, die es für andere so nicht gibt.“ Matthis dazu. „Ja, das magst du<br />

so sehen, aber mir hat auch sehr vieles gefehlt, was für andere<br />

selbstverständlich ist. Du hast doch gut aufgepasst bei meinem Referat, oder?<br />

Dicke Störungen bei der Identitätsentwicklung hätte es geben müssen. Das hat<br />

alles Bianca ersetzt. Ich habe sie gebraucht, damit ich das bekam, was für<br />

andere ihr üblicher, gewöhnlicher Alltag war. Das die eigenen Aktivitäten dir<br />

das Spannendste bringen, hatte ich schon bei Clara Schumann internalisiert<br />

und habe es fortgesetzt, das ist mein Leben, was ich getan habe, allein, mit<br />

Eva und mit Bianca, und was ich dabei erfahren und gelernt habe, welche<br />

Welten sich mir dadurch erschlossen haben. Das ist vielleicht auch anders als<br />

bei vielen üblichen Leuten, nur hat das mit dem Geld meiner Eltern überhaupt<br />

nichts zu tun, aber das bin ich.“ erläuterte <strong>Claire</strong>.<br />

Vielleicht nur eine Illusion<br />

Sie wisse nicht was es sei, aber sie habe so ein sonderbares Gefühl im Bauch.<br />

Matthis solle doch mal schnell kommen. <strong>Claire</strong> wollte Matthis etwas vorspielen,<br />

er brauche das unbedingt, eröffnete ihm <strong>Claire</strong>. Ihren Bauch und seine Gefühle<br />

erwähnte sie nicht. Zunächst setzten sie sich auf <strong>Claire</strong>s Bett, unterhielten sich<br />

und legten sich dann darauf. „Weiß du, Matti, ich kann von Bianca, Ricco, Eva,<br />

meiner Mutter tausend Sachen benennen, die ich toll an ihnen finde, aber das<br />

ist nicht das Wichtigste. Es ist das Gefühl das sie mir vermitteln, wenn ich mit<br />

ihnen zusammen bin, allein schon, wenn ich an sie denke. Das ist ein sehr<br />

starkes, ich glaube, mein stärkstes Empfinden. Es ist herrlich, ich brauche es,<br />

und danach bin ich süchtig. Bei dir war es nicht viel anders, aber vielleicht war<br />

es auch nur eine Illusion, weil ich mir dringend gewünscht habe, dass es so<br />

wäre. Dass du ein lieber Mensch bist, daran besteht kein Zweifel. Du hast gesagt,<br />

dass wir einander viel Anerkennung und Verständnis schenkten, so ist es<br />

sicherlich. Aber ich sehe auch, dass es große Störungen darin gibt. Schau mal,<br />

die kleine Eva hätte auch gern Musikunterricht gehabt. Dass ich ihn bekam und<br />

sie nicht, hat ihr Bild, das sie von mir hatte, nicht im Geringsten gestört. Nie<br />

hat sie Derartiges gestört, bis heute nicht. Auch Bianca hat nie etwas anderes<br />

angeführt, als was uns direkt persönlich betraf. Ich denke, je näher du einem<br />

anderen Menschen bist, umso mehr nimmt alles andere die Form irrelevanter<br />

Äußerlichkeiten an. Du sprichst aber viel darüber, irrelevant ist es für dich<br />

nicht. Das verwirrt mich und erfreut mich nicht. Du sagst mir immer, wer ich<br />

bin, bevor du mich gefragt hast. Das gefällt mir nicht, ich liebe es nicht, mich<br />

dir gegenüber verteidigen und rechtfertigen zu sollen. Du hältst mich für eine<br />

Idiotin, die sich noch nie Gedanken über die materiellen Bedingungen ihrer<br />

Existenz und Zukunft gemacht hat. Dich scheint es zu drängen, mich darüber<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 20 von 29


aufzuklären. Du nötigst mich, dir zu belegen, dass es nicht das ist, was meine<br />

Identität bestimmt und ausmacht. Wenn deine Begehrlichkeit dich schauen<br />

lässt, wirst du nur das Äußere sehen, erst ohne Begehren zeigt sich dir das Innere.<br />

Es sind einfach die Bedingungen, unter denen ich zu leben habe, und die<br />

ich mir genauso wenig aussuchen konnte wie, ob ich eine Frau oder ein Mann<br />

sein wollte. Ich denke, ich gehe nicht schlecht damit um. Dass ich das kann,<br />

liegt daran, wer ich bin, was ich bin, liegt in meinem Inneren, in meiner Persönlichkeit,<br />

meiner Identität begründet. Auch wenn ich unter anderen Bedingungen<br />

lebe, bin ich kein anderer Mensch, als du es auch sein könntest. Bis auf<br />

die Musik vielleicht, die gibt mir etwas, was du nicht hast, aber vielleicht dringend<br />

brauchtest. Komm, ich spiele uns etwas. Das wird uns helfen, uns tiefer<br />

zu verstehen und störende Oberflächlichkeiten auszublenden.“ schlug <strong>Claire</strong><br />

vor. Matthis hatte erwartet, dass <strong>Claire</strong> von Liebesempfindungen für ihn sprechen<br />

würde, aber <strong>Claire</strong> hatte Matthis Empfindungen für sie in Zweifel gezogen.<br />

