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ungeschichtlichen Jahre - Friedrich-Ludwig-Jahn-Gesellschaft

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Harald Braun<br />

Die „<strong>ungeschichtlichen</strong> <strong>Jahre</strong>“ <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>s<br />

Zu Einfluß und Wirkung <strong>Jahn</strong>s<br />

Zwei herausragende Historiker des 19. Jahrhunderts, Georg Gottfried Gervinus und Heinrich von<br />

Treitschke, haben <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong> nicht nur rundweg eine eigenständige politische<br />

Denkfähigkeit abgesprochen, sondern auch <strong>Jahn</strong>s Persönlichkeit und seine politischgesellschaftlichen<br />

Aktivitäten – insbesondere die von ihm gegründete und geleitete frühe<br />

Turnbewegung – durch eine Vielzahl von Negativurteilen gründlich diskreditiert. Mehrere<br />

Generationen von Historikern haben deshalb kein Interesse entwickelt, sich in eigenen Forschungen<br />

mit der Turnbewegung zu befassen, weil sie es auch als wissenschaftlich unergiebig angesehen<br />

haben, einer gesellschaftlichen Bewegung Aufmerksamkeit zu schenken, die nach der Meinung<br />

zweier renommierter Fachkollegen das ’Produkt eines unselbständigen, unschöpferischen Geistes’<br />

war. Für Treitschke war <strong>Jahn</strong> „ein lärmender Barbar“, „ein Banause“, ein Polterer mit ungeschlachten<br />

Sitten und zugleich Parteifanatiker, der eine Generation „zu akademischer Rohheit“ und „jakobinischer<br />

Unduldsamkeit“ verführte.<br />

Wenn die <strong>Jahn</strong>-Forschung nach dem Zweiten Weltkrieg keine Untersuchung bezüglich der frühen und<br />

der vormärzlichen Turnbewegung hervorbrachte, dürfte dies nach Düdings Meinung sicherlich von der<br />

ausgesprochenen Langzeitwirkung beeinflußt worden sein, die das Verdikt Gervinus’ und Treitschkes<br />

gegen <strong>Jahn</strong> und die Turnbewegung innerhalb der deutschen Historiographie hatte. Das ist bedauerlich<br />

und Zeichen der Mißachtung <strong>Jahn</strong>s durch Treitschke, denn <strong>Jahn</strong> hob sich aus dem Kreis der<br />

wirkungsmächtigsten nationalen Vordenker Fichte, Arndt, Schleiermacher, Luden durch ein politisches<br />

Verständnis von „Nation“ heraus, das das vergleichsweise größte Maß an Konkretheit aufwies.<br />

<strong>Jahn</strong> übte durch die Veröffentlichung seines Buches Deutsches Volksthum auf die entstehende<br />

nationale Bewegung einen eminenten Einfluß aus. So ist sein Deutsches Volksthum ein breit<br />

angelegter und mit vielen Detailvorschlägen ausgestatteter Entwurf für eine nationaldeutsche Staatsund<br />

<strong>Gesellschaft</strong>sordnung, denn er bezog alle in diesem Buch unterbreiteten Reformvorschläge auf<br />

die innere Gestaltung des politischen, kulturellen und sozialen Lebens in einem solchen Staat. Keiner<br />

der anderen durch Wort und Schrift in der Öffentlichkeit agierenden Patrioten hat in den ersten <strong>Jahre</strong>n<br />

nach der Niederlage Preußens von 1806 derartig konkrete, konstituierende Reformen gefordert wie<br />

<strong>Jahn</strong>. Keiner der anderen nach 1806 auftretenden nationalen Wortführer hat sich zudem in für die<br />

Öffentlichkeit bestimmten Reden und Schriften auch nur annähernd so ausführlich und detailliert mit<br />

der inneren Organisation eines künftigen deutschen Nationalstaates beschäftigt wie <strong>Jahn</strong> im<br />

Deutschen Volksthum. Mit <strong>Jahn</strong>s pragmatisch-nüchterner, ganz auf die Organisierung eines<br />

deutschen Nationalstaates gerichteten politischen Denkweise konnte sich keiner der anderen<br />

zwischen 1806 und 1819 in der Öffentlichkeit für den nationalen Gedanken werbenden Patrioten<br />

messen. Keiner war auch nur annähernd so erfolgreich wie er. (1) Nicht alle Ideen kamen von ihm,<br />

aber er setzte sie um, ein wirkungsvoller Public-Relations-Mann in Sachen Turnen und<br />

Nationalbewußtsein!<br />

Der Breslauer Naturphilosoph Heinrich Steffens, der <strong>Jahn</strong> und den Hasenheide-Turnplatz 1817<br />

kennenlernte und der – erschrocken von den Wirkungen, die er von einer selbständigen, keinem<br />

staatlichen Reglement unterworfenen Bewegung ausgehen sah – in einer Streitschrift <strong>Jahn</strong> und die<br />

Turner massiv angriff, registrierte an <strong>Jahn</strong> „etwas (…) Ursprüngliches“: In seinem „derben Wesen“<br />

habe man ein „gährende(s) Chaos“ wahrnehmen können, das <strong>Jahn</strong> bedeutenden Einfluß auf Knaben,<br />

Jünglinge und Familienväter habe gewinnen lassen; ein Einfluß, der schließlich zu einer<br />

„Regeneration des Volkes“ geführt habe. „Ein Mann, der eine solche Macht ausübte, war mir“, so<br />

gestand Steffens in seinen Lebenserinnerungen, „schon als ein solcher, als ein mächtig<br />

geschichtlicher Naturgegenstand anziehend und wichtig“. (2) Treitschke hat dies nicht erkannt bzw.<br />

anerkannt.<br />

Die große Sympathie, mit der die preußische und andere Regierungen der <strong>Jahn</strong>schen Turnbewegung<br />

zunächst begegneten, schlug 1817 in ausgesprochenes Mißtrauen um. Zwei Ereignisse des <strong>Jahre</strong>s<br />

1817 hatten dies bewirkt:


