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rückblick orchesterprojekt 2010 - freie musikschule zuerich

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Mozart, Klezmer und die Klarinette –<br />

eine Wesensverwandtschaft<br />

8<br />

1984 wird an der Berliner Volksbühne ein<br />

Stück mit dem Titel „Ghetto“ aufgeführt.<br />

Der Inhalt des Stückes dreht sich, wie der<br />

Titel vermuten lässt, um die Shoha. Inszeniert<br />

wurde es vom berühmten deutschen<br />

Regisseur Peter Zadek.<br />

Zu dieser Produktion wurde ein Musiker<br />

eingeladen, dessen Auftritt einen Begeisterungssturm<br />

auslöst. Die grossen Magazine<br />

(„Spiegel“, „Stern“) berichten enthusiastisch<br />

darüber, wie dessen Musik singt, lacht,<br />

weint. Die Platten mit seiner Musik kann<br />

man zunächst nur erwerben, wenn man sie<br />

bei der Berliner Volksbühne direkt bestellt<br />

(es wird freilich nicht lange dauern, bis die<br />

Gestelle in den Plattenläden voll davon sein<br />

werden). Der Musiker hiess: Giora Feidman.<br />

Aufgewachsen in einer Familie, die ganz in<br />

der Klezmertradition lebte, in Buenos Aires.<br />

Klassisches Klarinettenstudium. Mit 18 schon<br />

Mitglied des Orchesters des ‚Teatro Colòn‘,<br />

dem grossen und berühmten Opernhaus in<br />

Buenos Aires. Zwei Jahre danach Klarinettist<br />

(und Bassklarinettist) im ‚Israel Philharmonic<br />

Orchestra‘).<br />

Und eben seit „Ghetto“ eine Klezmerkoryphäe<br />

weltweit. Mit ihm wurde die Klezmermusik<br />

erstmals einer breiten (nichtjüdischen)<br />

Öffentlichkeit bekannt gemacht. Ein wahrer<br />

Klezmerboom setzte ein, der noch keineswegs<br />

wieder verebbt ist.<br />

Ihre Wurzeln hat die Klezmermusik in den<br />

jüdischen Dörfern und Stedl im Osteuropa<br />

von Polen, Weissrussland, Ukraine, Russland<br />

bis hinunter nach Rumänien, Bulgarien und<br />

Griechenland. Die Klezmorim spielten an den<br />

zahlreichen jüdischen Festen und Feierlichkeiten<br />

auf und weil an ihrer Musik auch die<br />

Gojim, die nichtjüdische Bevölkerung, Gefallen<br />

fanden und weil die Klezmorim mit den<br />

jüdischen Festen allein – auch wenn diese<br />

sehr zahlreich waren - nicht immer ausgelastet<br />

waren, spielten sie auch bei den Gojim.<br />

Und lernten natürlich auch von ihnen. Die<br />

Bezeichnung ‚Bulgar‘ für eine in der Klezmermusik<br />

häufige Gattung (ein schneller 2/4-<br />

Takt) bezeugt das schön. Übrigens tourten<br />

schon im 19. Jh. gelegentlich Klezmorim<br />

aus dem Osten durch Mitteleuropa. Felix<br />

Mendelssohn hat einmal einen gehört und<br />

war hingerissen. Eine Auswanderungswelle<br />

im frühen 20. Jh. brachte zahlreiche Klezmorim<br />

nach Amerika und besonders nach New<br />

York. Seit da ist N. Y. ein grosses Klezmerzentrum.<br />

In Europa und besonders Osteuropa<br />

brachte der Holocaust die Klezmermusik<br />

Mitte des 20. Jh. zum Verstummen.<br />

Wie nun kommt es, dass auch die westliche<br />

nichtjüdische Bevölkerung einen derart grossen<br />

Gefallen an dieser Musik findet?<br />

Die Klezmermusik bringt auf der einen Seite<br />

eine ungemeine Sehnsucht, eine Wehmut<br />

zum Klingen und auf der andern Seite überschäumt<br />

