„Das Wesen der Zeit ist das Maß des Gewordenen und eine ...
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DAS WESEN DER ZEIT –SYMPOSIUMSVORTRAG – 09/07– JANINE CHRISTGEN
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- JANINE CHRISTGEN
„Das Wesen der Zeit ist das Maß des Gewordenen und eine immerwährende Bewegung“ –
Überlegungen zur Rezeption musikalischer Texte in der (Post-)Moderne. – Vortrag auf der
Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung zum Thema: „Selbstreflexion in der
Musikwissenschaft“ - 26. bis 29. September 2007
Einführung und Problementwurf
„Schreiben ist ein Appell an die Freiheit des Lesers.“ 1 So zumindest fasst es Jean-Paul Sartre
in seinem Essay über das Wesen der Literatur. Das Kunstwerk ist ausschließlich im Vorgang
der Rezeption präsent, in dem das Subjekt das Kunstwerk neu schafft. Das Werk erschließt
sich folglich durch die konstitutive Leistung des Lesers. Dem „Akt des Lesens“ - will man
sich der Nomenklatur Wolfgang Isers bedienen - fällt also ein wesentlicher Anteil bei der
Gewinnung von Bedeutung zu. Mit anderen Worten: „Das Wesen der Zeit ist das Maß des
Gewordenen und eine immerwährende Bewegung“. Erstaunlicher Weise lässt sich mit diesem
Aphorismus des Vorsokratikers Xenokrates umreißen, was im Diskurs der Gegenwart virulent
wird.
Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts „kann ein Zerfall der musikalischen Sprachlichkeit bis
hin zur Auflösung festgestellt werden, wobei das Komponieren von Sprache in den sechziger
Jahren schließlich nicht nur die sprachlichen Strukturen der Musik, sondern auch die der zu
Klangmaterial gewordenen Wortsprache zerschlug.“ 2 Ein Grundproblem, mit dem sich
Philosophie, Linguistik, Kunst und Musik seit dieser Zeit des Umbruchs beschäftigen, scheint
somit die „Definition der auf Kommunikation gerichteten Ausdrucksmöglichkeiten“ 3 zu sein,
beziehungsweise die Feststellung von deren unzureichender Kommunikationsfähigkeit.
Es stellt sich nun die Frage, wie es zu dem schwindenden Vertrauen in die Aussagefähigkeit
von Sprache kommt und wie man infolgedessen mit sprachlichen Strukturen umgehen sollte.
Dazu muss vorweg gesagt werden, dass Musik in diesem Fall als Sprache, beziehungsweise
sprachähnliche Ausdrucksform in der Weise betrachtet wird, dass man auf sie die gleichen
rezeptionsästhetischen und sprach-, bzw. ausdruckskritischen Problemstellungen applizieren
kann, wie sie in der Literaturwissenschaft hervortreten.
1 Sarte, Jean-Paul: Schriften zur Literatur. Was ist Literatur? In: König, Traugott (Hrsg.).: Gesammelte Werke 2.
Reinbeck: Rowohlt 1986, S. 233.
2 Kogler, Susanne: Am Ende, wortlos, die Musik – Untersuchungen zu Sprache und Sprachlichkeit im
zeitgenössischen Musikschaffen. In: Kolleritsch, Otto (Hrsg.): Studien zur Wertungsforschung Bd. 39.
Wien/Graz: Universal Edition 2003, S. 10.
3 Kogler, Susanne: Am Ende, wortlos, die Musik – Untersuchungen zu Sprache und Sprachlichkeit im
zeitgenössischen Musikschaffen. In: Kolleritsch, Otto (Hrsg.): Studien zur Wertungsforschung Bd. 39.
Wien/Graz: Universal Edition 2003, S. 12.
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- JANINE CHRISTGEN
Bevor ich mich auf das Beispiel von Zenders „Komponierter Interpretation von Schuberts
Winterreise“, als einem möglichen Weg der musikalischen Selbstreflexion in der Gegenwart
konzentriere, möchte ich in Kürze umreißen, welche Gründe den kritischen Umgang mit
musikalischen Texten bedingen.
