Pirat Sockenfuß Kapitel 1-12
Pirat Sockenfuß Kapitel 1-12
Pirat Sockenfuß Kapitel 1-12
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<strong>Pirat</strong> <strong>Sockenfuß</strong><br />
Ralf Scherlinzky<br />
<strong>Kapitel</strong> 1-<strong>12</strong>
PIRAT SOCKENFUß<br />
Ralf Scherlinzky<br />
(autor@pirat-sockenfuss.de)<br />
1
VORWORT<br />
Liebe Leserinnen und Leser,<br />
ich freue mich, dass Ihr nun endlich den „<strong>Pirat</strong> <strong>Sockenfuß</strong>“ in den<br />
Händen halten könnt.<br />
Die Figuren des Buches haben mich seit Sommer 2007<br />
zweieinhalb Jahre beschäftigt – zugegebenermaßen immer wieder<br />
mal mit mehrmonatigen Pausen.<br />
Das Ganze hatte damals eigentlich damit begonnen, dass ich mit<br />
meinen Kindern Mika und Donna an einem Sonntag Nachmittag im<br />
Garten saß und wir beschlossen haben, gemeinsam eine<br />
<strong>Pirat</strong>engeschichte zu schreiben. Wir haben ziemlich planlos<br />
begonnen und haben uns mehr Gedanken über die Namen der<br />
Figuren gemacht als über den Inhalt der Geschichte. Dieser kam<br />
dann im Laufe der nächsten Wochen dazu.<br />
Unterstützt durch klasse Ideen von Mika (von ihm stammt der<br />
Name <strong>Pirat</strong> <strong>Sockenfuß</strong>) und Donna (durch ihre Anregung entstand<br />
u.a. die Figur Klabautergirl) hat sich dann nach und nach eine Story<br />
entwickelt, die viel Spielraum für Fantasie und für „abgedrehte“<br />
Charaktere ergeben hat. Das „Weiterspinnen“ der Geschichte hat<br />
unheimlichen Spaß gemacht, und ich kann es kaum glauben, dass<br />
daraus ein richtiges Buch mit über 250 Seiten entstanden ist.<br />
Ich wünsche Euch genauso viel Spaß beim Lesen wie ich beim<br />
Schreiben hatte,<br />
Euer Ralf Scherlinzky<br />
(eMail: autor@pirat-sockenfuss.de)<br />
2
1. Das unheimliche Gemäuer<br />
„Tim! Tiiihim!!!“ Tim zuckte zusammen, als Frau Zimmermann<br />
versuchte, zu ihm durchzudringen. Er war mal wieder während der<br />
Deutsch-Stunde am Träumen. „Guten Morgen, Tim! Die anderen<br />
packen schon zusammen. Willst du etwa alleine hier bleiben?“. Tim<br />
sah sich überrascht um. Tatsächlich hatten seine Klassenkameraden<br />
die Hefte und Bücher schon längst in den Ränzen versteut und einige<br />
standen schon an der Tür und warteten auf ihn. Tim packte hastig<br />
seine Sachen zusammen.<br />
Pedro, sein Nebensitzer, grinste ihn verschmitzt an: „Du warst<br />
wohl wieder meilenweit weg! Wieder vom aufregenden <strong>Pirat</strong>enleben<br />
geträumt?“. Tim’s ohnehin schon roter Kopf ähnelte nun einer<br />
Tomate. „Wo gehen wir hin?“, fragte er verlegen. „Du hast wieder<br />
gar nichts mitbekommen“, meinte Pedro. „Komm jetzt endlich, ich<br />
erzähl’s dir, so lange wir hoch laufen.“<br />
Tim war ein schlaksiger, blonder Junge, der gerade zehn Jahre alt<br />
geworden war. Zum Geburtstag hatte er einen Säbel und eine<br />
Augenklappe bekommen, und seither wünschte er sich nichts mehr<br />
als ein <strong>Pirat</strong> zu sein.<br />
Tim wunderte sich, dass sie das Klassenzimmer schon wieder<br />
verlassen sollten, denn schließlich hatte die Deutsch-Stunde gerade<br />
erst begonnen. Pedro erzählte ihm von den Plänen ihrer Lehrerin,<br />
dass die vierte Klasse das alte Schulgebäude am Waldrand oben am<br />
Hügel entrümpeln sollte.<br />
Tim kannte das alte Gemäuer von den Erzählungen seines<br />
Großvaters. Er hatte ihm früher immer gruslige Geschichten von<br />
Dingen erzählt, die er auf dem Dachboden der alten Schule gefunden<br />
hatte. Zwar konnte er sich nicht mehr an die Einzelheiten erinnern,<br />
3
doch fand er das Haus seither unheimlich und er hatte immer einen<br />
weiten Bogen darum gemacht.<br />
„Was will Frau Zimmermann denn ausgerechnet dort?“, fragte er<br />
Pedro. „O Mann, ich möchte wissen, wofür du zwei Ohren an<br />
deinem Kopf hast“, wunderte sich Pedro und fasste kurz zusammen,<br />
was Frau Zimmermann erzählt hatte.<br />
Der Direktor ihrer Schule plane, aus dem alten Gebäude ein<br />
Schulmuseum zu machen. Da die Schule knapp bei Kasse war, habe<br />
er die Renovierung zur Projektarbeit für die vierte Klasse gemacht.<br />
Deshalb würden sie in den kommenden beiden Wochen die meiste<br />
Zeit dort verbringen, um alte Möbel, Kisten und Bücher<br />
auszuräumen. Seine Klassenkameraden tuschelten aufgeregt und<br />
schienen sich auf die neue Aufgabe zu freuen. Tim dagegen hatte ein<br />
mulmiges Gefühl im Bauch, als sie den Hügel hochmarschierten .<br />
Nachdem sie schnaufend oben angekommen waren, teilte Frau<br />
Zimmermann die Klasse in drei Gruppen ein. Tim mochte sie nicht<br />
besonders, meinte sie doch, die drei Jungen in der Klasse mehr<br />
fordern zu müssen als die Mädchen. „Ihr seid Männer, keine<br />
Memmen“, pflegte sie jedes Mal zu sagen, wenn sich die Jungs über<br />
die unfaire Behandlung beschwerten.<br />
Tim und Pedro schauten sich genervt an, denn sie wussten schon,<br />
was jetzt wieder kommen würde. Da die Klasse nur aus drei Jungs,<br />
aber aus zwölf Mädchen bestand, würde Frau Zimmermann die<br />
beiden wieder in verschiedene Gruppen stecken. Das war jedes Mal<br />
so, denn sie behauptete, es sei am Gerechtesten, wenn in jeder<br />
Gruppe einer der Jungs wäre. Laura, Sonja, Sarah und Annika<br />
kicherten, als Tim ihnen zugeteilt wurde. Ausgerechnet diese vier<br />
ständig kichernden Hühner, dachte sich Tim, der vor den Mädchen<br />
4
natürlich nicht zeigen konnte, dass ihm die Sache mit dem alten<br />
Schulgebäude eigentlich unheimlich war.<br />
„Gruppe Pedro räumt die unteren Zimmer aus, Gruppe Nico nimmt<br />
den ersten Stock“, sagte Frau Zimmermann, „und Tim und seine<br />
Mädels gehen auf den Dachboden!“ Wieder kicherten die Mädchen,<br />
und Sarah warf ihm ein paar verstohlene Blicke zu. Tim wäre am<br />
liebsten im Erdboden verschwunden, und er wusste nicht, was ihm<br />
unangenehmer war – das Kichern der Mädchen oder die Tatsache,<br />
dass er ausgerechnet den Dachboden ausräumen sollte.<br />
„Den alten Krempel bringt ihr runter in die Eingangshalle, und dort<br />
schaue ich mir an, ob etwas dabei ist, was wir im Schulmuseum<br />
ausstellen können“, fuhr Frau Zimmermann fort. „Also, los geht’s,<br />
an die Arbeit!“<br />
Pedro stürmte mit seiner Gruppe gleich los, und auch Nico, der<br />
dritte Junge, rannte mit seinen Mädchen gleich die Treppe hoch.<br />
Laura, Sonja, Sarah und Annika schauten Tim fragend an, worauf er<br />
ein kaum hörbares „Also gut“ von sich gab.<br />
Zögernd stapfte er den Mädchen hinterher die Treppe hoch. „Wo<br />
geht’s eigentlich auf den Dachboden?“, fragte Annika, und die fünf<br />
schauten sich fragend an. Nirgends war eine weitere Treppe zu<br />
sehen, die nach oben führte. „Ach, Tim“, hallte Frau Zimmermann’s<br />
Stimme aus der Eingangshalle nach oben, „am Ende des Korridors<br />
ist eine Luke in der Decke, die müsst ihr aufmachen, und dort geht es<br />
dann nach oben“.<br />
Sie gingen den langen dunklen Korridor entlang, an dessen<br />
Wänden überall verstaubte Gemälde mit alten Portraits hingen. Sie<br />
fragten sich, wer diese Leute wohl waren. „Irgendwie schauen die<br />
unheimlich aus“, meinte Sarah, und Tim und die anderen stimmten<br />
5
ihr zu. Ihre Schritte wurden schneller, doch kurz bevor sie am Ende<br />
des Ganges angekommen waren, stockte Tim der Atem.<br />
Der Mann, der ihn aus dem vorletzten Bild auf der linken Seite<br />
anstarrte, kam ihm bekannt vor. Es musste.... Ja, es konnte gar nicht<br />
anders sein... Das war... ein Portrait seines Großvaters. Zwar hatte er<br />
auf dem Bild noch wesentlich mehr Haare als der Großvater, den er<br />
kennen gelernt hatte, und auch von dem langen Bart wusste er nur<br />
aus Erzählungen, aber die Narbe unter dem linken Auge war<br />
unverkennbar. Sie hatte die Form eines Ringes, und Tim hatte seinen<br />
Großvater oft danach gefragt, doch dieser wollte nie darüber<br />
sprechen, wie er an diese Narbe gekommen war. Tim wischte mit der<br />
rechten Hand den Staub von dem Portrait. Am unteren Rand des<br />
Gemäldes stand mit schwungvoller Schrift „Jakob Springer“. „Tim,<br />
lass doch die alten Schinken da hängen, hier ist die Luke“, rief Sarah,<br />
und Tim riss sich los und ging zu den Mädchen.<br />
Die Tür zum Dachboden war zwei Meter über ihnen. Sie war in<br />
dem dunklen Korridor kaum zu erkennen. „Und wie kriegen wir das<br />
blöde Ding jetzt auf?“, fragte Annika. „Vielleicht gibt’s hier eine<br />
Leiter zum Hochsteigen oder eine Stange, mit der wir die Luke<br />
öffnen können“, stellte Tim fest. Er schaute nach oben und ging ein<br />
paar Schritte rückwärts. Plötzlich machte es einen Rumms und Staub<br />
wirbelte auf.<br />
„Tim?“, fragten die Mädchen, „alles klar bei dir dort drüben?“.<br />
„Mist, ich bin über irgendwas gestolpert und habe mir den Kopf<br />
angeschlagen. Hm, schaut aus wie eine Stange. Ich glaube, die gehört<br />
zur Luke“. Tim rieb sich die Beule an seinem Kopf und zog die<br />
Stange hinter sich her. „Helft mir mal“ – das mulmige Gefühl in<br />
seinem Bauch war längst einer Abenteuerlust gewichen. Zu fünft<br />
hievten sie die Stange nach oben, was gar nicht so einfach war. Beim<br />
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zweiten Versuch schafften sie es dann, sie in den Griff einzuhängen.<br />
Sie zogen daran, und mit einem Ruck sprang die Luke auf und<br />
krachte nach unten. Vor ihnen führte eine steile Treppe nach oben,<br />
die zu ihrer Überraschung sogar beleuchtet war.<br />
Die fünf schauten sich fragend an, und es schien, als wartete jeder<br />
darauf, dass einer der anderen den ersten Schritt wagte. Tim blickte<br />
nach oben, wo er außer dicken Spinnweben nichts erkennen konnte.<br />
„Nun geh schon vor, Du Held“, trieb Sarah Tim an. Er musste<br />
schlucken, dann gab er sich einen Ruck und setzte den Fuß auf die<br />
unterste Treppenstufe, die laut knarrte. Zaghaft ging Tim weiter –<br />
nicht ohne sich nach den Mädchen umzudrehen, die ihm gespannt<br />
zuschauten. „Los, kommt schon, die Treppe beißt nicht“, blaffte er<br />
die vier an und stapfte die knarrenden Treppenstufen ehrfürchtig<br />
hoch. Es roch modrig und alt.<br />
Oben angekommen entfuhr ihm ein lautes „Wow!“. „Was ist los,<br />
ich will es auch sehen“, rief Annika und drängelte sich an den<br />
anderen vorbei nach oben. Direkt vor ihnen hing ein großes Bild an<br />
der Wand, aus dessen Mitte sie ein Furcht erregender und ziemlich<br />
echt aussehender <strong>Pirat</strong> anstarrte. Tim stand wie angewurzelt da, und<br />
erst allmählich konnte er sich von dem Blick des <strong>Pirat</strong>en lösen. Der<br />
<strong>Pirat</strong> – das fiel ihm erst jetzt auf – schien mit dem Zeigefinger seiner<br />
linken Hand direkt auf ihn zu deuten. In der anderen Hand hielt er<br />
einen Säbel, der eigentlich viel zu groß für ihn war. Er stand an Bord<br />
eines Schiffes, das einst ein mächtiges <strong>Pirat</strong>enschiff gewesen sein<br />
musste, das aber große Löcher in den Planken hatte und dessen Segel<br />
in Fetzen herunterhingen. Das Schiff trug die kaum noch lesbare<br />
Aufschrift „Jakob“, und Tim wunderte sich, wieso es den Namen<br />
seines Großvaters trug.<br />
7
Bevor er sich weiter darüber Gedanken machen konnte, drängten<br />
die Mädchen an ihm vorbei, um das Bild zu begutachten. „Und so<br />
etwas wollen die wegwerfen?“, fragte Sarah, und sie waren sich<br />
schnell einig, dass das Gemälde eines derjenigen Dinge war, die sie<br />
unbedingt Frau Zimmermann für das Schulmuseum geben mussten.<br />
„Irgendwie hat der Kerl Ähnlichkeit mit Kermit, dem Frosch“,<br />
lästerte Laura, und Sonja fügte hinzu, dass er vielleicht auch quaken<br />
könne. Die Mädchen kicherten, und Tim hatte das mulmige Gefühl,<br />
dass sie besser keine Witze über den <strong>Pirat</strong>en machen sollten. „Alte<br />
Spaßbremse“, grummelte Laura, bevor sie sich von dem Gemälde<br />
lösten und sich in die rechte Hälfte des Dachbodens aufmachten.<br />
Beim Weglaufen drehte sich Tim noch mal um.<br />
Der Zeigefinger des <strong>Pirat</strong>en zeigte immer noch auf ihn, obwohl er<br />
jetzt mindestens vier Meter weiter rechts stand. Ihm lief ein eiskalter<br />
Schauer den Rücken hinunter. Hatte der <strong>Pirat</strong> tatsächlich seinen Arm<br />