Zu Beginn dieses <strong>Jahre</strong>s hielt <strong>Jahn</strong> vor einem großen Zuhörerkreis in Berlin seine Vorträge<br />

über Deutsches Volksthum, in denen er unverblümt und in drastischer Sprache die Forderung<br />

nach Einführung einer Verfassung in Preußen und nach Herstellung eines deutschen<br />

Nationalstaates erhob, und<br />

die Wartburgfeier als Erinnerungsfest an die Reformation 300 <strong>Jahre</strong> zuvor und die<br />

Völkerschlacht bei Leipzig 1813.<br />

Die Verhaftung 1819 – der Beginn des „<strong>ungeschichtlichen</strong> Teils“ in <strong>Jahn</strong>s Leben<br />

Der österreichische Staatskanzler Metternich hatte auf dem im Herbst 1818 von den Allianzmächten<br />

Österreich, Preußen, Rußland und England abgehaltenen Aachener Kongreß die Turngemeinden als<br />

einen „in der nächsten Beziehung mit dem Universitätswesen“ stehenden „Unfug“ abqualifiziert und<br />

als „eigentliche Vorbereitungsschule zu dem Universitätsunfug“ eingestuft. Das Attentat des<br />

Burschen-Turners Carl Sand auf Kotzebue am 23. März 1819 bewirkte, daß noch vor der Karlbader<br />

Konferenz (6. – 31. August) der Leiter der Turnbewegung wegen „demagogischer Umtriebe“ in der<br />

Nacht vom 13. zum 14. Juli verhaftet wurde. Bei der Festnahme verhielt sich <strong>Jahn</strong> völlig ruhig. Dem<br />

Polizeiinspektor sagte er: „Es ist mir lieb, daß die ganze Sache zu ernstlicher Untersuchung<br />

gekommen ist; es muß sich dadurch ganz bestimmt meine Unschuld ermitteln lassen“. (3)<br />

Nun beginnt der „ungeschichtliche Teil“ in <strong>Jahn</strong>s Leben, der in einigen Biographien nicht mehr<br />

erwähnt wird. Der Brockhaus brachte in seiner Ausgabe von 1819 mehr als sechs Seiten über das<br />

Turnen, in der von 1834 kein Wort mehr.<br />

Nach der Verhaftung wurde <strong>Jahn</strong> in Hand- und Fußketten nach Spandau gebracht und am 21. Juli<br />

nach Küstrin weiter befördert; dabei brach die Achse des Wagens, so daß er den Rest des Wegs zu<br />

Fuß zurücklegen mußte. Hier erfuhr <strong>Jahn</strong>, daß Regierungsrat Dr. Johannes Janke aus Magdeburg<br />

Staatskanzler Hardenberg eidlich versichert habe, <strong>Jahn</strong> sei Mitglied und Mitgründer einer geheimen<br />

Verbindung mit hochverräterischen Absichten. Janke war zehn <strong>Jahre</strong> vorher eines der schneidigsten<br />

Mitglieder des Deutschen Bundes, trat für die Ermordung Napoleons ein und hatte <strong>Jahn</strong> die<br />

Ausführung dieser Tat nahegelegt. Er war auch für die Beseitigung des preußischen Königs gewesen.<br />

Sein wahres Gesicht hatte Janke dadurch gezeigt, indem er eine Schmähschrift unter dem Titel Der<br />

neuen Helden Konstitutionsgeschrei erscheinen ließ, die begreiflicherweise auf dem Wartenberg mit<br />

verbrannt worden war. (4)<br />

Am 14. September 1819 wurde <strong>Jahn</strong> ein zweites Mal vernommen und am 26. Oktober in die<br />

Stadtvogtei in Berlin gebracht, wo am Tage darauf die förmliche Kriminaluntersuchung stattfand, die<br />

sich für die Freilassung <strong>Jahn</strong>s aussprach. Diese erfolgte am 106. Tag nach seiner Verhaftung. Zwei<br />

seiner drei Kinder starben im Laufe dieser und seiner weiteren Haft.<br />

In einem Schreiben <strong>Jahn</strong>s an Wittgenstein vom 9. August 1819 heißt es: „In dieser Gefangenschaft<br />

habe ich sehr viel erlitten. Mein häuslich Glück ist zerstört, mein guter Name untergraben, meine<br />

Gesundheit geschwächt. Dafür gibt es auf Erden keinen Schadenersatz. Mehr noch schmerzt, daß<br />

mein guter Wille für das Vaterland so verkannt worden ist“. Über die Untersuchungskommission urteilt<br />

er treffend: „Sie untersucht nicht, sie sucht. Ist der Täter gefaßt, läßt sich die Tat schon finden“. (5)<br />

Selbst Goethe erklärte, daß das Turnen eine nötige Ergänzung des jugendlichen Lebens bilden sollte,<br />

da die freie Bewegung allenthalben durch die Polizeiordnung eingeschränkt wäre: Alles ziele nur<br />

darauf hin, die Jugend frühzeitig zahm zu machen und mit der Wildheit alle Natur und Originalität<br />

auszutreiben. Die Verbindung des Turnwesens mit politischen Ideen bedauerte auch er; durch das<br />

Verbot sei aber das Kind mit dem Bade ausgeschüttet worden. (6)<br />

<strong>Jahn</strong>s später verfaßten Verteidigungsschrift ist zu entnehmen, daß er in Spandau unzulänglich<br />

untergebracht, die Verhältnisse in Küstrin nicht viel besser waren. Er durfte nur in Gegenwart des<br />

Wächters essen, konnte zwar schreiben, aber alle Aufzeichnungen wurden ihm sofort abgenommen.<br />

Seine Post wurde wochenlang zurückgehalten. Noch schlechter traf es <strong>Jahn</strong> in der Berliner<br />

Hausvogtei, in der die Zellen verwanzt waren. Hier genoß er aber den Besuch seiner Angehörigen<br />

und seiner Freunde, die ihm Bücher verschafften: er konnte wieder arbeiten. Eiselen besorgte ihm<br />

Hanteln und setzte durch, daß im Hof der Anstalt ein Barren aufgestellt wurde.<br />