In der philosophischen Betrachtungsweise lässt sich der Beginn der Moderne mit dem Beginn
der Aufklärung und der philosophischen Zentrierung auf das Subjekt bestimmen. Das
Vertrauen auf eine Ziel und damit auf eine Sinnhaftigkeit der Welt, die in einer höchsten
Wahrheit zu finden ist, trennt und unterscheidet die Moderne Weltauffassung von jener der
Postmoderne. Mit der Philosophie Nietzsches, die als Kritik der Hegelschen Gedanken
gleichzeitig das Gebäude des Idealismus zum Einsturz bringt, beginnt die Zeit der
Postmoderne. Auch die Subjektstruktur erfährt eine wesentliche Veränderung hin zur
dezentrierten Gestalt. Sie erwächst aus der Erfahrung, dass zur Subjektgenese eine äußere
Welt benötigt wird, welche jedoch ihr als ent-fremdende und ent-äußernde entgegen tritt. So
wird die Selbstbewusstseinskonstitution gleichermaßen zur immer wieder dezentrierenden
Erfahrung. Die Einsicht in die Nichtübereinstimmung von subjektiver Erkenntnis und
Objektwelt, führt zu der Erkenntnis, dass die Objekte immer nur für ein Subjekt seiend sind,
ohne dabei auf reale Existenz oder intersubjektive Vergleichbarkeit rekurrieren zu können.
Mit der Erfahrung, dass Erkenntnis nicht mehr intersubjektiv vergleichbar ist, kann auch
keine einheitliche Wahrheit und keine einheitliche Sinnkonfiguration mehr angenommen
werden. Gleichzeitig mit diesem Prozess vollzieht sich, die „Sprachliche Wende“, die
„grundlegende Skepsis gegenüber der Vorstellung, Sprache sei ein transparentes Medium zur
Erfassung und Kommunikation von Wirklichkeit.“ 4 Damit ist der Ausgangspunkt für den
Kritischen Umgang mit Sprache und Kommunikationsformen bestimmt, zu denen ich auch
jene der Kompositionen zähle. Zudem zeigt die kritische Wendung der Sprache 5 gegenüber,
dass auch ein neues Verständnis von Sprache oder die Genese neuer sprachlicher Strukturen
Wege aus der Krise sein können. Die Dekonstruktion eines vormals „deutlichen“
Sinnangebots, der Übergang von der Ein- in die Vieldeutigkeit und die bewusste Produktion
von Sinnüberschüssen verweist auf eine sich in ihrer Komplexität entziehende Welt. Dem
Schöpfenden wird bewusst, dass arbiträre Zeichen eine individuelle Mitteilbarkeit
verunmöglichen. Daraus resultieren drei möglich Konsequenzen:
4 Stierstorfer , Klaus: Linguistic turn. In: Schweigle, Günther (Hrsg.):Metzlers Lexikon Literatur- und
Kulturtheorie. 3.Auflage. Stuttgart: Metzler 2004, S 312.
5 Verbindung: Wahrheit/Spache vgl.: Nietzsches Text: „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne“
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1. Der Rückgriff auf die Tradition, als Ausweg aus der Krise, wobei hier über die Lösung des
Umgangs mit nicht mehr sprachfähigen Strukturen nachgedacht werden muss.
2. Das Schweigen, als Aufgabe des Versuchs vermittels Codierungsverfahren Sinn zu
erzeugen.
3. Die Generierung eines neuen tragfähigen Codierungssystems.
Für das bislang theoretisch dargelegte, soll im Folgenden Hans Zenders „Komponierte
Interpretation von Schuberts Winterreise“ als praktisches Beispiel für den transformierenden
Rückgriff auf die Tradition angeführt und die rezeptionsästhetische Position Zenders, die sich
vor allem an Wolfgang Iser und Umberto Eco orientiert, vorgestellt werden.