bewegt? Er blieb wie angewurzelt stehen. Das konnte er sich nur<br />
eingebildet haben, aber dennoch... Tim bewegte sich langsam<br />
zurück, und auch jetzt schien ihn der Arm des <strong>Pirat</strong>en zu verfolgen.<br />
Der Kloß in seinem Hals wurde immer größer. Er stand nun wieder<br />
direkt vor dem Gemälde, und der <strong>Pirat</strong> schaute ihm mit klarem Blick<br />
in die Augen, während sein linker Zeigefinger immer noch auf ihn<br />
zeigte.<br />
Tim starrte ungläubig auf das Bild, und sein Erstaunen wich einem<br />
Gefühl des Entsetzens, als er entdeckte, dass die kaum lesbare<br />
Aufschrift „Jakob“ plötzlich einem krakeligen Schriftzug mit den<br />
Buchstaben „TIM“ gewichen war. Alles um ihn schien sich im Kreis<br />
zu drehen, und einen Moment lang hatte er sogar den Eindruck, als<br />
würde ihm der <strong>Pirat</strong> zuzwinkern. „Sarah! Annika! Sonja! Laura!<br />
Kommt schnell!“, rief er atemlos, und die Mädchen stürmten herbei.<br />
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„Was ist denn los?“, fragte Annika, deren Haare mit Staub bedeckt<br />
waren, „wir haben gerade einen Karton gefunden, der voller...“ –<br />
„Da, der bewegt sich“, unterbrach Tim sie mit panischer Stimme,<br />
„und da steht plötzlich mein Name drauf!“ Die Mädchen schauten<br />
sich verwundert an. „Du liest zu viele <strong>Pirat</strong>engeschichten“, stellte<br />
Sarah belustigt fest, „dort steht ‚Jakob’ und der <strong>Pirat</strong> steht noch<br />
genauso da wie vorher. Komm mit, du Spinner“. Sie nahm Tim’s<br />
linke Hand und zog ihn hinter sich her. „Schau Dir lieber mal den<br />
Karton an, den wir gefunden haben, da sind viele Bücher drin, und<br />
alle sind ganz verstaubt“.<br />
Tim hörte gar nicht richtig zu. Er war sich sicher, dass das, was er<br />
gerade gesehen hatte, keine Einbildung gewesen war. Gedankenlos<br />
blätterte er in einem Buch mit der Aufschrift „Englische Geschichte<br />
– das 18. Jahrhundert“, während er versuchte, das Gesehene zu<br />
verarbeiten. Wie konnte ein Gemälde seinen Namen wissen? Und der<br />
Arm hat ihn tatsächlich verfolgt? Er schüttelte den Kopf, als ob er<br />
das, was er gerade erlebt hatte, von sich abschütteln wollte, und ging<br />
auf eine Tür zu, die hinter dem Bücherkarton in einen Nebenraum<br />
führte. Tim schob mit der Hand die dicken Spinnweben zur Seite, die<br />
am Türrahmen hingen. Er musste sich bücken, um überhaupt durch<br />
die Tür zu kommen, denn sie war höchstens einen Meter zwanzig<br />
hoch. Auch wenn der Raum dahinter leer war, erinnerte er ihn<br />
irgendwie an sein Zimmer zuhause. Der Raum war ungefähr genauso<br />
groß und hatte dieselbe Dachschräge wie sein eigenes Zimmer<br />
daheim. Tim wollte den leeren Raum schon wieder verlassen, als ihm<br />
ein kleines Loch in der Wand auffiel, das er zuerst gar nicht bemerkt<br />
hatte.<br />
Die Neugier trieb ihn nochmal zurück, denn das Loch schien nicht<br />
nur ein Mauseloch gewesen zu sein. Er kniete auf den Boden und<br />
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schaute hinein. Dort drin schien irgendetwas angebracht zu sein, was<br />
er nicht genau erkennen konnte. Er steckte die Hand hinein und<br />
ertastete einen Schalter.<br />
Er überlegte kurz, dann drückte er mit dem Finger dagegen.<br />
Plötzlich hörte er ein Knarren hinter sich. Er drehte sich um und sah,<br />
wie sich ein Geheimfach aus der Wand heraus schob. Tim staunte<br />
nicht schlecht, als er sich das Ganze anschaute. In dem Fach befand<br />
sich eine Kiste, wie er sie schon oft in Büchern und Filmen über<br />
<strong>Pirat</strong>en gesehen hatte. Sein Herz schlug schneller, und er untersuchte<br />
das massive Vorhängeschloss, mit dem die Kiste verriegelt war. Was<br />
sich wohl darin befand? Er rüttelte am Schloss, aber wie er schon<br />
erwartet hatte, ließ es sich nicht öffnen. Die Abenteuerlust kehrte zu<br />
ihm zurück und er überlegte hin und her, wie er das Schloss knacken<br />
könnte.<br />
„Tim, wir brauchen hier einen starken Mann, der uns hilft, diese<br />
alten Bücher runter zu tragen“, hörte er Sonja rufen. „Kannst Du uns<br />
bitte helfen?“ Er hörte ihre Schritte näher kommen. Hektisch schob<br />
er das Fach wieder zurück in die Wand und schaffte es gerade noch,<br />
bevor Sonja im Zimmer stand. „Was machst Du denn hier in dieser<br />
leeren Rumpelkammer“, fragte sie ihn, und er stammelte verlegen<br />
„Ich, äh, ach nichts, ich wollte gerade wieder zu Euch kommen.“ Er<br />
blickte noch einmal zu der Stelle zurück, an der er gerade noch die<br />
Kiste gesehen hatte, dann duckte er sich und folgte Sonja aus dem<br />
Raum hinaus.<br />
„Hier, wir nehmen am besten den ganzen Karton mit runter. Die<br />
Bücher sind total eingestaubt und sind es bestimmt nicht wert, in ein<br />
Museum zu kommen“, sagte Sonja. Die Mädchen standen schon<br />
bereit und warteten nur noch darauf, dass Tim ihnen beim Tragen<br />
half. „Nimm Du ihn da vorne, Annika und ich nehmen ihn hinten<br />
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und Sarah und Sonja stützen den Karton auf den Seiten ab“,<br />
bestimmte Laura. Tim hob den Karton vorne an und war überrascht,<br />
dass er trotz der vielen Bücher nicht allzu schwer war.<br />
Sie schleppten den Karton in Richtung Treppe, wo sie<br />
unweigerlich an dem Gemälde des <strong>Pirat</strong>en vorbeigehen mussten. Tim<br />
wurde es ganz heiß und er wusste nicht, ob er hinschauen sollte oder<br />
nicht. Sie waren schon fast vorbei, als er dem Drang nachgab, zum<br />
Bild schauen zu müssen. Der Finger am ausgestreckten Arm des<br />
<strong>Pirat</strong>en war auf ihn gerichtet und es war ihm so, als hätte der <strong>Pirat</strong><br />
erneut mit dem Auge gezwinkert.<br />
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2. Der Zimmer-Zwilling<br />
„Macht schon, auf geht’s“ – Tim drängte zur Treppe und schob<br />
die anderen vor sich her, und beinahe wäre Annika gestolpert und die<br />
Treppe hinuntergefallen. „Blödmann, was soll das?“, fuhr sie ihn an,<br />
nachdem sie sich am Türrahmen abgefangen hatte. Tim murmelte<br />
etwas, das sich wie „’tschuldigung“ anhörte, und er war froh als sie<br />
endlich den Dachboden verlassen hatten. Draußen angekommen,<br />
zeigten sie Frau Zimmermann die Kiste und holten sich von ihr das<br />
Okay, die Bücher in den Container werfen zu dürfen. „Ihr könnt<br />
gleich hier bleiben, wir gehen jetzt wieder zurück.“<br />
Pedro stand schon ganz erwartungsfroh da und begrüßte seinen<br />
Freund mit einem freudestrahlenden „Hey, <strong>Pirat</strong>, alles klar?“. Tim<br />
zuckte bei dem Wort <strong>Pirat</strong> zusammen, ließ sich aber nicht anmerken,<br />
dass er immer noch dieses mulmige Gefühl im Bauch hatte. Sollte er<br />
Pedro von dem geheimnisvollen Gemälde erzählen? Wahrscheinlich<br />
würde ihn dieser genauso auslachen wie es die Mädchen getan<br />
hatten. Deshalb beschloss er, die Geschichte für sich zu behalten.<br />
„Ja, alles klar, wieso auch nicht“, sagte er und fragte Pedro, ob dieser<br />
etwas Interessantes gefunden hat. „Stell Dir vor, da war ein altes<br />
Radio“, sprudelte es aus Pedro heraus, und Tim war froh, dass er<br />
nicht nachfragte, was er selbst alles entdeckt hatte. Tim hörte kaum<br />
zu, als Pedro das alte Radio bis ins letzte Detail beschrieb, rätselte er<br />
doch immer noch, was es mit dem geheimnisvollen <strong>Pirat</strong>en-Gemälde<br />
auf sich hatte.<br />
Inzwischen war auch Nico’s Gruppe aus der alten Schule<br />
herausgekommen und hatte ein paar Kisten mit altem Krempel in der<br />
Eingangshalle abgestellt. „Das reicht für den Anfang mal. Ihr könnte<br />
<strong>12</strong>
jetzt nach Hause gehen und wir treffen uns morgen zu ersten Stunde<br />
wieder hier am Eingang“, sagte Frau Zimmermann.<br />
Tim war froh, dass er sich gleich auf den Heimweg machen<br />
konnte. Er radelte den Fahrradweg an der Hauptstraße entlang und<br />
bog dann am Ortsende rechts ab, so wie er es jeden Tag machte.<br />
Kurz bevor er an der Haustüre angelangt war, drehte er sich noch<br />
mal um und schaute den Hügel hinauf. Dort oben stand das alte<br />
Schulgebäude einsam und verlassen und schaute so unheimlich aus<br />
wie immer. Tim kramte in seiner Hosentasche nach dem<br />
Hausschlüssel, doch außer einem zusammengeknüllten und noch<br />
feuchten Papiertaschentuch war dort nichts drin. „Igitt“, dachte sich<br />
Tim und ärgerte sich darüber, dass er den Schlüssel schon wieder<br />
zuhause hatte liegen lassen. Er drückte ein paar Mal auf die Klingel,<br />
so lange, bis sein Vater endlich aufmachte. „Ich frage mich, wozu ich<br />
dir den Schlüssel gegeben habe“, grummelte dieser ärgerlich, da ihn<br />
Tim mal wieder bei der Arbeit gestört hatte. Mit einem „Mh“<br />
überging Tim den Kommentar seines Vaters. „Papa, wo haben wir<br />
eigentlich das alte Fotoalbum von Opa Jakob?“. Tim’s Vater runzelte<br />
die Stirn. „Was willst du denn damit? Da musst du deine Mutter<br />
fragen. Ich glaube, sie weiß wo es ist. Wieso bist du eigentlich schon<br />
zuhause?“. Tim erzählte ihm von dem Schulprojekt und ließ seinen<br />
Vater dann wieder weiter arbeiten.<br />
Es war halb zwölf, und es würde noch mindestens eine Stunde<br />
dauern, bis seine Mutter mit seiner Schwester Luisa nach Hause kam.<br />
Die Mutter arbeitete morgens in der Bücherei und holte auf dem<br />
Rückweg immer Luisa vom Kindergarten ab. Meist war sie nach<br />
ihrer Heimkehr total gestresst, musste sie doch gleich für drei<br />
hungrige Mäuler das Essen zubereiten. Petra Jakobsen war die<br />
jüngste der drei Töchter von Jakob Springer, und es war irgendwie<br />
13
ein lustiger Zufall gewesen, dass sie ausgerechnet einen Mann<br />
geheiratet hatte, dessen Nachname zum Teil aus dem Vornamen<br />
ihres Vaters bestand. Tim hatte sich darüber nie große Gedanken<br />
gemacht, doch das heutige Erlebnis warf ein ganz anderes Licht auf<br />
den Namen. Tim Jakobsen – irgendwie passte sein Name genau zu<br />
dem Schild des Schiffs auf dem Gemälde. Tim schüttelte den Kopf.<br />
Das alles war ihm ein Rätsel, und er beschloss, in sein Zimmer zu<br />
gehen und sich am Computer etwas abzulenken.<br />
Sie wohnten in einem alten Haus, in dem schon seine Mutter und<br />
sein Opa aufgewachsen waren. Nachdem sein Opa gestorben war,<br />
hatte er dessen altes Zimmer oben unter dem Dach bekommen. Er<br />
ging nach oben, warf seinen Ranzen in die Ecke und schaltete den<br />
Computer an. Dann öffnete er das Vogelkäfig, wo ihn sein<br />
Wellensittich Billy schon ungeduldig erwartet hatte. Billy flog drei<br />
Runden durch das Zimmer, dann setzte er sich auf Tims Schulter und<br />
fing an, an seinem Ohr zu knabbern. Billy war schon einige Jahre alt<br />
und hatte früher Opa Jakob gehört. Als dieser vor zwei Jahren<br />
gestorben war, durfte Tim den zahmen Vogel zu sich ins Zimmer<br />
nehmen. Seither waren die beiden ein Herz und eine Seele. Billy<br />
wurde immer ganz unruhig, wenn Tim sich an den Computer setzte<br />
und das Gamepad in die Hand nahm. Wenn Billy die Anfangsmusik<br />
von Tim’s Lieblings-Computerspiel „Das Geisterschiff“ hörte, war er<br />
kaum zu bremsen. Er zwitscherte Tim aufgedreht ins Ohr und es<br />
schien fast als würde er mitsingen wollen.<br />
Tim steuerte mit dem Gamepad sein <strong>Pirat</strong>enschiff durch das<br />
Wasser, um die <strong>Pirat</strong>enprinzessin vom Geisterschiff zu befreien, war<br />
jedoch nicht sehr konzentriert und wurde ein ums andere Mal von<br />
feindlichen Kanonen versenkt – was Billy gar nicht zu passen schien,<br />
denn dieser verfiel mit jeder Kanonenkugel, die in die Planken des<br />
14
virtuellen <strong>Pirat</strong>enschiffs krachte, in riesiges Geschrei. „Klappe<br />
halten, Billy, das ist nur ein Computerspiel“, blaffte Tim den Vogel<br />
an. Eigentlich hatte er gar keine Lust zum Spielen, weshalb er das<br />
Spiel wieder beendete und sich aufs Bett legte.<br />
Er starrte an die Decke und dachte wieder an das Gemälde des<br />
<strong>Pirat</strong>en, an dessen Finger, der ihn verfolgte, und an das Zimmer mit<br />
dem Geheimfach und der Kiste. Was wohl in dieser Kiste drin war?<br />
War das eine <strong>Pirat</strong>enkiste? Blödsinn, dachte er, das ist ein altes<br />
