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ein Leben zwischen Judentum, Literatur und Politik

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zweiten Erzählstrang, bei dem es um die DDR <strong>und</strong> den Sozialismus geht. Aus dem Kontext<br />

dieser beiden großen Themen fällt all<strong>ein</strong> der Roman Aller Welt Fre<strong>und</strong> aus dem Jahr 1982<br />

heraus. 14 Beckers Verhältnis zum sozialistischen Credo war kritisch-bewußter als s<strong>ein</strong><br />

Verhältnis zum <strong>Judentum</strong>, wie <strong>ein</strong> Blick auf die Entwicklung s<strong>ein</strong>er politischen<br />

Überzeugungen zeigt. S<strong>ein</strong> Vater sei unpolitisch gewesen, berichtete der Schriftsteller in<br />

<strong>ein</strong>em Interview mit Richard A. Zipser:<br />

My father was a completely unpolitical person. Naturally he hated the fascists, and naturally he felt<br />

sympathetic toward the Communists. I say ”naturally” because it was the fascists who tortured him and put him<br />

in a concentration camp and murdered his family: and it was the Communists who freed him. But behind his<br />

sympathy and antipathy were no political convictions, no ideological beliefs, just personal experiences. 15<br />

Mit dreizehn Jahren trat er der FDJ bei, weniger aus besonderer Überzeugung als aus<br />

dem Wunsch, sich nicht von s<strong>ein</strong>en Fre<strong>und</strong>en zu unterscheiden, heißt es in demselben<br />

Interview.<br />

Die Ansichten des Vaters be<strong>ein</strong>flußten ihn, <strong>und</strong> mit achtzehn Jahren schrieb er sich in<br />

der SED <strong>ein</strong>, deren aktives <strong>und</strong> engagiertes Mitglied er <strong>ein</strong>ige Jahre lang blieb. Die<br />

anfängliche Linientreue spiegelte sich in s<strong>ein</strong>er Reaktion auf den Bau der Mauer:<br />

I wasn’t happy about the wall, but I felt it was necessary and I accepted it. It seemed to me to be a<br />

logical consequence of the political situation. I convinced myself that the wall might even help matters. I<br />

thought: When we no longer need to be afraid that so many people will run away from us, then we’ll learn to<br />

deal with one another in a better way; then the relationships between us will be freer, more open and democratic,<br />

and many constraints that existed previously will prove to be unnecessary. 16<br />

Während des Philosophiestudiums an der Humboldt-Universität jedoch wurde er<br />

kritisch gegenüber dem Regime, was die Relegation von der Universität zur Folge hatte.<br />

Damals wurde ihm die Diskrepanz <strong>zwischen</strong> Theorie <strong>und</strong> Praxis der Partei bewußt, <strong>und</strong> dieses<br />

Bewußts<strong>ein</strong> wurde noch verstärkt während der Arbeits<strong>ein</strong>sätze, an denen er in den<br />

Sommerferien mit anderen jungen Leuten teilnahm. S<strong>ein</strong> Verhältnis zur Partei wurde<br />

zunehmend gespannter, wenngleich es, wie er zugibt, von s<strong>ein</strong>er Seite nach wie vor auf<br />

Loyalität beruhte. Dieses Thema hat Becker immer wieder aufgegriffen <strong>und</strong> vertieft.<br />

Seit 1968, mit der Zerschlagung des Prager Frühlings unter Mitwirkung der<br />

Volksarmee, bröckelte diese Loyalitätsbasis, bis sie im Jahr 1976, als Wolf Biermann<br />

ausgewiesen wurde, ganz zerbrach. Weder zur Partei, noch zur DDR überhaupt gab es für<br />

Becker nun noch Anknüpfungspunkte. Hellsichtig erkannte er, daß <strong>ein</strong> Staat, der die Freiheit<br />

mit Füßen trat, sich nicht lange würde halten können.<br />

Vor dem Hintergr<strong>und</strong> dieser Geschehnisse läßt sich die Bedeutung von Partei <strong>und</strong><br />

Staat in Beckers <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> Werk begreifen. Die Etappen, die aus dem begeisterten Anhänger<br />

<strong>ein</strong>en Gegner machten, durchziehen wie <strong>ein</strong> roter Faden den überwiegenden Teil der Werke,<br />

in denen der Sozialismus zur Sprache kommt. Bisweilen explizit, manchmal <strong>zwischen</strong> den<br />

Zeilen wird hier Beckers politisches <strong>und</strong> moralisches Credo deutlich. Bei allen<br />

Schwierigkeiten blieb er der Überzeugung treu, k<strong>ein</strong>e Gesellschaft sei besser als die<br />

sozialistische imstande, die Probleme der Menschheit zu lösen.<br />

Vom literarischen Standpunkt aus betrachtet war es <strong>ein</strong> günstiger Moment, als Walter<br />

Ulbricht 1971 zurücktrat <strong>und</strong> Erich Honecker die Parteileitung übernahm: Mit Honecker<br />

begann <strong>ein</strong>e Phase relativer Entspannung <strong>und</strong> kultureller Öffnung. Der Generationswechsel an<br />

der Spitze stand <strong>ein</strong>erseits für Kontinuität <strong>und</strong> Treue zur bisherigen SED-Linie, auch<br />

14 J. Becker, Aller Welt Fre<strong>und</strong>, Frankfurt a.M., 1982.<br />

15 R.A. Zipser, Interview with Jurek Becker, Oberlin/USA, Mai 1978, in: ”Dimension”, 11 H.3, 1978, S. 408.<br />

16 Ibid., S. 409.

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