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DIE VERÄNDERUNGEN IM FAMILIENLEBEN - EmScuola

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Wenn wir an das heutige Familienleben<br />

mit seinen Gewohnheiten und Rhythmen<br />

denken, dürfen wir zwei für unseren Lebensstil<br />

entscheidende Faktoren nicht<br />

übersehen: den Strom, von dem ein großer<br />

Teil unseres täglichen Lebens abhängt<br />

(von der Beleuchtung zur Ernährung und<br />

von der Unterhaltung über die Information<br />

zu den häuslichen Arbeiten), und die<br />

Transportmittel, mit denen Einzelpersonen,<br />

Gruppen und Waren rasch befördert<br />

werden können. Ohne diese beiden technologischen<br />

Errungenschaften hätte unser<br />

Tagesablauf einen anderen Rhythmus,<br />

eine andere Ausrichtung, eine andere<br />

Routine. Aber wie ist es dazu gekommen,<br />

dass bestimmte Handgriffe und Handlungen<br />

- wie das Öffnen des Kühlschranks,<br />

das Drücken auf einen Schalter, das Einsteigen<br />

in ein Auto, um uns zur Arbeit zu<br />

begeben - uns so in Fleisch und Blut<br />

übergegangen sind, dass wir uns eine<br />

<strong>DIE</strong> <strong>VERÄNDERUNGEN</strong><br />

<strong>IM</strong> <strong>FAMILIENLEBEN</strong><br />

Elena Farruggia<br />

anders geartete Welt überhaupt nicht<br />

vorstellen können? Wann ist es zu diesen<br />

Veränderungen gekommen? Wie lange<br />

haben sie gebraucht, und unter welchen<br />

Voraussetzungen sind sie eingetreten?<br />

Auf welche Art und Weise?<br />

Instinktiv wären wir geneigt, sie als Merkmale<br />

des 20. Jahrhunderts zu bezeichnen.<br />

Aber welches 20. Jahrhunderts? So müssen<br />

wir das 20. Jahrhundert periodisieren,<br />

müssen es als “großen Zyklus” betrachten,<br />

“in dem zwei 20. Jahrhunderte unterschiedlicher<br />

Länge und Merkmale aufeinander<br />

folgen” 1 : ein erstes, langes 20. Jahrhundert,<br />

das im letzten Viertel des 19.<br />

Jahrhunderts beginnt, und ein zweites<br />

(das in Europa um die Wende von den 50er<br />

zu den 60er Jahren beginnt und bis heute<br />

fortdauert), in dem es zu rascheren, tiefer<br />

greifenden Veränderungen kommt als<br />

in der gesamten bisherigen Menschheitsgeschichte.<br />

Wir wollen auf diesen Seiten auf die erste<br />

dieser zwei Phasen eingehen, wollen<br />

sie zu zwei für die Stadt Bozen entscheidenden<br />

Momenten analysieren: während<br />

ihres Wachstums zu Beginn des 20. Jahrhunderts<br />

und angesichts der in den Dreißigerjahren<br />

eingetretenen Veränderungen.<br />

Grundlage dieses Umschwungs sind - neben<br />

anderen politischen, wirtschaftlichen<br />

und sozialen Faktoren, die sich gegenseitig<br />

beeinflussen - die zwei anfangs erwähnten<br />

technolischen Neuerungen: das Sich-<br />

Ausbreiten des Stroms und der Motorisierung.<br />

Diese zwei Erscheinungen haben -<br />

wie Anna Ferraris Oliverio unterstreicht -<br />

“geradezu erschütternde Auswirkungen auf<br />

das gesellschaftliche und individuelle Leben”<br />

und lösen eine “Kettenreaktion” von Veränderungen<br />

der Produktionsprozesse, von<br />

neuen Erfindungen und von Änderungen im<br />

Lebens- und Arbeitsstil aus.<br />

Die Geburt der “modernen Stadt” und die ersten<br />

Veränderungen im Familienleben<br />

6. Die Virglbahn im Jahr 1907.<br />

8<br />

“Vom 19. Jahrhundert an hat die Urbanisierung<br />

mit raschen Beschleunigungen<br />

einen nicht umkehrbaren Auftrieb erfahren.<br />

Die Städte sind zu Großstädten geworden,<br />

die Großstädte haben sich riesig<br />

ausgedehnt, und die Zahl der Städte hat<br />

sich beträchtlich erhöht. Die gesamte<br />

Bevölkerung hat sich rasend schnell vermehrt,<br />

was aber noch mehr für die städtische<br />

Bevölkerung gilt. Diese Erscheinung<br />

hat sich zuerst in Europa gezeigt.<br />

Im Jahr 1801 gab es in ganz Europa nur<br />

23 Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern,<br />

in denen insgesamt 2% der europäischen<br />

Bevölkerung lebten. Um die<br />

Jahrhundertmitte waren es schon 42<br />

Städte, 135 im Jahr 1900, und 1913 lebten<br />

schon 15% der Europäer in Städten.<br />

Mehr als 500.000 Einwohner hatten zu<br />

Beginn des 19. Jahrhunderts in ganz Europa<br />

nur zwei Städte, nämlich London und<br />

Paris, und sie mussten ungeheuer groß


7<br />

erscheinen. Bei Ausbruch des Ersten<br />

Weltkriegs waren es schon 149.” 2<br />

Auch die Stadt Bozen passt, was ihre<br />

Entwicklung und Modernisierung betrifft, in<br />

dieses Bild. Bis in die Neunzigerjahre des<br />

19. Jahrhunderts geht der Verstädterungsprozess<br />

äußerst langsam voran, und er<br />

entspricht “dem alles in allem niedrigen<br />

wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungsgrad<br />

der Stadt. Im Handel wie auf dem<br />

