Jon Berkeley Ravensburger Buchverlag
Jon Berkeley Ravensburger Buchverlag
Jon Berkeley Ravensburger Buchverlag
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Jon Berkeley
Die unglaublichen Abenteuer
von Miles und Little
Aus dem Englischen von
Gerald Jung und Katharina Orgaß
Ravensburger Buchverlag
Das Zero
Der eiskremgekühlte, schlammstiefelige Miles Wednesday
sah die kleine Artistin von ihrem kippeligen Turm stürzen.
Ohne nachzudenken, zwängte er sich durch die Lücke
zwischen den Sitzen und dem Gang, als könnte er sie auffangen.
Aber als er sich eben an einem Sitz hochziehen
wollte, rang das Publikum abermals nach Luft, diesmal
jedoch nicht vor Schreck, sondern vor Verblüffung. Der
Sturz der Kleinen hatte sich auf halbem Weg zum Manegenboden
verlangsamt. Auf ihren Schultern entfalteten
sich flirrend zarte, perlmuttern schimmernde Flügel, und
sie schwebte sanft zu Boden.
Sie landete so sacht, dass ihre Füße keine Spuren im
Sägemehl hinterließen. Sie faltete die Flügel zusammen
und legte sie wieder an, und ein feines Lächeln umspielte
ihre Lippen, als der letzte bunte Gegenstand krachend neben
ihr herabplumpste, ein Stück weiterkullerte und liegen
blieb. In der atemlosen Stille richtete sie die himmelblauen
Augen fest auf Miles, der halb aus, halb unter der
vordersten Sitzreihe hing, und deutete eine Verbeugung
an. Dann hob jemand sie hoch und setzte sie auf ein schönes,
stolzes, geschecktes Pferd, das sie aus der Manege und
4
durch den sternenübersäten Samtvorhang vor dem Artisteneingang
trug.
Ohne daran zu denken, dass er dort nichts zu suchen
hatte, hievte sich Miles auf die staubigen Bretter und begaffte
den noch hin und her schwingenden Vorhang, durch
den Pferd und Reiterin entschwunden waren.
Er war nicht der Einzige. Neben dem Vorhang stand der
Zirkusdirektor, ein kleiner adretter Mann in roter Hose
und schwarzen Schaftstiefeln. Auch er blickte dem Mädchen
wie vom Donner gerührt nach, runzelte die Stirn und
strich sich das stoppelige Kinn unter dem prächtigen
Schnurrbart.
Ein paar Zuschauer klatschten unentschlossen, andere
waren verwirrt und verärgert.
„Sollte verboten werden, das Publikum so zu erschrecken“,
meinte eine Frau mit einem Pelzkragen um den
Hals.
„Mich hat fast der Schlag getroffen“, eine andere.
„Also wenn du mich fragst, ist die Kleine viel zu jung
für solche halsbrecherischen Nummern“, meldete sich ihr
Mann empört zu Wort. „Das verstößt doch bestimmt gegen
irgendeine Vorschrift. Wahrscheinlich nicht nur gegen
eine.“
„Das war doch sicher bloß ein Spiegeltrick“, vermutete
ein Mann in der Reihe dahinter. „Ich wette, sie ist da nicht
mal hochgeklettert, sondern hat die ganze Zeit bloß danebengestanden.“
5
„Mir sind sowieso die Clowns am liebsten“, verkündete
die erste Frau. „Mit meinem Haushaltsgeld auszukommen
ist mir Balanceakt genug.“
Miles wollte eben einwerfen, dass er noch nie etwas so
Erstaunliches gesehen hatte, aber er kam nicht dazu, denn
jemand packte ihn von hinten am Kragen. Er fuhr herum
und erkannte den Dicken mit der Hochwasserhose.
„Zeig mir doch mal deine Eintrittskarte“, sagte Dschingis
und schüttelte den Jungen zur Bekräftigung seiner
Worte ein bisschen durch. Er hatte eine hohe, keuchende
Stimme wie eine kaputte Trillerpfeife.
„Die hab ich verloren“, behauptete Miles mit Unschuldsmiene.
