Nachdem Heinrich Mann, der ehemalige ... - Ricarda jubiliert
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Frühromantik geschulte Liebe zur Vielstimmigkeit und Vieldeutigkeit, zur Deutungsof-<br />
fenheit des Daseins, zum offenen Gespräch in einer (auch wenn sie diesen Ausdruck<br />
selber gewiss nicht gebraucht hätte) offenen Gesellschaft. Dazu gehört die Freude dar-<br />
über und die Dankbarkeit dafür, dass die An<strong>der</strong>en da sind und dass sie an<strong>der</strong>s sind als<br />
wir.<br />
Deutscher Geist, das heißt für sie wie für ihre romantischen Vorgänger Organismus<br />
statt Struktur, Morphologie und Evolution statt Umsturz und Revolte, Sinn für Mythos<br />
und Mysterium statt Aufklärungsoptimismus – aber es heißt für sie ebenso selbstver-<br />
ständlich Humanität und Weltneugier. Und beides schließt, wenn es konkret werden<br />
soll, sogleich so schöne Dinge ein wie soziale Gerechtigkeit und Friedenspolitik.<br />
1931 hält <strong>Ricarda</strong> Huch in Frankfurt den großen Vortrag „Deutsche Tradition“. Gleich<br />
im ersten Satz erläutert sie diese Leitkategorie: „Von Tradition sprechen wir, wenn et-<br />
was, was sich in den Anfängen eines Volkes ausgewirkt hat, dauernd fortsetzt.“ Man<br />
könnte auch sehr an<strong>der</strong>s von Tradition sprechen, aber hier ist mit aller Selbstverständ-<br />
lichkeit die Vorstellung von etwas einmal und für immer Gegebenen vorausgesetzt, das<br />
die Beschaffenheit eines als Kollektivsubjekt gesetzten Volkes bestimmt.<br />
Hier bestimmt sie ziemlich pointiert den im Laufe ihrer historischen Schriften entwi-<br />
ckelten Begriff des „Reichs“ – und zwar auf eine Weise, die den nationalen und völki-<br />
schen Verwendungsweisen dieses Modewortes diametral entgegensteht. Die deutsche<br />
Idee des „Reiches“, das ist für sie die ideale Synthese von individuellen und kollektiven<br />
Freiheitsrechten, und sie ist <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> Herrschaft des Adels wie des Besitzbürgertums<br />
ebenso entgegengesetzt wie <strong>der</strong>jenigen <strong>der</strong> Herrschaft einer ethnischen Gruppe. Gegen-<br />
satz des fö<strong>der</strong>alen „Reichs“ ist für <strong>Ricarda</strong> Huch „das Fürstentum“ als Inbegriff zentra-<br />
listisch-autoritärer Herrschaft; er schließt den „neuen Fürstenstand“ des kapitalistischen<br />
Großbürgertums ausdrücklich ein. Sie entfaltet diese Opposition in weit ausholenden<br />
Betrachtungen, die vom Mittelalter über Humanismus und Renaissance in die Goethe-<br />
zeit und schließlich in die unmittelbare Vorgeschichte wan<strong>der</strong>n – und die seit den Tagen<br />
<strong>der</strong> bewun<strong>der</strong>ten preußischen Reformer um den Freiherrn vom Stein einen politischen<br />
Nie<strong>der</strong>gang konstatieren. Es lohnt, einige Sätze aus diesen letzten Überlegungen zu zi-<br />
tieren: „Es zeigte sich, dass die Tradition des Fürstentums, die auf Zentralisation, Milita-<br />
rismus und Finanzen ausging, stärker war als die des Reichs, dessen Idee Einheit, Frei-<br />
heit und Recht war [im Singular: die Begriffe des Deutschlandliedes bilden für sie eine<br />
Einheit!] … Tatsächlich war <strong>der</strong> Kaiser des neuen Reichs von 1870 nicht Kaiser im mit-<br />
telalterlichen Sinn, son<strong>der</strong>n Fürst. Äußerlich wurde die deutsche Tradition in dem neu-<br />
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