Bereich der handwerklichen und industriellen<br />

Produktion waren im Bozen des 19.<br />

Jahrhunderts überwiegend Kleinbetriebe<br />

sowie Familienbetriebe mit einem oder<br />

höchstens zwei Gehilfen anzutreffen” 3 .<br />

Das heutige Stadtgebiet war außerdem<br />

in drei Gemeinden unterteilt, Gries, Bozen<br />

und Zwölfmalgreien: “Während die Grenze<br />

zwischen Bozen und Gries von der Talfer<br />

gebildet wurde, verlief die zwischen Bozen<br />

und Zwölfmalgreien - wo sich Villen,<br />

Klöster, wenige Industriebetriebe, Weiler,<br />

Wohnhäuser und in höheren Lagen Bergbauernhöfe<br />

ausdehnten - in unmittelbarer<br />

Nähe der Bozner Altstadt, im Osten<br />

längs der Linie zwischen der Zollstange<br />

und dem heutigen Bahnhof und im Norden<br />

auf der Höhe von Schloss Maretsch.<br />

Das Gemeindegebiet umfasste lediglich 0,7<br />

Quadratkilometer, was den Verstädterungsprozess<br />

erheblich beeinträchtigte.<br />

[...] Dennoch stieg die Bevölkerung von der<br />

Jahrhundertmitte bis 1890 von etwa 8000<br />

auf 12.000 Einwohner an, wobei einerseits<br />

verfügbare Grundstücke bebaut wurden,<br />

während andererseits die Bevölkerungsdichte<br />

in den Wohnhäusern zunahm” 4 .<br />

Weniger als die Hälfte der etwa 600 im Jahr<br />

1894 bestehenden Gebäude verfügte über<br />

fließendes Wasser. Zur Beleuchtung wurde<br />

Gas verwendet.<br />

Zur Amtszeit von Julius Perathoner, der<br />

von 1895 bis 1922 Bozner Bürgermeister<br />

war, erfuhr die Stadt Modernisierungen,<br />

wie sie auch vielen anderen europäischen<br />

Städten entsprachen. “Sein erstes Grundsatzprogramm,<br />

das er bei seiner ersten<br />

Rede als Bürgermeister dem Stadtrat vorgelegt<br />

hatte, sah die schon seit langem<br />

erwägte Schaffung eines Konsortiums mit<br />

Meran zur Anlage eines Wasserkraftwerks<br />

vor, um - nach dem bevorstehenden Ablauf<br />

des Vertrags mit den Augsburger Gaswerken<br />

- die bisherige Gasbeleuchtung<br />

durch elektrische Beleuchtung zu ersetzen;<br />

denn ‘die Gemeinde darf die öffentliche<br />

Beleuchtung nicht mehr anderen überlassen,<br />

damit sie nicht mehr von einer<br />

auswärtigen Gesellschaft abhängt’, und ‘die<br />

Elektrizität, die uns das Licht liefert, kann<br />

auch das Handwerk und die Industrie mit<br />

preiswertem Strom versorgen’. Weitere<br />

Punkte seines Programms waren: die Verbesserung<br />

und Erweiterung der Straßen-,<br />

Bahn- und Seilbahnverbindungen usw. mit<br />

den umliegenden Ortschaften, Tälern und<br />

Bergen; die Einverleibung neuer Areale,<br />

besonders von Zwölfmalgreien, ins Gemeindegebiet;<br />

die Förderung des Wohnungsbaus;<br />

die Neugestaltung der Talferbrücke<br />

und anderer innerstädtischer Verkehrswege;<br />

die Schaffung von Grünanlagen;<br />

die Modernisierung der Wasserleitung;<br />

die Reorganisation der Ortspolizei;<br />

die Errichtung neuer Schulbauten und die<br />

Schaffung neuer Volks- und Mittelschulen;<br />

schließlich die Sanierung des Gemeindehaushalts<br />

durch Senkung der Zinsen auf<br />

ausgegebene Aktien sowie die Einführung<br />

beziehungsweise die Erhöhung einiger Gemeindesteuern,<br />

die “in erster Linie die Besitzer<br />

und die Fremden treffen sollten, die<br />

sich in unserer Stadt aufhalten. [...] Tatsächlich<br />

wurde sein ehrgeiziges Programm<br />

größtenteils verwirklicht” 5 .<br />

Wie spielte sich also um die Jahrhundertwende<br />

das Familienleben ab?<br />

In erster Linie müssen wir wohl von einer<br />

anderen Auffassung von Zeit ausgehen.<br />

Das Leben hat einen sehr viel langsameren<br />

Rhythmus, der vom Zyklus der<br />

Sonne und der Jahreszeiten geprägt wird.<br />

Und auch auf diesem Bereich bewirkte<br />

der Anschluss an das elektrische Strom-<br />

7. Gebrüder Stolz, Der Verkehr, 1939.<br />

9


netz, dass jahrhundertealte Gewohnheiten<br />

über den Haufen geworfen wurden.<br />

Die Tage waren, besonders im Winter, sehr<br />

viel kürzer als heute, da im flimmernden<br />

Licht der Gaslampen, der (im übrigen<br />

kostspieligen) Leuchtöllampen oder der<br />

Kerzen nach Einbruch der Dunkelheit<br />

kaum noch gearbeitet werden konnte und<br />

das spärliche Licht auch das Handarbeiten<br />

und Lesen erschwerte. Dazu dann das<br />

Heizungsproblem: Kohle und Holz waren<br />

für Angestellte und Lehrer, Handwerker<br />

und Händler sehr kostspielig, für viele<br />

Familien fast unerschwinglich, sodass<br />

man sich oft darauf beschränken musste,<br />

sie zum Kochen zu verwenden. Oft war<br />

nur die Küche geheizt: Wenn das Feuer<br />

nach dem Abendessen ausging, blieb einem<br />

nichts anderes übrig, als schlafen<br />

zu gehen - auch weil die meisten Personen<br />