Schulgebäude, und was soll das mit <strong>Pirat</strong>en zu tun haben? Da waren<br />
bestimmt nur ein paar alte Bücher drin. Aber was wäre, wenn die<br />
Kiste doch irgendwie mit dem <strong>Pirat</strong>en auf dem Gemälde zu tun<br />
hatte? Er wollte, nein, er musste unbedingt wissen, was in der Kiste<br />
war. Morgen, so dachte er, werde ich noch mal in das Zimmer gehen<br />
und versuchen, die Kiste zu öffnen.<br />
Er ließ den Blick abwesend durch sein Zimmer schweifen, als er<br />
wie vom Blitz getroffen zusammenzuckte. Ihm war wieder<br />
eingefallen, dass ihn der Raum dort oben in der alten Schule an sein<br />
Zimmer erinnert hatte. Sein Herz fing an zu pochen, als er aufstand<br />
und zur Tür ging. Von der Tür aus blickte er in das Zimmer und<br />
versuchte sich vorzustellen, wie es leer aussehen würde. Und<br />
tatsächlich, es hatte verdammt viel Ähnlichkeit mit dem Raum in der<br />
Schule.<br />
Abgesehen davon, dass die Türe normal groß war und man sich<br />
nicht beim Betreten des Zimmers bücken musste, schien alles exakt<br />
gleich zu sein. War das ein Zufall? Wellensittich Billy startete zu<br />
einer weiteren Runde und landete auf Tim’s Bett. Tim war immer<br />
noch am Vergleichen der beiden Räume. Dort, wo Billy gelandet<br />
war, war in dem anderen Raum das Loch in der Wand gewesen, dann<br />
musste genau gegenüber, also hinter seinem Kleiderschank das<br />
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Geheimfach gewesen sein. Schon komisch, dass sich beide Zimmer<br />
so genau glichen. Aber war das wirklich ein Zufall? Billy hüpfte über<br />
das Bett und fing an, ganz aufgeregt an der Tapete zu knabbern. Tim<br />
überlegte. Der Gedanke war zu verrückt, aber es kam auf einen<br />
Versuch an. Beide Räume waren exakt gleich, vielleicht war ja<br />
auch... Ach, was soll’s, dachte er, ich versuche es einfach. Er ging<br />
entschlossen zu seinem Nachttisch und schob ihn von dem Bett weg.<br />
„Weg da, Billy, jetzt gibt’s Action“, sagte er zu dem Wellensittich<br />
und fing an, am Bettpfosten zu ziehen. Das Bett machte keinen Ruck.<br />
Tim zog mit aller Kraft, und als er schon fast entkräftet aufgeben<br />
wollte, bewegte es sich doch noch ein paar Zentimeter.<br />
„Was machst Du denn da?“ – Tim zuckte zusammen, als seine<br />
Mutter plötzlich hinter ihm stand. „Äh, hallo Mama, ich, äh... Sag<br />
mal, hast du nicht mal gesagt, dass man anklopft, bevor man in ein<br />
Zimmer kommt?“. Seine Mutter wurde genauso verlegen wie er und<br />
entschuldigte sich. Tim war froh, dass er die Kurve gekriegt hatte<br />
und sie nicht weiter fragte, weshalb er das Bett wegschieben wollte.<br />
„Komm, das Essen ist fertig“.<br />
„Ich komme gleich“, sagte Tim, der unbedingt noch vor dem<br />
Essen hinter sein Bett schauen wollte. Außerdem wollte er Billy<br />
noch in seinen Käfig setzen, damit dieser nichts anstellte. Der<br />
Wellensittich saß an der hinteren Bettkante und lugte den Spalt<br />
hinunter, der zwischen dem Bett und der Wand war. „Möchtest auch<br />
sehen, ob dort was ist“, meinte Tim, als er ihm den Finger<br />
hinstreckte, damit sich der Vogel draufsetzten sollte. Normalerweise<br />
folgte Billy der Einladung gerne, doch diesmal war es anders. Er<br />
wich aus, fing wild an zu kreischen und rutschte beinahe von der<br />
Kante ab. „Ok, dann schauen wir eben noch kurz dahinter“, sagte<br />
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Tim, worauf Billy sich zu beruhigen schien. Tim wunderte sich, was<br />
mit dem Vogel los war. Es war gerade so, als würde er Tim dazu<br />
drängen, hinter das Bett zu schauen. Als sich der Junge auf das Bett<br />
legte, um mit dem Arm die Wand dahinter abzutasten, flog Billy<br />
aufgeregt auf Tim’s Kopf. „Nein Billy, lass das doch jetzt“, lachte<br />
Tim, während er sich an der Wand zu schaffen machte. Dort<br />
irgendwo musste das Loch in dem Raum in der Schule gewesen sein.<br />
Seine Finger glitten die Wand entlang. Am Kopfende stand das Bett<br />
noch an der Wand, so dass er Mühe hatte, die ganze Wandfläche<br />
abzutasten. Dann, auf Höhe des Kopfkissens, spürte er eine<br />
Unebenheit an der Tapete. Es fühlte sich anders an als der Rest der<br />
Wand – ungefähr so, als sei ein Loch zugestopft worden, bevor die<br />
Wand tapeziert wurde. Sein Herz schlug schneller und er fing an, mit<br />
den Fingernägeln an der Tapete zu kratzen. Sollte hier tatsächlich an<br />
derselben Stelle ein Loch versteckt sein?<br />
In diesem Moment klopfte es an der Tür und sein Vater kam<br />
herein. „Brauchst du eine extra Einladung zum Essen? Ups, was<br />
machst Du denn?“. Tim zog seinen Arm hinter dem Bett vor und<br />
faselte mit hochrotem Kopf etwas von einem Bleistift, den Billy<br />
hinter das Bett geworfen hatte. Sein Vater runzelte die Stirn, sagte<br />
aber nichts weiter. „Ich komme“, sagte Tim, auf dessen Kopf immer<br />
noch Billy saß. „Du hast da oben noch was“ – sein Vater grinste, als<br />
Tim verlegen den Finger für Billy hinstreckte und dieser widerwillig<br />
aufstieg. Er setzte Billy zurück ins Käfig, schaute noch mal zu<br />
seinem Bett und folgte seinem Vater nach unten.<br />
17
3. Auf der Suche nach Großvater’s Geheimnis<br />
Auf dem Tisch stand eine dampfende Schüssel mit Kartoffeln,<br />
daneben war eine Pfanne mit ein paar Stücken Fleisch. „Hallo großer<br />
Bruder, guck mal, es gibt Kartoffeln“, quäkte Luisa in Tim’s<br />
Richtung, während dieser vor sich hin stöhnte. Tim hasste<br />
Kartoffeln, und auch Fleisch war nicht so sein Ding. „Ich hab keinen<br />
Hunger“, meinte er, in der Hoffnung, gleich in sein Zimmer<br />
geschickt zu werden, wenn er eine gute schauspielerische Leistung<br />
ablieferte und das Essen verweigerte. Doch seine Mutter machte alle<br />
Hoffnungen zunichte, denn sie kam mit einer Schüssel Ravioli aus<br />
der Küche und strahlte Tim freudig an. „Guck mal, extra für Dich“.<br />
„Mh“, grummelte Tim vor sich hin. Nichts war’s mit hoch gehen, er<br />
musste wohl oder übel bis zum Ende des Mittagessens sitzen bleiben.<br />
„Schag mal Mama“, wandte er sich mit einem Mund voller heißer<br />
Ravioli an seine Mutter, „wasch war eischentlisch früher da oben wo<br />
mein Schimmer ischt, damalsch alsch Opa noch jung war?“. „Du<br />
sollst nicht mit vollem Mund sprechen. Ich habe kein Wort<br />
verstanden“. Tim schluckte die heißen Ravioli unzerkaut runter und<br />
keuchte erst mal, um seine Frage dann erneut zu stellen. „Keine<br />
Ahnung“, sagte seine Mutter, „wieso fragst du?“. „Ach nur so“,<br />
antwortete Tim und fragte dann gleich nach dem Fotoalbum seines<br />
Opas. „Klar habe ich das noch, das ist im Keller in dem alten<br />
Schrank. Du vermisst Deinen Opa, oder?“<br />
„Ja, schon“, antwortete Tim und schaufelte einen weiteren Löffel<br />
heiße Ravioli in seinen Mund. Seine Mutter betrachtete ihn<br />
argwöhnisch und Tim sah ihr an, dass gleich eine unangenehme<br />
Frage kommen würde. „Hausaufgaben habe ich heute keine“, kam er<br />
18
ihr zuvor. „Wir räumen jetzt zwei Wochen lang das alte<br />
Schulgebäude aus und haben gar keinen Unterricht.“<br />
Seine Eltern warfen sich zweifelnde Blicke zu und seine Mutter<br />
schauderte: „Dieses unheimliche alte Ding? Da würden mich keine<br />
zehn Pferde rein bekommen.“<br />
Tim fragte, was sie denn gegen das Schulgebäude habe, worauf<br />
seine Mutter in einen wahren Redeschwall ausbrach. Sie erzählte<br />
davon, wie sie in jungen Jahren noch selbst dort zur Schule gegangen<br />
war und wie unheimlich es dort gewesen sei. „Da kamen immer<br />
solche eigenartigen klopfenden Geräusche von oben, das war ganz<br />
schön unheimlich.“ Ihr Vater habe immer ein ganz besonderes<br />
Verhältnis zu der Schule gehabt, was ihr das Haus aber auch nicht<br />
sympathischer gemacht hatte. „Einmal“, so fuhr sie fort, „hat es<br />
während des Unterrichts auch so komisch gepoltert, und kurz darauf<br />
kam plötzlich dein Opa die Treppe vom Dachboden herunter. Seine<br />
Kleider waren ganz zerrissen und er hatte einige üble Schrammen im<br />
Gesicht.“<br />
„Was war da passiert?“, wollte Tim wissen. „Das ist es ja gerade.<br />
Ich hatte ihn auch gefragt, doch er war ganz anders als sonst und hat<br />
mich nur böse angefaucht, dass ich das Ganze schnell wieder<br />
vergessen und ihn nie wieder danach fragen soll.“<br />
„Und, hast du ihn nochmal gefragt?“ – Tim wurde immer<br />
neugieriger, doch seine Mutter blockte die Frage gleich ab. „Nein,<br />
habe ich nicht. Jetzt aber Schluss mit den gruseligen Geschichten,<br />
sonst kannst du heute nacht nicht schlafen.“<br />
Grummelnd aß Tim seine letzten Ravioli und leerte sich sein<br />
Apfelschorle ohne abzusetzen in den Mund. „Bin fertig“, sagte er<br />
und sprang vom Tisch auf. Sein Vater holte schon Luft, um einen<br />
Kommentar abzugeben, doch da legte ihm Petra Jakobsen die Hand<br />
19
auf dem Arm. „Lass ihn“, sagte sie, und Tim’s Vater entspannte sich<br />
wieder.<br />
Ganz außer Atem kam Tim oben in seinem Zimmer an. Billy<br />
schaute ihn verschlafen an, um dann gleich wieder aufgeregt<br />
loszuzwitschern. Tim beachtete ihn erst gar nicht und stürzte sich<br />
gleich auf sein Bett, doch der Vogel begann so laut zu kreischen,<br />
dass er letztlich doch das Käfig öffnete. Noch ehe er wieder am Bett<br />
war, landete Billy schon wieder an der Stelle, an der er vorher<br />
gesessen hatte. Tim tastete die Wand ab, fand die Unebenheit von<br />
vorher und begann wieder, mit dem Fingernagel an der Tapete zu<br />
kratzen. Neugierig vom aufgeregten Billy beobachtet, mühte er sich<br />
einige Minuten ab, ehe ihm der Durchbruch gelang. Er spürte jetzt<br />
eindeutig das Loch und versuchte, den Finger hineinzustecken. Was<br />
allerdings gar nicht so einfach war, da das Bett auf dieser Höhe ja<br />
fast ganz an der Wand stand und nur wenig Platz für seine<br />
Kinderhand ließ. Tim begann heftig zu schwitzen, was ihm aber egal<br />
war, hatte er doch nur noch die Suche nach dem Schalter in dem<br />
Loch in seinem Sinn. Er mühte sich ab, und als er schon aufgeben<br />
und das Bett irgendwie doch weiter wegschieben wollte, da spürte er<br />
ihn. Der Schalter war da, und er fühlte sich genau so an wie der auf<br />
dem Dachboden der Schule. „Billy, ich hab ihn“, keuchte er. Der<br />
Wellensittich stieß einen lauten Schrei aus und flog aufgeregt auf den<br />
Kleiderschrank – ganz so als wüsste er, was jetzt kommen würde.<br />
Der Schalter schien fest zu sitzen und bewegte sich anfangs trotz<br />
heftigen Drückens keinen Millimeter – doch dann gab er nach. Tim<br />
drückte mehrmals, und da hörte er es. Auf der anderen Seite des<br />
Zimmers rumpelte es heftig hinter seinem Kleiderschrank.<br />
Irgendetwas schien von hinten dagegen zu stoßen und brachte<br />
dadurch den ganzen Schrank ins Wanken. Billy begann wieder zu<br />
20
kreischen und Tim zitterte vor Aufregung am ganzen Körper. Das<br />
musste der Beweis sein: Sein Zimmer war eine exakte Kopie der<br />
Kammer auf dem Dachboden der Schule.<br />
Sein Schreibtisch und der Kleiderschrank standen fast Ecke an<br />
Ecke aneinander, und in dem freien Raum dahinter waren allerhand<br />
Dinge gestapelt: Eine Kiste mit seiner Uralt-Holzeisenbahn,<br />
ausgemusterte Kleider sowie seine Angel und ein paar<br />
zusammengerollte Plakate. Er begann damit, die Sachen von dort<br />
hinten hervorzuräumen, was vor allem bei der schweren<br />
Holzeisenbahn nicht so einfach war. Da er unbedingt in diese Ecke<br />
dort hinten steigen wollte um so vielleicht an das Geheimfach zu<br />
gelangen, begann er fluchend, die Eisenbahnschienen einzeln<br />
auszupacken. Dabei versuchte er, möglichst leise vorzugehen, denn<br />
er hatte keine Lust darauf, sich vor seinen Eltern wegen des Lärms<br />
erklären zu müssen oder womöglich seine nervende kleine Schwester<br />
im Zimmer zu haben.<br />
Nach ein paar Minuten hatte er es endlich geschafft. Nachdem er<br />
dann auch noch die leere Spielzeugkiste hervorgezogen hatte, kroch<br />
er unter dem Schreibtisch hindurch zur Ecke. Dass es dort ziemlich<br />
eng war, war ihm egal, denn er hatte sein Ziel unmittelbar vor<br />
Augen. Da der Schrank nicht direkt an der Wand anlag, war<br />