sie vor Lebensfreude und Vitalität.<br />

Beides sind urmenschliche Befindlichkeiten<br />

und Gefühle. Für den gläubigen Juden ist<br />

es das Warten auf den Messias, für andere<br />

die Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies<br />

und die Hoffnung, wieder dahin zu<br />

gelangen. Für wieder andere die Sehnsucht<br />

danach, dass die Menschheit zur Eintracht<br />

mit der Erde und der Schöpfung findet, für<br />

wieder andere die Sehnsucht nach einem<br />

inneren Frieden, einer inneren Harmonie.<br />

Und weil das Warten ziemlich lange dauern<br />

könnte, freuen wir uns inzwischen an den<br />

vielen Schönheiten und Freuden, welche uns<br />

unsere Welt bereit hält.<br />

Was aber hat nun Mozart hier zu suchen?<br />

Giora Feidman hat immer wieder geäussert,<br />

wie lieb ihm Mozart und seine Musik ist.<br />

Wiederholt hat er auch Mozartnummern<br />

in seine Klezmerprogramme integriert. Als<br />

(klassischer) Klarinettist liebt er Mozart<br />

natürlich. Alle Klarinettisten tun das. Nicht<br />

nur, weil er für ihr Instrument wundervolle<br />

Musik geschrieben hat, sondern noch viel<br />

mehr, weil er das Wesen ihres Instrumentes<br />

so sehr verstanden und als erster zum Klingen<br />

gebracht hat, weil er gleichsam wie die<br />

Prinzessin den Frosch die Klarinette wachgeküsst<br />

hat.<br />

Die Klarinette ist zu Beginn des 17. Jh. aus<br />

dem Chalumeau, einem tonumfangmässig<br />

und klanglich limitierten Instrument, das<br />

hauptsächlich in der Volksmusik zum Einsatz<br />

kam, entwickelt worden. Sie war zunächst<br />

als ein wendigerer Ersatz für die Trompete<br />

(wegen der Tonlöcher im Gegensatz zur noch<br />

ventillosen Trompete) gedacht. Daher der<br />

Name Clarinetto - eine Verkleinerungsform<br />

von Clarino, einer italienischen Bezeichnung<br />

für die Trompete.<br />

Die frühen Klarinettenkonzerte aus der ersten<br />

Hälfte des 17. Jh. haben denn auch oft<br />

einen fanfareartigen Charakter. Der Ton wird<br />

in der Frühklassik weicher, aber erst Mozart<br />

vermag die Klarinette so zu behandeln, dass<br />

in jedem einzelnen Ton die tiefe menschliche<br />

Sehnsucht, Innigkeit und Innerlichkeit und<br />

gleichzeitig eine grosse Lebensfreude und<br />

Lebensbejahung eingefangen ist. Und das<br />

nicht nur in den grossen Klarinettenkompositionen:<br />

Ich empfinde das auch ganz<br />

stark, wenn ich einen Orchesterpart eines<br />

Mozartwerkes ausführen darf, in dem ich<br />

stellenweise nur ganz wenige Töne zu spielen<br />

habe. In jedem einzelnen Ton ist dieser<br />

ganze menschliche Empfindungskosmos<br />

eingefangen. Für mich gibt es keinen andern<br />

Komponisten, bei dem das derart ausgeprägt<br />

erlebbar ist.<br />

Und die Klarinette? Sie ist d a s Klezmerinstrument<br />

und sie ist das Instrument, dessen<br />

Wesen Mozart so genau erkannt und<br />

welches er so geliebt hat. Ich danke dem<br />

Schicksal, dass es mir dieses Instrument in<br />

die Hände gedrückt und mir ermöglicht hat,<br />

mich ein ganzes Leben lang intensiv mit<br />

diesem zu beschäftigen.<br />

François Thurneysen

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