einen anstrengenden Tag hinter sich<br />

hatten.<br />

Sehr beschwerlich waren die häuslichen<br />

Arbeiten. Wie schon erwähnt, gab es gegen<br />

Ende des 19. Jahrhunderts in mehr<br />

als der Hälfte der Bozner Wohnungen noch<br />

kein fließendes Wasser. Das Wasser stellte<br />

demnach ein kostbares Gut dar, das -<br />

da allein die Versorgung große Mühe kostete<br />

- auf keinen Fall verschwendet werden<br />

durfte. Doch es war unerlässlich: zum<br />

Waschen (in Waschschüsseln, die sich -<br />

wie auch die Wasserkrüge - oft im Schlafzimmer<br />

befanden), zum Kochen, zum<br />

Geschirr- und Wäschewaschen. Wenn man<br />

heißes Wasser brauchte, musste man es<br />

auf dem Ofen erwärmen und in den Bottich<br />

schütten, der auch wieder entleert<br />

werden musste.<br />

Die Versorgung mit fließendem Wasser<br />

stellte somit einen bedeutenden Schritt<br />

zur Modernisierung und Verbesserung<br />

der Lebensqualität dar. Dieser Prozess<br />

geht allerdings recht langsam vor sich und<br />

führt anfangs zu kaum nennenswerten<br />

Änderungen in den Wohnungen: Gewöhnlich<br />

hat nur die Küche einen Wasserhahn,<br />

und Badezimmer, wie wir sie uns heute<br />

vorstellen, gibt es nur in den wenigsten<br />

Häusern. Gegebenenfalls ist ein Baderaum<br />

mit Badewannen vorhanden, die<br />

aber - da sie nur selten direkt an das<br />

Wassernetz angeschlossen sind - immer<br />

noch mit der Hand gefüllt und entleert<br />

werden müssen.<br />

10<br />

8. Inserat für eine hochmoderne Badewanne, 1902.<br />

9. Neumarkt, frühes 20. Jahrhundert.<br />

9<br />

Nicht weniger anstrengend sind die<br />

Waschtage. Im frühen 20. Jahrhundert<br />

begibt man sich zum Wäschewaschen<br />

meist noch zum öffentlichen Waschplatz<br />

oder allgemein ins Freie (und viele Frauen<br />

bessern das Familienbudget oft dadurch<br />

auf, dass sie sich als Waschfrauen<br />

für etwas wohlhabendere Familien verdingen).<br />

Bei den Familien des mittleren und<br />

gehobenen Bürgertums kommt diese<br />

Aufgabe den Dienstmädchen zu. Aber in<br />

den meisten Haushalten hat sich die<br />

Hausfrau um das Wäschewaschen zu kümmern,<br />

wobei ihr die heranwachsenden<br />

Mädchen zur Hand gehen.<br />

Diese Schwierigkeiten beim Wäschewaschen<br />

und die hohen Stoffpreise wirken<br />

sich natürlich auch auf die Qualität und<br />

die Quantität der Kleidung aus. Erst mit<br />

der Entwicklung der chemischen Industrie<br />

und der Einführung der Färbemittel wie<br />

der Kunstfasern kommt es zu einem<br />

nennenswert höheren Konsum auf diesem<br />

Bereich, der allerdings bis in die letzten<br />

Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts immer<br />

ein Merkmal gesellschaftlicher Differenzierung<br />

bleiben sollte.<br />

8


Die Entwicklung der modernen Stadt und das Familienleben<br />

Auf europäischer Ebene erfährt der Modernisierungsprozess<br />

der Städte in den Dreißigerjahren<br />

eine sichtbare Beschleunigung.<br />

Die verbreitete Stromnutzung hat auf dem<br />

Industriebereich zu grundlegenden Veränderungen<br />

in der Struktur und der Lage der<br />

Fabriken geführt und einen bis dahin undenkbaren<br />

Verstädterungsprozess ausgelöst.<br />

In ganz Europa ist eine zunehmende Verstädterung<br />

und in ihrer Folge eine neue<br />

Auffassung von den Wohn- und Arbeitsräumen<br />

zu verzeichnen. Im Zeichen der<br />

“Zweckmäßigkeit” werden neue Städteordnungen<br />

ausgearbeitet, um Produktionszentren<br />

zu verwirklichen und zugleich die<br />

öffentlichen Dienstleistungsbetriebe nach finanziell<br />

vorteilhaften Kriterien auszudehnen.<br />

Die Städte werden zu Stätten der Baudenkmäler<br />

wie des Bauwesens. Bei der<br />

Anwendung der städtebaulichen Sanierungspläne<br />

schreckt man nicht davor zurück,<br />

die Altstadtkerne gründlich zu verändern,<br />

aus der Überzeugung heraus, dass<br />

die bisherigen Altstadtkerne - wie es die<br />

an der von Benedetto Croce herausgegebenen<br />

Zeitschrift “Napoli Nobilissima” mitarbeitenden<br />

Intellektuellen mit Nachdruck<br />

herausstellen - ersetzt und abgerissen<br />

werden müssen. 6<br />

Außerdem werden die Wohnräume auch<br />

nach den jeweiligen Gesellschaftsklassen unterschieden:<br />

Während in den Stadtzentren<br />

und den unmittelbar anschließenden Gebieten<br />

Wohnbauten für die führenden Klassen<br />

und die Angestellten (deren Anzahl sich<br />

mit der Entfaltung des Dienstleistungsbereichs<br />

erhöht) entstehen, werden am Stadtrand<br />

Arbeiterviertel angelegt, die für die<br />

eben in die Stadt gezogenen Arbeiter ein<br />

Wohnambiente schaffen, das sie vom Rest<br />

des städtischen Gefüges isoliert.<br />

Im Gegensatz allerdings zu vielen ländlichen<br />