zwischen Schrank und Wand ein kleiner Spalt. Tim nahm seine neue<br />
Taschenlampe, die er zum Geburtstag bekommen hatte, vom<br />
Schreibtisch und leuchtete hinter den Schrank. Die Tapete hörte dort<br />
auf, wo der Schrank begann, und er sah, dass sich dort hinten<br />
irgendwas aus der Wand heraus geschoben hatte. Etwas, das aussah<br />
wie eine Schublade, war von hinten an den Schrank gestoßen. „Wie<br />
im Schulgebäude“, murmelte Tim und stieß einen leisen Pfiff aus..<br />
21
Das alles sah nun doch nicht mehr nach einem großen Zufall aus.<br />
Erst der <strong>Pirat</strong> auf dem Bild, dann sein Name auf dem Schiff, das<br />
Geheimfach mit der <strong>Pirat</strong>enkiste und nun das hier in seinem Zimmer.<br />
Tim wusste, dass er einem großen Geheimnis auf der Spur war, zu<br />
dem der Schlüssel in diesem Fach hinter seinem Schrank liegen<br />
musste.<br />
Er überlegte, wie er an den Inhalt des Fachs rankommen konnte. Er<br />
kroch wieder aus der Ecke hervor, wo ihn Billy auf dem Boden<br />
sitzend freudig erwartete. Tim ließ den Vogel auf seinen Zeigefinger<br />
springen und setzte sich auf sein Bett. Er betrachtete den alten, aus<br />
dunkelbraunem Holz gebauten Schrank argwöhnisch. „Viel zu<br />
schwer, das schaffe ich nie“, seufzte er und blies abwesend Billy an,<br />
dessen Gefieder sich um den Kopf herum aufstellte. Sollte er<br />
vielleicht seinen Vater fragen? Der wäre bestimmt stark genug, um<br />
den Schrank weg zu schieben. Aber natürlich würde er wissen<br />
wollen, weshalb sein Sohn einen uralten Schrank, der seit langen<br />
Jahren an ein und derselben Stelle gestanden hatte, wegschieben<br />
wollte. Seit langen Jahren... Ihm fiel wieder ein, dass er hinter dem<br />
Schrank keine Tapete an der Wand gesehen hatte, und wenn er es<br />
richtig sah, war auch der Teppichboden um den Schrank herum<br />
verlegt worden. Sein Vater hatte ihn damals beim Renovieren also<br />
auch nicht weg geschoben? Dann war er auch für diesen zu schwer<br />
gewesen – also musste er die Hoffnung begraben, den Schrank<br />
wegschieben zu können. Billy schaute ihn mitleidig an, sprang auf<br />
seine Schulter und begann, an seinem Ohrläppchen zu knabbern. Die<br />
große Abenteuerlust drohte nun von einem großen Frust verdrängt zu<br />
werden.<br />
Tim schaltete den Computer wieder an und begann, „das<br />
Geisterschiff“ zu spielen. Die feindlichen Schiffe, die ihm auf seiner<br />
22
Suche nach der <strong>Pirat</strong>enprinzessin in die Quere kamen, bekamen<br />
seinen vollen Frust zu spüren. Angefeuert von Billy versenkte er<br />
einen Feind nach dem anderen. Er steuerte nun eine Höhle an, in der<br />
er die Prinzessin und das Geisterschiff vermutete. In dem Moment,<br />
als der Bildschirm dunkel wurde und nur noch die Schatten der<br />
dunklen Höhle zu sehen waren, feuerten aus allen Richtungen<br />
Kanonen los. Sein Schiff fing ruckzuck Feuer, und das letzte, was er<br />
vor dem blutroten „GAME OVER“-Schriftzug sah, war ein grimmig<br />
dreinblickender <strong>Pirat</strong> mit Augenklappe, der mit einem Schwert<br />
ausholte.<br />
„Blödes Spiel“, grummelte Tim und warf das Gamepad auf den<br />
Tisch. Billy erschrak und flog panisch zu seinem Käfig zurück, wo er<br />
sich in der hintersten Ecke verkroch. Tim legte sich auf sein Bett und<br />
starrte an die Decke hoch. Wie konnte das Leben so ungerecht sein?<br />
Da stand er vor dem größten Abenteuer seines Lebens, und dann<br />
hielt ihn ein blöder alter Schrank davon ab! Müdigkeit überkam ihn<br />
und er schloss die Augen.<br />
23
4. Das Fotoalbum<br />
Als plötzlich der <strong>Pirat</strong> aus dem Gemälde in der alten Schule vor<br />
ihm stand, war er wieder hellwach. Der <strong>Pirat</strong> hielt ein Schild mit der<br />
Aufschrift „TIM“ hoch und sagte mit leiser, rauchiger Stimme „rette<br />
mich“. Tim erschrak aufs Heftigste. Wie sollte ein Junge einen<br />
großen <strong>Pirat</strong>en retten? Und wovor retten? „Bitte“, hauchte der <strong>Pirat</strong>.<br />
„Du musst, du bist der Einzige, der es kann.“ – Tim fühlte sich<br />
unwohl in seiner Haut. Er blickte dem <strong>Pirat</strong>en noch mal tief ins<br />
Gesicht, und da überkam ihn ein Gefühl der Panik.<br />
„Ooooooooopaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaa!“<br />
Die Tür seines Zimmers flog auf und schreckte ihn aus dem Schlaf.<br />
„Was ist passiert?“ – sein Vater war ins Zimmer gestürzt, gefolgt von<br />
Luisa, die sich neugierig vorbeidrängelte. „W...was?“, stammelte<br />
Tim als er sich aufsetzte. Er schwitzte. Seine Kehle war trocken.<br />
„Ach so, du hast geträumt, und ich dachte schon“. Sein Vater schien<br />
beruhigt, und Luisa kicherte. „Ich hatte dich ganz eigenartig schreien<br />
hören, als ob etwas passiert wäre. Hatte sich angehört, als hättest du<br />
Opa gerufen.“<br />
Tim zuckte nochmal zusammen. Er erinnerte sich wieder daran,<br />
was er in seinem Traum gesehen und gehört hatte.<br />
Sein Vater ließ den Blick über den Boden des Zimmers schweifen<br />
und wunderte sich über das Chaos dort. „Oh, hast du deine alte<br />
Holzeisenbahn wieder entdeckt? Find ich toll. Früher war das dein<br />
Lieblingsspielzeug.“<br />
Tim schluckte und nickte erleichtert. Er musste versprechen, dass<br />
er nach dem Spielen wieder alles in die Ecke räumen würde. Jetzt<br />
musste er nur noch Luisa loskriegen, die schon mit Stielaugen die<br />
24
Eisenbahn anstarrte und gerade zu einem „Ich will auch spielen“<br />
ausholte. Mit Blick auf seine Schwester schilderte er berechnend,<br />
wie staubig und voller Spinnweben die alten Schienen waren. „Da ist<br />
sogar ein Käfer aus dem Lokschuppen rausgekrabbelt gekommen.“ –<br />
„Iiiiieeeh, Käfer“, quiekte Luisa und rannte aus dem Zimmer. Sein<br />
Vater zwinkerte, dann zog auch er wieder ab. Erleichtert atmete Tim<br />
durch.<br />
Er setzte sich wieder auf die Bettkante und dachte über seinen<br />
Traum nach. „Rette mich“, hatte der <strong>Pirat</strong> mit dem Gesicht seines<br />
Großvaters gesagt. „Du bist der Einzige, der es kann“. Komischer<br />
Traum irgendwie, und so real. Aber letztendlich war es ja nur ein<br />
Traum, ein Gebilde seiner Fantasie. Oder nicht? Der Großvater-<strong>Pirat</strong><br />
hatte verzweifelt ausgesehen. Nur er könnte ihm helfen. Irgendwie<br />
fühlte sich Tim hilflos. Es war nur ein Traum, aber bei all den<br />
eigenartigen Dingen, die ihm heute widerfahren waren, war es da so<br />
unwahrscheinlich, dass der Traum doch einen Kern an Realität in<br />
sich hatte? Tim dachte an das <strong>Pirat</strong>en-Gemälde. Dass ihn sein<br />
Großvater im Traum um Hilfe gebeten hatte, war genau so verrückt<br />
wie der Arm des <strong>Pirat</strong>en, der ihm gefolgt war. Dennoch schien<br />
beides real. Was, wenn sein Opa tatsächlich in Schwierigkeiten<br />
steckte und nur er ihm helfen konnte? Aber, Moment, sein Opa war<br />
doch schon lange tot. Tim fühlte sich total überfordert.<br />
Statt weiter zu grübeln, beschloss er, alles stehen und liegen zu<br />
lassen und in den Keller zu gehen, um nach dem Fotoalbum zu<br />
suchen, das laut seiner Mutter im alten Schrank lag. Er schloss<br />
vorsichtig Billy’s Käfig. Der Vogel erholte sich gerade bei einem<br />
Nickerchen von der Aufregung.<br />
Tim schlich die Treppen runter, denn er hatte keine Lust, jetzt<br />
seinem Vater oder Luisa zu begegnen. Unten angekommen,<br />
25
durchsuchte Tim die Schubladen des alten Schranks. Dabei schenkte<br />
er eigentlich interessanten Dingen wie einem Physik-<br />
Experimentierkasten mit dem Namen seines Vaters keine Beachtung.<br />
Das Einzige, was ihn jetzt interessierte, war das Fotoalbum von Opa<br />
Jakob. In der untersten Schublade, zwischen Babybildern seiner<br />
Mutter und alten Matheheften seines Vaters, fand er endlich das<br />
Objekt seiner Begierde. Es war ein dickes, schweres Album, das<br />
einst abschließbar gewesen sein musste, dessen Schloss aber wohl<br />
mal aufgebrochen worden war. Bestimmt hatte er den Schlüssel nicht<br />
mehr gefunden, dachte sich Tim.<br />
Er setzte sich auf den Boden und begann zu blättern. Erst ließ er<br />
nur die Seiten von hinten nach vorne durch die Finger gleiten, wobei<br />
er auf der letzten Seite die Jahreszahl 1978 und auf der ersten eine<br />
Bildunterschrift „1949 – 14. Geburtstag“ fand. Er sah auf einem<br />
Schwarzweiß-Bild einen Jungen, der stolz ein klapprig aussehendes<br />
Fahrrad präsentierte, das er zum Geburtstag bekommen haben<br />
musste. Auf den folgenden Seiten sah er den Jungen auf Ruinen von<br />
Häusern stehen, die wohl im Krieg den Bomben zum Opfer gefallen<br />
waren. „1953 – Zeltlager am Meer“ – die darauf folgenden Seiten<br />
zeigten einen fröhlichen jungen Mann, meist umringt von lachenden<br />
jungen Frauen. Auf einem Bild war er mit fünf von ihnen in einem<br />
Zelt gelegen. Auf einem anderen saßen sie an einem Tisch, auf dem<br />
viele leere Flaschen standen, und auf einem weiteren tanzte er mit<br />
einer der jungen Frauen. Diese junge Frau, so stellte Tim fest, saß<br />
auch auf den anderen Bildern immer neben ihm. Nach genauerem<br />
Hinschauen erkannte er in ihr die Frau, die er von Opas altem<br />
Hochzeitsfoto kannte – seine Oma. Er spürte ein Gefühl der<br />
Traurigkeit über sich kommen. Wie gerne hätte er auch sie<br />
kennengelernt. Doch als er geboren wurde, da war sie schon lange<br />
26
tot. Sie war wohl gleich nach der Geburt von Mama’s kleiner<br />
Schwester gestorben, und wenn er die Bilder so betrachtete, schien<br />
sie eine lustige Frau gewesen zu sein.<br />
Tim blätterte eine Seite weiter und sah ein Foto, auf dem sein Opa<br />
zusammen mit drei anderen jungen Männer fröhlich von einem<br />
kleinen Boot winkte, das gerade vom Strand abfuhr. Von den<br />
folgenden beiden Bildern waren nur die leeren Fotoecken übrig<br />
geblieben. Dafür fand Tim rechts unten einen vergilbten<br />
Zeitungsausschnitt, der kaum noch zu entziffern war und nur noch an<br />
einer Ecke im Album festklebte. „Boot mit ... M...rn ver....sst“.<br />
Tim ging näher zur Lampe hin, doch war das Kellerlicht zu<br />
schwach, um zu entziffern, was dort mal gestanden hatte. Tim nahm<br />
das Album und rannte die Treppe hoch. Doch statt das helle Licht an<br />
der Garderobe anzuschalten, machte er die Haustür auf und trat nach<br />
draußen, um den Zeitungsartikel im hellen Tageslicht entziffern zu<br />
können. Die frische Luft würde ihm gut tun, dachte er sich.<br />
Zu seiner Überraschung war der Himmel inzwischen voller<br />
schwarzer Wolken und es ging ein ziemlich starker Wind. „Egal“,<br />
sagte er zu sich selbst und setzte sich auf die Treppenstufen, um sich<br />
dem Artikel zu widmen. Er strengte seine Augen an, und jetzt konnte<br />
er lesen, was dort stand. Er las gerade „Boot mit vier Männern<br />
vermisst“, als ein heftiger Windstoß hinter ihm die Haustür ins<br />
Schloss knallen ließ.<br />
Erschrocken drehte er sich um, um im gleichen Moment zu spüren,<br />
wie der Wind auch an dem Album in seiner Hand zerrte. Tim sah<br />
gerade noch aus dem Augenwinkel etwas davon fliegen. Er riss den<br />
Kopf herum und blickte wie erstarrt auf die Stelle im Album, an der<br />
gerade noch der vergilbte Zeitungsartikel geklebt hatte. Von dort<br />
blickte ihm nur noch ein weißes Stück Karton entgegen. Panisch<br />
27
suchten seine Augen den Garten ab, in der Hoffnung, den<br />
Zeitungsausschnitt wieder zu finden. Er entdeckte ihn, als er gerade<br />
über den Gartenzaun flog und kurz vor der Landung auf der Straße<br />
von einer Windhose im Kreis herumgewirbelt wurde. Tim klappte<br />
das Album zu, klemmte es unter den Fußabstreifer und lief los. Das<br />
Stück Papier schien auf der Straße zu tanzen, als Tim durch die<br />
Gartentür zur Straße rannte. Gerade als er auf die Straße hechten<br />
wollte, um den Zeitungsartikel aufzufangen, hörte er links von sich<br />
ein lautes Hupen, gefolgt von quietschenden Reifen.<br />
Mit aufgerissenen Augen blickte er den ebenso entsetzt<br />
dreinschauenden Fahrer eines Autos an, das einen halben Meter vor<br />
ihm zum Halten gekommen war. Der Mann machte nach einer<br />
kurzen Schrecksekunde ein paar fluchende Handbewegungen in<br />
Tim’s Richtung, dann fuhr er weiter – auf geradem Weg durch die<br />