Rezeptionsästhetik - Zender bezeichnet seinen eigenen Umgang mit den Werken vergangener
Zeit als „lecture“, als „Lesart“. Die Bearbeitungsformen die er, resultierend aus dem „Akt des
Lesens“, zur Um- und Neugestaltung der „Winterreise“ Schubertscher Provenienz nutzt, sind
die Folgenden: 6
Interpretation:
Dehnung bzw. Raffung des Tempos, Transposition in andere Tonarten,
Herausarbeiten charakteristischer farblicher Nuancen
Lesen:
innerhalb des Textes springen, Zeilen mehrfach wiederholen, Kontinuität
unterbrechen, verschiedene Lesarten der gleichen Stelle vergleichen
Orchestration: Permutation von Klangfarben; Ausnutzung von besonderen
Klangmöglichkeiten
Kontrafaktur:
Hinzufügung frei erfundener Klänge als Vor-, Zwischen-, Nach- oder
simultane Zuspiele; Überleitungen; Verschiebung der Klänge im Raum
Bewegung:
Gänge der Musiker im Raum
Klangchiffre:
keimhafte musikalische Figur, aus der das ganze Lied sich zeitlich entfaltet;
Stimuli und Onomatopoetik
Das Ziel ist es, so Zender, die „existentielle Wucht des Originals“ 7 wiederzubeleben, „die
ästhetische Routine der Klassiker-Rezeption aufzubrechen“. 8 Wobei der Blinkwinkel auf das
Werk besonders auch in Zenders Fall subjektiv geprägt ist. Zenders Vorgehen setzt die
Auseinandersetzung mit der Frage nach der Originalität von Werkstrukturen und deren
Rekonstruierbarkeit voraus. Das Werk und seine Bedeutung besitzen für Zender keine
immerwährende Konstanz, sondern lassen sich im Anschluss an das fassen, was Heraklit als
sein berühmtes „Panta rhei“ („Alles fließt“) fasste. Das Kunstwerk ist der dynamischen
Dimension der Zeit unterworfen. Die Zeichen der Partitur sind auf die zukünftige
Aktualisierung in der Aufführung bezogen. Jeder interpretatorische Zugang ist abhängig von
der „lecture“. Dabei ist für Zender bereits die Notation Interpretation, da sie weder das
6 Vgl. Zender, Hans: Notizen zu meiner komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise, S. 221.
7 Zender, Hans: Notizen zu meiner Komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise“, S. 223.
8 Vgl. Zender, Hans: Notizen zu meiner Komponierten Interpretation von Schuberts Winterreise“, S. 223.
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explizit Gedachte ausdrücken kann, noch eine genaue Dechiffrierung möglich macht. Daher
scheint es auch nicht eine richtige Lesart, nicht eine „Wahrheit“ des musikalischen Textes zu
geben. Diese Gedanken erschließen, warum ich im Voraus, die Zeit der Postmoderne von
jener der Moderne zu trennen suchte, zeigt sich hier doch, dass die Absage an die „Wahrheit“
ihren Niederschlag auch im Umgang mit der Rezeption musikalischer Texte findet.
Zender greift zur Verdeutlichung auf Hölderlins Mnemosyne-Text zurück: „Zeichen sind wir,
deutungslos,/Schmerzlos sind wir und haben fast/ Die Sprache in der Fremde verloren.“ 9
Mnemosyne, die Mutter der Musen, „ist im gleichen Moment in die Zukunft eilender
utopischer Entwurf und Erinnerung an das Uralte.“ 10 Zeichen, die in ihrer Chiffrierung nicht
mehr verstanden werden, sind deutungslos, haben ihre Sprachfähigkeit in einer vergangenen
Zeit eingebüßt und bedürfen nun der Übersetzungstätigkeit des Interpreten.
Diese Gedanken schließen an Isers „Leerstellentheorie“ an: „Die Schrift des Komponisten
entwirft an Stelle des einen intendierten Stücks in Wirklichkeit unendlich viele. [...] Durch die
Erfindung der musikalischen Schrift ist also gerade nicht die Möglichkeit entstanden, ein
`musikalisches Objekt` eindeutig zu fixieren.“ 11 Zender versteht die Urschrift als Basis für
alle sich aus ihr formierenden differenten Lesarten. Die Werkentfaltung tritt durch das
„Lesen“ des Textes, durch die Kommunikation mit dem Text zutage. Wolfgang Iser geht
davon aus, dass „die Schrift immer mehr ausdrückt, als dies dem Schreibenden bewusst ist“ 12 .