Gebieten können die neuen städtischen<br />

Quartiere doch eine Errungenschaft<br />

verzeichnen: Sie sind allesamt an das Wasser-<br />

und Stromnetz angeschlossen. Das<br />

Straßenbahnnetz wird erweitert, und unter<br />

den begüterten Klassen finden andere technologische<br />

Errungenschaften wie das Auto,<br />

das Radio und das Telefon zunehmend Verbreitung.<br />

Mit anderen Worten: die Entfernungen<br />

zwischen Orten und Personen werden<br />

immer kürzer.<br />

10<br />

11<br />

Die städtische Entwicklung Bozens verläuft<br />

gemäß den allgemeinen Tendenzen,<br />

wie sie in anderen Gegenden zu verzeichnen<br />

sind - allerdings mit einer Besonderheit:<br />

Der Faschismus hat mit seiner aufoktroyierten<br />

Italianisierungs- und Industrialisierungspolitik<br />

begonnen, durch die das<br />

bisherige wirtschaftliche und städtebauliche<br />

Bild der Stadt grundlegend modifiziert<br />

wird. Um die im Alltag eingetretenen<br />

Veränderungen zu verstehen, müssen wir<br />

uns einige Fakten vor Augen halten:<br />

1.) “Als Südtirol nach 1918 Italien angeschlossen<br />

wurde, war es ein ganz und gar<br />

von der Landwirtschaft geprägtes Land. Die<br />

Täler ... lieferten in erster Linie Obst und<br />

Gemüse, aber auch Wein und andere Produkte.<br />

Im übrigen gab die Landwirtschaft<br />

im Gebirge den Ton an: Viehzucht, Waldwirtschaft<br />

und so weiter” 7 .<br />

2.) Vor Ausbruch des Kriegs bestand die<br />

Bozner Bevölkerung, die sich auf etwa 30.000<br />

Einwohner belief, überwiegend aus Besitzern,<br />

Handwerkern, Händlern, Kaufleuten und Freiberuflern.<br />

Die Proletarier standen vor allem<br />

bei Eisenbahn und Straßenbahn in Dienst, wie<br />

sie auch in der Lebensmittelindustrie und im<br />

Fremdenverkehr beschäftigt waren.<br />

3.) Mit der Durchführung der von Ettore<br />

Tolomei ausgearbeiteten Provvedimenti per<br />

l’Alto Adige und anderen Vorkehrungen verfolgt<br />

der Faschismus das Ziel, in Südtirol eine<br />

italienischsprachige Mehrheit zu schaffen<br />

(Mussolini schwebt Bozen als 100.000-Einwohner-Stadt<br />

vor Augen), besonders durch<br />

die Begünstigung der Zuwanderung und ab<br />

1934 mit der Anlage der Industriezone.<br />

“Von der Volkszählung 1921, als Bozen<br />

und Gries zusammen auf 33.000 Einwohner<br />

kamen, bis zum Ende des Jahres 1934<br />

ist die Bevölkerung um rund 8000 Personen<br />

angewachsen. Dieser Zuwachs ist größtenteils<br />

auf die Zuwanderung von Italienern<br />

zurückzuführen. Unter ihnen befanden sich<br />

einige Handwerker und Händler, mehr Arbeiter<br />

(vor allem aus nichtindustriellen Bereichen:<br />

Eisenbahner, Straßenbahner und<br />

auf dem Transportsektor Beschäftigte),<br />

dann etliche Angestellte, Techniker, Soldaten<br />

und Staatsbeamte” 8 .<br />

Ihren Höhepunkt erreichte diese Politik<br />

mit der Schaffung der Industriezone. Am<br />

intensivsten wurde Bozen in der Zeit zwischen<br />

1935/36 und 1940 industrialisiert,<br />

und die Bozner Bevölkerung nahm um etwa<br />

18.000 Einwohner zu: “Im Wachstum der<br />

Landeshauptstadt zeigte sich der Wunsch,<br />

die ethnische Porportion umzukehren, wozu<br />

vor allem die Industriezone dienen sollte” 9 .<br />

Nach den von Petri angeführten Daten<br />

wächst der italienischsprachige Anteil der<br />

Bozner Bevölkerung zwischen 1921 und<br />

1939 von 27% auf 62% an.<br />

10. Inserat für einen modernen Waschapparat,<br />

1925.<br />

11. Inserat für Eisschränke, 1928.<br />

11


12<br />

Und wie wirken sich dieser Wandel in<br />

der Stadt, die Industrialisierung und die<br />

Verbreitung der Industrieprodukte auf das<br />

Familienleben aus? Welche Veränderungen<br />

rufen sie ihrerseits hervor?<br />

Dabei ist zu bemerken, dass die mittlere<br />

und untere Gesellschaftsschicht im<br />

Italien der Dreißigerjahre noch recht arm<br />

und rückständig ist. Der Großteil der technischen<br />

Errungenschaften kommt nur der<br />

wohlhabenden Bevölkerung zugute, und<br />

besonders groß ist diese Kluft auf dem<br />

Konsumbereich.<br />

Die faschistische Lohnpolitik trägt keineswegs<br />

zur Verbesserung der Lebensqualität<br />

bei. Der Lohn reicht bei den meisten<br />

Familien gerade zum Auskommen.<br />

Und es ist gewiss kein Zufall, dass sich<br />

hinter der faschistischen Propaganda -<br />

mit ihren Lobpreisungen des ländlichen<br />

Lebens und der gesunden Liebe für die<br />

gute Erde, wie sie sowohl in den Bozner<br />

Semirurali laut werden als auch in ähnlichen,<br />

in Bodenmeliorierungsgebieten<br />

angelegten Siedlungen (man denke an<br />

Marghera oder an Tresigallo) - in Wirklichkeit<br />

ein tatsächlich vorhandenes Bedürfnis<br />

verbirgt: dass man mit einem Gemüsegarten<br />