„Verflixtes Lumpenpack!“, erwiderte der Mann. „Du
bist zwar nicht zum Haupteingang reingekommen, du
Lausebengel, aber genau da fliegst du jetzt raus.“ Seine
dicke feuerrote Nase ragte zwischen der Hutkrempe und
dem gestärkten weißen Kragen vor, und er stank nach kaltem
Zigarrenrauch. Er stieß den stolpernden Miles vor
sich her, packte ihn am Eingang mit der anderen Hand am
Hosenboden und warf ihn wie einen Kohlensack ins Freie.
Der Junge landete im aufspritzenden Morast und konnte
gerade noch Dschingis’ Stiefel ausweichen.
„Wenn ich deine dreckige Visage hier noch mal sehe,
werf ich dich dem Zero vor“, verkündete der Dicke,
machte auf dem Absatz kehrt und verschwand wieder im
Zelt.
6
Miles ging zum Ausgang des Zirkusgeländes, aber sobald
er sicher war, dass Dschingis tatsächlich weg war,
kehrte er um und verdrückte sich wieder zwischen die
Wohnwagen. Die Pause war zu Ende, der zweite Teil der
Vorstellung begann mit scheppernden Gongs und zischenden
Becken, und Miles war immer noch wild entschlossen,
den Tiger zu finden.
Er spähte in einen Wagen mit vergitterten Seitenwänden.
Aus dem streng riechenden Dunkel fixierte ihn ein
starrer Reptilienblick. „Hier schon mal nicht“, raunte
Miles Mandarine zu und huschte weiter.
Er inspizierte einen Käfig nach dem anderen, leere und
bewohnte. Die Zebras, die er schon am Morgen gesehen
hatte, stampften wiehernd mit den Hufen. Im nächsten
Käfig hausten ihm unbekannte, wuschelige Tiere mit langen
Hälsen. Der letzte Wagen der Reihe beherbergte lauter
Aras und andere Papageien, die ihn in den verschiedensten
Sprachen beschimpften. Etwas abseits stand der
rote Wagen, der ihm schon am Morgen aufgefallen war,
der, um den sogar die Hunde einen Bogen machten. Miles
vergewisserte sich, dass er nicht beobachtet wurde, und
flitzte über die Wiese. Er holte den Knochen für den Tiger
aus der Tasche und wickelte ihn behutsam aus dem Papier.
Was wohl geschehen würde, wenn er ihn durch das vergitterte
Fensterchen über seinem Kopf fallen ließ?
Miles ahnte nicht, dass ihm diese Entscheidung samt
dem Knochen gleich abgenommen werden würde. In dem
7
Wagen über ihm lauerte kein Tiger und auch sonst kein
namentlich bekanntes Tier. Man nannte es nur „das
Zero“, was so viel wie „Null“ oder „Nichts“ bedeutet. Es
war ein unheimliches, furchterregendes Untier, wie es in
den finstersten Winkeln der schlimmsten Albträume
haust.
Das Zero war groß, gedrungen, behaart und unermesslich
stark. Es hatte rot geränderte Augen und ein fürchterliches
Gebiss. Es hieß, es sei eine Art Affe, wenn nicht gar
ein Yeti aus den unerforschten Hochtälern des Himalajagebirges.
Manche Leute behaupteten aber auch, es sei
einst ein Mensch gewesen, der mittels Zauberei in ein
Ungeheuer verwandelt worden war.
Wie dem auch sei, kaum jemand hatte das Zero schon
mit eigenen Augen gesehen, denn es ließ sich weder zähmen
noch dressieren. Der Dompteur, der es zuletzt versucht
hatte, musste in die Sankt-Bonifatius-Anstalt für
Durchgedrehte eingeliefert werden, wo er seit sieben Jahren
kein vernünftiges Wort mehr gesprochen hatte.
Miles war noch dabei, den letzten durchweichten Papierfetzen
von seinem Knochen zu klauben, da langte ein
gewaltiger Arm durch das kleine Gitterfenster, griff mit
Klauenfingern nach dem Leckerbissen und zog sich mit
der Beute sogleich wieder zurück.