„Es wird nicht funktionieren mit uns beiden.“ dachte Matthis. „Ich kann<br />

aus meiner Rolle als jemand, der in den Realitäten des Alltags lebt nicht heraus,<br />

und <strong>Claire</strong> kann es sich leisten, sich ihren emotionalen Idealwelten träumend<br />

hinzugeben. Es ist ja schön und gut ihre wundervolle Seele zu betrachten,<br />

aber das ist eben bei weitem nicht alles.“ Auf den Flügel gelehnt stand<br />

Matthis träumend neben der spielenden <strong>Claire</strong>, die ihn zwischendurch immer<br />

wieder mit einem Lächeln bedachte. Wehmut machte sich in seinen Empfindungen<br />

breit, als ob es sich um ein traurig schönes Abschiedskonzert handele. „Ich<br />

muss jetzt gehen, <strong>Claire</strong>.“ sagte Matthis nach dem Klavierspiel. Erstaunt fragte<br />

<strong>Claire</strong>: „Habe ich dich verletzt? Habe ich dir weh getan, Matti?“ „Nein, es ist<br />

schon alles o. k.“ erwiderte Matthis und gab der verwirrten <strong>Claire</strong> zum Abschied<br />

einen Kuss. Zu Hause setzte sich Matthis an den Küchentisch, schaute<br />

mit dumpfem, ratlosem Blick zum Fenster, schlug mit der Faust auf den Tisch,<br />

senkte seinen Kopf und weinte. „Das ist doch alles Unsinn.“ dachte Matthis er<br />

war gewiss nicht der große nüchterne Realist und <strong>Claire</strong> beileibe keine Träumerin.<br />

Sie war ihm intellektuell überlegen und nicht, weil ihre Eltern etwa dafür<br />

gesorgt hätten. Sie hatte ein aktiveres, enthusiastischeres Leben geführt, hatte<br />

sich als junges Mädchen schon nicht dadurch beeinträchtigen lassen, dass sie<br />

sozial geschnitten wurde, hatte mit Bianca ein eigenständiges Leben entwickelt.<br />

Ein wundervoller Mensch sei sie, dachte Matthis, und das nur sehr bedingt<br />

wegen ihrer faszinierenden Locken. Matthis konnte wieder lächeln.<br />

Es ist vorbei<br />

<strong>Claire</strong> hatte sich wieder an den Flügel gesetzt. Dein ganzer Körper ist die Musik.<br />

Und nicht nur dein Körper, sie ist alles in dir, Musik lässt dich als untrennbare<br />

Einheit erfahren. Die Musik, das bist du. Das Klavier gibt nur die Klänge<br />

wieder, die den Ohren und dem Harmonieempfinden der Zuhörer schmeicheln,<br />

aber sie lebt in dir, du lebst die Musik mit allem, was du bist. Für anderes ist da<br />

kein Platz. Du lebst mit ihr in ihrer Welt, und da lebte es sich gut, harmonisch,<br />

da bist du ausgeglichen und zufrieden. Das hatte es für <strong>Claire</strong> schon öfter gegeben.<br />

Wenn sie etwas übte, das nicht gelingen wollte, dann konnte <strong>Claire</strong> es<br />

auch stundenlang immer wieder versuch, als ob sie es nicht ertragen könne,<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 21 von 29


sie musste das Stück besiegen, aber so war es jetzt nicht. Sie spielte alles gut<br />

Bekannte und hörte nicht wieder auf. Irgendwann kam dann Bianca zu ihr,<br />

strich ihr über den Rücken und setzte sich neben sie auf die Bank. So auch<br />

jetzt. „Es ist vorbei, Bianca.“ sagte <strong>Claire</strong>. „Was ist vorbei?“ Bianca. „Nichts ist<br />

vorbei. Wie soll etwas vorbei sein, das es gar nicht gegeben hat? Weißt du,<br />

Bianca, wir lieben uns. Ob wir im Urwald, in der Tundra oder im Iglu in Alaska<br />

lebten, was hätte das auf unsere Liebe für einen Einfluss?“ sagte <strong>Claire</strong>. „Und<br />

wenn ich der Ansicht wäre, ich kann dich nur im Iglu lieben, dann wäre unsere<br />

Liebe nicht viel wert, nicht wahr?“ meinte Bianca. Beide lachten und berührten<br />

sich. „Sollen wir nicht in den Ferien mal nach Alaska fliegen und ausprobieren,<br />

ob wir uns auch in einem Iglu vertragen würden?“ scherzte <strong>Claire</strong>. „Der andere<br />

Mensch das bist nur du, ich habe Lust auf dich und will dir näher kommen, immer,<br />

das hört nie auf. Erreichen werde ich dich nie, du wirst mir nur immer<br />

wundervoller, begehrenswerter und großartiger erscheinen. Das war schon bei<br />

Clara Schumann so, obwohl sie ja schon lange, lange tot war. Sie war meine<br />

erste große Liebe, glaube ich. So läuft es immer wieder. Und das ist jetzt vorbei,<br />

bei Matti und bei mir. So wird es nicht mehr werden.“ erläuterte <strong>Claire</strong> ihre<br />

Lage. „Du bist dir sehr schnell sehr sicher.“ meinte Bianca. „Unsicherheit kann<br />

ich auch nicht gut ertragen, will entscheiden, wie es ist, meine mich so besser<br />

zu fühlen, nur erweisen sich die Entscheidungen dann oft leider als falsch, weil<br />

manche Aspekte einem dann vielleicht nicht zugänglich sind, und eine übereilte,<br />

falsche Entscheidung ist viel unangenehmer als die vorherige Unsicherheit.“<br />