oder einem Hühnerstall die<br />

Familie mit Nahrungsmitteln versorgen<br />

kann.<br />

Die Lage auf dem Lande ist wirklich<br />

problematisch, und so wiegen sich viele<br />

in der Hoffnung, ihre Lebensbedingungen<br />

durch die Übersiedlung in die Stadt verbessern<br />

zu können.<br />

13<br />

12. Alois Gabl, Die Sternsinger, 1883.<br />

13. Inserat für einen der ersten elektrischen Kühlschränke.<br />

Aus diesem Grund kommen in den<br />

Dreißigerjahren so viele Zuwanderer auf<br />

der Suche nach Arbeit in der neuen Industriezone<br />

nach Bozen: Sie stammen<br />

überwiegend aus den venetischen Provinzen<br />

Belluno, Vicenza, Padua, Rovigo<br />

und Verona, aber auch aus der Lombardei<br />

und dem Friaul.<br />

In der Stadt kommt es infolgedessen<br />

zu einer deutlichen Trennung zwischen<br />

den einzelnen Stadtvierteln: In der Industriezone,<br />

die auch hinsichtlich der<br />

Verkehrsmittel von der Stadt getrennt<br />

ist (keine Straßenbahn fährt von hier ins<br />

Zentrum), leben kürzlich nach Bozen<br />

übersiedelte Personen, die im Haushalt<br />

über keine modernen Einrichtungen verfügen<br />

(sie haben zwar fließendes Wasser,<br />

aber nur ein einziges, kleines Waschbecken<br />

und eine Toilette); mehr Komfort<br />

kann man in den Wohnungen der neuen<br />

Bozner Angestellten- und Beamtenklasse<br />

finden, aber die Einrichtungen hängen<br />

vom wirtschaftlichen und sozialen<br />

Prestige der Familien ab, denen die Wohnungen<br />

gemäß einer rigorosen Rangordnung<br />

zugewiesen werden; in der Bozner<br />

Altstadt dagegen wird der gesellschaftliche<br />

Status beibehalten, der diesen Stadtteil<br />

auch schon vor der Annexion gekennzeichnet<br />

hatte.<br />

Obwohl die Armut noch weit verbreitet<br />

ist und die Ausgaben für die Kleidung<br />

schwer auf dem Familienbudget lasten,<br />

sind in den wohlhabenden Klassen die<br />

ersten Anzeichen der “Modernität” und<br />

Technologie anzutreffen. Der Tourismus<br />

kann sich entfalten, die Zahl der Privatautos<br />

nimmt zu, die Wohnungseinrichtungen<br />

werden erneuert, Radios und<br />

Grammofone werden gekauft, und in den<br />

Wohnungen sind auch erste Haushaltsgeräte<br />

wie der Staubsauger und das elektrische<br />

Bügeleisen zu finden. Auf den<br />

Werbeplakaten sind selbstsichere, “emanzipierte”<br />

Frauen zu sehen, die zum Waschen<br />

und Auswringen Maschinen benutzen.<br />

Die Autarkiepolitik, der Weltkrieg und<br />

die nachfolgende Senkung der Herstellung<br />

von Luxusprodukten werden dann<br />

auch in dieser an sich schon geringen<br />

Verbrauchergruppe zu Einschränkungen<br />

führen.<br />

12


In der von Jean Luis Flandrin und Massimo<br />

Montanari herausgegebenen Publikation<br />

Storia dell’alimentazione beginnen<br />

Hans Jürgen Teuteberg und Jean Luis Flandrin<br />

ihren auf die Gegenwart bezogenen<br />

Essay Trasformazioni del consumo alimentare<br />

mit einem Geständnis: “Wenn man die<br />

Entwicklung des Nahrungsmittelkonsums<br />

im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts zahlenmäßig<br />

erfassen möchte, trifft man auf<br />

mehrere Hindernisse. In erster Linie ist zu<br />

bemerken, dass wir nur über Teilstudien<br />

verfügen, die sich auf bestimmte Gebiete<br />

oder Zeiten oder auf besondere Speisen<br />

beziehen. Zweitens gehen sie sehr viel häufiger<br />

auf die Produktion, den Handel und<br />

die Zubereitung der Speisen ein, während<br />

der Konsumbereich bis heute nur summarisch<br />

untersucht worden ist” 10 . Die unglaubliche<br />

Expansion der Stadt und der Sieg der<br />

Marktwirtschaft über die Wirtschaft des Lebensunterhalts<br />

sowie die außergewöhnliche<br />

Entwicklung des Transportwesens wirken<br />

sich zwar auf die Ernährung und besonders<br />

auf die neu aufgekommene und<br />

sich entfaltende Lebensmittelindustrie aus,<br />

und Zwischenprodukte (Mehl, Öl, Zucker,<br />

Essig usw.), Käseprodukte (Butter, Käse, die<br />

einst direkt vom Bauern erzeugt wurden)<br />

oder Konserven (Marmeladen, Dosenobst,<br />

-gemüse, -fleisch und -fisch, wie sie einst<br />

von den Hausfrauen zubereitet wurden)<br />

werden jetzt industriell erzeugt. Aber dieser<br />

Umwandlungsprozess geht äußerst<br />

langsam vor sich, und verschiedene wirtschaftliche,<br />

politische und soziale Faktoren<br />

- wie die beiden Weltkriege, die Wirtschaftskrisen<br />

und in Italien die Autarkiepolitik -<br />

bewirken Beschleunigungs- oder Verlangsamungsprozesse,<br />

die sich von Nation zu<br />

Nation und von Region zu Region unterscheiden,<br />

die in der Stadt oder auf dem<br />

Land und in den einzelnen sozialen Klassen<br />

verschiedene Formen annehmen. Zu<br />

Beginn des 20. Jahrhunderts werden die<br />