Windhose, wodurch der Zeitungsausschnitt erneut aufgewirbelt und<br />
direkt in den kleinen Bach auf der anderen Straßenseite geweht<br />
wurde. Tim schaute nach links und nach rechts, dann rannte er über<br />
die Straße. Am Bach angekommen, sah er nur noch, wie das<br />
zusammen geschrumpelte Stück Papier in ein großes Loch gespült<br />
wurde und auf Nimmerwiedersehen in der Kanalisation verschwand.<br />
Der Junge stand fassungslos da.<br />
Geknickt schlich er zum Haus zurück. Der Wind zerrte an seinem<br />
T-Shirt und eine Gänsehaut kroch seine Arme hoch. Er nahm das<br />
Album unter dem Fußabstreifer hervor und griff in die Tasche, um<br />
seinen Hausschlüssel herauszuholen. „Auch das noch“, dachte er<br />
sich, denn er hatte den blöden Schlüssel schon wieder nicht<br />
eingesteckt. Wieder musste er seinen Vater von der Arbeit weg<br />
klingeln, und wieder würde dieser ihn vorwurfsvoll nach dem<br />
Schlüssel fragen. Tim drückte die Klingel, und es dauerte ein paar<br />
28
Sekunden, bis sein Vater die Tür öffnete. Er zog die Stirn kraus,<br />
konnte aber nichts sagen, da er das Telefon am Ohr hatte und mit<br />
einem Kunden telefonierte. Tim huschte schnell an ihm vorbei und<br />
stieg die Treppen hoch zu seinem Zimmer.<br />
Oben angekommen, warf er das Album aufs Bett und holte sich<br />
erst mal eine Weste aus dem Schrank. Der Schrank! Wenn er nur<br />
wüsste, wie er ihn wegschieben konnte. Billy begann laut zu<br />
zwitschern, und Tim riss sich von dem Schrank los, um das Käfig zu<br />
öffnen. Billy stürzte heraus und flog im Sturzflug auf das Bett zum<br />
Fotoalbum.<br />
Schon ein ungewöhnlicher Vogel, dachte sich Tim und wunderte<br />
sich, ob Billy wohl das Fotoalbum seines ehemaligen Herrchens<br />
erkannt hatte. Der Wellensittich ließ erst etwas fallen und knabberte<br />
dann den Einband des Albums an. „Du alter Kackvogel, was soll<br />
denn das?“, schimpfte Tim und zog ihm das Album unter den Füßen<br />
weg. Billy kam ins Taumeln und flog laut schimpfend auf Tim’s<br />
Schulter. Nach einem weiteren bösen Blick auf den Vogel schlug<br />
Tim das Album wieder auf. Er schaute das Bild mit den vier fröhlich<br />
winkenden Männern wieder an und dachte an die Schlagzeile „Boot<br />
mit vier Männern vermisst“. Was mochte den vieren zugestoßen<br />
sein? Er blätterte auf die nächste Seite um und staunte nicht schlecht.<br />
Der fröhliche junge Mann von den vorigen Seiten hatte auf allen<br />
weiteren Bildern einen ganz eigenartigen Ausdruck in den Augen. Er<br />
sah traurig aus, von der Lebensfreude der vorigen Seite war keine<br />
Spur mehr zu sehen. Auf den ersten beiden Bildern hatte er ein<br />
großes Pflaster unter dem linken Auge, beim nächsten Foto war an<br />
der Stelle eine heilende Wunde zu sehen, die die Form eines Ringes<br />
hatte. Da musste er also seine Narbe bekommen haben, nach der ich<br />
ihn immer wieder gefragt hatte und über die er mir nie etwas<br />
29
erzählen wollte, dachte sich Tim. Die Bilder zeigten seinen<br />
Großvater bei nichtssagenden Tätigkeiten – zumindest nichtssagend<br />
im Hinblick auf sein Verschwinden mit dem Boot und das, was dann<br />
passiert war. Auf dem einen Foto war er beim Angeln zu sehen, auf<br />
dem anderen stieß er mit einer älteren Frau mit einem Glas Wein an<br />
– immer mit demselben traurigen Gesichtsausdruck.<br />
30
5. Der Schlüssel zum Abenteuer<br />
Tim blätterte die nächsten Seiten schneller durch. Sein Interesse an<br />
den Fotos nahm ab, ließ doch nichts davon mehr auf sein eigentliches<br />
Problem, den Kleiderschrank, schließen. Sein Großvater fällte<br />
Bäume, schnitzte Holz, nagelte Bretter zusammen und machte<br />
weitere langweilige Dinge. Tim klappte das Album zu, schickte Billy<br />
zu seinem Käfig und ging runter in die Küche, um sich eine<br />
Apfelschorle einzuschenken. Sein Vater stand am Kaffeeautomaten<br />
und wartete gerade darauf, dass seine Tasse gefüllt wurde.<br />
„Stressiger Tage heute“, meinte er zu Tim. „Bei dir alles klar? Du<br />
hattest vorhin vor der Tür etwas, hm, ängstlich ausgesehen.“<br />
„Quatsch“, antwortete Tim, der keine große Lust auf ein Gespräch<br />
mit seinem Vater hatte – was dieser zu merken schien, denn er<br />
schnappte sich seine Kaffeetasse und zog mit einem „Bis später“<br />
wieder ab in Richtung Büro. „Ach übrigens“, rief er Tim von<br />
draußen noch zu, „Mama ist mit Luisa zum Einkaufen gefahren“.<br />
Tim nahm einen großen Schluck aus seinem Glas und verschluckte<br />
sich beinahe, denn ihm war gerade ein absurder Gedanke gekommen.<br />
Wenn Opa Jakob gerne mit Holz arbeitete, vielleicht hatte er dann<br />
auch den Schrank selbst gebaut? Und wenn, vielleicht musste man<br />
ihn gar nicht wegschieben, um an das Geheimfach zu kommen? Tim<br />
leerte das Glas auf einen Zug und stürmte die Treppe wieder hoch.<br />
Er öffnete den Schrank und sah sich Unmengen von Kleidern<br />
gegenüber. Vielleicht konnte man einen Teil der Rückseite ausbauen,<br />
um das Fach zu öffnen? Seine Mutter hatte in den letzten Monaten<br />
die Kleider, die ihm zu klein geworden waren, unten in den Schrank<br />
gelegt, wo sie sich jetzt fast meterhoch stapelten. Er räumte sie hastig<br />
aus, wobei er natürlich nicht darauf achtete, dass sie weiterhin so fein<br />
31
säuberlich zusammengelegt blieben, wie sie seine Mutter abgelegt<br />
hatte. Billy verfolgte die Szene mit Interesse aus sicherer Entfernung<br />
und konnte dabei beobachten, wie sich der Boden des Zimmers<br />
immer mehr mit Kleidern füllte.<br />
Endlich hatte Tim die Klamotten ausgeräumt. Er stieg über ein<br />
paar Kleiderberge hinweg zu seinem Schreibtisch, um seine<br />
Taschenlampe zu holen. Aufgeregt begann er, das Schrank-Innere<br />
abzuleuchten. Die Bretter waren fein säuberlich zusammengenagelt.<br />
Sein Opa hatte wohl wirklich gut gearbeitet.<br />
Er suchte auf der Höhe des Geheimfaches Millimeter für<br />
Millimeter mit der Lampe ab und tastete auch mit der Hand die<br />
Rückwand ab. Nichts. Sollte er sich doch getäuscht haben? Er stellte<br />
sich hin und schob die Jacken und Hosen beiseite, die mit<br />
Kleiderbügeln an der Kleiderstange hingen. Er wollte sehen, ob er<br />
oben etwas Ungewöhnliches erkennen konnte. Für einen kurzen<br />
Moment hielt er sich an der Stange fest, um sich für einen letzten<br />
Blick in die oberen Ecken in Position zu bringen. Als er sich streckte,<br />
drehte er die Stange ein Stück um ihre eigene Achse. Da machte sie<br />
plötzlich ein klickendes Geräusch, als ob sie irgendwo einrasten<br />
würde. Der Schrank begann zu knarren und zu wackeln, und die<br />
Rückwand des Schrankes schob sich langsam nach oben. Tim’s Herz<br />
begann zu rasen. Fasziniert beobachtete er das Schauspiel und sah<br />
zu, wie immer mehr von dem Geheimfach hinter der sich<br />
hochschiebenden Rückwand zum Vorschein kam. Die Befürchtung,<br />
die Rückwand könnte an die Decke stoßen und sich nicht weit genug<br />
öffnen, wischte Tim schnell wieder weg. Schließlich hatte der<br />
Schrank ja vermutlich schon immer dort gestanden und hatte dieses<br />
Schauspiel schon öfter mitgemacht. Er musste noch einige, endlos<br />
scheinende Sekunden warten, dann war der Spuk zuende und die<br />
32
Rückwand hielt wieder an. Mit einem Rattern setzte sich das<br />
Geheimfach in Bewegung und schob sich durch die Öffnung in den<br />
Schrank.<br />
Das Gefühl, ein großes Rätsel gelöst zu haben und gleich zu<br />
erfahren, was hinter all dem steckt, raubte Tim fast den Atem. Auch<br />
Billy drehte in seinem Käfig fast durch, doch schenkte ihm der Junge<br />
diesmal keine Beachtung. Seine Sinne waren nur noch auf das<br />
Geheimfach fixiert.<br />
Endlich hatte sich das Fach, das um einiges kleiner war als das in<br />
der Schule, vollständig geöffnet. Tim leuchtete hinein und erspähte<br />
einen metallischen Gegenstand. Er griff nach ihm und hielt einen<br />
schweren Schlüssel in der Hand. „Das ist es also“, stellte er fest. „Ich<br />
muss sofort ins alte Schulgebäude!“<br />
Die Teile des Puzzles hatten sich mit einem Mal zusammengefügt,<br />
und viele Fragen waren beantwortet worden. Ein großes<br />
Fragezeichen blieb jedoch bestehen. Obwohl, eigentlich waren es ja<br />
gleich mehrere davon. Was hatte sein Großvater mit <strong>Pirat</strong>en zu tun?<br />
Wie kam es, dass der <strong>Pirat</strong> auf dem Gemälde ihn anzusprechen<br />
schien? Wie konnte Opa Jakob, der eigentlich schon lange tot war,<br />
ihn in seinem Traum anflehen, dass er ihn retten solle?<br />
Das alles hört sich nicht sehr real an, dachte Tim. Er kannte<br />
Geschichten aus Büchern und Filmen, in denen es andere Welten gab<br />
oder in denen die Helden mit Zeitmaschinen um viele hundert Jahre<br />
zurückversetzt wurden, aber das war natürlich alles Blödsinn. So<br />
etwas gab es im wirklichen Leben nicht. Das waren nur erfundene<br />
Geschichten.<br />
Wie dem auch sei – er musste wissen, was es mit dem Schlüssel<br />
und der Kiste auf sich hatte. Tim beschloss, gleich zum alten<br />
Schulgebäude zu radeln. Das Wetter war zwar alles andere als<br />
33
geschaffen für einen Ausflug mit dem Rad, aber sollte er etwa<br />
ernsthaft noch warten, bis wieder die Sonne schien? Das könnte ja<br />
noch Tage dauern. „Lieber sterbe ich als noch zu warten“, dachte er<br />
sich. Am nächsten Tag würde er zwar sowieso zur alten Schule<br />
gehen, doch dann hätte er die Mädchen wieder am Hals und könnte<br />
nicht das tun, was er eigentlich tun wollte – nein, tun musste!<br />
Also beschloss er, sich sofort auf den Weg zu machen. Billy, der<br />
immer noch in seinem Käfig eingesperrt war, hatte sich inzwischen<br />
beruhigt. Ja, er machte sogar einen sehr entspannten Eindruck – als<br />
ob er froh sei, dass Tim den Schlüssel gefunden hatte. Da der Vogel<br />
schon einige Jahre alt war und Opa Jakob gehört hatte, musste er das<br />
Schauspiel schon öfter mit angesehen haben. „Du hättest es mir aber<br />
auch verraten können“, zwinkerte Tim ihm zu. „Ich gehe jetzt und<br />
schaue mal, was in der Kiste steckt.“<br />
Als er sich umdrehte und aus dem Zimmer gehen wollte, fing<br />
Billy an zu brabbeln. Tim hätte schwören können, dass der<br />
Wellensittich soeben „Gruß an Jakob“ gesagt hatte. Verdutzt drehte<br />
er sich noch mal zu Billy um, doch dieser schaute ihn nur betont<br />
harmlos an und begann damit, fröhlich sein Gefieder zu putzen. Tim<br />
schüttelte den Kopf. Das musste er sich eingebildet haben.<br />
34
6. Was ist in der Kiste?<br />
„Ich geh noch eine Weile raus, spielen!“ – Tim hoffte, dass sein<br />
Vater zu beschäftigt war um dagegen zu protestieren, doch streckte<br />
er tatsächlich den Kopf zur Bürotür heraus. „Bei diesem Wetter?<br />
Dass du mir aber wieder hereinkommst, bevor das Gewitter beginnt,<br />
hörst du?“ - „Alles klar, Paps, tschüss, bis später!“<br />
Eine steife Brise blies ihm ins Gesicht und er musste sich<br />
eingestehen, dass dies wirklich nicht das perfekte Wetter zum<br />
Rausgehen war. Der Himmel war Wolken verhangen, der Wind kalt,<br />
und vielleicht hätte er doch nicht in kurzer Hose und Sandalen gehen<br />
sollen. Aber das war ihm jetzt egal. Er holte sein Fahrrad aus der<br />
Garage, griff noch mal prüfend an seine Hosentasche, in die er den<br />
Schlüssel gesteckt hatte, und dann radelte er los.<br />
Tim musste sich ziemlich anstrengen, um mit dem Rad gegen den<br />
Wind anzukommen. Die Steigung hoch zum alten Schulgebäude<br />
erschien ihm fast noch steiler als sonst, und hätte er es nicht so eilig<br />
gehabt, hätte er sein Rad bestimmt geschoben. So aber keuchte er<br />
den Berg hoch.<br />
Unter den dunklen Wolken und umgeben von den im Wind hin<br />
und her wogenden Bäumen schien das alte Schulhaus noch viel<br />
unheimlicher zu sein. Komplett außer Atem kam Tim oben an. Er<br />
stieg vom Rad und stellte es hinter dem Müllcontainer ab. Der<br />
Deckel des Containers klapperte im Wind, was das Ganze nicht<br />
weniger unheimlich machte. Tim stellte fest, dass er sich noch gar<br />
keine Gedanken darüber gemacht hatte, wie er in das Haus kommen<br />
sollte. Sicherlich hatte Frau Zimmermann die Tür abgeschlossen,<br />
also musste er sich etwas anderes einfallen lassen. Ob wohl eines der<br />