<strong>Claire</strong> sinnierte. „Ich habe ihm gesagt, dass es nicht viel wert sei, was er von<br />

seiner Liebe zu mir erzähle. Er hat sich noch mein Stück angehört und ist gegangen.<br />

Er wird nicht wiederkommen. Ich habe ihn zurückgeschickt in sein<br />

Land, ihn aus dem Land unserer möglichen Liebe vertrieben. Wohin er auch<br />

geht, zurückkehren wird er nicht.“ berichtete <strong>Claire</strong>. „Es ist nicht nur die Musik,<br />

die dir Ausgleich, Verständnis und Harmonie vermittelt, du bist es auch selber,<br />

deine Persönlichkeit, wer du bist, was in dir ist, wird auf dich Einfluss haben.<br />

Du musst dir nur ein wenig Zeit geben, dann stellt sich vielleicht manches für<br />

dich anders dar.“ meinte Bianca. „Schau mal, Bianca, Mutter hat es mir schon<br />

als kleines Kind gesagt, dass ich ein Mädchen sei wie alle anderen auch, unser<br />

Geld dürfe keine Rolle für mich als jungen Menschen spielen, ob ich gut, böse,<br />

traurig, lustig, schlau oder dumm sei, habe damit nichts zu tun. Ich habe mir<br />

das nicht vorgesagt und mein Leben gezielt daran ausgerichtet, Mutter hat es<br />

mit mir gelebt, aber vergessen habe ich es auch nicht. Die Idioten in der Schule<br />

wussten, dass ich trotzdem eine andere war. Damit konnte ich leben, aber<br />

dass Matthis es auch so sehen will, tut mir sehr weh. Ihm hätte ich mehr zugetraut.“<br />

erläuterte <strong>Claire</strong>.<br />

Einladung für Matthis<br />

„Mutter, ich habe einen Freund, der mir sehr viel bedeutet. Du und dein Geburtstag<br />

bedeuten mir auch sehr viel. Wenn ich zusammen mit meinem Freund<br />

deine Geburtstagsfeier erleben könnte, wäre das ein besonders herausgehobenes<br />

Ereignis für mich. Wenn du aber sagtest, dass mein Freund nicht eingeladen<br />

sei, würde mir deine Geburtstagsfeier auch nicht viel geben.“ teilte <strong>Claire</strong><br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 22 von 29


ihrer Mutter mit. Lächelnd sagte die: „<strong>Claire</strong> es freut mich für dich, dass du<br />

einen Freund hast, aber wen man zu seiner Geburtstagsfeier einlädt, den sollte<br />

man doch schon ein wenig kennen, oder?“ fragte sie. Wie das Verhältnis zwischen<br />

ihrem sogenannten Freund und ihr zur Zeit war, konnte sie ihrer Mutter<br />

natürlich nicht erklären. Was sie dazu grtrieben hatte, ihre Mutter Matthis einladen<br />

zu lassen, wusste sie selber nicht. Mit ziemlicher Sicherheit würde er<br />

doch auch gar nicht kommen. „Mutter, hast du je erlebt, dass ich jemanden<br />

meinen Freund oder meine Freundin genannt hätte, der nicht ein wundervoller<br />

Mensch war? Willst du jetzt beginnen daran zu zweifeln? Glaubst mir nicht,<br />

musst ihn erst selber testen?“ <strong>Claire</strong> entrüstet. „Nein, nein, es ist ja schon o.<br />

k., wenn dein Freund kommt. Nur sonst konntest du es nicht abwarten, uns<br />

deine wundervollen Menschen vorzustellen. Bei deinem Freund hätte ich schon<br />

ein Interesse, ihn kennenzulernen.“ meinte Frau Melloh. „Hätt'ste ja längst<br />

können. Er war schon öfter hier.“ <strong>Claire</strong> darauf schnoddrig lapidar. Frau Melloh<br />

lachte, verwuselte <strong>Claire</strong>s Lockenpracht und umschlang sie mit ihren Armen.<br />

<strong>Claire</strong> war für Frau Melloh etwas Exzeptionelles. Sie fühlte sich wohl in ihrem<br />

Leben, aber <strong>Claire</strong> war ein Stern, der ihr Herz erwärmte wie sonst nichts auf<br />

der Welt. Sie sprach in ihr etwas an, zu dem niemand anders Zugang hatte.<br />

Ohne dich will ich auch nicht<br />

Matthis kellnerte in seinem Café. Zwei Schichten hatte er übernommen. War<br />

nachts, wenn er nach Hause kam, total geschafft. An Portugal war ihm die Lust<br />

vergangen. Woran hatte er denn sonst noch Lust? Er machte seine notwendigen<br />

