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text - Forum Neue Politik der Arbeit

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1<br />

Frie<strong>der</strong> Otto Wolf<br />

Thesen zur Frage von Ort und Raum primärer Wissenspolitik als Dimension.<br />

Zum sfs-Workshop am 14. Mai 2003<br />

1. Primäre Wissenspolitik geht <strong>der</strong> Frage nach, welche prinzipiellen Vorentscheidungen über die<br />

Relevanz und den Zuschnitt von Fragestellungen in jede Produktion von Wissen eingehen. Es<br />

mag deshalb paradox erscheinen, gerade primäre Wissenspolitik räumlich zuordnen, lokal o<strong>der</strong><br />

regional 'verankern' zu wollen: Ist nicht gerade 'Wissen' als Inbegriff des Immateriellen<br />

grundsätzlich von Raum und Zeit gelöst 1 ? Und ist nicht eine ‚primäre Wissens-<strong>Politik</strong>’, ,<br />

zumindest in einem universalen Feld des ‚Omnihistorischen’ anzusiedeln?<br />

Diesen Auffassungen liegen m.E. zumindest drei problematische Voraussetzungen zugrunde:<br />

Erstens eine Verwechslung des juristisch-ökonomischen Begriffs des Immateriellen mit einer<br />

Negation des philosophischen Materiebegriffs. 2<br />

Zweitens ein falsches Verständnis <strong>der</strong> Verselbständigung ökonomischer Kategorien gegenüber<br />

den umfassenden Prozessen <strong>der</strong> gesellschaftlichen Reproduktion, wie es etwa in <strong>der</strong> unter<br />

Makroökonomen verbreiteten Auffassung <strong>der</strong> Irrelevanz <strong>der</strong> Landwirtschaft für die<br />

gesellschaftliche Wertschöpfung zum Ausdruck kommt. 3<br />

Drittens eine falsche Vorstellung über den primären Charakter <strong>der</strong>jenigen <strong>Politik</strong>, welche<br />

grundlegende wissenschaftliche Orientierungen mitprägt 4 : Sie ist nicht deswegen primär, weil<br />

sie ortlos und zeitlos wäre, son<strong>der</strong>n weil in ihr die Punktschweißung gelingen muss, durch die<br />

sich auch noch die abstrakteste Reflexion immer wie<strong>der</strong> ihres ‚Sitzes im Realen’ vergewissern<br />

muss – bei Strafe eines Abgleitens in bloß Ausgedachtes o<strong>der</strong> gar in Wahnvorstellungen.<br />

Aus diesen Hinweisen auf naheliegende Fehlinterpretationen ergibt sich allerdings keineswegs,<br />

dass die unter dem Titel <strong>der</strong> "Entmaterialisierung" diskutierten Entwicklungen nicht stattfinden<br />

würden. Es ist nur herauszuarbeiten, was ihr wirklicher Inhalt ist, wenn sie denn nicht die<br />

Aufhebung räumlicher und zeitlicher Rückbindungen menschlicher Tätigkeiten (o<strong>der</strong> gar die<br />

Lösung von den Beschränkung aufgrund <strong>der</strong> verfügbaren Mengen an Stoffen und Energie) zum<br />

Inhalt hat.<br />

2. Die zentrale Frage aller Regionalpolitik unter herrschenden 'marktwirtschaftlichen<br />

Bedingungen' ist die nach dem wirtschaftlichen Erfolg. Allerdings ist dabei zu beachten, dass<br />

"die Regionen, die gewinnen", sich nicht auf <strong>der</strong> Grundlage eines merkantilistisch gefassten<br />

interregionalen Wettbewerbs begreifen lassen, in dem <strong>der</strong> Gewinn <strong>der</strong> einen immer zugleich <strong>der</strong><br />

Verlust <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en ist. Die großen Gewinne erfolgen auch interregional in eben den Bereichen,<br />

in denen es gelingt, wirklich zusätzliche Werte zu schöpfen. Hier ist die Vermutung, dass<br />

angesichts des in allen Bereichen wachsenden Bedeutung von neuem Wissen für die Praxis dies<br />

auch für eine erfolgreiche Regionalpolitik zielführend sein könnte, zumindest plausibel.<br />

Ebenso plausibel ist daher die Annahme, dass gesellschaftliche Einrichtungen <strong>der</strong><br />

Wissensreproduktion, wie Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Forschungsabteilungen<br />

von Betrieben, als eine wesentliche Voraussetzung und unverzichtbare Durchgangsorte einer<br />

jeden Art von Wissenspolitik bilden.