Grundlagen für den Wandel geschaffen, aber<br />

erst nach den Sechzigerjahren wohnen wir<br />

(mit dem Boom der Nahrungsmittelindustrie<br />

und der Verbreitung des Kühlschranks)<br />

einer wirklichen Veränderung der Ernährungsgewohnheiten<br />

bei. Bis dahin war die<br />

Ernährungsweise von mehreren Faktoren<br />

abhängig gewesen: von der jahreszeitlichen<br />

Verfügbarkeit an frischem Obst und Gemüse,<br />

von der Möglichkeit, sowohl tierische als<br />

14<br />

pflanzliche Nahrungsmittel mit häuslichen<br />

Einweckmethoden zu konservieren, vom<br />

Marktangebot bestimmter Nahrungsmittel<br />

und von den finanziellen Mitteln der Familien.<br />

Außerdem darf nicht vergessen werden,<br />

dass die “Tafelfreuden” lediglich den wohlhabenden<br />

Klassen vorbehalten sind oder<br />

sich auf besondere Feste und feierliche<br />

Anlässe beschränken. Ansonsten stellt die<br />

Ernährung während des Jahres nichts anderes<br />

als ein Bedürfnis dar, das nicht einmal<br />

immer ganz befriedigt werden kann.<br />

Die Frauen sind mit den häuslichen Arbeiten<br />

so beschäftigt, dass sie - im Gegensatz<br />

zum verbreiteten Image - nicht stundenlang<br />

am Herd stehen, geschweige denn<br />

phantasievolle Gerichte zubereiten können.<br />

Fast jeden Tag kommen die gleichen Speisen<br />

auf den Tisch, und Abwechslung gibt<br />

es nur, wenn bestimmte Nahrungsmittel<br />

verfügbar sind. Großen Zeitaufwand erfordert<br />

auch das Einkochen, solange die Haushalte<br />

noch über keinen Eisschrank (den<br />

Vorfahr unseres Kühlschranks) verfügen.<br />

Um die Butter aufzubewahren, musste<br />

man sie lange in frischem Wasser waschen,<br />

in ein Gefäß geben, mit frischem Wasser<br />

bedecken und an einen kühlen Ort stellen,<br />

wobei das Wasser täglich erneuert werden<br />

musste. So konnte sie sich zehn bis zwölf<br />

Tage halten, ohne ranzig zu werden. Die<br />

Milch dagegen kam ebenfalls in ein Gefäß,<br />

das mit einem immer feuchten Tuch abgedeckt<br />

und ins Wasser gestellt wurde; so hielt<br />

Die Ernährung<br />

sie sich 24 Stunden. Die Eier wurden mehrere<br />

Minuten gekocht und dann in Kalkmilch<br />

gegeben, damit sie nicht schlecht wurden.<br />

Auch für Bozen ist es nicht leicht, eindeutige<br />

Hinweise auf die Nahrungsgewohnheiten<br />

zu finden und eingetretene Veränderungen<br />

zeitlich einzuordnen. Der Anschluss<br />

an das italienische Königreich wirkt<br />

sich auf die Ernährung nicht weniger aus<br />

als die Entfaltung der Lebensmittelindustrie<br />

in den Zwanziger- und Dreißigerjahren.<br />

Doch es ist unmöglich, klare Demarkationslinien<br />

zu ziehen, da die Essgewohnheiten<br />

sich sehr langsam ändern; denn oft steht<br />

man neuen, bisher unbekannten Speisen<br />

und anderen, fremden Zubereitungsmethoden<br />

misstrauisch gegenüber.<br />

Auf jeden Fall kommt es in den Essgewohnheiten<br />

der Bozner Bevölkerung zwischen<br />

dem Ende des 19. Jahrhunderts und<br />

den frühen Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts<br />

kaum zu Veränderungen, und<br />

auch die Ernährungsweisen auf dem Land<br />

und in der Stadt unterscheiden sich kaum<br />

voneinander. Während des Kriegs und in der<br />

Nachkriegszeit besteht außerdem großer<br />

Mangel an Esswaren, wie es in der Südtirol<br />

Chronik. Das 20. Jahrhundert dokumentiert<br />

wird.<br />

14. Gebrüder Stolz, Familie beim Essen, 1939.<br />

13


Die Hungersnot in Südtirol zwischen 1914 und 1922<br />

20. August 1914: Mannschaften, Pferde, Geschütze und Wagen, mit Blumenschmuck geradezu überladen, ziehen zu den Bahnhöfen,<br />

umjubelt von einer sie begleitenden Menschenmenge.<br />

20. Dezember 1914: Der größere Teil der in den landwirtschaftlichen Betrieben verwendeten Pferde musste an das Militär abgeliefert werden.<br />

Durch das Fehlen der Pferde geht der Ertrag der Bauernhöfe stark zurück.<br />

13. April 1915: Der Bozner Bürgermeister Julius Perathoner hat den Auftrag erteilt, das Grundstück gegenüber dem Hotel Gasser, wo die<br />

Handelsschule errichtet werden soll, für den Kartoffelanbau umzuroden.<br />

14. September 1915: In Bozen ist infolge Wegschlachtens von Kühen eine große Milchnot eingetreten. Viele Menschen müssen nach<br />

stundenlangem Warten mit leeren Töpfen und Kannen wieder abziehen.<br />

25. Juli 1916: An den fleischlosen Tagen, als welche bisher der Dienstag und der Freitag bestimmt wurden, darf in Hinkunft auch in privaten<br />

Haushalten kein Fleisch genossen werden.<br />

2. Oktober 1916: Die Verabreichung von Brot ist in allen Gasthäusern, Hotels und Kaffeehäusern verboten. Schon eineinhalb Jahre zuvor war<br />

das Verbot ergangen, in Gastlokalen Brot und anderes Gebäck auf den Tischen zur Schau zu stellen.<br />