Besorgungen, las manchmal ein wenig und arbeitete sich fast besinnungslos.<br />

Für <strong>Claire</strong> würde er immer ein Idiot bleiben, der dem Banalen verhaftet<br />

und unfähig zu tiefer echter Liebe sei. Recht hatte sie, aber das war er, das war<br />

sein Leben, seine Sozialisation, so sah und erlebte er die Welt. Ändern ließ sich<br />

das durch einen Beschluss nicht. Auch wenn es sich bei den meisten Menschen<br />

nicht viel anders verhielt, trösten konnte ihn das nicht. Es kam ihm vor, als ob<br />

er ins Paradies geschaut hätte, der Zugang ihm aber verwehrt wäre. Nicht weil<br />

seine Eltern zu viel oder zu wenig Geld gehabt hätten, es war seine Persönlichkeit,<br />

seine Identität, die ihn daran hinderte, die Schwelle zum Paradies, zur<br />

Liebe, zu <strong>Claire</strong> überschreiten zu können. Zweimal war <strong>Claire</strong> schon bei Matthis<br />

gewesen. Sie dachte, er sei in Portugal, weil er beide male nicht zu Hause war.<br />

Sie versuchte es dann aber doch mit dem Handy. „Matti, wo steckst du?“ fragte<br />

<strong>Claire</strong>. „Ich arbeite im Café, komm vorbei und bring viel Trinkgeld mit.“ scherzte<br />

Matthis. Das machte <strong>Claire</strong>, aber nur um einen Termin für ein Gespräch zu<br />

vereinbaren. Das wäre natürlich auch am Telefon möglich gewesen, aber sehen<br />

wollte sie ihn schon. „Ich weiß es nicht, Matti,“ sagte <strong>Claire</strong> als sie nachts um<br />

halb zwei zu Matthis in sein Appartement kam, „mit uns beiden, das wird nicht<br />

gut gehen, weil wir in vielem zu verschieden sind, aber ganz ohne dich, das<br />

will ich auch nicht. Warum? Ich weiß gar nicht genau. Es ist nur ein Gefühl, nur<br />

ein Gespür, verstehst du? Im Bauch oder im Herz ist es auch nicht. Es ist einfach<br />

so da, immer so da. Meinst du, dass so etwas trotzdem mit Liebe zu tun<br />

haben könnte?“ fragte <strong>Claire</strong> schelmisch grinsend. Matthis lachte mit geschlossenem<br />

Mund. „<strong>Claire</strong>,“ begann Matthis, „ich bin verrückt nach dir und könnte<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 23 von 29


dich verschlingen. Ohne dich halte ich es eigentlich gar nicht aus, aber dann<br />

sehe ich, was für ein riesiger Idiot ich bin, und ändern kann ich es nicht.“ Matthis<br />

standen dabei die Tränen in den Augen. „Das bist nicht du, Matti. Du bist<br />

ein wundervoller Junge, den liebe ich, den mag ich, der gefällt mir. Das andere<br />

ist hässlicher Zierrat, störender Tand deiner Sozialisation. Du wirst lernen,<br />

ohne auszukommen. Wir werden es gemeinsam lernen, während du mir beibringst,<br />

wie es mit einem geliebten Freund sein kann, willst du?“ fragte <strong>Claire</strong>,<br />

lächelte und bewegte ihren Kopf zu Matthis, um ihn zu küssen. Sie redeten lange<br />

miteinander. <strong>Claire</strong> musste Matthis ja schließlich beibringen, dass er zur Geburtstagsfeier<br />

ihrer Mutter eingeladen sei. Matthis zog ein krauses Gesicht.<br />

Daran wollte er nicht teilnehmen. „Matti!“ drohte ihm <strong>Claire</strong> „Wer ist das, der<br />

dich so eine krause Schnute ziehen lässt? Der, den du in dir gar nicht magst,<br />

wird dir dazu raten. Und du willst ihm folgen? Sich seinen dummen Ratschlägen<br />

beugen? Gefällt es dir nicht besser, den Ratschlag deiner Liebsten zu beachten<br />

und sie an diesem Abend glücklich sehen zu wollen?“ Die beiden blickten<br />

sich mit zum Lachen bereiten Lippen an. „Was habe ich denn davon?“ begann<br />

Matthis. <strong>Claire</strong> unterbrach ihn: „Nicht „Was habe ich, ich, ich davon, was<br />

hat meine Liebste davon.“ fragt jemand, der verliebt sein will. Liebe ist rein altruistisch,<br />

nur geben wollen, niemals kalkulieren und nach den eigenen Vorteilen<br />

fragen. Dann ist es keine Liebe. So kann Liebe nicht gehen, Herr Matti.“<br />

Matthis schmunzelte und überlegte. „Also gut, meine Liebste, ich werde kommen,<br />

weil es mich glücklich macht, meiner Liebsten eine Freude bereiten zu<br />

können, und sie dadurch meine Liebe spüren zu lassen. So richtig?“ fragte<br />

Matthis und beide lachten.<br />

Geburtstagsfeier<br />

Matthis wurde natürlich zuerst <strong>Claire</strong>s Eltern vorgestellt. Während ihr Vater ein<br />

paar förmlich freundliche Worte fand und ihnen für ihre Liebe viel zukünftiges<br />

Glück wünschte, wollte ihre Mutter schon mit Matthis ins Gespräch kommen.<br />

„Sie haben sich in <strong>Claire</strong>, unsere Tochter, verliebt. Das kann ich ihnen gut<br />

nachempfinden. Wenn ich ein Mann wäre, würde ich mich auch bestimmt jeden<br />

Tag in unsere Clara verlieben.“ meinte Frau Melloh. „Clara?“ fragte Matthis.<br />