2<br />

3. Wissen kann nur als verkörpertes Wissen zu einer Ressource werden, die menschliche<br />

Handlungsfähigkeit erweitert. Dem gemäß kann Wissen auch nur als ein in rechtlichen<br />

Eigentumsverhältnissen o<strong>der</strong> aber in dem in ökonomische Wertschöpfungsprozesse von<br />

menschlichen Subjekten eingebrachten Handlungsvermögen zu einer Ressource <strong>der</strong><br />

Wertschöpfung werden. <strong>Neue</strong>s Wissen kann sowohl durch neue Erfahrungen aufgrund von<br />

Verän<strong>der</strong>ungen in Raum und Zeit entstehen, als auch aufgrund eines Umbaus und einer<br />

Weiterentwicklung <strong>der</strong> verfolgten ‚theoretischen Fragestellungen’. Aber auch erst durch eine<br />

juristische o<strong>der</strong> qualifikatorische Rückübersetzung wird es selbst wie<strong>der</strong>um zu einer potenziellen<br />

ökonomischen Ressource.<br />

Dabei sind bestehende soziale Differenzen und Verhältnisse zu beachten, die Scheidelinien für<br />

eine Weitervermittlung von Wissen bilden – etwa zwischen Belegschaft und Management,<br />

Männern und Frauen, ‚Kulturinlän<strong>der</strong>n’ und ‚Kulturauslän<strong>der</strong>n’.<br />

4. Die Rolle des Lokalen bzw. Regionalen in den Netzwerken <strong>der</strong> Wissens(re)produktion und -<br />

anwendung ergibt sich im Kern aus <strong>der</strong> unverzichtbaren Rolle von mündlicher und körperlicher<br />

Kommunikation zwischen wirklichen Menschen, wie sie auf allen Ebenen des Prozesses <strong>der</strong><br />

Reproduktion von Wissen auftritt - zwischen Menschen, welche in ihren Praktiken ein implizites<br />

Wissen reproduzieren nicht weniger als etwa zwischen avancierten Epistemologen, die sich über<br />

die Geltungs- und Funktionsbedingungen von Wissen auf einer höchsten wissenschaftlichen<br />

Reflexionsstufe austauschen.<br />

Dazu kommt noch, dass - gemäss <strong>der</strong> kaum bestreitbaren These von <strong>der</strong> Umgangssprache als<br />

letzter Metasprache - letztlich alle Kommunikation über die Beurteilung, Verwendung und<br />

Anwendung von verfügbarem Wissen nicht nur in <strong>der</strong> Umgangssprache erfolgen muss, son<strong>der</strong>n<br />

auch in wirklichen Sprech- und Begegnungssituationen zwischen wirklichen Menschen. Diese<br />

sind nicht durch Telekommunikation und /o<strong>der</strong> Simulation ersetzbar, wenn diese auch neue<br />

Möglichkeiten einer immer stärker die eigentliche Begegnung ‚entlastenden’ und eben damit<br />

zugleich ‚intensivierenden’ Vor- und Nachbereitung schaffen, welche gleichsam die<br />

Verfahrensweisen diplomatischer Kommunikationsapparate (<strong>Arbeit</strong>sebene, Leitungsebene,<br />

Chefebene als eigenständige Kommunikationsstufen) demokratisieren und für jeden Menschen<br />

anwendbar machen.<br />

Dabei bleiben auch Mechanismen <strong>der</strong> informellen Rückkopplung wichtige Garanten <strong>der</strong><br />