Als eine Untersuchung über die Gründe der Verhaftung trotz aller Eingaben <strong>Jahn</strong>s an König, Minister<br />

und Ämter ausblieb, verfaßte Frau <strong>Jahn</strong> eine Bittschrift an das Kammergericht, das unter Vorsitz von<br />

E. T. A. Hoffmann einen Untersuchungsausschuß bildete. Dieser beantragte <strong>Jahn</strong>s Freilassung, weil


ihm nichts Unrechtes nachzuweisen sei. Der Berliner Polizeidirektor von Kamptz ließ <strong>Jahn</strong> natürlich<br />

nicht frei. Um ein Urteil zu verhindern, ließ er die Akten verschwinden. (7) Auch von v. Kamptz war auf<br />

dem Wartenberg ein Buch verbrannt worden, außerdem wurde aus den beschlagnahmten<br />

Aufzeichnungen Fr. Liebers herausinterpretiert, <strong>Jahn</strong> hätte diesen zum Mord an v. Kamptz<br />

aufgefordert.<br />

Am 18. Februar 1820 sprach sich der Untersuchungsausschuß für <strong>Jahn</strong>s Entlassung aus. Die aus<br />

diesem Anlaß gebildete Ministerialkommission ordnete am 8. April 1820 die Fortdauer der Haft an, bis<br />

über eine doch mögliche Straffälligkeit rechtskräftig entschieden sei. Am 15. April, am 3. und am 18.<br />

Mai forderte Hoffmann nochmals <strong>Jahn</strong>s Entlassung (und drohte mit Rücktritt). Am 31. Mai wurde<br />

endlich durch höchste Kabinettsorder befohlen, daß <strong>Jahn</strong> nach Kolberg zu verbringen sei, wo er sich<br />

aber nur in Begleitung und unter Einhaltung enger Grenzen bewegen durfte. Der Stadtkommandant<br />

von Kolberg erhielt Befehl, <strong>Jahn</strong> strengstens zu überwachen, ihm jeglichen Verkehr mit jungen<br />

Menschen unmöglich zu machen und ihn bei Überschreitung dieser Vorschrift sofort in Festungshaft<br />

zu nehmen.<br />

Die Kolberger <strong>Jahre</strong>: 1820 bis 1825<br />

Am 12. Juni 1820 kam <strong>Jahn</strong> nach Kolberg. Die Polizeiaufsicht und Briefzensur wurden streng<br />

durchgeführt. Erleichterung gewann er dadurch, daß er Frau und Kind nachkommen lassen durfte.<br />

Von Kamptz gab die Verfolgung noch nicht auf. Durch Verbreitung häßlicher Gerüchte verstand er es,<br />

vor allem <strong>Jahn</strong>s Frau zu ängstigen: sein Ehrensold werde demnächst gestrichen, daß <strong>Jahn</strong> ein<br />

Familientyrann sei, der seine Frau quäle usw. Am 8. September 1823 starb <strong>Jahn</strong>s Gattin. Als sie in<br />

Berlin begraben wurde, durfte er den Sarg nicht begleiten.<br />

Die Akten des Falles <strong>Jahn</strong> wurden am 14. August 1821 an das dafür zuständige Königliche Ober- und<br />

Landesgericht in Breslau gesandt. Dort blieben sie allerdings bis zum 1. Mai 1822 unbearbeitet liegen.<br />

Erst nach viereinhalb <strong>Jahre</strong>n, am 13. Januar 1824, erging das Urteil. <strong>Jahn</strong>, der sich die Zeit mit<br />

Lektüre über die vorchristliche Germanenzeit und den Dreißigjährigen Krieg, mit Neugriechisch,<br />

Taubenzucht, Schachspiel und Tabakschnupfen vertrieben hatte, wurde mit zweijährigem<br />

Festungsarrest belegt. Begründung: „wiederholte, freche Äußerungen gegen Staat und Verfassung“.<br />

Der erlittene Arrest in Spandau, Küstrin, Berlin und Kolberg wurde nicht angerechnet. Man bedenke;<br />

wegen ’frecher Äußerungen’. Alle anderen Vorwürfe waren fallengelassen worden. <strong>Jahn</strong> legte<br />

Berufung ein, verfaßte eine Selbstverteidigung, in der er nachweist, daß und warum von Kamptz der<br />

Urheber dieses Unrechts und ’sein Feind’ sei. Bei der Abfassung erteilte ihm der Stadtsyndikus in<br />

Kolberg juristische Ratschläge. Die Selbstverteidigung ist erst nach seinem Tode in einem Leipziger<br />

Verlag im Druck erschienen (1863). Sie ist eine der besten Schriften <strong>Jahn</strong>s, und einige<br />

Gedankengänge seien wegen ihrer Aktualität zitiert:<br />

„Staaten sind zufällige Erscheinungen, die in einem Menschenleben gar oft entstehen und vergehen. Ein<br />

Volk kann in mehrere abgesonderte Staaten zerfallen, die ebenso leicht wieder zu einem einzigen<br />

Reiche zusammenfallen. Dabei bleibt das Volk eins. Will aber ein jähling aufgeschossener Dunkelstaat<br />

seine dermalige Staatigkeit als Volkstum geltend machen und an die Stelle des Volkes die<br />

Staatshörigkeit setzen, so macht er aus sich eine Gaukel- und Gaunerhölle“. (8)<br />

<strong>Jahn</strong> beschließt seine Verteidigungsschrift mit den Sätzen:<br />

„<strong>Jahn</strong> bittet nicht um Recht und bettelt nicht um Gerechtigkeit: das hieße seine und des Vaterlandes<br />

Sache schmähen und verkleinern. Die Nachwelt setzt jeden in sein Ehrenrecht; denn der Weltgeschichte<br />

Endurteil verjährt nicht und brachte noch allemal für verfolgte Unschuld, wenn auch verspätet, den<br />

Freispruch.“ (Ebd.)<br />

Die juristische Unwiderlegbarkeit der Darlegungen brachte <strong>Jahn</strong> am 15. März 1825 den Freispruch.<br />