„Unsere Clara Schumann-Melloh, das kann man gar nicht oft genug sagen.<br />

Dass sie sich den Namen des Konkurrenten Schubert gibt, ist eine Schande.“<br />

Frau Melloh lachend dazu. „Die darf das.“ bemerkte <strong>Claire</strong> lapidar am Rande.<br />

„Der Clara Schumann wurde aber ja die Liebe verboten, für Clara Melloh werden<br />

sie doch nicht etwa auch Bestrebungen in dieser Richtung hegen.“ erkundigte<br />

sich Matthis. Frau Melloh lachte. „Sie sind ein lustiger Mensch.“ „Du bist.“<br />

verbesserte sie <strong>Claire</strong>, „Matti ist mein Freund, kein fremder Mann.“ Die drei<br />

scherzten noch ein wenig weiter. <strong>Claire</strong>s Mutter schien Matthis auch zu mögen.<br />

Allen möglichen Bekannten wurde Matthis vorgestellt. Er solle sich melden,<br />

wenn es ihm reiche, hatte <strong>Claire</strong> Matthis gesagt, aber dem schien es eher zu<br />

gefallen. Bestimmt auch, weil <strong>Claire</strong> es nicht monoton machte, sondern immer<br />

wieder andere Wendungen fand. „Mein Freund Matthis ist das, er ist Maler.“<br />

stellte <strong>Claire</strong> ihn vor, während bei geschlossenen Augen die Brauen angehoben<br />

wurden und die Lippen des Bekannten sich zu einem mokanten Grinsen über<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 24 von 29


den trüben Scherz formen wollten. „Er malt aber nur Altäre.“ fügte <strong>Claire</strong> erläuternd<br />

hinzu. „Ach, ja? Und wo?“ erkundigte sich der Bekannte. „Im hohen<br />

Dom zur Liebe.“ lautete <strong>Claire</strong>s Antwort. Jetzt lachte der Bekannte mit geschlossenen<br />

Lippen. „Da sollte es ja schon etwas zum Anbeten geben, nicht<br />

wahr, aber reicht es denn nicht, wenn dein Freund dich anbetet?“ fragte er und<br />

lachte wieder. „Das macht der nicht. Der nimmt mich immer nur kritisch ins Visier.“<br />

<strong>Claire</strong> darauf. So kannten ihn schon viele, als <strong>Claire</strong> ihn plötzlich auf die<br />

Bühne schleppte. Das sei Matthis ihr Freund, sagte sie. Für ihn habe die Uraufführung<br />

stattgefunden, und weil er so begeistert gewesen sie, hätten Bianca<br />

und sie sich entschlossen, es heute Abend auch für ihre Mutter aufzuführen, im<br />

Grunde also ein Geschenk von ihnen dreien, und die beiden spielten Elvira Madigan.<br />

Ob <strong>Claire</strong> diesmal wieder Ricco die Show stehlen würde? Wohl eher<br />

nicht, aber etwas Ungewöhnliches war es schon. Nur eine Geige mit Klavier,<br />

und dann Elvira Madigan, ob das etwas zu bedeuten hatte? Schnell wieder vergessen<br />

würden es die Geburtstagsgäste auch diesmal nicht, so auffällig war es<br />

schon. Als die meisten Gäste gegangen waren, fragte <strong>Claire</strong> die Band, ob sie<br />

einen Sirtaki spielen könnten? Die verständigten sich untereinander, sie konnten.<br />

Zusammen an einem Tisch hatten sie gesessen, <strong>Claire</strong>, Eva, Ricco, Hellen,<br />

Bianca und Matthis, jetzt mussten alle Sirtaki tanzen. Richtig konnte es keiner.<br />

Aber was spielte das schon für eine Rolle, es war eher die Fortsetzung dessen,<br />

was sich den ganzen Abend an diesem Tisch abgespielt hatte. Dass es die Geburtstagsfeier<br />

von <strong>Claire</strong>s Mutter war, hätte man dort nicht vermutet. Jeder der<br />

sechs hätte heute Abend Geburtstag haben können vor allem aber <strong>Claire</strong>. <strong>Claire</strong>s<br />

Mutter kam an ihren Tisch bevor sie sich zurückziehen wollte, sie hielt <strong>Claire</strong>s<br />

Kopf, küsste sie zweimal auf jede Wange, umschlang und drückte sie. Ob<br />

sie sich bei <strong>Claire</strong> bedanken wollte, für die gute Stimmung, zu der sie erheblich<br />

beigetragen hatte, oder ob sie sich einfach nur für <strong>Claire</strong> freute über ihre Hochstimmung,<br />

von der sie heute Abend ganz offensichtlich getragen war. Was auch<br />

immer der Grund war, Frau Melloh brauchte ihn nicht zu benennen.<br />

Unerwartetes am Baggersee<br />

Matthis hatte aufgehört zu arbeiten, dafür verbrachte er jetzt fast jeden Nachmittag<br />

bei <strong>Claire</strong>. Sie lagen auf <strong>Claire</strong>s Bett und erzählten sich gegenseitig<br />

ohne Ende, zum Beispiel wie Eva und sie mit zehn Jahren den Nationalsozialismus<br />

erforscht hatten, weil sie Eva klar gemacht hatte, dass die Hähnchen im<br />

Supermarkt nicht alle friedlich im Bett gestorben seien. Die wollte nämlich<br />

nicht mehr zu ihren einen Großeltern, weil das alles Verbrecher seien. Die würden<br />

lebende Tiere ermorden. Von einem Huhn wusste Eva Genaueres. Heute<br />

würde man in den Fabriken die Hähnchen mit Maschinen umbringen, und wer<br />

so etwas täte, mache das morgen bestimmt auch mit Menschen. <strong>Claire</strong> wusste,<br />

dass es so etwas schon mal gegeben haben sollte, von ihrem Opa. Der wüsste<br />

bestimmt viel mehr davon, und Bianca hatte es sogar in der Schule gelernt.<br />

Das erste Forschungsprojekt mit Bianca. „Kinderkram war das nicht, Matti. Sieben<br />

