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Marlis Poertner

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<strong>Marlis</strong> Pörtner<br />

Ernstnehmen, Zutrauen, Verstehen - personzentrierte Betreuung für Men-<br />

schen mit geistiger Behinderung<br />

Wer sind Menschen mit geistiger Behinderung? Dieser Begriff umfasst eine Vielzahl<br />

von Menschen mit den unterschiedlichsten Beeinträchtigungen: Lernbehinderungen,<br />

psychischen Störungen, klar feststellbaren organischen Defekten, Körperbehinde-<br />

rungen (und damit verbundener mangelnder Förderung), Mehrfachbehinderungen,<br />

Hirnschädigungen als Folge von Unfall oder Krankheit. In den entsprechenden Ein-<br />

richtungen begegnen wir Menschen mit leichten oder schweren Verhaltensauffällig-<br />

keiten, anderen, die ganz "normal" wirken, und manchen, bei denen wir uns fragen,<br />

ob nicht eher der Zufall oder widrige Lebensumstände dazu geführt haben, dass sie<br />

hier leben und nicht anderswo.<br />

Was also heißt geistige Behinderung? Hennicke & Rotthaus formulieren es so<br />

(1993): "Geistige Behinderung ist eine mögliche Daseinsform des Menschen, die<br />

erst im Kontext von Gesellschaft zur eigentlichen Behinderung wird." Ihre Definition<br />

trägt der widersprüchlichen Vieldeutigkeit des Begriffs Rechnung und macht deut-<br />

lich, dass geistige Behinderung eine Problematik nicht nur der betroffenen Men-<br />

schen, sondern auch ihres persönlichen und gesellschaftlichen Umfeldes ist. Oft<br />

haben die sozialen Beeinträchtigungen, die ein Leben als Mensch mit geistiger Be-<br />

hinderung mit sich bringt, viel schwerwiegendere Auswirkungen als die ursprüngli-<br />

che Schädigung. Zahlreiche Untersuchungen weisen überzeugend nach, dass Grad<br />

und Ausprägung dessen, was wir geistige Behinderung nennen, zwar nicht aus-<br />

schließlich aber doch in hohem Maße bestimmt wird von der Qualität der Interaktion<br />

zwischen der Umwelt und den Menschen, die wir als behindert bezeichnen.<br />

Im Zuge der Normalisierungsbewegung, die im Laufe der 1960/70-er Jahre ihren<br />

Anfang nahm, haben Pädagogen zunehmend angestrebt, Menschen mit geistiger<br />

Behinderung ein möglichst normales Leben zu bieten, und zwar in allen Lebensbe-<br />

reichen: Wohnen, Arbeit, Freizeit, Tages- und Jahresablauf, Beziehungen. Das war<br />

ein großer Schritt nach vorn. Doch neben dieser erfreulichen Entwicklung zum Bes-<br />

seren, gibt es nach wie vor auch erschreckend abwertende und undifferenzierte<br />

Ansichten über Menschen mit geistiger Behinderung - auch in Westeuropa. Noch<br />

immer gibt es Institutionen, deren Strukturen ihren Bewohnerinnen und Bewohnern<br />

viel zu wenig Spielraum für eigenständige Entwicklung einräumen. Noch immer gibt<br />

es Bezugespersonen, die das Leben der ihnen anvertrauten Menschen viel zu sehr<br />

steuern und bestimmen wollen. Der Normalisierungsgedanke hat noch längst nicht<br />

1


überall Einzug gehalten. Oft ist er auch missverstanden und ins Gegenteil verkehrt<br />

worden. Normalisierung darf nicht heißen, Menschen mit geistiger Behinderung auf<br />

Biegen und Brechen an das anzupassen, was wir als normal" ansehen. Es kann<br />

nicht darum gehen, sie zur Unauffälligkeit zu erziehen, damit sie nicht als behindert<br />

in Erscheinung treten: mit anderen Worten Normalität durch Vertuschen der Behin-<br />

derung herstellen zu wollen. Auch mit Hinwegsehen über tatsächlich bestehende<br />

Behinderungen ist den betroffenen Menschen keineswegs geholfen. Vielmehr muss<br />

sorgfältig beachtet werden, worin genau bei jeder Person die Einschränkung be-<br />

steht und wann sie welche Unterstützung braucht, damit ihr ein angemessener<br />

Rahmen und größtmöglicher Freiraum geboten werden kann. Individuelle Beein-<br />

trächtigungen müssen, ebenso wie individuelle Ressourcen, differenziert erkannt<br />

und berücksichtigt werden. Geschieht das nicht, werden Menschen mit geistiger<br />