29. März und 7. April 1917: In Gries und Bruneck werden Kriegsküchen errichtet, in Brixen wird eine Kriegssuppenanstalt eröffnet. Sie bieten<br />

der bedürftigen Bevölkerung täglich billige Suppen an.<br />

10. Juni 1917: Die Bevölkerung ist empört, weil das Volksernährungsamt heuer keinen Zucker für das Einsieden von Obst herausgibt.<br />

1. Juli 1917: Der gesamte Käse der heurigen Almperiode wird beschlagnahmt.<br />

9. Juli 1917: Für einen kleinen Teil der Meraner Bevölkerung gibt es abends keine Milch mehr. Man begegnet weinenden Frauen und Kindern.<br />

9. März 1918: Wiederholt wird in Brixen von der öffentlichen Abgabestelle verschimmelte Butter verkauft.<br />

14. April 1918: Wegen Lebensmittelmangel ist im Bezirk Meran jede Sommerfrischewerbung verboten. Fremde dürfen nur aufgenommen<br />

werden, wenn diese sich eigenständig verpflegen.<br />

3. Oktober 1918: Die Ernte aller Kraut- und Rübenarten wird beschlagnahmt.<br />

5. November 1918: Der Bahnhof von Brixen bietet ein Bild des Greuels. Werden anfänglich nur Mehl und Lebensmittel von Soldaten<br />

geplündert, so wandern gar bald auch andere Materialien in die Hände Plündungslustiger aus dem Grunde, weil plündernde Soldaten<br />

einzelne Waggons irrtümlich für Lebensmittelwagen halten.<br />

10. November 1918: Das Lebensmitteldepot in Branzoll wird von den Soldaten geplündert. Der Krieg ist zu Ende - es droht das Chaos.<br />

“Gegen Kriegsende war der Hunger der<br />

eigentliche Kriegsherr geworden. ... Viele<br />

Orte Tirols waren oft eine ganze Woche<br />

ohne Brot, die Rationen betrugen gegen<br />

Kriegsende 630 Gramm Brot und 200<br />

Gramm Mehl pro Person und Woche. ... Die<br />

Not macht erfinderisch: Das “Mischbrot”<br />

wurde eingeführt: es bestand zur Hälfte<br />

aus Weizen, zur Hälfte aus Mais. Später<br />

wurden auch die Maiskolben aufgerieben<br />

und zusammen mit Baumrinden und Kartoffeln<br />

zu Brot gebacken. Der Kriegskaffee<br />

bestand aus Rübenmehl, Marmelade wurde<br />

aus Runkelrüben hergestellt, Fette aus<br />

Fleischabfällen gewonnen, der Zucker<br />

durch Sacharin ersetzt. Die Militärverwaltung<br />

empfahl Wiesenklee als Gemüse. Himbeer-<br />

und Brombeerblätter wurden zur<br />

einzigen amtlich genehmigten Teemischung.<br />

Vom Genuss von Fleisch wurde aus<br />

gesundheitlichen Gründen abgeraten.”<br />

15. Meran, Schlangestehen um Milch, Juni 1918.<br />

Kriegsbrot und Kriegskaffee<br />

14<br />

14. Juni 1919: In vielen Tälern Südtirols droht allgemeine Not wegen der großen Trockenperiode.<br />

26. Februar 1920: Einführung fleischloser Tage und Verbot von Zuckerbäckerei. In Italien werden wieder Brot, Fett, Öl, Fleisch rationiert.<br />

2. Juli 1920: Nöte am Reschen. Was unsere Bauern an Schaden in ihren Feldern seit zwei Jahren erlitten, ist fast unberechenbar. Unsere Zäune<br />

sind zweimal geplündert, die Felder scheinen Eigentum des Militärs wie der Finanzer zu sein.<br />

7. Februar 1921: Die Rationierung von Lebensmitteln und Bedarfsartikeln wird endgültig aufgehoben.<br />

2. August 1922: In Meran und Bozen gibt es keinen Zucker mehr.<br />

aus: Südtiroler Chronik. Das 20. Jahrhundert.