Jahre später waren wir beiden noch absolute Spitzenfrauen in Sachen Nationalsozialismus,<br />

als es in der Schule behandelt wurde. Was und wie du in der<br />

Schule lernst ist ziemlich schrottig. Irgendwo durch bin ich oder sind wir auf<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 25 von 29


etwas Interessantes gestoßen und haben uns näher und tiefer damit beschäftigt.<br />

In keinem Fall hat Schule auch nur annähernd das vermittelt, was ich allein<br />

oder wir gemeinsam herausgefunden haben. Meistens war das ja vorher,<br />

und wenn es dann in der Schule zur Sprache kommt, tut es richtig weh, da<br />

kannst du nur weinen. Im Unterricht erweckt es gar nicht den Anreiz und vermittelt<br />

nicht die Tiefe. Über Paula Modersohn-Becker habe ich mich mit der<br />

Kunstlehrerin heftig gestritten. Ich war richtig in Rage. Ein Verbrechen an der<br />

Kunst sei es, wie wie und was sie da zu vermitteln versuche. Du kannst die<br />

Welt gar nicht verstehen mit dem, was und wie es dir an der Schule geboten<br />

wird. Höhere Bildung? Halbbildung ist das, höchstens.“ erzählte <strong>Claire</strong>. Matthis<br />

blieb auch öfter zum Abendbrot und schlief bei Mellohs. „Sanft berühren und<br />

viel küssen, so geht Liebe doch? Hast du gesagt. Matti, es tut mir leid, aber<br />

wenn ich daran denke, dass wir ja auch mal Sex haben müssten, dann quält<br />

mich das. Normal ist das doch nicht. Komisch, nicht wahr?“ stellte <strong>Claire</strong> ihre<br />

Situation dar. „Quatsch, nichts ist komisch. Wir müssen nur das machen, was<br />

wir beide wollen. Etwas anderes geht nicht und wird es nicht geben, und nichts<br />

und niemand wird uns dazu drängen können. Sex oder nicht, das ist doch<br />

Blödsinn. Ist das kein Sex, wenn wir uns küssen? Liegst du mit deiner Mutter<br />

auch streichelnd und küssend auf dem Bett? Wenn ich dein Gesicht und deinen<br />

Hals küsse ist kein Sex, aber bei Schulter und Dekolleté da wäre es dann schon<br />

so? Unfug. Alles bestimmt die Libido, und deine sagt uns, was dir gefällt.“ war<br />

Matthis Ansicht dazu. <strong>Claire</strong> schmunzelte. „Sie war ja nicht asexuell, befriedigte<br />

sich auch selbst, nur was sollte ein Mann dabei? Der störte doch eher.“<br />

dachte <strong>Claire</strong> und schmunzelte. Irgendwann würde sie es bestimmt herausbekommen.<br />

Als sie zum Schwimmen an den Baggersee fuhren, musste es wohl<br />

dazu gekommen sein. Ob er sie einkremen solle, hatte Matthis gefragt. Ja, sollte<br />

er. <strong>Claire</strong> kam es vor, als ob sie selbst sich sonst die Haut eher abschmirgeln<br />

würde, denn mit dem wie Matthis es jetzt machte, hatte das außer der Kreme<br />

nicht vieles gemeinsam. Überall verstrich Matthis die Sonnenmilch ganz sanft<br />

mit den Fingerspitzen als ob er ihr das Wänglein streichle. „Vorne auch, so wie<br />

du kann ich das nicht.“ meinte <strong>Claire</strong> mit wonnigem Lächeln. Matthis hatte<br />

<strong>Claire</strong> noch nie so gesehen, nur in ihrem knappen Bikini, und gleich überall ihre<br />

Haut streicheln. „Ich glaube, hinten ist schon alles wieder eingetrocknet, du<br />

müsstest es nochmal machen.“ meinte <strong>Claire</strong> und Matthis grinste. Als er wieder<br />

zu ihren Oberschenkel kam, atmete <strong>Claire</strong> tief und meinte: „Mach mal fester.“<br />

Plötzlich drehte sie sich zur Seite, drückte Matthis ganz fest an sich und verteilte<br />

Küsse überall in seinem Gesicht.<br />

Libido streicheln<br />

„Du bleibst heute Abend,oder?“ fragte <strong>Claire</strong> Matthis auf der Rückfahrt. Der<br />

sagte nichts, seine Mimik antwortete mit einem kann-ich-machen Gesicht.<br />

Beim Abendbrot fragte <strong>Claire</strong> Bianca, ob sie anschließend Lust habe auf die 'seven<br />

variations'. Bianca grinste und nickte Zustimmung. Sie holte ihre Bratsche,<br />

die eher geeignet war den vorgeschriebenen Cellopart zu übernehmen. Das<br />

kannte Matthis. 'Bei Männern, welche Liebe fühlen' von Beethoven war es.<br />

Bianca konnte mit Geige und Bratsche anscheinend alles Unmögliche spielen.<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 26 von 29