Die ersten Freyburger <strong>Jahre</strong>: 1825 bis 1828<br />

<strong>Jahn</strong> wurden 1.000 Thaler Ehrengehalt zugesprochen. Sie sollten ihm aber nur ausgezahlt werden,<br />

wenn er Berlin und 10 Meilen in dessen Umkreis und jede Hochschul- und Gymnasialstadt als<br />

künftigen Aufenthaltsort mied. Außerdem blieb er unter Polizeiaufsicht, und das Eiserne Kreuz wurde<br />

ihm weiterhin vorenthalten. „Wo soll ich hinziehen?“ schreibt er am 2. April 1825 an seinen Lützow-<br />

Kameraden Mützell,


„wo ich mich wissenschaftlich beschäftigen kann, müssen öffentliche Bibliotheken sein, und wo die<br />

aufgestellt sind, hausen Studenten. Da käme ich wohl gleich wieder in den demagogischen Verruf (…)<br />

Turnen will ich nicht! Die Hasenheide will ich nie wieder betreten (…) In Berlin will ich meinen Wohnsitz<br />

nicht wieder aufschlagen.“<br />

Am 4. Mai 1825 heißt es in einem Brief an Fürst Wittgenstein und vom 28. Mai 1825 an Bucher:<br />

„Freigesprochen – aber nicht freigelassen! In Deutschland hat mich unter den Strömen immer der<br />

Rhein und von den Flüssen Thüringens die Saale angezogen.“ (9)<br />

Als Wohnsitz wählte <strong>Jahn</strong> Freyburg an der Unstrut. Dort mietete er für sich und die Familie zunächst<br />

ein Haus mit sechs Stuben, drei Kammern und Keller auf drei <strong>Jahre</strong> für 50 Thaler jährlich. Er hatte am<br />

15. Februar 1825 Emilie Hentsch, die jugendliche Freundin und Haushaltshilfe seiner Frau, geheiratet.<br />

<strong>Jahn</strong> begann nun, schriftstellerisch zu arbeiten. Die Geschichte des Dreißigjährigen Krieges wollte er<br />

schreiben und eine Geschichte des vorchristlichen deutschen Altertums (Mittelgard).<br />

Neben den beiden Hauptarbeiten verfaßte <strong>Jahn</strong> Gelegenheitsbeiträge für die Wochenschrift<br />

Mitternachtsblatt in Weißenfels. Unter dem Decknamen T. V. Schweigenberger schrieb er kleine<br />

unterhaltsame Aufsätze: etwa „Hutten und Fouqué“, „Über Freundschaft“, „Leipziger Gemsenjäger“<br />

oder „Gescheit und gescheut“. 1827 brachte er eine Gelegenheitsschrift Wegweiser in das Preußische<br />

Sachsenland und Rahmen zu den Lebensbildern aus dem preußischen Sachsenlande des Dr. W.<br />

Harnisch heraus, in der er sich mit dem ehemaligen Turnbruder nicht gerade freundschaftlich<br />

auseinandersetzte; denn Harnisch war seiner Meinung nach ein ’Frömmler und Nutznießer’ geworden.<br />

1828 erschien die kleine Schrift Neue Runenblätter mit Abhandlungen über „Vaterländische<br />

Wanderungen“, „Zur Geschichte von Deutschlands Grenzen“, „Deutschlands Wehrkraft“, „Deutsche<br />

Denktage“.<br />

Der Aufenthalt in Kölleda: 1828 bis 1835<br />

Am 15. September 1828 meldete das Unterrichtsministerium dem Polizeiministerium, daß <strong>Jahn</strong><br />

Gymnasiasten empfange und bewirte und ihnen sogar Gegenbesuche in Merseburg mache, um sie<br />

zum Turnen anzuregen. Am 19. Oktober wurde <strong>Jahn</strong> daraufhin ein Regierungserlaß zugestellt, er<br />

habe bis 1. November – also binnen elf Tagen – Freyburg zu verlassen. <strong>Jahn</strong> wandte sich am 20.<br />

Oktober an den König und bat ihn, ihm die neuerliche, ungerechtfertigte Vertreibung zu erlassen. Der<br />

König bewilligte <strong>Jahn</strong>s Bitte nicht. So zog <strong>Jahn</strong> am 10. November 1828 nach Kölleda im Kreis<br />

Eckartsberga im Regierungsbezirk Merseburg und bekam erst 1835 die Erlaubnis, wieder nach<br />

Freyburg zurückzukehren. „Kuhkölln“ nannte er das Nest, wo „Düngerhaufen die Musenberge bilden.“<br />

Er brachte beim sächsischen Provinziallandtag eine Beschwerde ein, in der er der Regierung<br />

„Verfolgungswut, Härte und Leichtgläubigkeit für Tratsch“ vorwarf. Sie trug ihm wegen Unbotmäßigkeit<br />

gegen die Vorgesetzten eine achtwöchige und nach Einspruch immer noch sechswöchige Haft ein,<br />

die er in Erfurt absaß. Die Kosten des Verfahrens wurden ihm in Monatsraten von seinem Ehrengehalt<br />

abgezogen.<br />

Die ’Vertreibung’ nach dem fünfzigsten Geburtstag hatte aus ihm wirklich einen Kauz gemacht. Auch<br />

mögen ihm die Wirtschaftssorgen, in die er durch die geringen Monatszahlungen geraten war, arg<br />

zugesetzt haben. Alles, was ihn bedrückte, schrieb er sich nun in seinen Warnbriefen vor dem<br />

Auswandern (Kölleda ab 1828, in: Weißenfelser Mitternachtszeitung) von der Seele; seine Seelenlage<br />

wird aus folgenden Worten klar: „Bin ich doch seit vierzehn <strong>Jahre</strong>n in einem fort wie lebendig<br />

gestorben, klause inmitten der <strong>Gesellschaft</strong> als Einsiedler, was beinahe so schlimm ist wie der<br />

bürgerliche Tod“.<br />

Immer schlimmer war es sogar um seine persönliche Sicherheit und die seiner Familie bestellt: Eines<br />