Behinderung ständig überfordert und entmutigt. Das ist weder ihrer Entwicklung,<br />

noch ihrem Wohlbefinden, noch ihrer seelischen Gesundheit zuträglich und bewirkt<br />

neue Verhaltensstörungen. So werden Menschen mit geistiger Behinderung oft be-<br />

hinderter gemacht, als sie es eigentlich wären.<br />

Normalisierung muss heißen: Bedingungen schaffen, die es auch behinderten Men-<br />

schen ermöglichen, Eigenständigkeit zu entwickeln, ihre Persönlichkeit zu entfalten<br />

und sich auf ihre Weise mit der Realität, in der sie leben, zurechtzufinden. Diesen<br />

Anforderungen kommt die personzentrierte Arbeitsweise in hohem Maß entgegen.<br />

Grundlagen der personzentrierten Arbeit<br />

Das personzentrierte Konzept "Ernstnehmen, Zutrauen, Verstehen" ist entstanden<br />

aufgrund meiner langjährigen Erfahrung mit Psychotherapien für Menschen mit<br />

geistiger Behinderung, sowie Supervision und Praxisberatung für Mitarbeitende von<br />

sozialen Institutionen zugrunde. Dieses Konzept wurde nicht aus theoretischen Ü-<br />

berlegungen, sondern aus der Praxis heraus entwickelt. Doch es beruht fest auf<br />

den Grundlagen des personzentrierten Ansatzes. Das sind insbesondere:<br />

- ein humanistisches Menschenbild<br />

- Rogers' Begriff vom Selbstkonzept: das Bild, das eine Person von sich hat und<br />

die Wertung, die sie damit verbindet.<br />

- die von Rogers definierte personzentrierte Haltung bestehend aus Empathie,<br />

Wertschätzung und Kongruenz<br />

- Prouty's Begriff der Kontaktfunktionen, die drei verschiedene Ebenen umfassen:<br />

Kontakt zur Realität, zu sich selbst, zu anderen.<br />

Personzentriert arbeiten heißt:<br />

2


° nicht von Vorstellungen ausgehen, wie Menschen sein sollten, sondern davon wie sie<br />

sind und von den Möglichkeiten, die sie haben.<br />

° andere Menschen in ihrer ganz persönlichen Eigenart und Ausdrucksweise verstehen<br />

und sie dabei unterstützen, eigene Wege zu finden, um sich - innerhalb ihrer begrenzten<br />

Möglichkeiten - mit der Realität zurechtzufinden.<br />

° nicht für andere Menschen, sondern mit ihnen Wege finden und Lösungen suchen.<br />

° nicht erklären, sondern verstehen.<br />

° nicht machen, sondern ermöglichen<br />

Personzentriert arbeiten ist weniger eine Methode als, eine Haltung. Dennoch gibt es da-<br />

für klare methodische Richtlinien, denn eine Haltung wird nicht in schönen Grundsätzen<br />

wirksam, sondern muss sehr konkret ins tägliche Handeln umgesetzt werden. Dafür gibt<br />

es geeignetere und weniger geeignete methodische Ansätze. Das Konzept "Ernstneh-<br />

men, Zutrauen, Verstehen" zeigt auf, welche Handlungsgrundlagen für diese Arbeitsweise<br />

bestimmend sind und formuliert praktische Richtlinien für den Alltag. Zusammen bilden sie<br />

ein Gerüst, das den Mitarbeitenden verbindliche Vorgaben für ihr Handeln gibt und ihnen<br />

zugleich den nötigen Spielraum lässt, um angemessen auf individuelle Unterschiede und<br />

situationsbedingte Aspekte zu reagieren.<br />

Handlungsgrundlagen<br />

° Gleichgewicht zwischen Rahmen und Spielraum<br />

° Klarheit<br />

° Erleben als zentraler Faktor<br />

° Nicht was fehlt, ist entscheidend, sondern was da ist<br />

° Die kleinen Schritte<br />

° Der Weg ist ebenso wichtig wie das Ziel<br />

° Vertrauen auf Entwicklungsmöglichkeiten<br />

° Selbstverantwortung<br />

Im Vortrag werden einige Punkte dieser Handlungsgrundlagen herausgegriffen und<br />

anhand von praktischen Beispielen erläutert. Zum Beispiel: die Unerlässlichkeit, für<br />

jeden Menschen immer wieder die angemessene Balance zwischen Rahmen und<br />

Spielraum zu finden; oder die zentrale Bedeutung des individuellen Erlebens als<br />

