4. Symphoniekonzert - Staatskapelle Dresden
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Die Romanvorlage des Longos<br />
Wiederentdeckt wurde Longos’ Roman für die Neuzeit in Frankreich. Die<br />
erste Übersetzung erschien 1559 in Paris. Zahlreiche weitere Übersetzungen<br />
und Bearbeitungen folgten. Von Ravel ist überliefert, dass er bei antiken Texten<br />
die Ausgaben des 18. Jahrhunderts mit ihrem Geschmackskostüm der<br />
damaligen Mode bei weitem den textreueren Versionen seiner Zeit vorzog.<br />
Er hatte kein spezielles Interesse an der Antike, ganz im Gegensatz zum russischen<br />
Tänzer Michail Fokine (1880-1942), der zu den Künstlern gehörte,<br />
die der Ballettproduzent Serge Diaghilew in Paris um sich versammelte. Seit<br />
1909, seit der Gründung der Tanztruppe, arbeitete Fokine für Diaghilews<br />
»Ballets russes« als Choreograf. Es ist wahrscheinlich, dass die Idee zu dem<br />
Ballett »Daphnis et Chloé« von Fokine ausging, war er es doch, der sich mit<br />
diesem Stoff schon jahrelang beschäftigte. In einer Buchhandlung in St. Petersburg<br />
hatte er zufällig eine russische Neuausgabe des Romans entdeckt<br />
und 1904 den Plan entwickelt, mit Hilfe dieses Stoffes ein Ballett zu schaffen,<br />
das durch seine Besinnung auf die Antike dem akademisch erstarrten Tanzstil<br />
seiner Zeit eine neue Wahrheit des Ausdrucks verleihen könnte. In St. Pe -<br />
tersburg war es jedoch aussichtslos, diese Ideen zu verwirklichen.<br />
Auch in Paris stand das Ballett zu Beginn des 20. Jahrhunderts im<br />
Hintergrund des aktuellen Kunstinteresses. Anti-akademische Stoffe gehörten<br />
daher von Anfang an zu Diaghilews Programm einer Erneuerung des<br />
Tanzes: in Strawinskys »Feuervogel« und »Petruschka« durch den Rückgriff<br />
auf die russische Sagen- und Märchenwelt, ähnlich wie in Ravels Ballettfassung<br />
von »Ma mère l’oye« die Märchen aus Charles Perraults Sammlung als<br />
Stoff dienten. Weiter in die Mythologie zurück führte Strawinskys »Le Sacre<br />
du printemps«, dessen archaische Hirtenwelt ein Jahr nach Ravels »Daphnis<br />
et Chloé« auf die Bühne der »Ballets russes« kam.<br />
Ravels »Daphnis« und Debussys »Prélude«<br />
Die Anlehnung an die griechische Antike teilt Ravels Ballett direkt mit<br />
Claude Debussys »Prélude à l’après-midi d’un faune«, obwohl in diesem<br />
Werk alles Stoffliche zugunsten eines sinnlich aufgeladenen erotischen<br />
Stimmungsbildes zurücktritt. Bereits Jahre zuvor als reines Konzertstück<br />
entstanden, brachte Diaghilew das Debussy’sche »Prélude« 1912 als Tanzstück<br />
heraus, nur wenige Tage vor Ravels »Daphnis«, bei dessen Uraufführung<br />
am 8. Juni 1912 Debussys Opus zudem wiederholt gezeigt wurde. Die<br />
Ballettfassung des »Prélude« war ein Tanzsolo des wie ein Blitz in Paris<br />
einschlagenden Vaslav Nijinsky (1889-1950), voll skandalös provokanter<br />
Sinnlichkeit, mit neuartigen Bewegungen und von einer faszinierend verstörenden<br />
Androgynität der Erscheinung dieses Tänzers. Demgegenüber<br />
wirkte Fokines Choreografie zum<br />
»Daphnis«-Ballett eher konventionell.<br />
Nijinsky tanzte aber auch<br />
hier in der männlichen Hauptrolle,<br />
und Ravel hatte sich für seine<br />
Musik zum ersten Solotanz des<br />
Daphnis, bei dem dieser gegen<br />
seinen Rivalen antritt, direkt von<br />
Nijinskys Bewegungen inspirieren<br />
lassen – mehr vielleicht als durch<br />
das Libretto. Ravels Freund Dimitri<br />
Calvocoressi berichtete: »In ›Le<br />
Pavillon d’Armide‹, einem anderen<br />
Ballett, das Diaghilew in dieser<br />
Saison herausgebracht hatte, vollführte<br />
Nijinsky in einem Solopart<br />
einen wunderbaren Sprung, von<br />
dem Ravel restlos begeistert war.<br />
ideengeber für »daphnis et chloé« Um dem Tänzer Gelegenheit zu<br />
als Ballett: Michail Fokine<br />
ähnlichen Sprüngen zu geben,<br />
hatte Ravel die Takte nach dem<br />
Schema ›Lauf mit anschließender langer Pause‹ angelegt, ein Muster, von<br />
dem Daphnis’ Tanz im ersten Bild durchgängig geprägt ist.«<br />
Insgesamt aber war die Zusammenarbeit zwischen Ravel und Fokine<br />
von gegenseitigem Misstrauen und Unverständnis geprägt. Nach Vollendung<br />
der dreijährigen Arbeit schrieb Ravel an den Direktor der Pariser<br />
Oper: »›Daphnis et Chloé‹ war für mich eine so ununterbrochene Tortur,<br />
dass mir vorerst jede Lust auf ein ähnliches Unternehmen vergällt ist.« 1909<br />
hatte die Arbeit an dem Stück begonnen, Diaghilew wollte es eigentlich<br />
schon 1910 herausbringen. Bereits die gemeinsame Arbeit am Szenario war<br />
von heftigen Auseinandersetzungen zwischen Ravel und Fokine geprägt,<br />
bei denen als Übersetzer auch der Bühnenmaler Léon Bakst gleich mit verschlissen<br />
wurde. Fokine reduzierte später in seiner Autobiografie rückblickend<br />
die Unstimmigkeiten weitgehend auf die Piratenszene des 1. Bildes,<br />
die er sich breiter ausgemalt wünschte, während Ravel nur etwas von einem<br />
blitzartigen Überfall wissen wollte.<br />
»Griechenland der Träume«<br />
Tatsache ist aber, dass von Fokines Wiederbelebung der Antike kaum etwas<br />
in dem Libretto übrig geblieben ist. Ravel sprach nicht ohne Grund<br />
von einer Umgestaltung zum »Griechenland meiner Träume«, für das ihm<br />
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