Tages wurde er vom Schachspiel durch das Dienstmädchen nach Hause geholt. Die Fenster seiner<br />

Wohnung waren eingeschlagen, halbe Mauerziegeln waren in die Zimmer geschleudert und vor die<br />

Türe des Hauses eine Egge mit aufgerichteten Zinken gelegt worden. Landrat und Gericht waren nicht<br />

imstande, auch nur Spuren der Täter zu finden.<br />

Die üble Beurteilung, die <strong>Jahn</strong> in der deutschen Geistesgeschichte bis zur Jahrhundertwende bei<br />

mehreren namhaften Schriftstellern fand (Börne, Heine, Laube, Immermann, Ranke) ist auf die<br />

Aussprüche zurückzuführen, die er in seiner verzweifelten Lage zwischen 1819 und 1840 tat und auf<br />

die Schriften, die in der schrecklichen Lage dieser Zeit entstanden. Wie bereits erwähnt, machte er


unter dem Namen „Flinah“ öfter als „Schweigenberger“ in einem Kleinstadtblatt, der Weißenfelser<br />

Mitternachtszeitung, seinem Ingrimm Luft. Er griff Hegel und die neue Philosophie an, warnte vor dem<br />

„meuchlerischen Gesindel des Jungen Deutschlands“, sandte Heine und Laube seine Merke zum<br />

Volkstum und freute sich im voraus, wie sie über ihn herfallen würden. Auch seine sonstige<br />

Schriftstellerei ist unglücklich. Er brachte noch einige Bücher heraus, die aber mehr belacht als<br />

beachtet wurden. Er selbst wußte es und bezeichnete sich als einen, der in der ’Buchlichkeit’ und<br />

Wissenschaft 21 <strong>Jahre</strong> lang ’Eckensteher’ war.<br />

In Kölleda hatte er etwa 1833 und 1834 dem Meininger Lehrer, Turnbruder Karl Schöppach, seine<br />

Denknisse eines Deutschen oder Fahrten des Alten im Bart diktiert, die 1835 in Hildburghausen an<br />

der Werra in Buchform erschienen. Die Denknisse sind das einzige Werk, das <strong>Jahn</strong> auch als Erzähler<br />

ausweist. Sie enthalten drei Stücke: „Der Geleiter“ schildert, wie er im <strong>Jahre</strong> 1809 einen vornehmen<br />

Engländer mit wichtigen Papieren durch die französischen Linien schleuste, „Der Abend in Mattiach“<br />

(Wiesbaden), wie <strong>Jahn</strong> 1814 eine vornehme Spanierin beschämt, die in Liebesblendung einem<br />

französischen Offizier nachlief, „Die Fahrt durch das Gerau zum Jettenbühel“. Aus ihr erfahren wir, wie<br />

<strong>Jahn</strong> 1814 als Sendner der Kriegskommission sich in Heidelberg mit Rheinbund-Anhängern<br />

auseinandersetzte, die immer noch an die Macht Napoleons glaubten.<br />

Wieder in Freyburg: 1835 bis zum Tode 1852<br />

Anfang August 1838 – inzwischen nach Freyburg zurückgekehrt – fuhr <strong>Jahn</strong> mit Frau und Tochter<br />

nach Bilzingsleben zu Bekannten. Da brachte ein reitender Bote die Nachricht, daß das Haus am<br />

Kirchplatz, in dem <strong>Jahn</strong> wohnte, in der Nacht vom 4. zum 5. August niedergebrannt sei. <strong>Jahn</strong> ging<br />

sofort zu Fuß zurück und erfuhr, daß das Feuer durch Nachlässigkeit ausgebrochen war. Dreizehn<br />

Familien waren obdachlos geworden. <strong>Jahn</strong> verlor durch diesen Brand alles, weil er nicht versichert<br />

war. Er, Frau, Sohn Arnold – der noch immer Soldat war – und Tochter Sieglinde, besaßen nur noch,<br />

was sie am Leibe trugen. <strong>Jahn</strong> stand im Alter von sechzig <strong>Jahre</strong>n noch einmal vor dem Nichts: 2.000<br />

urschriftliche Briefe, auch von Wallenstein, Tilly und anderen Feldherren, die er oft unter großen<br />

Opfern erworben oder gesammelt oder von Freunden und Verehrern geschenkt bekommen hatte, alle<br />

Aufzeichnungen über den Dreißigjährigen Krieg, alle Vorarbeiten über seine geplante Geschichte des<br />

Germanentums in vorchristlicher Zeit waren vernichtet.<br />

Doch kurz darauf kaufte <strong>Jahn</strong> für 160 Thaler „eine wüste Baustelle, den schönsten Fleck in Freyburg“,<br />

um den er schon zwölf <strong>Jahre</strong> vorher gehandelt hatte. Der Innenminister hatte ihm 100 Thaler ’als<br />

Trost’ zukommen lassen. Tatsächlich begann <strong>Jahn</strong> im Frühjahr 1839 mit seinem Neubau. Die Lage<br />

seines Hauses beschreibt er so:<br />

„Wo der Lindengang aufhört, steht meine Hütte, gebaut wie von der Schwalbe unter dem Adlerhorst. Da<br />

wohne ich mit der Aussicht auf die Weltstraße, die von Lissabon über Madrid und Paris, Mainz, Leipzig<br />

und Berlin nach Petersburg und Moskau führt.“ (10)<br />

Daß <strong>Jahn</strong> nicht wirtschaftlich denken konnte, beweist der Umfang des Hauses. Es ist der Bauplan des<br />

Zimmermeisters Hoffmann erhalten, der das Haus errichtete. Danach enthielt das Wohngebäude<br />

sieben Wohnstuben, neun Kammern, einen Saal, eine Küche mit Flur und Wohnhalle, und im<br />

dazugehörigen Waschhaus waren zwei Wohnstuben, zwei Kammern, eine Küche, eine<br />

Speisekammer, ein Saal und ein Flur vorgesehen. Das Wohngebäude war mit 4.100 Thalern und das<br />