Als Gründe für diesen Sachverhalt lassen sich die Arbriträt der Zeichen, der Wandel der
Chiffren und ihrer Bedeutung sowie der Wandel der Rezipienten (u.a. aus historischen und
soziologischen Gründen) anführen. Die polyvalenten Möglichkeiten der Aktualisierung halten
den Text dabei lebendig. Die Kommunikation mit dem Text vollzieht sich – nach Iser –
gerade vermittels dessen Unbestimmtheitsstellen, die als „Aussparungen“ im Text bestimmt
werden können, welche der Leser im Vorgang seiner Lektüre individuell erschließt und auf
mannigfaltige Weise gefüllt werden können.
Nach diesen grundsätzlichen theoretischen Bemerkungen zu Zenders Vorgehensweise soll
nun die Erläuterung anhand eines Beispiels erfolgen. Dazu sei hier das erste Lied des Zyklus
gewählt, da es nicht nur in Schubert Zyklus von besonderer Bedeutung ist, sondern gerade
auch bei Zender viel von der Arbeitsweise erfahren lässt, die seine gesamte
Zyklusbearbeitung kennzeichnet.
9 Zitiert nach: Vogt, Harry: Musik der Zeit, S. 10.
10 Zender, Hans: Ein Vierteljahrhundert später, S. 7.
11 Zender, Hans: Gedanken über die Bedeutung der schriftlichen Aufzeichnung für die Musik, S. 200.
12 Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Unsinnliche Ähnlichkeit: zur Sprachanthropologie W. Benjamins, S. 377.
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Analyse: Gute Nacht
Mit dem Titel „Gute Nacht“ ist gleichsam ein urromantischer Begriff aufgerufen. Die Nacht
bezeichnet für die Romantiker die „Harmonia“ des Weltgefüges, das Geborgensein im
kosmischen Ganzen. Müller und Schubert aber brechen mit diesen Vorstellen, verkehren den
Topos in sein Gegenteil machen die Reise durch Nacht und Winter zur unheilvollen
Erfahrung. Die unmittelbare Erfahrung der fremdgewordenen Natur zeigt sich in den
Naturbilder der „Winterreise“ (Wind, Eis, Schnee, Tränen, Irrlichter) und den Stimuli
(Hundegebell, Posthornsignal, Krähen der Hähne, Krächzens der Raben), welche die
Gefühlswelt des Wanderers spiegeln. Zender kennzeichnet sie als „Kernwörter“ oder
„Chiffren“ Schuberts, die er in onomatopoetischer Ausarbeitung zum Zentrum seiner „Lesart“
macht. Gleich zu Beginn seiner Interpretation nutzt Zender die assoziative Wirkung der
Onomatopoesie in der 53-taktige Einleitung zu „Gute Nacht“. Durch die Wisch-Bewegungen,
der Hände auf den Tom-Toms, welche als Vorstufe zum Klanglichen und damit als
Vorbereitung des Hörens bestimmt werden können, kann der Zuhörer dem Wanderer
akustisch folgen: Seiner tonlosen Desorientierung, auf den verschneiten Wegen. Die Stille
zwischen den Schritten - den Wisch-Bewegungen - wirkt dabei wie ein ratlos resignatives
Umblicken des Wanderers, ein unschlüssiges Reflektieren über den weiteren Verlauf des
Weges.
Um den Zuhörer noch expliziter in die Situation der Musik hineinzuversetzen stellt Zender
musikalische Verläufe und Besonderheiten durch Wanderbewegungen der Musiker dar. Der
Zuhörer ist in der Lage die Formation des Klangkörpers und seine spätere Deformation
mitzuerleben. Die Gänge der Musiker verbinden visuellen, akustischer und konzeptionellen
Effekt. Das Wandern der Musiker ist Weiterentwicklung der pochenden Achtelbewegung des
Schubertschen Klaviersatzes. Die Musiker erscheinen als reale Wanderer auf den Spuren des
Schubertschen, zugleich werden auch die Klänge auf Wanderschaft gesendet. Konzeptuell
erscheinen die Wanderbewegungen an Becketts „Come and go“ zu gemahnen. 13 Die
poetologische Konzeption scheint bei Beckett und Zender ähnlich. Beckett verweigert in
seinem Spiel den real-kommunikativer Gehalt durch sinnleere Freilegung des sprachlichen
Materials. Es ist die Einsicht in die Tatsache, dass Sprache keine gelungene Kommunikation
mehr hervorzubringen vermag. Somit schafft er sinnlos umherwandernde, einsame Subjekte.