Knack! Die kräftigen Kiefer des Zero zerbissen den
Knochen mühelos, dann hörte man das Untier schlabbernd
und schmatzend das Mark heraussaugen. Die mör-
8
derischen Zähne hatten den Happen im Handumdrehen
zermalmt und ein dröhnender Rülpser wie von einer Tuba
ließ den Wagen auf der Federung hüpfen. Der zitternde
Miles kauerte immer noch darunter. Er hatte keine Ahnung,
was für ein Geschöpf über ihm sein Unwesen trieb.
Aber es war ganz gewiss kein Tiger, und er war davon
überzeugt, dass es ihm, sollte es ihn zu fassen bekommen,
den Schädel wie ein gekochtes Ei eindrücken würde.
Der seines Knochens beraubte, vor Angst schlotternde
Miles Wednesday duckte sich unter den roten Zirkuswagen.
Er hatte genauso viel Angst, sein Versteck zu verlassen,
wie er sich fürchtete, dort unten hocken zu bleiben.
Wie er so in der hintersten Ecke kauerte und damit (so
hoffte er) außer Reichweite der zottigen Pranke, sah er
zwei Gestalten aus dem Hintereingang des Zirkuszeltes
kommen, eine große und eine kleine. Die große mit dem
runden Hut auf dem Kopf und dem unverwechselbaren
Dickwanst schubste die Artistin vor sich her, die von dem
hohen Turm gefallen war. Das Mädchen hatte die Hände
auf dem Rücken gefesselt. Das Mondlicht ließ sein Haar
glänzen und das weiße Trikot glitzern. Dschingis nahm
einen Schlüsselbund vom Gürtel und schloss einen kleinen
Wagen auf. Er hob das Mädchen hoch, warf es wie eine
Puppe hinein und sperrte hinter ihm wieder zu. Dann
machte er kehrt, stapfte zum Wohnwagen des Großen Cortado,
dem mit der Clownsfratze, und verschwand darin.
9
„Wir hauen besser ab“, raunte Miles Mandarine zu.
Mandarine erwiderte nichts, aber Miles wusste auch so,
was der Bär dachte.
„Wenn die uns erwischen, werfen sie uns dem Zero zum
Fraß vor.“
Mandarine sagte immer noch nichts.
„Wir können sie nicht befreien“, zischelte Miles und
wurde allmählich sauer. „Die Tür ist abgeschlossen und
die Fenster sind vergittert. Außerdem“, er vergaß ganz zu
flüstern, „geht uns das überhaupt nichts an.“
Daraufhin quietschte die Federung des roten Wagens
abermals. Die zottige Pranke des Zero kam zum Vorschein
und befingerte suchend die Radspeichen. Die Vorspeise
hatte ihm gemundet, jetzt verlangte es nach dem
Hauptgericht. Ein krummer, gelber Nagel streifte Miles’
nackten Knöchel.
Das war zu viel. Der Junge stürmte unter dem Wagen
hervor wie ein Windhund beim Startschuss und flitzte
über die morastige Wiese. In seiner Angst hielt er einfach
auf den nächstbesten Wagen zu und merkte erst, als er davorstand,
dass es der mit der eingesperrten kleinen Artistin
war. Er stöhnte leise auf.
„Wer ist da?“, fragte ein Stimmchen durch das vergitterte
Fenster.
„Ich“, erwiderte Miles.
„Kannst du mich rauslassen, Ich?“
„Ich bin nicht Ich, ich bin Miles.“
10
„Wer ist Miles?“
„Ich. Und ich kann dich nicht rauslassen. Die Tür ist abgeschlossen.“
„Dann hol den Schlüssel.“
„Den hat Dschingis.“
Im Wohnwagen scharrte es, dann erschienen Stirn und
Augen des Mädchens über dem hölzernen Fensterbrett.
„Ach, du bist es!“, sagte es überrascht. „Du wolltest
mich doch vorhin auffangen.“
Es war zu dunkel, als dass man es sah, aber Miles wurde
rot.
„Da bin ich aber froh“, fuhr die Artistin fort. „Du bist
sehr mutig. Du kannst bestimmt den Schlüssel besorgen
und mich rauslassen.“
Miles blickte seufzend zu ihr hoch. So weit er in dem
dunklen Fenster etwas erkennen konnte, sah sie sehr zerbrechlich
und verängstigt aus.