Waschhaus mit 500 Thalern in Rechnung gestellt. Im <strong>Jahre</strong> 1840 ist der Bau beendet worden, von<br />

einem Manne unternommen, der nichts als Schulden hatte. Es fehlte <strong>Jahn</strong> nicht bloß an den nötigen<br />

Mitteln, das Haus zu bezahlen, sondern auch daran, die nötigsten Einrichtungsgegenstände zu<br />

erwerben.<br />

Wie wollte er zu diesen Mitteln gelangen? Mittelgard neu schreiben, sein gutes Gedächtnis würde ihn<br />

nicht im Stich lassen, das Buch noch einmal nachzuschreiben, wie einst, nach Jena, sein Volksthum.<br />

In Aufrufen bat er, einen halben preußischen Thaler auf das Werk anzuzahlen. Er sprach darin das<br />

Mitgefühl der künftigen Käufer an. Er ließ im Verlag Brockhaus in Leipzig nachfragen, ob dieser die<br />

buchhändlerische Besorgung des Werkes übernehmen wolle. Sein Aufruf brachte nicht genug Erfolg,<br />

um den Druck wagen zu können.<br />

Wie schlecht es um <strong>Jahn</strong> wirtschaftlich bestellt war, zeigt, daß er auch an eine Hilfe durch den<br />

Leipziger Verein der Sieben dachte. Der Verein war eine Gründung für die sieben Göttinger<br />

Professoren Albrecht, Dahlmann, Ewald, Gervinus, die Brüder Grimm und Weber, die den König 1837


des Verfassungsbruchs zu zeihen gewagt hatten und deshalb ihres Dienstes enthoben worden waren.<br />

Der Verein erzielte einen Überschuß, um dessen Zusprache sich <strong>Jahn</strong> vergeblich bemühte. Heinrich<br />

Heine schimpfte ihn dafür einen „groben Bettler.“ (11)<br />

Zu allem Unglück erlitt sein neuerrichtetes Haus im August 1840 durch ein schreckliches Unwetter<br />

großen Schaden. 48 große und 28 kleinere Fensterscheiben zersplitterten im Hagel von walnuß- und<br />

hühnereigroßen Eiskörnern. Sein Haus, auf 4.600 Thaler gewertet, stand vor der gerichtlichen<br />

Versteigerung. Da endlich griff die Öffentlichkeit ein. Sammlungen, die 1838/39 nach dem<br />

Brandunglück veranstaltet worden waren, hatten nur geringe Ergebnisse (200 Taler) erbracht. Nun,<br />

nachdem es nicht mehr gefährlich war, sich zu <strong>Jahn</strong> zu bekennen, waren die Erfolge großartig. 4.000<br />

Taler ergaben die Sammlungen der Turner und Burschenschafter. Zeitungen und Zeitschriften griffen<br />

ein. Der Übersetzer <strong>Jahn</strong>s ins Französische, Professor Dr. P. Lortet aus Lyon, schrieb in der Leipziger<br />

Zeitung: „Zwischen Pregel und Rhein rauschen die Blätter für den alten <strong>Jahn</strong>. Ein Volk trägt seine<br />

Schuld bei Lebzeiten einem Manne ab.“ Die Breslauer Zeitung schrieb: „Es ist die Pflicht des<br />

deutschen Volkes, dem Manne, der die <strong>Jahre</strong> seiner Jugend hingegeben hat, um das Bewußtsein<br />

deutscher Einheit und Kraft zu wecken, die Tage seines Alters zu erleichtern.“ (12)<br />

Nach seiner Rehabilitierung 1840 durch <strong>Friedrich</strong> Wilhelm IV. kamen aus allen Teilen des deutschen<br />

Sprachgebietes Einladungen, wenige <strong>Jahre</strong> später auch für die Teilnahme an Turnfesten. So nahm<br />

<strong>Jahn</strong> am 17. August 1846 an der Eröffnung des Turnplatzes in Naumburg teil und genoß die<br />

Anerkennung durch die Öffentlichkeit in vollen Zügen. Nur Berlin gegenüber blieb er hart. Er schrieb<br />

am 31. August 1846:<br />

„Gesetzt, ich käme nach Berlin. Wie sollte ich mich stellen? Mich gar nicht um die Entwicklung der<br />

Turnkunst kümmern? So tun, als hätten <strong>Jahn</strong> und Turnkunst niemals zusammengehört? Den Magistrat<br />

von Berlin höflichst ersuchen, ob ich wohl den Turnplatz vor dem schlesischen Tor besehen dürfte? Da<br />

käme vielleicht die Antwort: Ja, doch nur außerhalb der Turnzeit. Die Turner möchten durch meinen<br />

Umgang verlernen, Gesundheit zu rufen, wenn der hohe Magistrat nieset.“ (13)<br />

1841 war die Geschichte der Lützower von Professor Johann <strong>Friedrich</strong> Gottfried Eiselen erschienen,<br />

dem Bruder Ernst Eiselens. Eiselen zieh <strong>Jahn</strong> in seinem Buche der Feigheit als Bataillonsführer und<br />

griff Lützow und Theodor Körner in ähnlich herabsetzender Weise an. Da Johann <strong>Friedrich</strong> Gottfried<br />

Eiselen keinen Namen als Schriftsteller hatte, wurde er allgemein mit seinem Bruder Ernst<br />

verwechselt. Sogar Ernst Moritz Arndt erlag diesem Irrtum. Eine zweite Auflage der Turnkunst<br />

(Mitherausgeber E. Eiselen) ist deshalb erst 1847, von 288 auf 432 Seiten erweitert und um viele<br />

Abbildungen vermehrt, erschienen.<br />

Die Teilnahme an der Frankfurter Nationalversammlung<br />

1848 schritt <strong>Jahn</strong> seinem letzten Abenteuer entgegen. Natürlich ließ er sich als Wahlmann für die<br />

Nationalversammlung im Frankfurt a. M. aufstellen, denn damals wählte man noch nach persönlichem<br />

Ansehen. Schon am Vorparlament nahm <strong>Jahn</strong> teil. Am 10. Mai war er in Merseburg mit 89 von 148<br />

