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Frühförderung für Säuglinge?

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<strong>Frühförderung</strong><br />

<strong>für</strong><br />

<strong>Säuglinge</strong>?<br />

Eine anregende Umwelt<br />

kann die Hirnstruktur beeinflussen.<br />

Dies gilt <strong>für</strong> Kinder genauso wie<br />

<strong>für</strong> Erwachsene.<br />

Foto: Keystone<br />

Welche Bedeutung haben die<br />

ersten drei Jahre <strong>für</strong> die Entwicklung<br />

des Gehirns? Müssen<br />

sich Eltern Sorgen machen,<br />

wenn ihr Dreijähriges<br />

nicht Ballett tanzt, kein Instrument<br />

spielt und nur eine<br />

einzige Sprache spricht? Weit<br />

gefehlt: Die Entwicklung des<br />

Gehirns ist nach drei Jahren<br />

keineswegs abgeschlossen,<br />

wie die moderne Hirnforschung<br />

zeigt.<br />

Der Gedanke, seinem Kind durch<br />

eine möglichst frühzeitige Förderung<br />

einen Vorsprung im späteren Leben<br />

zu sichern, ist weit verbreitet. Zahlreiche<br />

kommerzielle Anbieter machen<br />

sich dies zunutze. Mit Schlagworten<br />

wie «Die ersten drei Jahre<br />

währen ein ganzes Leben lang» wird<br />

suggeriert, dass die Zukunft unserer<br />

Kinder massgeblich davon abhängt,<br />

welche Förderung wir ihnen in den<br />

ersten drei Lebensjahren haben angedeihen<br />

lassen.<br />

Der Blick der Hirnforschung<br />

auf den Mythos<br />

der ersten drei Jahre<br />

Wir können besorgte Eltern beruhigen:<br />

Die Hirnforschung hat keinerlei<br />

Belege da<strong>für</strong>, dass die ersten drei Jahre<br />

eine Art Fenster <strong>für</strong> die Entwicklung<br />

des Gehirns darstellen, und dass dieses<br />

Fenster sich nach drei Jahren<br />

unwiderruflich schliesst. Wahr ist hingegen,<br />

dass sich in den ersten drei<br />

Lebensjahren eine enorme Anzahl von<br />

Kontakten zwischen den Nervenzellen<br />

im Gehirn bilden. Daraus wird<br />

nun fälschlicherweise oft geschlossen,<br />

dass das Ende dieser Periode einem<br />

abrupten Ende von spezifischen<br />

Lerngelegenheiten gleichkommt.<br />

Was macht Intelligenz aus?<br />

Unser Verhalten hängt wesentlich<br />

von der Bildung passender Verbindungen<br />

zwischen Nervenzellen im<br />

Hirn ab. Diese Verbindungen werden<br />

in der wissenschaftlichen Sprache als<br />

Synapsen bezeichnet. Neurologen<br />

haben herausgefunden, dass sich die<br />

«synaptische Dichte» – das ist die<br />

Anzahl Kontaktstellen zwischen<br />

Hirnzellen – im Laufe unseres Lebens<br />

7 das Gehirn 4/2008<br />

nach einem interessanten Muster verändert:<br />

Die synaptische Dichte folgt<br />

von der Geburt über die Kindheit bis<br />

zum Erwachsensein einer umgekehrten<br />

U-Kurve: niedrig, hoch, niedrig.<br />

Die Entwicklung des Gehirns:<br />

«Blühen» und «Stutzen»<br />

Nach der Geburt und in den ersten<br />

Lebensjahren findet eine schnelle<br />

Zunahme der synaptischen Dichte<br />

statt. Man nennt diesen Vorgang<br />

auch «Blühen». Dieser Prozess wird<br />

durch die enorme Menge von neuen<br />

Reizen gefördert, die von der Umwelt<br />

des Kindes ausgehen. Die synaptische<br />

Dichte kann zwischen dem ersten<br />

und zweiten Lebensjahr einen um<br />

etwa 50 Prozent höheren Wert als bei<br />

durchschnittlichen Erwachsenen erreichen.<br />

Nach dem Blühen beginnt<br />

eine Phase des «Stutzens», in der die<br />

Synapsen abgebaut werden, die<br />

wenig oder nie gebraucht werden.<br />

Zwischen dem 2. und 16. Lebensjahr<br />

erreicht die synaptische Dichte das<br />

Niveau, auf dem sie das erwachsene<br />

Leben lang bleibt.<br />