„Wie heißt du?“, erkundigte er sich.
Nach kurzem Zögern erwiderte sie: „Little.“
„Gut, Little, dann will ich mal versuchen, den Schlüssel
zu beschaffen. Geh vom Fenster weg und mach keinen
Mucks.“
Little nickte, rührte sich aber nicht von der Stelle.
Der große Wohnwagen, in dem Dschingis verschwunden
war, stand ganz in der Nähe. Er war dunkelblau gestrichen
und über die Grundfarbe rankten sich silberne
Muster wie Dornengestrüpp. Die Tür stand einen Spalt
11
offen. Ein rötlicher Lichtstreifen fiel nach draußen und
man hörte gedämpfte Stimmen. Miles schlich sich an und
versteckte sich unter dem Treppchen. Das Herz schlug
ihm bis zum Hals. Eine Männerstimme sagte: „Der Ältere
ist im Palast des Lachens ein echter Knüller. Die Nummer
mit der Stichflamme ist der Hammer, ich hab bloß noch
nicht rausbekommen, wie er das macht.“
„Ist er zuverlässig?“, fragte Dschingis kurzatmig.
„Solange wir seine kleine Schwester haben, macht er,
was wir wollen.“
„Was ist eigentlich mit dem Mädel los … ich meine die
Flügel?“ Nach einer längeren Pause quoll eine Rauchwolke
durch die halb offene Tür und wurde vom Wind davongetragen.
„An der Kleinen ist mehr dran, als man auf den ersten
Blick sieht“, erwiderte der erste Mann. „Wir müssen dahinterkommen,
bevor irgendwer Verdacht schöpft, je eher,
desto besser. Sieh zu, dass sie Schlaftropfen ins Abendessen
kriegt.“
Miles stand leise auf und riskierte einen Blick über die
Schwelle. Durch den Türspalt sah man einen Ausschnitt
des Wageninneren. Die beiden Männer saßen in Ledersesseln,
ihre Gesichter waren nicht zu erkennen. Sie streckten
die Beine unter einen Tisch mit schwarzer Marmorplatte,
der mitten auf einem prächtigen roten Teppich stand.
Dickwansts Hochwasserhose gab den Blick auf quietschgelbe
Socken frei. An den schwarzen Schaftstiefeln und
12
der roten Hose mit der gelben Naht erkannte Miles den
Zirkusdirektor. Im rötlichen Licht trieben dicke Zigarrenqualmwolken
träge vom einen zum anderen, als wollten
die beiden einander ausräuchern.
Gleich neben der Tür hing ein aus Ebenholz geschnitztes
lachendes Clownsgesicht. In den aufgerissenen Mund
war ein Spiegel eingelassen, darunter war eine Reihe Haken
angebracht. An dem Haken, der Miles am nächsten
war, hing ein riesiger Schlüsselbund mit mindestens vierzig
Schlüsseln. Miles bekam noch mehr Herzklopfen. Er
wollte sich eben überwinden, die Treppe hochzuschleichen,
als Dschingis sich vorbeugte und sein leeres Glas auf
den Tisch stellte. Miles hielt erschrocken inne.
„Tja“, sagte der Dicke und spähte blinzelnd durch den
Qualm auf seine große Taschenuhr, „die Vorstellung ist
gleich aus.“ Er steckte den Zigarrenstummel wieder in den
Mund und ließ sich in den Sessel zurücksinken, wodurch
er wieder aus Miles’ Blickfeld geriet, und produzierte als
krönenden Abschluss eine gewaltige Rauchwolke.
Die Zirkuskapelle drüben im Zelt schwang sich zu
einem Crescendo auf, das sich anhörte, als fiele ein Rudel
Katzen in einer Hotelküche über einen Büffel her. Miles
packte die Gelegenheit beim Schopf. Er flitzte die Treppe
zum Prunkwagen des Direktors hoch und griff nach dem
Schlüsselbund neben der Tür. Dabei fiel sein Blick in den
gerahmten Spiegel – und begegnete dort dem Blick des
Großen Cortado.
13