Stimmen zum Abgeordneten gewählt worden. Einem Freund schrieb er:<br />

„Ich gehe mit keiner vorgefaßten Meinung hin, will nicht Parteiführer sein, aber mich bestreben, die<br />

Parteien niederzuhalten und die Einheit des Volkes nach außen, die Einigung im Innern durch eine<br />

Staatengemeinde zu fördern.“ (14)<br />

Als Fünftältester wurde <strong>Jahn</strong> einer der Vizepräsidenten. Er erregte den Zorn der Linken, als er Schritte<br />

gegen „das wühlerische Treiben der kommunistischen Vereine der sogenannten Radikaldemokraten“<br />

verlangte, „die eine Verschwörung gegen Ordnung, Recht und Freiheit bilden“. Als es in der Frage um<br />

den Waffenstillstand im Krieg gegen Dänemark zu Unruhen kam, hatte es <strong>Jahn</strong> durch seine Offenheit<br />

so weit gebracht, daß er von der Rechten als roter Hetzer beschimpft und von der Linken als<br />

Demokratenfresser verspottet und in den Zeitungen aller Richtungen karikiert wurde.<br />

Während sich die Kontroverse über Sinn oder Unsinn eines Waffenstillstandes mit Dänemark immer<br />

mehr zuspitzte, geriet <strong>Jahn</strong> in Lebensgefahr. Er war am 16. September wie üblich in die Westendhalle<br />

in der Bockenheimer Gasse gegangen, um die Zeitungen zu lesen, als der Mob herandrängte und ihn<br />

bedrohte. Er wurde von einem Kellner auf dem Dachboden des Hauses versteckt, wo man ihn nicht<br />

vermutete. Von hier aus mußte er anhören, welche Todesart man ihm zugedacht hatte. Nach Eintritt<br />

der Dunkelheit floh er aus seinem Versteck, und es gelang ihm, über Zäune hinweg in den Osten der


Stadt zu entkommen, wo er in einem leeren Eisenbahnwagen am Hanauer Bahndamm den Rest der<br />

Nacht verbrachte.<br />

Am 17. Februar 1849 kam es zur Abstimmung über die Wahlen der Abgeordneten zum Volkshaus.<br />

Obwohl sich <strong>Jahn</strong> zur Führungsidee durch einen erblichen Kaiser für Deutschland bekannt hatte,<br />

erwies er sich nun als demokratisch denkend und setzte sich für das Wahlrecht auch der Dienstboten,<br />

Handwerksgehilfen, Fabrikarbeiter und Tagelöhner ein, denen laut Artikel I das Wahlrecht<br />

vorenthalten werden sollte. Das konnten viele Konservative nicht mehr verstehen und nannten <strong>Jahn</strong><br />

einen ’Roten’. Er verstand aber „in dem Namen Vaterland jeden Menschen vom Thron bis zur Hütte“.<br />

Am 18. Mai 1849 verließ <strong>Jahn</strong> mit seiner Frau Frankfurt, die das letzte Vierteljahr bei ihm verbracht<br />

hatte. An Meffert schrieb er im Dezember 1849:<br />

„Ich bin von morgen bis abend auf den Beinen gewesen und habe Vornehm und Gering die Wahrheit<br />

gegeigt. Weil ich keine Rachsucht wegen früherer Ungebührlichkeiten genährt, soll ich ein Fürstenknecht<br />

geworden sein. Und weil ich nicht Bummlerhaupt sein wollte, ein Volksfeind (…)“ (15)<br />

Planungen eines <strong>Jahn</strong>-Denkmals<br />

Nach der gescheiterten Revolution war es ruhig geworden um <strong>Jahn</strong>. Die republikanisch gesinnten<br />

Turner vornehmlich im Süden, Südwesten und in Sachsen hatten sich von ihm losgesagt. In einem<br />

offenen Brief der TG Worms, abgedruckt in der Mannheimer Abendzeitung vom 10. November 1848,<br />

sagten sich die Wormser Turner von <strong>Jahn</strong> los, da er sich durch sein Verhalten in Frankfurt „von der<br />

Bahn losgerissen“ habe, die er sein „ganzes Leben lang verfolgt“ hatte. Die Heidelberger Turner<br />

kommentierten diesen Brief in derselben Ausgabe in für <strong>Jahn</strong> übler Weise, indem sie ihn mit Don<br />

Quichotte verglichen, der „auf seiner veraltknabten Deutschritterlichkeit herumreitet, bis er vollends<br />

matt zur Erde sinkt“. (16)<br />

Erst 1855, drei <strong>Jahre</strong> nach <strong>Jahn</strong>s Tod am 15. Oktober 1852, dachten Jenaer Studenten laut darüber<br />

nach, <strong>Jahn</strong> ein Denkmal zu setzen. Die Berliner Turnvereine griffen diesen Gedanken auf und<br />

forderten, das Denkmal in Berlin, der eigentlichen Wirkungsstätte <strong>Jahn</strong>s zu errichten. Der Berliner<br />

Turnrat betrieb dieses Projekt. Während des 2. Deutschen Turnfestes in Berlin im August 1861 konnte<br />

der Grundstein gelegt werden.<br />

Aus aller Welt, selbst aus Sao Paulo in Brasilien wurden in den nächsten <strong>Jahre</strong>n „Erinnerungssteine“<br />

nach Berlin gesandt, insgesamt ca. 150. Wegen der „Gefahren für das ganze deutsche Vaterland“<br />

forderten die rheinhessischen Turner, statt eines Denkmals „ein Dampfkanonenboot oder ein größeres<br />

Kriegsschiff erbauen zu lassen und der preußischen Regierung zur Verfügung zu stellen, welches<br />

seinem Namen ’JAHN’ Ehre machen könnte und würde“.<br />

Bei der Einweihung 1872 waren viele Turner wegen der Gestaltung des Denkmals sehr enttäuscht:<br />