Fenster offen war? Recht unwahrscheinlich, dachte er, zumal der<br />
35
Sturm einem offenen Fenster nicht gerade gut bekommen würde.<br />
Ängstlich schlich er um das Haus, stets auf der Hut, um nicht von<br />
irgendwelchen „unheimlichen Kreaturen“ angegriffen zu werden.<br />
„Tim, du Memme“, giftete er sich selbst an und ärgerte sich<br />
darüber, dass er sich von der unheimlichen Atmosphäre<br />
einschüchtern ließ.<br />
Er testete halbherzig bei ein paar Fenstern, ob diese sich von außen<br />
öffnen ließen., doch da rührte sich erwartungsgemäß nichts. Am<br />
hinteren Ende des Gebäudes war eine weitere Tür, doch natürlich<br />
war auch diese verschlossen.<br />
Als er wieder hinter dem Haus hervor kam, war das mulmige<br />
Gefühl einer Wut gewichen. Tim war der Lösung des Geheimnisses<br />
so nah und doch zugleich so fern. Er rüttelte zornig an ein paar<br />
weiteren verschlossenen Fenstern und ging dann nochmal zur<br />
Eingangstür. Nochmal? Hm, er war davon ausgegangen, dass Frau<br />
Zimmermann sie verschlossen hatte, und so hatte er das<br />
Naheliegende gar nicht erst probiert. Er griff nach der Klinke und –<br />
sie war verschlossen! „Natürlich“, dachte er sich. Seine Hand glitt in<br />
die Hosentasche, wo sie testend suchte, ob der Schlüssel noch da<br />
war. Tim stockte einen Moment. Es wäre ja schon ein großer Zufall,<br />
aber einen Versuch wäre es wert... Tim staunte nicht schlecht, als der<br />
Schlüssel geschmeidig ins Schloss glitt. Er passte tatsächlich, und<br />
nach einer Umdrehung machte es Klack und die Tür ging auf.<br />
Große Freude kam bei Tim jedoch nicht auf. Wenn der Schlüssel<br />
zur Eingangstüre des Schulgebäudes passte, was war dann mit der<br />
Kiste? Ob er dort wohl dennoch passte?<br />
Draußen begann es zu regnen und die ersten Blitze zuckten am<br />
Himmel. Sein Vater würde erwarten, dass er jetzt nach Hause<br />
kommt, und er würde sich bestimmt Sorgen machen, wenn er nicht<br />
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ald wieder zurück wäre. Andererseits, jetzt war er schon so weit<br />
gekommen. Er musste zumindest noch kurz nachschauen, ob der<br />
Schlüssel zur Kiste passte. Außerdem konnte er, so versuchte er sich<br />
vor sich selbst zu rechtfertigen, ja nicht während eines Gewitters mit<br />
dem Rad nach Hause fahren. Sein Vater würde sicher auch zu dem<br />
Schluss kommen, dass er sich irgendwo unterstellte bis das Gewitter<br />
vorüber war.<br />
Tim atmete durch, trat ein und schloss die Tür hinter sich. Er<br />
schaute sich vorsichtig um. Es schien weit länger als nur einen<br />
halben Tag her zu sein, dass er mit seiner Klasse hier gewesen war.<br />
Was war nicht alles passiert, seit Frau Zimmermann die Gruppen<br />
eingeteilt hatte...<br />
Er wollte nun keine Zeit mehr verlieren und stieg die Treppe hoch.<br />
Im Gang blieb er vor dem Portrait seines Großvaters stehen und<br />
betrachtete die ringförmige Narbe unter dessen linkem Auge. Er<br />
musste sie während seines Verschwindens mit dem Boot bekommen<br />
haben, in der Zeit, als aus dem fröhlichen jungen Kerl auf den Fotos<br />
ein ernst dreinblickender Mann geworden war. Was war nur das<br />
Geheimnis von Jakob Springer? Er würde es hoffentlich gleich<br />
erfahren.<br />
Am Ende des Ganges angekommen, hob er die Stange vom Boden<br />
auf und öffnete damit die Luke zum Dachboden. Die Treppe klappte<br />
herunter und das Licht ging an. Tim wunderte sich, wieso die Tür<br />
zum Dachboden geschlossen war. Sie hatten doch gemeinsam die<br />
Kiste mit den Büchern heruntergetragen und ihre Lehrerin hatte<br />
ihnen danach gesagt, dass sie gleich unten bleiben sollen. Es musste<br />
nochmal jemand oben gewesen sein. Er hoffte, dass dieser Jemand<br />
dann nicht die Kiste gefunden hatte, verwarf diesen Gedanken aber<br />
gleich wieder.<br />
37
Tim hörte den Wind gegen die Dachziegel peitschen, während er<br />
die knarrenden Stufen hochstieg. Der Regen prasselte laut auf das<br />
Dach und er war gespannt wie ein Flitzebogen, was der <strong>Pirat</strong> auf dem<br />
großen Gemälde zu seinem überraschenden Erscheinen sagen würde.<br />
Bereits auf den letzten Stufen fühlte er sich beobachtet, und dieses<br />
Gefühl wurde verstärkt, als er oben ankam. Er konnte den stechenden<br />
Blick des <strong>Pirat</strong>en schon spüren, bevor er ihn sah. Der <strong>Pirat</strong> musterte<br />
ihn grimmig, während der Zeigefinger seiner linken Hand wie schon<br />
am Morgen ständig auf Tim zeigte. „Was willst Du von mir?“, fragte<br />
er den <strong>Pirat</strong>en und erklärte sich gleichzeitig selbst für verrückt. Er<br />
redete tatsächlich mit einem Gemälde und erwartete auch noch eine<br />
Antwort! So weit war es schon mit ihm gekommen. Er schüttelte den<br />
Kopf und wollte gerade weitergehen, als sich der Arm des <strong>Pirat</strong>en<br />
plötzlich in Bewegung zu setzen schien. Er zeigte nun nicht mehr auf<br />
Tim, sondern deutete in Richtung des Raumes, in dem der Junge die<br />
Kiste gefunden hatte. „Da wollte ich sowieso hin“, murmelte Tim<br />
und machte sich auf dem Weg zu der Kistenkammer.<br />
Geduckt schlüpfte er durch die niedrige Tür. Auf dem Boden in der<br />
Mitte hatte sich eine kleine Pfütze gebildet, und von der Decke<br />
tropfte stetig das Regenwasser hinein. Das alte Dach war wohl<br />
undicht, aber das war ihm jetzt natürlich egal. Tim steuerte auf das<br />
Loch zu, und während er mit dem Zeigefinger nach dem Schalter<br />
tastete, musste er sich vorstellen, wie an derselben Stelle sein Bett<br />
stehen würde. Er drückte den Schalter, und hinter ihm begann es zu<br />
klappern. Er drehte sich um und sah, wie sich das Geheimfach aus<br />
der Wand hervor schob. Die große Kiste stand „erwartungsfroh“<br />
darin - gerade so, als wüsste sie, dass sie gleich geöffnet werden<br />
würde. Jetzt zählte es! Ob der Schlüssel wohl auch hier passen<br />
würde? Tim ging entschlossen zur Kiste und steckte ihn ins Schloss.<br />
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Zu seiner großen Erleichterung glitt der Schlüssel auch ungestreift in<br />
dieses Schloss. Jetzt wurde es spannend! Er atmete noch einmal tief<br />
durch, dann drehte er den Schlüssel um. Die Kiste sprang auf und<br />
Tim staunte nicht schlecht. Die Kiste war leer!<br />
39
7. Der leuchtende Totenkopf<br />
„Das darf doch nicht wahr sein“, rief er erbost. Er hatte sich alles<br />
mögliche ausgemalt, was ihn erwarten könnte. Aber eine leere Kiste,<br />
das war schon mehr als enttäuschend. Nichts drin. Gar nichts. Tim<br />
wusste nicht, ob er schon jemals in seinem Leben so enttäuscht<br />
worden war. Schon allein der Weg zur Kiste war ein großes<br />
Abenteuer mit stimmungsmäßigen Höhen und Tiefen gewesen. Aber<br />
dass nun am Höhepunkt des Abenteuers eine blöde, verdammte,<br />
leere Kiste dastehen würde, das haute dem Fass die Krone ins<br />
Gesicht. Oder wie hieß diese Redensart doch gleich? Auch egal.<br />
Alles war egal. Er würde sich wieder auf sein Fahrrad schwingen und<br />
im Regen heimfahren. Aus, Schluss, das war’s.<br />
Tim machte sich nicht mal mehr die Mühe, den Schlüssel wieder<br />
abzuziehen, um das Geheimfach wieder zu schließen. Morgen würde<br />
er eh wieder herkommen, und da könnte er die blöde Kiste immer<br />
noch wegräumen. Wenn er überhaupt zur Schule gehen würde.<br />
„Vielleicht bin ich ja morgen krank, wenn ich jetzt heimradle und<br />
nass werde. Dann müsste ich den ganzen Mist hier nicht nochmal<br />
sehen“, dachte sich der enttäuschte Junge. Er wart stinksauer. Was<br />
hatte er eigentlich erwartet? Das war doch nur eine blöde, alte Kiste<br />
– mehr nicht. Er duckte sich unter der Tür durch und verließ den<br />
Raum. Ob wohl sein Großvater die Kiste gebaut hatte? „Auch egal,<br />
leer ist sie trotzdem“, grummelte er. Er kam zum großen <strong>Pirat</strong>enbild<br />
und wollte den <strong>Pirat</strong>en, dessen Augen noch weiter aufgerissen waren<br />
als vorher, gerade als Blödmann beschimpfen, als ihm ein Gedanke<br />
kam. Wenn sein Opa die Kiste gebaut hatte, vielleicht hatte er dann<br />
doch etwas übersehen? So wie beim Kleiderschrank in seinem<br />
Zimmer. Der hatte auch wie ein stinknormaler Schrank ausgesehen,<br />
40
ohne Hinweis auf irgendein Geheimnis. Und dann hatte er durch<br />
Zufall mit der Kleiderstange den Mechanismus ausgelöst. Aufgeregt<br />
rannte Tim zurück und vergaß dabei doch tatsächlich sich zu bücken.<br />
Mit einem lauten Rumms knallte er mit dem Kopf an den<br />
Türrahmen. Ihm wurde schwarz vor Augen und er verlor das<br />
Bewusstsein.<br />
Die Bilder des Tages liefen im Schnelldurchgang vor seinem<br />
inneren Auge ab. Pedro, der ihn auslachte, weil er in der Schule<br />
nichts von Frau Zimmermann’s Ausführungen mitbekommen hatte.<br />
Die kichernden Mädchen. Der <strong>Pirat</strong>, der auf ihn zeigte. Die Kiste.<br />
Opa Jakob’s Fotoalbum, der wegfliegende Zeitungsausschnitt und<br />
sein Opa, der ihn im Traum anflehte, ihn zu retten – in Ketten gelegt,<br />
mit einer Horde <strong>Pirat</strong>en und noch mehr Soldaten in grünen<br />
Uniformen um sich herum... „Die Kiste, in die Kiste, der<br />
Totenkopf!“<br />
Tim erwachte aus der Ohnmacht und schrak hoch. Was zum<br />
Geier...? Opa ist in Gefahr und ich bin der Einzige, der ihm helfen<br />
kann. Tim stürzte zur Kiste. Opa war doch schon zwei Jahre tot, aber<br />
trotzdem... Wie konnte das sein? Tim war total verwirrt.<br />
Aber egal, für vernünftiges Denken war jetzt keine Zeit! „Die<br />
Kiste, in die Kiste, der Totenkopf“ – was hatte Opa damit gemeint?<br />
Tim untersuchte aufgeregt die Kiste, konnte aber nirgends einen<br />
Totenkopf finden. Weder außen noch innen. Er versuchte, sie<br />
anzuheben, doch sie war zu schwer für den Jungen. „In die Kiste“ –<br />
sollte er etwa rein sitzen? Er suchte nochmal auf allen Seiten nach<br />
einem Totenkopf, aber wieder ohne Erfolg. Verstohlen blickte er sich<br />
um, als wolle er sicher gehen, dass ihm niemand dabei zusah, wie er<br />
in die Kiste steigen würde. Mit einem dicken Kloß im Hals hob er<br />
die Beine an und stieg in die Kiste, die groß genug war, dass auch ein<br />
41
Erwachsener ohne Mühe reinpasste. Da saß er nun und kam sich<br />
eigentlich ziemlich blöd vor. „Totenkopf“ – er machte sich wieder<br />
auf die Suche, aber natürlich war wie vorher nirgends ein Totenkopf<br />
zu sehen. Kann ja gar nicht sein, dachte er sich und schüttelte den<br />
Kopf. Und nun? War der panische Hilfeschrei seines Großvaters<br />
doch nur ein Gebilde seiner eigenen Fantasie? Es musste so sein,<br />
denn schließlich war sein Opa ja tot. Er musste sich dies immer<br />
wieder in Erinnerung rufen, um den Sinn für die Wirklichkeit nicht<br />
zu verlieren. „Die Kiste, in die Kiste, der Totenkopf“ – es hatte<br />
dennoch so real geklungen. Was, wenn sein Opa doch noch lebte und<br />
tatsächlich in ernsten Schwierigkeiten steckte?<br />
„Also gut!“ - Tim schnaufte tief durch und griff nach dem Deckel<br />
der Kiste, um sie zu schließen. Entschlossen klappte er den Deckel<br />
zu, und eine unheimliche Dunkelheit umgab ihn. Tim fröstelte.<br />
Als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, nahm er<br />
vor sich plötzlich einen Schatten wahr. Der Schatten schien sich zu<br />
bewegen, und der Junge bekam es mächtig mit der Angst zu tun – bis<br />
er realisierte, dass es sein eigener Schatten war, der ihm solche Angst<br />
bereitete. Tim wunderte sich über den Schatten in der dunklen Kiste,<br />
denn wo ein Schatten ist, musste schließlich auch Licht sein!<br />
Mühsam drehte er sich um und entdeckte hinter sich einen<br />
leuchtenden und ziemlich Furcht einflößenden Totenkopf. War das<br />
der Totenkopf, den sein Großvater gemeint hatte? Tim fuhr mit den<br />
Fingern darüber, um herauszufinden, ob der Totenkopf mit<br />
Leuchtfarbe dorthin gemalt worden war.<br />
In dem Moment, als er das leuchtende Bild berührte, machte die<br />
Kiste urplötzlich einen Ruck, und draußen wurde es laut. Was war<br />
das? Tim geriet in Panik. Er wollte nur noch raus aus der Kiste, denn<br />
das war nun doch zu viel für ihn.<br />
42
8. Gefangen in der Kiste<br />
Doch als er gerade den Deckel öffnen wollte, machte es erneut<br />