Die Wanderbewegungen Zenders sind somit Teil der Interpretation, der „Lesart“.
13 Vgl. Stahmer, Hans Hinrich: Bearbeitung als Interpretation, S. 49.
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Musikalisch gelingt es Zender den Eindruck einer „heilen Welt“, den Schuberts Musik beim
heutigen Hörer so häufig zu evozieren scheint, gleich zu Beginn durch Kontrastierung zu
brechen. Die drei Grundthematiken der Winterreise: das Fremdsein, die verschmähte Liebe,
und das Wandern in der Dunkelheit werden im ersten Lied des Zyklus in ihrer Gesamtheit
exponiert. Wird der Zyklus häufig auf die Erfahrung verschmähter Liebe und des aus ihr
resultierenden Wanderns fälschlicherweise reduziert, so hebt Zender die Wanderschaft und
die Heimatlosigkeit schon in der ausgedehnten Einleitung seiner Interpretation hervor. Die
Erfahrung des Fremdseins folgt im kontrastierenden zweiten Teil. Dem Hörer wird Schuberts
Werk „fremd“, die gewohnten Klänge distanzieren sich und lassen den Rezipienten „neu“
hören. Der Titel „Gute Nacht“ scheint somit in der Verkehrung des romantischen Topos zu
einer programmatischen Erfahrung für Wanderer und Zuhörer zu werden.
Zender beginnt die erste Strophe mit einer reinen Streicherbesetzung, welche den Eindruck
der „heilen Welt“ durch die klangliche Assoziation des biedermeierlichen Streichquartetts
vermittelt. Die zweite Strophe gestaltet Zender durch den Einsatz der Klangfarben des
gesamten Orchesters, bevor die Strophe erneut im vollen Klang des Streichquartetts endet.
Dieser Klangcharakter ist für Zender die Basis seiner nun beginnenden Kontrastgestaltung:
die Reduktion auf die volkstümlichen Instrumente Gitarre und Akkordeon, die bereits alle
naiv liedhaften Assoziationen des Rezipienten durch Überhöhung selbiger schwinden lassen,
und die Akkordrepetitionen in pochenden Achtelnoten erwecken im Hörer bereits eine
Vorahnung auf das Kommende, eine gespannte Haltung, die aus der „Ruhe vor dem Sturm“,
welcher in der Collage in Takt 131 hervorbricht, resultiert. Melodie, Sprachduktus und Satz
werden zerschnitten. Die „heile Welt“ zerbricht. Jetzt gewinnt der Zuhörer einen Einblick in
die Innenwelt des Wanderers. Der Rezipient soll sich involvieren, emotional affiziert werden.
Ein Entzug aus Zenders radikalem Bruch ist kaum möglich. „Lass irre Hunde heulen vor...“
heißt es im Text, und darauf werden alle Beteiligten noch einmal zurückgeworfen. Nun
erscheint die Welt im wahrsten Sinne des Wortes „ent-täuschend“. Das chromatisch verfärbte
Thema ist dem Hörer ebenso fremd geworden wie dem Wanderer die Heimat. Die
onomatopoetische Textausdeutung bringt das Heulen der irren Hunde plastisch hervor. In den
folgenden Takten scheint Zender zu dem gewohnten Schubertschen Klangbild zurückkehren
zu wollen, doch weist die erneute Überhöhung mittels der eine Idylle evozierenden
Instrumentation bereits auf einen weiteren Realitätseinbruch in die „Idylle“ hin. Der
Wanderer liebt das Wandern nicht, und auch die fügende Allmacht Gottes kann ihm als
Begründung für sein Leid nicht genügen. Erneut bricht Zender den musikalischen Fluss
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(T.141). Die melodiöse Artikulation der Sängerstimme versagt. Die gesprochene Deklamation
mit Verstärkung im Fortissimo wird unterstrichen von massivem Schlagwerkeinsatz, dem
Staccatospiel der Holzbläser und der „harten, geräuschhaften“ Artikulation der Streicher, die
alle Striche „extrem am Steg“ ausführen. In Takt 147 fordert Zender das Auflegen einer