Wer es noch nie gehört hatte, wäre nicht auf die Idee gekommen, dass es für<br />

ein anderes Instrument komponiert worden sei. Glückliche Freude strahlten die<br />

Gesichter der drei anschließend aus. <strong>Claire</strong> stieß Matthis aufs Bett und setzte<br />

sich auf ihn. <strong>Claire</strong> grinste. „Matti, weißt du, das Einkremen vom Baggersee,<br />

das brauche ich jetzt öfter, auch wenn keine Sonne scheint.“ meinte <strong>Claire</strong> und<br />

beide grinsten stumm. Wenn du mich im Gesicht streichelst, dann fühlt sich<br />

das sehr gut an, aber heute Nachmittag, das hat nicht nur meine Haut gespürt,<br />

das ging durch meinen ganzen Körper. Ich glaube, es hat sich sogar angefühlt,<br />

als ob du direkt meine Libido gestreichelt hättest. Kann das sein?“ fragte <strong>Claire</strong><br />

den ebenfalls lachenden Matthis. „Für unmöglich halte ich das nicht, aber ob es<br />

so war, wirst nur du selber beurteilen können.“ Matthis darauf. „Dann müsstest<br />

du es nochmal machen, damit ich mir sicher bin. Willst du?“ fragte <strong>Claire</strong> Matthis.<br />

Dass er es wollen würde, davon war <strong>Claire</strong> wohl ausgegangen, denn sie<br />

hatte schon vorm Abendbrot das Massageöl aus dem Bad geholt. „So wie am<br />

See, nicht wahr?“ fragte sie, und <strong>Claire</strong> begann, sich bis auf Slip und BH auszuziehen.<br />

„Ach, Quatsch.“ sagte sie, als sie auf dem Bett lag und zog Slip und BH<br />

auch aus. <strong>Claire</strong> atmete genussvoll tief, nur im Gegensatz zum Einkremen heute<br />

Nachmittag küssten sie sich immer wieder zwischendurch, und Matthis küsste<br />

<strong>Claire</strong>s Haut überall, wo er sie berührte. <strong>Claire</strong> war glücklich, erregt und aufgeregt.<br />

Ganz rot waren ihre Wangen geworden, die gegenseitige Berührung ihrer<br />

nackten Körper schien <strong>Claire</strong>s Libido auch nicht völlig unberührt zu lassen,<br />

und Matthis wurde auch massiert. „Heute noch nicht, nicht wahr? Aber bestimmt<br />

bald, ganz bald.“ sagte <strong>Claire</strong>, als sie Matthis erigierten Penis berührte.<br />

Die Nacht verbrachten sie aber trotzdem gemeinsam in <strong>Claire</strong>s Bett. Jede<br />

Nacht taten sie das, und <strong>Claire</strong> vermutete, dass es zu einer dauerhaften Einrichtung<br />

werden könnte, denn sie gingen gemeinsam sich ein größeres Bett<br />

aussuchen.<br />

<strong>Claire</strong> Schubert muss sterben<br />

„Matthis, du sollst dein Appartement nicht aufgeben, nur du wirst ja auch im<br />

nächsten Semester häufig hier sein, und da brauchst du doch einen eigenen<br />

Raum. In der Firma ist eine Innenarchitektin beschäftigt, die soll uns mal Vorschläge<br />

machen. Matthis konnte es sich nicht verkneifen, doch wieder an das<br />

normale Leben zu denken, er lebte mit <strong>Claire</strong>, aber noch nicht in ihrer Welt. Er<br />

forschte aber schon mit ihr. Von Portugal, seiner Begeisterung für dieses Land<br />

und seinem Interesse an der Geschichte hatte er <strong>Claire</strong> erzählt. Sie wollten gemeinsam<br />

in den nächsten Semesterferien dort hinfahren, aber vorher mussten<br />

sie alles tief und genau verstehen lernen. Die Bücher von António Lobo Antunes,<br />

José Saramago, Fernando Pessoa verschlangen und diskutierten sie. Und<br />

natürlich auch die Geschichte, die Kolonien, Salazar und vor allem die Nelkenrevolution.<br />

Es gab wohl kaum etwas, worüber sie nicht informiert sein wollten.<br />

Nicht zu vergessen, die Musik. Bianca versuchte sich schon auf der Geige am<br />

Fado. Eine Atmosphäre, wie Matthis sie noch nie erlebt hatte, intensiv, tief und<br />

gemeinsam, so spannend und erfüllend wie die Liebe, oder war es die Liebe?<br />

„Mit meinen Eltern bin ich nur als Kind zweimal in Urlaub gewesen. Ich hatte<br />

immer keine Lust und keine Zeit. Wenn ich später in den Ferien mal irgendwo<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 27 von 29


hingefahren bin, dann war das stets mit Bianca und Eva. Ja, immer waren das<br />

Forschungsreisen.“ sinnierte <strong>Claire</strong> und lächelte.<br />

„Was würde denn <strong>Claire</strong> Schubert in den Semesterferien machen?“ erkundigte<br />

sich Matthis. „Die würde „Das wandern ist des Müllers Lust.“ spielen und Matthis<br />