Es ist wichtig zu verstehen, dass eine<br />

hohe Anzahl Synapsen nicht automatisch<br />

mehr Denkkraft und Intelligenz<br />

bedeutet. In bestimmten Fällen von<br />

geistiger Behinderung verfügen die<br />

Patienten über eine aussergewöhnlich<br />

hohe synaptische Dichte. Der<br />

Verlust von Synapsen scheint <strong>für</strong> eine<br />

normale Hirnentwicklung von fundamentaler<br />

Bedeutung zu sein.<br />

Lässt sich die<br />

Hirnentwicklung fördern?<br />

Es wird oft behauptet, dass eine<br />

frühe Stimulation die Bildung von<br />

Synapsen im kindlichen Gehirn auslöst.<br />

Diese Annahme kann von der<br />

Hirnforschung nicht bestätigt werden.<br />

Wissenschaftliche Untersuchungen<br />

deuten darauf hin, dass eine<br />

Stimulation durch die Umwelt diesen<br />

Prozess weder auslöst noch beschleunigt.<br />

Nach bisherigen Erkenntnissen<br />

unterliegt dieser Prozess im Wesentlichen<br />

der genetischen Kontrolle und<br />

keinen Umwelteinflüssen. Es trifft<br />

wohl zu, dass anregende Umwelten<br />

die Hirnstruktur beeinflussen können.<br />

Doch solche Veränderungen finden<br />

während des gesamten Lebens


Vorschau auf<br />

Newsletter<br />

1/2009<br />

Sprache und<br />

Gehirn<br />

(20. Februar)<br />

statt. Kinder wie Erwachsene können<br />

also von einer anregenden Umwelt<br />

profitieren.<br />

Ist Lernen auf gewisse<br />

Lebensphasen beschränkt?<br />

Ein grosser Teil der Hirnentwicklung<br />

findet am Ende der Schwangerschaft<br />

und in den ersten Lebensjahren nach<br />

der Geburt statt. Trotzdem ist das<br />

Gehirn danach keineswegs festgelegt,<br />

selbst nach Abschluss der Adoleszenz<br />

nicht. Das Gehirn behält die Fähigkeit<br />

zur Reorganisation das ganze<br />

Leben lang bei. Das Erlernen kulturell<br />

vermittelter Fertigkeiten wie<br />

Lesen, Rechnen, Schach oder Musizieren<br />

ist nicht auf bestimmte Phasen<br />

beschränkt. Nach dem heutigen<br />

Stand der Forschung gibt es zwar<br />

sensitive Phasen, oder mit anderen<br />

Worten optimale Perioden <strong>für</strong> das<br />

Aneignen neuer Fertigkeiten und<br />

Fähigkeiten. Lernen zu einem späteren<br />

Zeitpunkt ist jedoch immer noch<br />

möglich – auch wenn es mit etwas<br />

grösseren Anstrengungen verbunden<br />

sein mag.<br />

Es ist also nicht korrekt, dass sich am<br />

Ende der ersten drei Lebensjahre<br />

«Entwicklungsfenster» schliessen<br />

und damit der weitere Lebensweg<br />

endgültig vorgezeichnet wäre. Kein<br />

Zweifel besteht jedoch daran, dass<br />

die ersten Lebensjahre <strong>für</strong> das Kind<br />

von grosser Bedeutung sind. Es<br />

braucht die Gelegenheit, seine Sinne<br />

zu schärfen, sich zu bewegen, Erfahrungen<br />

zu sammeln, die Sprache zu<br />

üben und Kontakte mit anderen<br />

Menschen zu knüpfen.<br />

Die Hirnentwicklung ist nach dem<br />

dritten Lebensjahr keinesfalls abgeschlossen.<br />

Was danach folgt, ist vielmehr<br />

der Beginn eines langen Entwicklungs-<br />

und Reifungsprozesses.<br />

Hier spielen die Stimulation durch<br />

die Umwelt und die Erfahrungen tatsächlich<br />

eine Rolle.<br />

Literaturhinweis:<br />

BRUER, JOHN T.: Der Mythos der ersten drei<br />

Jahre. Warum wir lebenslang lernen. ISBN<br />

3-407-22124-X<br />

Man darf niemals<br />

«zu spät» sagen. Es ist<br />

immer Zeit <strong>für</strong> einen<br />

neuen Anfang.<br />

Foto: Keystone<br />

Wie wir Sprache erwerben.<br />

Die Sprache formt unser Denken.<br />

Sprach- und Sprechstörungen.<br />

Woche des Gehirns: Programm<br />

8 das Gehirn 4/2008

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