Verlässlichkeit von Kommunikationsprozessen, so dass etwa auch die Chefebene eines<br />

multinationalen Konzerns nicht ohne Weiteres von bestimmten lokalisierten Leitungsebenen und<br />

letztlich nicht einmal vollständig von strategischen Elementen <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong>sebene losgelöst und in<br />

‚nomadisieren<strong>der</strong> Form“ wirksam existieren könnte.<br />

5. Die lokale bzw. regionale Verankerung von gesellschaftlich als solchem – explizit o<strong>der</strong> auch<br />

implizit – reproduziertem Wissen hat zwei nicht unproblematische Voraussetzungen: Zum einen,<br />

dass es gelingt, eine vertrauensvolle Kommunikation zwischen den in unterschiedlichen Milieus<br />

(etwa WissenschaftlerInnen, ‚immateriellen’ MedienarbeiterInnen und ‚materiellen’<br />

ProduzentInnen) zirkulierenden Wissens- und Erfahrungsbeständen in Gang zu setzen und auf<br />

Dauer aufrechtzuerhalten. Dies setzt zum einen die Einsicht aller Beteiligten voraus, dass die<br />

jeweils eigentypische Verkörperungsform von Wissensbeständen (als lehrbare Doktrinen, als<br />

mediale Darstellungen o<strong>der</strong> als materielles Können) grundsätzlich dieselben


3<br />

gegenstandsbezogenen Einsichten transportiert und ohne die an<strong>der</strong>en Verkörperungsformen<br />

gesellschaftlich nicht funktionieren kann; zum an<strong>der</strong>en setzt es voraus, dass keines <strong>der</strong> beteiligten<br />

Milieus eine Art von ‚Enteignung’ von spezifischen Kompetenzen zu befürchten hat, wie dies<br />

etwa zwischen dem ‚wissenschaftlichem Management’ und dem impliziten Wissen <strong>der</strong><br />

materiellen Produzenten immer wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Fall zu sein droht.<br />

Eine stärkere Vermarktlichung von Austauschbeziehungen kann dabei so lange als eine wirksame<br />

und vorteilhafte Alternative zu hierarchisch geregelten Austauschformen gelten, wie es nicht zu<br />

Monopolbildungen und an<strong>der</strong>en Gestalten marktvermittelter Herrschaftsverhältnisse kommt. Sie<br />

bildet aber keine dauerhaft tragfähige Alternative zum Aufbau grundsätzlich gleichberechtigter<br />

Kommunikationsbeziehungen zwischen den Beteiligten als subjektiven Trägern (Aktanten)<br />

demokratischer Selbstgestaltungsverhältnisse <strong>der</strong> zugrundeliegenden Gesellschaft.<br />

6. Auch für die Untersuchung des Verhältnisses von ‚Erfassung’ und ‚empowerment’ in<br />

konkreten regionalen Netzwerken <strong>der</strong> Wissensreproduktion ist von <strong>der</strong> Ambiguität von<br />

Netzwerkprozessen auszugehen. Sie ermöglichen es, mehr Aktanten unmittelbar in den Prozess<br />

einzubeziehen, geben ihnen insofern eine zusätzliche Chance demokratischer Artikulation<br />

(voice). Sie schaffen damit zugleich aber zugleich die Voraussetzungen für eine Ausdehnung <strong>der</strong><br />

Reichweite bestehen<strong>der</strong> indirekter Mechanismen von Macht und Herrschaft. Gerade schwächere<br />

Gruppen und Milieus bedürfen daher, um nicht durch Erfassung ‚untergebuttert’ zu werden,<br />

immer auch <strong>der</strong> Möglichkeit eines Rückzugs in unmittelbarer selbstbestimmte Räume (insofern<br />

also auch einer kontrollierten exit-Option).<br />

Angesichts <strong>der</strong> Kontinuität machtgestützter Mechanismen sowohl auf <strong>der</strong> formellen Seite<br />

bestehen<strong>der</strong> Institutionen (Formalismus) als auch auf <strong>der</strong> Seite ihrer informellen<br />