Ferra müsste dazu singen. Was hast du denn mit <strong>Claire</strong> Schubert plötzlich?“<br />

fragte <strong>Claire</strong>. „<strong>Claire</strong> Schubert, wer ist das denn eigentlich? Wen soll die Maske<br />

denn zeigen. Eva wollte als stilles, unauffällig schweigsames Mädchen gesehen<br />

werden, und was soll die Maske <strong>Claire</strong> Schubert zeigen? Nichts. Eine Maske ist<br />

das nicht. Alle laufen sie mit Masken rum nicht nur Eva. Jede und jeder zeigt<br />

sich so, wie er gern gesehen werden möchte. Zeigt nicht sich selbst, zeigt die<br />

Maske seiner Wunschidentität. Nur die Maske <strong>Claire</strong> Schubert sagt nichts, du<br />

stellst dich kein bisschen anders da. Dein Alias finde ich albern. Als Kind und<br />

Jugendliche hast du es nicht gehabt und bist trotzdem damit fertig geworden.<br />

Das ist allerdings sehr beachtlich, und jetzt meinst du so etwas zu benötigen?<br />

Wer hätte denn bei deinem Referat an irgendetwas gedacht, wenn man gewusst<br />

hätte, dass du <strong>Claire</strong> Melloh bist? Du hast diesen Firlefanz mit Pseudonym<br />

und Maske nicht nötig. Du bestichst durch dich selber oder nicht. Das<br />

Geld deiner Eltern grassiert nur in deinem egenen Kopf, vielleicht auch noch<br />

bei potentiellen Kidnappern, aber nicht in der Beurteilung deiner Person heute.“<br />

antwortete Matthis. „Ja, in allem wird nur der Schein, die Maske, gezeigt,<br />

gefordert und auch erwartet. Es reicht sich zu geben 'als ob', dann sind alle zufrieden.<br />

Mir hat man meine Maske verpasst. Ich hatte eine Tochter superreicher<br />

Eltern zu sein, auch wenn es mit mir selbst, meiner Identität, nichts zu<br />

tun hatte. Du hast schon Recht. <strong>Claire</strong> Schubert ist die Maske für eine gewöhnliche,<br />

durchschnittliche, junge Frau, aber eine mit ganz schlechter Schminke.<br />

Außerdem will ich das doch gar nicht sein, gewöhnlich, durchschnittlich. Man<br />

hat mich aus anderen Gründen nicht im Mainstream mit schwimmen lassen,<br />

und es hat mich gelehrt, dass ich mir für mich nichts weniger wünsche, als<br />

darin mit getrieben zu werden. Ich vermute, <strong>Claire</strong> Schubert wird sterben müssen,<br />

und wir werden sie auf dem Cemitério dos Prazeres, dem Friedhof der<br />

Freuden, in Lisboa beerdigen.“ „Eine freudige Beerdigung, ein Beerdigungsfreudenfest<br />

wollen wir feiern, nicht wahr? Und in Zukunft wird <strong>Claire</strong> Mellohs Gesicht<br />

allen sagen, wer sie ist und nicht ihre Maske.“ sah es Matthis.<br />

FIN<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 28 von 29


Un amour impossible. Qui<br />

devient possible.<br />

C'est tout un monde qui<br />

s'écroule.<br />

François Brunet<br />

<strong>Claire</strong> musste aufpassen. Beim<br />

Klavierspielen hätte sie sich beinahe<br />

verplappert. Eine Studentin, deren<br />

Eltern auch hier leben und die sowieso<br />

zum Klavierspielen nach Hause geht,<br />

braucht die ein eigenes Appartement?<br />

Wegen der Selbständigkeit hatte sie<br />

erklärt. „Wer ist denn eigentlich <strong>Claire</strong><br />

Melloh?“ wollte Matthis wissen, als<br />

<strong>Claire</strong> mit dem Kaffee kam. „Wieso?“<br />

<strong>Claire</strong> erstaunt. „Entschuldigung, ich<br />

habe bei dir auf den Schreibtisch<br />

geschaut, und da stand zweimal auf einer Adresse '<strong>Claire</strong> Melloh bei Schubert'“<br />

erläuterte Matthis. „Na, die wohnt auch hier.“ reagierte <strong>Claire</strong> in einem Tonfall,<br />

als ob es sich um die unbedeutendste Selbstverständlichkeit der Welt handele.<br />

„Mit zwei <strong>Claire</strong>s wohnt ihr zusammen?“ wollte es Matthis doch genauer<br />

wissen. „Na ja, <strong>Claire</strong> ist eben heute bei uns ein genauso üblicher Vorname wie<br />

früher in Frankreich.“ <strong>Claire</strong> dazu in gewohnter Schnoddrigkeit. „Und wo hat sie<br />

ihr Zimmer?“ wurde es für Matthis langsam spannend. „Die ist nur ganz selten<br />

hier. Du hast sie ja auch noch nie gesehen. Die schläft auch ausschließlich zu<br />

Hause.“ begründete es <strong>Claire</strong>, aber ihre Mimik verformte sich schon zu einem<br />

Grinsen. So einen Unfug konnte sie Matthis nicht erzählen. Was sollte sie tun?<br />

<strong>Claire</strong> <strong>Inkognito</strong> – Seite 29 von 29

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