schweren Metallkette auf die Pauke, so dass diese bei jedem folgenden Schlag zu rasseln
beginnt. Vielleicht ein akustisches Zeichen dafür, dass „die Liebe (des Wanderers) keine Lust
zum Wandern zeigt, sondern im Gegenteil mit aller Gewalt an das Mädchen gekettet bleibt,“ 14
aber auch trotzige Auflehnung gegen die Fesseln, die ihm Gesellschaft und Leben auferlegen,
spiegelt. Das Rasseln der Ketten erscheint als lautliche Ausgestaltung eines Protestwilligen,
der sich zu befreien sucht, dessen Bürden jedoch von solcher Immanenz geprägt sind, dass ein
Entkommen unmöglich scheint. Dies wird auch durch die Einwürfe der Piccoloflöten
deutlich, die die Melodie zum Text „die Liebe liebt das wandern“ höhnisch verfremdet
aufgreifen und den Wanderer auszupfeifen scheinen. Zwischen der 3. und 4. Strophe lässt
Zender ein „leuchtendes Klangfeld entstehen.“ 15 Ein klangliches Bild, „eine impressionistisch
flirrende Klanglandschaft, die in sich zu ruhen und außerhalb der Zeit zu stehen scheint.“ 16 Es
hat den Anschein, als ob Zender die „himmlischen Längen“ Schuberts, die auch besonders in
seinen späten Klaviersonaten zu spüren sind, imitiere, ein nicht zu Ende kommen können
darstelle. Der äußeren Abgeschlossenheit steht die innere Unabschließbarkeit gegenüber. Die
äußeren Begrenzung des Individuums divergiert mit dem innere Drang nach Individualismus
und Selbstverwirklichung. Dem Anpassungszwang setzt sich ein Aufbruchswille entgegen
und die geschlossene musikalische Form unterliegt der Notdurft einen unabschließbarer
Gehalt auszudrücken. „Himmlische Längen“ sind der Versuch, die Welt zum Stillstand zu
bringen, einen Ausgleich zwischen Welt und Individuum herzustellen. 17 Es ist Schuberts Weg
der Zeitstrukturierung Musik dahinströmen zu lassen und somit Freiheit zu eröffnen,
gleichzeitig aber durch den repetierenden Charakter auf die desillusionierend repristinierende
Zeit hinzudeuten. 18
Zender zeigt in Form seiner „komponierten Interpretation“ dass die „Leerstellen“ des
musikalischen Textes gleichzeitig zum Verlust intersubjektiver Vergleichbarkeit der Lesarten
führt, wie zur grundsätzlichen Offenheit der musikalischen Texte für eine Rezeption, die über
die „Epochengrenzen“ hinausgeht. Die subjektive Ausfüllung dieser „Leerstellen“ führt zu
14 Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S.75.
15 Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S.77.
16 Nonnenmann, Rainer: Vom Nutzen und Nachteil der Musikhistorie für das Musikleben, S.77.
17 vgl. Godel, Arthur: Schuberts letzte drei Klaviersonaten, S. 191-257.
18 Vgl. Schnebel, Dieter: Auf der Suche nach der befreienden Zeit, S. 505.
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Zenders „Lesart“ von Schuberts „Winterreise“, die selbst eine vorläufige, eben subjektive ist.
Durch die Technik der Interpretation, des Lesens, der Orchestration, der Kontrafaktur, der
visuellen Komponente der Bewegung der Musiker durch den Raum und die
onomatopoetischen Klangchiffren versucht Zender eine unmittelbare Wirkung auf den Hörer
zu erzielen. Zender ist bewusst, dass es eine Interpretation, die alle Werkintentionen verlustlos
abzubilden vermag unmöglich erzielt werden kann, dies wird aus seinen theoretischen
Schriften deutlich. Anhand von Zenders Werk wurde es jedoch möglich eine Form des
Umgangs mit Sprachfähigkeit und schwindenden Sprachkonstanz musikalischer Strukturen in
der Musik der Gegenwart vorzustellen und nachzuvollziehen.