einen Ruck, und der Deckel bewegte sich keinen Millimeter. Etwas<br />
Schweres schien jetzt auf ihr drauf zu stehen. Tim rüttelte an dem<br />
Griff, der innen angebracht war, er drehte sich um und drückte mit<br />
dem Rücken dagegen, doch der Deckel rührte sich nicht. Er begann<br />
ganz hektisch zu atmen, kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn. Jetzt<br />
würde er gleich durchdrehen, da war er sich sicher.<br />
„So, das war’s“, brüllte draußen eine Männerstimme, „wir können<br />
den Kutter versenken und weiterfahren!“<br />
Tim hielt den Atem an und verstand die Welt nicht mehr. Erstmals<br />
bemerkte er, dass der Boden, auf dem die Kiste stand, leicht zu<br />
schwanken schien. Er hatte keine Ahnung, was um ihn herum<br />
geschah. Er war doch gerade noch allein im alten Schulgebäude<br />
gewesen. Wie konnte dann plötzlich jemand dort draussen sein? Wer<br />
war das, und was für einen Kutter wollte er versenken?<br />
Weiterfahren? Wieso weiterfahren?<br />
Hätte er es nicht besser gewusst, er hätte vermutet, dass er sich auf<br />
einem Schiff befand. „Blödsinn“, sagte er zu sich selbst. Er<br />
versuchte, die Panik abzuschütteln, indem er sich einredete, dass er<br />
sich wieder in einem dieser wirklich scheinenden Träume befand.<br />
Gleich würde sein Großvater auftauchen und wieder einen dieser<br />
unheimlichen „Hilf mir“ oder „Rette mich“ Sprüche loslassen. Tim<br />
kniff sich in den Arm, um sich selbst wieder in die Wirklichkeit<br />
zurückzuholen. Doch außer der Tatsache, dass der Kniff höllisch<br />
weh tat, änderte sich um ihn herum nichts. So langsam begann Tim<br />
zu begreifen, dass er sich wirklich in einer aussichtslosen Lage<br />
befand.<br />
43
Es war drückend heiß in der Kiste, was umso erstaunlicher war,<br />
weil es ja draußen regnete und ziemlich kühl geworden war. Was<br />
war da draußen geschehen? Wieso schwankte das Schulgebäude und<br />
wer waren die Leute da draußen?<br />
Auch wenn der Gedanke ganz und gar abwegig war, so ganz<br />
langsam zog er tatsächlich in Betracht, dass er gar nicht mehr an dem<br />
Ort war, an dem er in die Kiste gestiegen war. Doch wie hätte das<br />
sein können? „Der Totenkopf“, entfuhr es ihm. Natürlich, seit er den<br />
Totenkopf berührt hatte, schien alles anders zu sein. Für kurze<br />
Sekunden keimte wieder Hoffnung in ihm auf. Durch das Berühren<br />
des leuchtenden Totenkopfes war er in diesen Schlamassel geraten.<br />
Jetzt würde er ihn einfach nochmal anfassen, dann wäre alles wieder<br />
paletti!<br />
Er drehte sich mühsam um, doch der vorher noch leuchtende<br />
Totenkopf hinter ihm war verschwunden. „Na prima“, dachte er. Er<br />
hatte schon von Farbe gehört, die im Dunkeln leuchtete, wenn sie<br />
vorher eine Weile von Licht angestrahlt worden war, die dann aber<br />
nach kurzer Zeit wieder verblasste. Der Totenkopf musste mit einer<br />
solchen Farbe in die Kiste gemalt worden sein. Er ärgerte sich, weil<br />
er seine Taschenlampe in seinem Zimmer hatte liegen lassen. Hätte<br />
er sie dabei gehabt, dann hätte er jetzt den Totenkopf ein paar<br />
Minuten anleuchten können und schwupp, wäre der Spuk wieder<br />
vorbei gewesen. Doch jetzt saß er in der Falle und hatte fürchterliche<br />
Angst.<br />
Inzwischen war er sich sicher, dass er tatsächlich auf einem Schiff<br />
sein musste. Er spürte immer noch dieses leichte Schwanken und<br />
meinte sogar, das Rauschen des Meeres zu hören.<br />
Er musste unbedingt aus der Kiste raus, und wenn er schon nicht<br />
nach Hause zurück konnte, musste er zumindest wissen, wo er war.<br />
44
Da kam ihm sein Opa wieder in den Sinn. Was hatte er mit dem<br />
allem hier zu tun? Er schien ihn ja unbedingt in der Kiste haben zu<br />
wollen. Und auch der <strong>Pirat</strong> auf dem großen Gemälde schien ihn<br />
unbedingt zu der Kiste lotsen zu wol... Moment, der <strong>Pirat</strong>??? Waren<br />
das da draußen etwa <strong>Pirat</strong>en? War er auf einem <strong>Pirat</strong>enschiff? Aber<br />
das wäre ja fantastisch! Tim’s Angst wich einem wohligen Gefühl<br />
der Aufregung. Er vergaß die unwirkliche Situation, in der er sich<br />
befand. Die Panik, die ihn vorher lähmte, war wie weggeblasen. Wie<br />
er wieder nach Hause kommen würde, darüber könnte er sich auch<br />
später noch Gedanken machen. Ein <strong>Pirat</strong>enschiff! Seit Wochen hatte<br />
er davon geträumt, ein <strong>Pirat</strong> zu sein, und jetzt war er vielleicht<br />
tatsächlich auf einem echten <strong>Pirat</strong>enschiff? Wollte ihm sein<br />
Großvater damit seinen Herzenswunsch erfüllen? Die Überraschung<br />
war ihm wirklich geglückt. „Mann, wenn ich das Pedro erzähle“,<br />
dachte Tim und wünschte sich, dass er seinen <strong>Pirat</strong>ensäbel und seine<br />
Augenklappe von zuhause mitgenommen hätte. Für kurze Zeit<br />
vergaß er über den <strong>Pirat</strong>enträumen eines Zehnjährigen, in welcher<br />
beklemmenden Situation er eigentlich steckte.<br />
Diese wurde ihm dann aber gleich wieder bewusst, als er direkt vor<br />
der Kiste plötzlich wieder Stimmen hörte. „Hasdrubal, du Landratte,<br />
du schuldest mir noch was!“ – Die Stimme klang wütend. „Ich weiß<br />
von nichts, und hör auf, mich Landratte zu nennen“, antwortete der<br />
Mann, der Hasdrubal hieß, belustigt. „Du schnappst dir die Steine,<br />
solange ich mit ihr knutsche, und dann machen wir halbe-halbe, das<br />
war der Deal“, knurrte der erste Mann. „Und wenn Du mir jetzt nicht<br />
gleich die Klunker gibst, kriegst zu gewaltigen Ärger.“<br />
Tim hörte ein metallisches Geräusch, als ob ein Säbel aus einem<br />
eisernen Schaft gezogen würde. „Aber Lazaruschen, wer wird denn<br />
gleich sauer werden?“<br />
45
Lazarus schien vor Wut zu schäumen, und Hasdrubal reizte ihn<br />
durch seinen belustigten Tonfall noch mehr. „Ich hau dich in Stücke,<br />
du Möchtegern-<strong>Pirat</strong>, und dann gehören die Steine mir alleine“. Jetzt<br />
schien auch Hasdrubal seinen Säbel zu ziehen.<br />
Tim’s Nase begann zu jucken. Bloß nicht, dachte er, bloß jetzt<br />
nicht niesen... Die beiden <strong>Pirat</strong>en hatten zu kämpfen begonnen und<br />
warfen sich immer mehr Beleidigungen an den Kopf. Tim dagegen<br />
kämpfte seinen eigenen Kampf gegen seine juckende Nase. Wenn er<br />
jetzt niesen würde, würden die beiden sofort auf ihn losgehen statt<br />
sich gegenseitig fertig zu machen.<br />
„Seid ihr verrückt geworden, ihr Hornochsen?“, ertönte plötzlich<br />
eine Stimme, die von oben zu kommen schien. „Sofort aufhören! Ich<br />
hatte euch doch gesagt, dass ihr die Kanonenkugeln nach oben<br />
schaffen sollt, wenn ihr die Kisten abgeladen habt, damit wir<br />
nachladen können.“ – „Aye aye, Sir“, antworteten die beiden im<br />
Chor.<br />
Das schien wohl einer der Chefs gewesen zu sein, dachte Tim. Das<br />
Jucken in der Nase war inzwischen unerträglich, und als Lazarus<br />
gerade Hasdrubal anzischte, dass er noch nicht mit ihm fertig sei,<br />
passierte es: „Hatschi!“<br />
Die beiden <strong>Pirat</strong>en verstummten. „Was war das? Haben wir da<br />
etwa einen blinden Passagier?“, fragte Hasdrubal, der über den<br />
abrupten Themenwechsel froh zu sein schien. „Da wollen wir doch<br />
gleich mal schauen, hehe.“<br />
Tim schluckte entsetzt, während seine Nase triefte. Er hörte, wie<br />
die Männer näher kamen. „Hatschi!“ – Es ging einfach nicht, Tim<br />
konnte auch diesen Nieser nicht unterdrücken. „Da drin“, sagte einer<br />
der beiden, und Tim hörte, wie der schwere Gegenstand, der auf<br />
seiner Kiste stand, weg gehoben wurde.<br />
46
Gleich würden sie ihn entdecken. Sein Eintritt ins aufregende<br />
<strong>Pirat</strong>enleben stand unmittelbar bevor. Er nahm sich vor, die beiden<br />
freundlich zu begrüßen und keine Angst zu zeigen. „Jetzt gleich“,<br />
flüsterte er vor sich hin. Dann wurde es hell – zu hell für Tim’s<br />
Augen, die an die Dunkelheit in der Kiste gewohnt waren.<br />
47
9. Auge in Auge mit den <strong>Pirat</strong>en<br />
„Was ist denn das für ein lustiges Kerlchen?“, fragte einer der<br />
<strong>Pirat</strong>en amüsiert, und Tim erkannte an der Stimme, dass es<br />
Hasdrubal gewesen sein musste. Allmählich konnte er mit halb<br />
zugekniffenen Augen die Gesichter der Männer erkennen. Der<br />
Anblick des <strong>Pirat</strong>en, der dann wohl Lazarus war, jagte ihm eine<br />
große Portion Extra-Schrecken ein. Erst sah er ein mit Zahnlücken<br />
versetztes, gelbes Gebiss, dann ein braungebranntes Gesicht, das mit<br />
Narben und Bartstoppeln übersät war, und schließlich eine Glatze,<br />
auf der große Schweißperlen standen. Der andere, Hasdrubal, hatte<br />
dagegen freundlich dreinblickende Augen und er war wesentlich<br />
jünger als sein Nebenmann. „Süß, absolut süß“, kicherte er. „Das<br />
Kerlchen wird dem Käpt’n gefallen.“<br />
„Äh, hallo <strong>Pirat</strong>en, ich bin der Tim“, stammelte der Junge<br />
aufgeregt. Die beiden brachen in schallendes Gelächter aus, und ihre<br />
kräftigen Arme packten ihn und trugen ihn die Treppen hoch an<br />
Deck.<br />
„Hee, lasst mich los, ihr Handlampen!“ – Tim war empört über<br />
seinen Empfang in der <strong>Pirat</strong>enwelt. So hatte er sich das absolut nicht<br />
vorgestellt. „Handlampen?“ Die <strong>Pirat</strong>en begannen erneut herzhaft zu<br />
lachen. „Lazarus, du Handlampe, muhahaha, das hab ich ja noch nie<br />
gehört“, prustete Hasdrubal. Lazarus schien dagegen nicht gerade<br />
erfreut darüber zu sein, gleich zweimal hintereinander als<br />
Handlampe bezeichnet worden zu sein – auch wenn er keine Ahnung<br />
hatte, was eine Handlampe war. Er warf Hasdrubal einen grimmigen<br />
Blick zu, doch der beachtete Lazarus nicht. „Hast du noch mehr<br />
solche Dinger auf Lager?“, wollte der immer noch kichernde<br />
Hasdrubal von Tim wissen, während sie den zappelnden und um sich<br />
48
schlagenden Jungen zum Kapitän schleppten. Tim protestierte<br />
lautstark, sah aber langsam ein, dass er sich gegen die starken <strong>Pirat</strong>en<br />
nicht zur Wehr setzen konnte. Der Kapitän wird mich sicherlich<br />
freundlicher begrüßen, beruhigte er sich, und dann wird er mich ins<br />
<strong>Pirat</strong>enleben einführen und mir zeigen, wie ich zu meinem Großvater<br />
komme. Stimmt ja, Opa! Der Gedanke, dass dieser ihm nur einen<br />
Wunsch erfüllen wollte, war doch zu abwegig gewesen. Vielleicht<br />
war er tatsächlich in ernster Gefahr. Wenn er auch in dieser<br />
eigenartigen <strong>Pirat</strong>enwelt war, dann läge das schon im Bereich des<br />
Möglichen. Wie er ihn wohl finden konnte? Am besten würde er<br />
gleich den Käpt’n um Hilfe bitten, beschloss er.<br />
Sie näherten sich dem Kapitänsdeck. Oben stand ein dicker Mann,<br />
an dem Tim zuerst die Augenklappe auffiel. Der Mann trug weinrote<br />
Kleider, die mal zu einer Offiziers-Uniform gehört haben mussten,<br />
die aber an den Armen und Beinen abgerissen waren, so dass sie nun<br />
eher wie eine kurze Schul-Uniform aussahen. Tim musste dabei an<br />
das Klassenfoto seines amerikanischen Cousins Will denken, auf<br />
dem dieser und seine Freunde ebenfalls in einer roten Schuluniform<br />
zu sehen gewesen waren. Bei der Vorstellung, dass der dicke Kapitän<br />
mit seiner roten Uniform mitten unter den Kindern stand, musste<br />
Tim unweigerlich lachen.<br />
„Du solltest in Gegenwart des Kapitäns besser nicht lachen“,<br />
herrschte Lazarus ihn an, als sie die letzte Treppe zum Kapitänsdeck<br />
erklommen. Das musste er Tim nicht zweimal sagen, denn je näher<br />
sie dem Kapitän kamen, desto Furcht einflößender sah dieser aus.<br />
Sein fleischiges Gesicht, seine Augenklappe und der Metallhaken an<br />
seinem linken Arm ließen Tim erschaudern. Genau so wurden<br />
<strong>Pirat</strong>en immer in Büchern dargestellt, dachte er sich.<br />
49
„Capitano, wir haben hier einen blinden Passagier. Er muss sich<br />
irgendwie an Bord geschlichen haben und war unten in einer Kiste<br />
versteckt.“, sagte Hasdrubal ehrfürchtig. Der Kapitän musterte Tim<br />
aus seinem Auge mit einem stechenden Blick. Dieser fühlte sich<br />
immer unwohler in seiner Haut, und er blickte ängstlich zu Boden.<br />
Dabei fiel ihm auf, dass der Kapitän auch noch ein Holzbein hatte. Er<br />