Jedenfalls bestehen hinsichtlich der Ernährung<br />

- wie im übrigen in ganz Europa<br />

- beachtliche Unterschiede zwischen dem<br />

gehobenen Mittelstand und dem Rest der<br />

Bevölkerung. Wenn bei den Wohlhabenden<br />

recht abwechslungsreiche Speisen auf den<br />

Tisch kamen, wie Fleisch und Käse, Gemüse,<br />

Obst und Süßspeisen, mussten sich<br />

die anderen mit einer Ernährung begnügen,<br />

die sich wohl kaum von der unterscheidet,<br />

wie Claus Gatterer sie in seinen<br />

Kindheitserinnerungen aus Sexten anführt:<br />

11<br />

“Wir aßen am Sonntag Knödel, am Montag Polenta, am Dienstag<br />

Knödel, am Mittwoch Polenta, am Donnerstag Knödel, am<br />

Freitag Polenta, am Samstag irgend etwas Besonderes<br />

(Schlutzkrapfen, Erdäpfelnudeln, Mus, geröstete Nockerln oder<br />

Gebackenes wie »Niegelen«, Hasenohren oder Buchteln) und am<br />

Sonntag wieder Knödel. Am Morgen gab es jeden Tag Milch oder<br />

Kaffee: die Milch war gut und rahmig, aus unserem Stall, der Kaffee<br />

hingegen war ein Gebräu aus gerösteter Gerste und gebratenen<br />

Feigen. Zum Neuner kam Einbrennsuppe auf den Tisch, zur<br />

Marende Kaffee, wie am Morgen mit frischem oder hartem Bauernbrot,<br />

und das Abendessen schließlich bestand fünfmal in der<br />

Woche aus Fleischgerste (Gerstensuppe mit geselchten Schweinsrippen<br />

oder -haxen und Speckschwarten), nur am Mittwoch und<br />

Freitag wurde Fastengerste gekocht: Gerstensuppe mit großen<br />

braunen Bohnen. Diese eherne Küchenordnung wurde nur von<br />

den Feiertagen umgestoßen [...]<br />

Am Heiligen Abend [...] erwartete uns eine Speise, die dieses<br />

schönsten Festes wahrhaftig würdig war. In einer großen Schüssel<br />

war zuunterst eine Lage gekochtes, gut mit Knoblauch gewürztes<br />

Sauerkraut, darüber eine dünne Lage gerösteter Erdäpfel, darüber<br />

eine stärkere Schicht gekochtes, schweinernes Surfleisch [...].<br />

Am Abend des Karsamstags aßen wir geweihtes Fleisch: gekochten<br />

jungen Schinken, Schweinsbraten, Rindszunge, Würste,<br />

kaum angeselcht [...]. Außer an den erwähnten Feiertagen und den<br />

Kirchtagen [...] änderte sich an den Hauptspeisen nichts [...].<br />

In den dreißiger Jahren zogen nach und nach Makkaroni, Spaghetti,<br />

Paradeissugo, Parmesankäse, Risotto und bunte Minestroni<br />

in die Bauernküchen ein. 11 .<br />

16. Südtiroler Stube, 1927.<br />

GATTERER, C., Schöne Welt - böse Leut. Kindheit in Südtirol, Wien-<br />

München-Zürich 1969, S. 66-69.<br />

Nicht weniger eintönig sah es mit der traditionellen<br />

Küche der aus dem Veneto, dem<br />

Trentino und der Lombardei stammenden<br />

Bauern aus, die in den Dreißigerjahren nach<br />

Bozen zogen. Gegebenenfalls wechselten<br />

Polenta, Kartoffeln und vor allem Getreide<br />

miteinander ab, aber auch bei ihnen bestand<br />

ewiger Nahrungsmangel. Im übrigen<br />

gehört Italien in der ersten Hälfte des 20.<br />

Jahrhunderts zu den Ländern mit dem geringsten<br />

Konsum nicht nur an Fleisch, sondern<br />

wider Erwarten auch an Käse und -<br />

zieht man den gesamtitalienischen Durchschnitt<br />

in Betracht - an Obst und Gemüse.<br />

Und die Lebensmittelindustrie, die preisgünstige<br />

Nahrungsmittel erzeugen könnte,<br />

kommt in Italien nicht so recht in Gang<br />

(abgesehen von einigen Ausnahmen wie<br />

der Cirio für die Konservenindustrie und der<br />

Buitoni für die industrielle Nudelerzeugung).<br />

Außerdem führen zuerst die Autarkiepolitik<br />

und unmittelbar darauf die Rationierungen<br />

während der Kriegsjahre zu einer generellen<br />

Unterernährung oder zumindest zu<br />

einer Ernährung, in der mehrere für eine<br />

ausgeglichene Ernährung notwendige Elemente<br />

fehlen. Erst mit dem Kriegsende, dem<br />

Wiederaufbau und dem Wirtschaftsboom<br />

sollte sich diese Lage ändern.<br />

Anmerkung<br />

kungen<br />

1<br />

ROSA, J.J., Il secondo XX secolo, Bari 2002, S.<br />

17.<br />

2<br />

RÉMOND, R., Introduzione alla storia<br />

contemporanea. Il XIX secolo (1815-1914),<br />

Milano 1974, S.162-163.<br />

3<br />

PETRI,R., Storia di Bolzano, Padova 1989, S.<br />

32<br />

4<br />

ibd., S. 32.<br />

5<br />

ibd., S. 45.<br />

6<br />

CALABI,D., Idea di città e sapere tecnico nell’Italia<br />

moderna, in: Italia moderna. Immagini e storia<br />

di un’identità nazionale, Bd.II, Dall’espansione<br />

alla seconda guerra mondiale, Milano 1983, S.<br />

211-212.<br />

7<br />

PETRI, R., Storia di Bolzano, Padova 1989, S.<br />

79.<br />

8<br />

ibd., S. 82.<br />

9<br />

ibd., S. 114.<br />

10<br />

TEUTEBERG, H. J. / FLANDRIN, J. L., Trasformazioni<br />

del consumo alimentare, S. 568.<br />

Zum Nachlesen<br />

CALABI, D., Idea di città e sapere tecnico nell’Italia<br />

moderna, in: Italia moderna. Immagini e storia<br />

di un’identità nazionale, Bd.II, Dall’espansione<br />

alla seconda guerra mondiale, Milano 1983.<br />

CREPAX, N., Storia dell’industria in Italia. Uomini,<br />

imprese, prodotti, Bologna 2002.<br />

FERRARIS OLIVERIO, A., L’uomo e la macchina, Roma<br />

1987.<br />

FLANDRIN, J.L./ MONTANARI, M., Storia dell’alimentazione,<br />

Bari 1999.<br />

GATTERER, C., Schöne Welt - böse Leut. Kindheit in<br />

Südtirol, Wien-München-Zürich 1969.<br />

MALAN<strong>IM</strong>A, P., L’economia italiana. Dalla crescita<br />

medievale alla crescita contemporanea, Bologna<br />

2002.<br />

MONTANARI, M., La fame e l’abbondanza, Bari<br />

1993.<br />

PETRI, R., Storia di Bolzano, Padova 1989.<br />

PETRI, R., Storia economica d’Italia. Dalla grande<br />

guerra al miracolo economico (1918-1963),<br />

Bologna, 2002..<br />

RÉMOND, R., Introduzione alla storia<br />

contemporanea. Il XIX secolo (1815-1914),<br />

Milano.<br />

ROSA, J.J., Il secondo XX secolo, Bari 2002.<br />

SORCINELLI, P., Storia sociale dell’acqua, Milano,<br />

1998.<br />

15

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