Das lebensgroße Standbild <strong>Jahn</strong>s stand auf wenigen Steinen, während der überwiegende Anteil<br />

nebenan aufgehäuft war. Dies dokumentierte nicht die von <strong>Jahn</strong> geforderte Einheit. Erst im Zuge der<br />

olympischen Spiele 1936 wurde das Denkmal so, wie es heute in der Hasenheide steht, umgestaltet.<br />

(17)<br />

Bewertung<br />

Es bestehen Zweifel, so Eichberg, ob die Geschichtswissenschaft zur Erfassung von Geschichte, ’wie<br />

sie eigentlich gewesen ist’ in der Lage sei, d. h. auch ein gerechtes Bild des ’eigentlichen <strong>Jahn</strong>’ zu<br />

finden. Jede Epoche der deutschen Geschichte bestimmte das Bild <strong>Jahn</strong>s wieder neu. (18) Das gilt<br />

auch für uns heute; denn, wer behauptet, ’der Bart sei ab’, der hat <strong>Jahn</strong> entweder nicht gelesen oder<br />

nicht verstanden. Das <strong>Jahn</strong>sche Turnen, darunter ist nicht nur das Gerätturnen zu verstehen, hat – bei<br />

zeitgemäßem Zuschnitt – gerade in unserer Zeit wegen des sich wandelnden Sportverständnisses<br />

seine Gültigkeit: In seiner Pflicht, einem breit angelegten techno-motorischen Fertigkeitsniveau, und in<br />

seiner Kür, einem freudebetonten Sich-bewegen-können und -dürfen.


Anmerkungen<br />

(1) Georg Gottfried GERVINUS, Geschichte des 19. Jahrhunderts seit den Wiener Verträgen, Bd. 2, Leipzig<br />

1856, S. 366ff. Heinrich von TREITSCHKE, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Leipzig 1882/1927,<br />

1. Teil, S. 298f, 2.Teil, S. 377-387, 436. H. EICHBERG, „Rekonstruktion eines Chaoten – Die Veränderung<br />

des <strong>Jahn</strong>bilds und die Veränderung der <strong>Gesellschaft</strong>“, in: Stadion IV, Köln/Leiden 1978, S. 262-291, vgl.<br />

S. 269. D. DÜDING, „Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutschland (1808-1847),<br />

Bedeutung und Funktion der Turner- und Sängervereine für die deutsche Nationalbewegung“, in: Studien<br />

zur Geschichte des 19. Jahrhunderts., Bd. 13, München 1984, vgl. S. 7, 20, 23, 35, 40, 82, 131.<br />

Die <strong>Jahn</strong>-Briefe wurden zitiert nach: W. MEYER, Die Briefe <strong>Friedrich</strong> <strong>Ludwig</strong> <strong>Jahn</strong>s, Leipzig 1913<br />

(2) Heinrich STEFFENS, Was ich erlebte, Bd. 8, Breslau 1843, S. 306ff.<br />

(3) E. FRANK, Fr. L. <strong>Jahn</strong> – ein moderner Rebell, Heusenstamm 1972, S. 121.<br />

(4) FRANK, S. 123.<br />

(5) FRANK, S. 128, Fritz ECKARDT, Fr. L. <strong>Jahn</strong>. Eine Würdigung seines Lebens und Wirkens, Dresden 1931, S.<br />

253.<br />

(6) Guntram SCHULTHEISS, Fr. L. <strong>Jahn</strong>. Sein Leben und seine Bedeutung, Berlin 1894, vgl. S. 121f.<br />

(7) ECKARDT, S. 256; FRANK, S. 126.<br />

(8) Fr. L. JAHN, Selbstverteidigung, Leipzig 1863.<br />

(9) MEYER, S. 277f., FRANK, S. 135f.<br />

(10) Brief an F. Förster, 1839, in: MEYER, S. 450 f.<br />

(11) MEYER, S. 432ff., FRANK, S. 166f.<br />

(12) Zit. n. FRANK, S. 168.<br />

(13) FRANK, S. 170.<br />

(14) MEYER, S. 532.<br />

(15) MEYER, S. 559.<br />

(16) H. BRAUN, Geschichte des Turnens in Rheinhessen – Ein Beitrag zur wechselseitigen Beeinflussung von<br />

Politik und Turnen, Bd. 1, 1811 – 1850, Alzey 1986, S. 58f., 169.<br />

(17) Siehe dazu H. BRAUN, Geschichte des Turnens in Rheinhessen – Ein Beitrag zur wechselseitigen<br />

Beeinflussung von Politik und Turnen, Bd. 2, 1850 – 1918, 1987, S. 38ff.<br />

(18) EICHBERG, S. 269.<br />

Weitere verwendete Literatur<br />

M. ANTONOWYTSCH, „Fr. L. <strong>Jahn</strong>. Ein Beitrag zur Geschichte der Anfänge des deutschen Nationalismus“, in: Hist.<br />

Studien, H. 230, Berlin 1933.<br />

Fr. BAUER, Fr. L. <strong>Jahn</strong>. Das Leben eines Nationalsozialisten aus früher Zeit, Leipzig und Wien 1934.<br />

K. BRUNNER, Fr. L. <strong>Jahn</strong>s Vermächtnis aus großer Zeit, Stuttgart 1933.<br />

H. O. HÖNIG, <strong>Jahn</strong>. Leben und Werk eines Patrioten, Das neue Berlin 1953.<br />

L. G. RICEK, Fr. L. <strong>Jahn</strong>. Leben und Wirken des ’Alten im Barte’, Wien und Leipzig 1923.<br />

A. TESCH, Fr. L. <strong>Jahn</strong>, der deutsche Turnvater, Stuttgart 1907.<br />

Aus: Giselher SPITZER, Die Entwicklung der Leibesübungen in Deutschland. Von den Philantropisten bis zu den<br />

Burschenschaftsturnern (= Schriften der Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft, Band 51), Sankt Augustin<br />

[Academia] 1993, S. 106-118.<br />

Der Text wurde mit freundlicher Genehmigung des Verfassers und der dvs in die <strong>Friedrich</strong>-<strong>Ludwig</strong>-<strong>Jahn</strong><br />

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