Voraussetzungen und Umsetzungspuffer (Klientelismus i. w. S.) wäre es eine Illusion, auf dem<br />

Felde <strong>der</strong> Wissensreproduktion eine reine Verkörperung von Mechanismen des<br />

wissenschaftlichen Fortschrittes und <strong>der</strong> Selbstaufklärung <strong>der</strong> Aktanten zu erwarten. So sehr<br />

<strong>der</strong>artige Momente auch wirklich auftreten, sind sie doch zugleich immer überlagert durch<br />

<strong>der</strong>artige Machteffekte. Jede lokale (Wissensstadt) o<strong>der</strong> regionalpolitische (Wissensregion)<br />

Option, die auf die Reproduktion von Wissen in Raum und Zeit, in einem verkörperten Prozess<br />

setzt, muss dementsprechend akzeptable Kompromissgleichgewichte finden zwischen dem<br />

Fortwirken <strong>der</strong>artiger Herrschaftsmomente und <strong>der</strong> Ausweitung neuer Möglichkeiten<br />

selbstbestimmter Handlungsentwicklung auf Seiten <strong>der</strong> aktiv beteiligten Menschen.<br />

1 - so sehr dass etwa <strong>der</strong> späte Popper sich genötigt sah, eine "Dritte Welt" <strong>der</strong> Wissensinhalte jenseits <strong>der</strong> objektiven<br />

Realität <strong>der</strong> Physik und <strong>der</strong> subjektiven Realität des Geistes anzunehmen<br />

2 M.a.W. sind auch 'immaterielle Güter' wie die Verwertungsrechte aus einem 'geistigen Eigentum' im<br />

philosophischen Sinne zweifellos materiell - was u.a. nach sich zieht, dass sie grundsätzlich auch raumzeitlich klar<br />

verortet sind. Sie sind eben etwas an<strong>der</strong>es, als rein für sich betrachtete Wissensinhalte, son<strong>der</strong>n bestimmte<br />

gesellschaftliche Verkörperungen solcher Inhalte, d.h. eine komplexe Konfiguration physikalischer, biologischer,<br />

sozio-ökonomisch-juristisch-kultureller Gegebenheiten.<br />

3 Dabei ist die stoffliche Angewiesenheit <strong>der</strong> Menschen als Subjekten allen wirtschaftlichen Geschehens auf<br />

Lebensmittel ebenso wenig wegzudiskutieren, wie etwa die <strong>der</strong> Ottomotoren auf Benzin.<br />

4 neben dem Gegenstandsbezug, <strong>der</strong> angestrebten Wahrheit, ohne die Wissenspolitik völlig substanzlos bliebe – und<br />

z.B. nicht von einer bloßen ‚Meinungspolitik’ unterschieden werden könnte.


4<br />

Einige Hinweise auf ausgewählte Literatur:<br />

Frie<strong>der</strong> Otto Wolf (2002): Wissen und Wissenschaft als Gegenstand und Grundlage von <strong>Politik</strong>.<br />

Gutachten für die Heinrich-Böll-Stiftung zur gegenwärtigen Problematik einer „Governance of<br />

Science“ (www.boell.de)<br />

Frie<strong>der</strong> Otto Wolf (2002): Radikale Philosophie, Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot<br />

Helmut Martens, Gerd Peter, Frie<strong>der</strong> O. Wolf (Hg.) (2001): Zwischen Selbstbestimmung und<br />

Selbstausbeutung. Gesellschaftlicher Umbruch und neue <strong>Arbeit</strong>, Frankfurt/M.:Campus<br />

Heiko Glawe, Helmut Martens, Gerd Peter, Dieter Scholz, Frie<strong>der</strong> Otto Wolf (2002): Spandauer<br />

Fragen – Zur <strong>Politik</strong> <strong>der</strong> <strong>Arbeit</strong> in einer neuen Zeit (http://www.sfsdortmund.de/docs/spandauer.pdf)

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