Schlüssel zum Verstehen und Handeln. Jeder Mensch erlebt anders, das gilt auch<br />

für Menschen mit geistiger Behinderung. Niemals erleben zwei Menschen gleich,<br />

auch nicht die mit der gleichen Behinderung oder der gleichen Diagnose. Sinnvolle<br />

Betreuung ist nur möglich, wenn dieses unterschiedliche Erleben wahrgenommen<br />

und berücksichtigt wird.<br />

3


Aus den Handlungsgrundlagen lassen sich konkrete Richtlinien ableiten, die<br />

Betreuenden in alltäglichen Arbeitssituationen klare Orientierungshilfe bieten und<br />

bei Meinungsverschiedenheiten im Team als Richtschnur dienen.<br />

Richtlinien für den Alltag<br />

° Zuhören<br />

° Ernstnehmen<br />

° Mit der "Normalsituation" vergleichen<br />

° Beim Naheliegenden bleiben<br />

° Sich nicht von Vorwissen bestimmen lassen<br />

° Erfahrungen ermöglichen<br />

° Auf das Erleben eingehen<br />

° Ermutigen<br />

° Nicht ständig auf das "Symptom" starren<br />

° Eigenständigkeit unterstützen<br />

° Überschaubare Wahlmöglichkeiten geben<br />

° Stützen für selbständiges Handeln anbieten<br />

° Klar informieren<br />

° Konkret bleiben<br />

° Die "Sprache" des Gegenübers finden<br />

° Den eigenen Anteil erkennen<br />

* * *<br />

° Die Situation ansprechen<br />

Im Workshop werden Fragen im Zusammenhang mit diesen Richtlinien besprochen.<br />

Zum Beispiel: Wie lassen sie sich konkret in der praktischen Arbeit verwirklichen?<br />

Weshalb Eigenständigkeit so wichtig für Menschen mit geistiger Behinderung? Wa-<br />

rum müssen Betreuende, die "Sprache" - gemeint ist nicht nur die verbale, sondern<br />

auch die nicht verbale Ausdrucksweise - des anderen Menschen finden? (Proutys<br />

Kontaktreflexionen bieten hier eine wertvolle methodische Hilfe.) Und: warum ist es<br />

notwendig und hilfreich, vor allem in schwierigen Situationen, den eigenen Anteil zu<br />

erkennen?<br />

Diese Handlungsgrundlagen und Richtlinien geben den Betreuenden konkrete An-<br />

haltspunkte, um ihre Arbeit auf konstruktive Weise reflektieren und wenn nötig zu<br />

verändern. Und sie stellen den Einrichtungen sinnvolle Kriterien zur Verfügung, an<br />

denen sich die Qualität der Betreuung überprüfen lässt.<br />

4


Voraussetzung für diese Arbeit ist Interesse und Toleranz für das "andere" - auch<br />

für das vielleicht fremde und unverständliche - im anderen Menschen. Das Ent-<br />

scheidende ist, dass Menschen mit ihrer Behinderung als individuelle Persönlichkei-<br />

ten ernst genommen und respektiert werden. Normalität muss heißen, dass es ge-<br />

nauso normal ist behindert zu sein, wie es normal ist blaue oder braune Augen,<br />

weiße oder schwarze Haut, lange oder kurze Beine zu haben, dick oder dünn zu<br />

sein oder eine Brille zu tragen. Wir dürfen nicht aufgrund des Blickwinkels "Behinde-<br />

rung" Unterschiede konstruieren, wo keine sind, aber wir müssen bestehende Un-<br />

terschiede klar erkennen und akzeptieren. Unterschiede zu verschleiern ist auch<br />

eine Form von Diskriminierung: Wenn wir nur anerkennen, was uns gleich ist, dann<br />

ist das keine wirkliche Integration. Integration bedeutet nicht gleich machen, son-<br />

dern als gleichberechtigt akzeptieren.<br />

Bücher zum Thema<br />

<strong>Marlis</strong> Pörtner: Ernstnehmen, Zutrauen, Verstehen, Klett-Cotta Verlag, Stuttgart<br />

1996 (6. überarbeitete und erweiterte Auflage 2008)<br />

English edition: Trust and Understanding, PCCS Books, Toss on Wye, 2000 (2nd<br />

revised and extended edition 2007)<br />

Eine tschechische Ausgabe ist geplant<br />

<strong>Marlis</strong> Pörtner: Brücken bauen - Menschen mit geistiger Behinderung verstehen und<br />

begleiten Klett-Cotta Verlag, Stuttgart (2. überarbeitete und erweiterte Auflage 2007)<br />

Garry Prouty, Dion Van Werde, <strong>Marlis</strong> Pörtner -> bitte die Angaben zur tschechischen<br />

Ausgabe hinzufügen.<br />

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