musste ganz schön was durchgemacht haben, dachte sich Tim, als<br />
ihn der kalte, eiserne Haken des Kapitäns am Kinn berührte und<br />
seinen Kopf nach oben hob. Der Kapitän stand nun direkt vor ihm.<br />
Er roch stark nach Schweiß und schien schon seit längerem keine<br />
Dusche mehr gesehen zu haben. Tim hielt den Atem an. Er wollte<br />
nur noch weg von hier. „Bitte, ich will auch nie wieder <strong>Pirat</strong> sein“,<br />
flehte er stumm. Der Kapitän schnaubte. „Was sind denn das für<br />
bescheuerte Klamotten?“<br />
Tim zuckte zusammen, und gleichzeitig entfuhr ihm ein kurzer,<br />
amüsierter Gluckser. Er konnte nichts dafür. Er hatte eine raue, tiefe<br />
Stimme erwartet, die irgendetwas Böses sagte. Hatte der Kapitän<br />
gerade tatsächlich mit einer hohen, piepsenden Stimme nach seinen<br />
Kleidern gefragt? Tim blickte ihn trotz seiner Furcht belustigt an.<br />
Die Stimme passte so gar nicht zu dem Erscheinungsbild des Furcht<br />
einflößenden <strong>Pirat</strong>en. „Was fällt dir ein?“, piepste der Kapitän<br />
weiter. „Weißt du denn nicht, wen du hier vor Dir hast? Ich bin der<br />
gefürchtete Kapitän Tiberius Stockfisch, einer der mächtigsten...“ –<br />
Tim konnte nun einfach nicht mehr. Die Stimme in Kombination mit<br />
dem tobenden, dicken Mann war zu witzig. Er wollte nicht lachen,<br />
ganz sicher nicht, aber es ging nicht anders. Er prustete los und<br />
brachte den Kapitän damit noch mehr in Rage. „Werft diesen<br />
unverschämten Bengel den Haien zum Fraß vor!“<br />
50
Tim’s Lachen verstummte und die piepsende Stimme von Tiberius<br />
Stockfisch klang auf einmal gar nicht mehr lustig. „Aber Herr<br />
Stockfisch, das können sie doch nicht machen! Ich muss doch...“ –<br />
Der Kapitän schnitt ihm das Wort ab. „Wer auf diesem Schiff was<br />
machen kann, bestimme ich allein, und niemand anders, verstanden?<br />
Und jetzt werft ihn über Bord, ich will ihn nicht mehr sehen!“<br />
Tim verspürte nun zum allerersten Mal in seinem Leben Angst<br />
davor, gleich sterben zu müssen. „Ich will nicht, das könnt ihr nicht<br />
machen“, schrie er panisch, während Lazarus und Hasdrubal ihn die<br />
Treppe hinunterschleppten. Auf dem Deck angekommen, sagte<br />
Hasdrubal zu seinem älteren Kollegen, dass dieser nicht<br />
mitzukommen brauche. „Den kleinen Schreihals habe ich auch<br />
alleine im Griff. Ich bringe ihn nach hinten, dort geht er im Strudel<br />
schneller unter. Dann kannst du Charly schon mal mit den<br />
Kanonenkugeln versorgen, bevor er noch einen Anfall bekommt.“<br />
In diesem Moment biss Tim ihm herzhaft in den Arm, und<br />
Hasdrubal schrie vor Schmerz auf. Lazarus holte aus und schlug Tim<br />
wortlos mitten ins Gesicht. „Soso, du hast ihn also alleine im Griff.“<br />
Lazarus bleckte das Sammelsurium aus gelben Zähnen und<br />
Zahnlücken. „Hier ruht der mächtige <strong>Pirat</strong> Hasdrubal, tödlich verletzt<br />
im Kampf mit einem komischen kleinen Wicht. Genau das werde ich<br />
auf deinen Grabstein schreiben lassen“, kicherte Lazarus. „Halt’s<br />
Maul und verschwinde endlich“, blaffte Hasdrubal ihn an. „Und nun<br />
zu dir, Bürschchen.“<br />
51
10. Der alte Schiffskoch<br />
Tim rappelte sich auf. Seine Nase schmerzte und er wunderte sich,<br />
dass er nicht blutete. „Tu das nie wieder“, zischte Hasdrubal, als er<br />
ihn am Kragen packte und ihn in Richtung Schiffsheck hinter sich<br />
her zerrte. Wie soll ich auch, dachte sich Tim, du willst mich ja eh<br />
vom Schiff werfen. Umso verdutzter war er, als Hasdrubal sagte:<br />
„Irgendwie mag ich dich. Du bist ein lustiges Kerlchen. Wer weiß,<br />
vielleicht wirst du uns irgendwann mal noch nützlich sein. Das wird<br />
dem Käpt’n zwar nicht gefallen und ich werde mächtigen Ärger<br />
bekommen, wenn er es erfährt, aber ich bringe dich jetzt runter in die<br />
Kombüse. Dort kannst du unserem Koch beim Kartoffelschälen<br />
helfen. Der alte Stockfisch kommt nie dort runter, und ich werde<br />
dafür sorgen, dass auch unser guter Lazarus nicht in die Nähe der<br />
Küche kommt. Der Koch schuldet mir noch einen Gefallen, insofern<br />
wird er dich nicht verraten.“<br />
Der Redeschwall des <strong>Pirat</strong>en schien kein Ende zu nehmen. „Dass<br />
du beim alten Stockfisch gelacht hast, war sehr dumm von dir. Aber<br />
ich kann es gut verstehen, irgendwie ist er ja auch eine Witzfigur.<br />
Aber dennoch, er ist einer der mächtigsten <strong>Pirat</strong>en der Karibik.“<br />
„Karibik? Sind wir hier in der Karibik?“, entfuhr es Tim. „Na, du<br />
bist mir ja ein kleiner Witzbold. Wo sollen wir denn sonst sein?“<br />
„Na, in Deu...“, begann Tim, beschloss dann aber, für sich zu<br />
behalten, wie er hierher gekommen war. Der <strong>Pirat</strong> würde ihm<br />
sowieso nicht glauben und es würde ihn auch nicht interessieren.<br />
Noch bevor er „Ist ja auch egal“ sagen konnte, flüsterte Hasdrubal<br />
„hier sind wir“. Er blickte sich nochmal nach allen Seiten um, um<br />
Gewissheit zu bekommen, dass niemand sie beobachtete, dann<br />
52
öffnete er die schwere Holztür und forderte Tim auf, schnell<br />
hineinzugehen und die Treppe runter zu steigen.<br />
„He Alter, ich habe hier ein Helferlein für dich“, begrüßte<br />
Hasdrubal den Koch. Die beiden tuschelten miteinander und Tim<br />
nahm an, dass Hasdrubal dem Koch erzählte, was gerade vorgefallen<br />
war und ihm die Anweisung gab, den Jungen zu verstecken. Der<br />
Koch kam grinsend auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen.<br />
„Hallo, ich bin Krank.“ – „Oh, das tut mir leid, was fehlt dir denn?“,<br />
antwortete Tim verwundert. „Nein nein, mein Name ist Krank. Na ja,<br />
eigentlich heiße ich Reginald, aber mich nennen alle nur Krank“,<br />
lachte der Koch.<br />
Die Gesellschaft von Krank und Hasdrubal ließ Tim wieder<br />
durchatmen. Hasdrubal hatte ihm mehr oder weniger das Leben<br />
gerettet, und bei Krank war er vorerst sicher. Er schämte sich fast<br />
dafür, dass er Hasdrubal in den Arm gebissen hatte. „Tut mir leid mit<br />
deinem Arm“, entschuldigte er sich bei Hasdrubal. Dieser winkte nur<br />
ab. „Schon gut, hab schon Schlimmeres abbekommen.“<br />
Tim überlegte, ob er mit Hilfe der beiden in einem günstigen<br />
Augenblick zur Kiste zurück gelangen konnte, um wieder nach<br />
Hause zurückkehren zu können. Dass dieser Augenblick nicht jetzt<br />
war, war ihm natürlich klar. Und dann war da ja auch noch die Sache<br />
mit seinem Großvater. So gerne er sich selbst in Sicherheit bringen<br />
würde, er musste schauen, dass er vorher noch seinen Opa finden<br />
und ihm helfen konnte. Denn er war sich inzwischen fast sicher, dass<br />
dieser tatsächlich noch lebte und sich irgendwo in der <strong>Pirat</strong>enwelt<br />
aufhielt.<br />
Er beschloss, Krank um Hilfe zu bitten, wenn die Gelegenheit<br />
günstig war, und ihn in seine Geheimnisse einzuweihen. Dieser hätte<br />
selbst sein Großvater sein können, so alt war er schon. Bestimmt<br />
53
kannte er sich in der <strong>Pirat</strong>enwelt bestens aus und konnte Tim auf der<br />
Suche nach Opa Jakob unterstützen. Und wer weiß, vielleicht kannte<br />
er ihn ja sogar. Zugegeben, dieser Gedanke war recht<br />
unwahrscheinlich, aber wenn Tim an diesem aufregenden Tag eines<br />
gelernt hatte, dann das, dass nichts unmöglich war.<br />
„Ich komme später wieder, und dann musst du mir noch ein paar<br />
Dinge erzählen“, verabschiedete sich Hasdrubal. „Aber jetzt muss<br />
ich Lazarus helfen, sonst schöpft der Griesgram noch Verdacht.“<br />
„Soso, du hast also Kapitän Stockfisch gewaltig auf die Palme<br />
gebracht.“ Krank schaute Tim belustigt an. „Schaut aus, als seist du<br />
ein mutiger kleiner Bursche.“ Er schob sich seine wenigen noch<br />
verbliebenen grauen Haare aus der Stirn – und zwar mit der Hand,<br />
die gerade noch irgendeinen Teig geknetet hatte. Widerlich, dachte<br />
Tim. Ein Stückchen Teig klebte nun zwischen den Haaren, und Tim<br />
starrte es wie hypnotisiert an.<br />
„Woher kommst du“, wollte Krank wissen. „Deutschland“,<br />
antwortete Tim abwesend, während er immer noch das<br />
Teigstückchen in Krank’s Haaren bestaunte.<br />
Krank erstarrte für einen Moment, ehe er dann mit zittriger Stimme<br />
sagte: „Kenn ich nicht, ist das eine Insel?“<br />
Erstaunt löste sich Tim’s Blick von dem Teigstückchen. „Du<br />
kennst Deutschland nicht?“, fragte er erstaunt, ohne jedoch Krank’s<br />
Verunsicherung bemerkt zu haben. Der Koch schüttelte hektisch den<br />
Kopf. „Deutschland ist in Europa und gehört zur Europäischen<br />
Union“, belehrte Tim den alten Mann, der sich jetzt wieder gefangen<br />
hatte. „und da tragt ihr solche komischen Trachten“, fragte Krank<br />
und zeigte auf Tim’s Kleider. Tim blickte an sich hinunter. Das T-<br />
Shirt mit dem schwarz-rot-gold aufgemalten Brandenburger Tor, die<br />
blaue Bermuda-Short, die Sandalen und die weißen Sportsocken<br />
54
passten wirklich nicht richtig in die <strong>Pirat</strong>enwelt. „Die weißen Dinger<br />
an deinen Füßen sind ja lustig, wie heißen die nochmal?“. - „Äh,<br />
Socken, wieso?“. „Nur so, ich hab solche Dinge vor langer Zeit auch<br />
hin und wieder angehabt, aber das ist bestimmt schon über 50 Jahre<br />
her und ich wusste nicht mehr, wie sie heißen. Sowas gibt es hier bei<br />
uns nicht.“<br />
Tim musste sich schon stark wundern. Dass <strong>Pirat</strong>en aus der<br />
Karibik Deutschland nicht kannten, ok. Aber dass sie nicht mal<br />
solche alltäglichen Dinge wie Socken kannten, das war schon mehr<br />
als eigenartig.<br />
Krank wollte hören, wie es ihn ausgerechnet auf dieses Schiff<br />
verschlagen hatte. Tim erkannte seine Chance. Wenn er Krank jetzt<br />
in das Geheimnis der Kiste einweihen würde, könnte dieser ihm<br />
vielleicht auch gleich helfen. „Kannst du ein Geheimnis für dich<br />
behalten?“, fragte er den alten Koch. „Ich liebe Geheimnisse“,<br />
antwortete dieser mit einem neugierigen Grinsen. „Und ich kann<br />
schweigen wie ein Grab.“<br />
Er konnte es Tim ansehen, dass dieser Zweifel hegte. „Weißt du,<br />
mein Junge, auf so einem <strong>Pirat</strong>enschiff werden nicht viele so alt wie<br />
ich. Ich habe die ganzen Jahre als Koch auf verschiedensten<br />
<strong>Pirat</strong>enschiffen viele Männer sterben sehen. Männer, die<br />
Geheimnisse ausgeplaudert hatten. Und was glaubst du, wie ich dann<br />
so alt werden konnte?“<br />
Diese Belehrung verfehlte ihr Ziel nicht, und Tim war sich sicher,<br />
dass der weise alte Koch tatsächlich einer war, dem man vertrauen<br />
konnte.<br />
„Okay, also gut!“. Tim begann zu erzählen, wie er in Deutschland<br />
in die Kiste gestiegen war, wie er mit dem Schließen des Deckels<br />
plötzlich in eine andere Welt befördert worden war und wie er sich<br />
55
überhaupt nicht erklären konnte, was mit ihm geschehen war. Krank<br />
hörte aufmerksam zu. Hin und wieder runzelte er die Stirn, doch er<br />
ließ Tim ausreden. „Und dann musste ich niesen, und Hasdrubal und<br />
dieser Lazarus haben mich entdeckt. Tja, und nun bin ich hier.“<br />
Der Schiffskoch verzog immer noch keine Miene. Tim begann<br />
schon unruhig auf dem Fass mit der Aufschrift „Rum“ hin und her zu<br />
rutschen, als Krank sich endlich rührte. Sein Gesicht verzog sich zu<br />
einer Fratze und er fing laut an zu lachen. „Du kleiner Spinner! Fast<br />
hättest du mich überzeugt. Aber so leicht lässt sich der alte Krank<br />
nicht veräppeln. Von so einem kleinen Wichtigtuer schon dreimal<br />
nicht. Und jetzt ist Schluss mit dem Gelaber. Hilf mir lieber, die<br />
Kartoffeln zu schälen. Wir müssen nachher 30 hungrige Mäuler<br />
stopfen und die Arbeit macht sich nicht von allein.“<br />
Tim war empört und protestierte lautstark. „Ich habe dir das<br />
erzählt, weil ich dir vertraue. Das ist unfair, dass du mir jetzt nicht<br />
glaubst..“ Die Hoffnung, den alten Mann doch noch zu überzeugen,<br />
wurde mit einem barschen „Maul halten, Kartoffeln schälen“ jedoch<br />
schnell zunichte gemacht.<br />
Tim ärgerte sich. Wie konnte er überhaupt glauben, dass ihm<br />
jemand eine solch haarsträubende Geschichte abnimmt?<br />
Er machte sich umständlich mit einem rostigen Ding, das die Form<br />
eines Messers hatte, an einer Kartoffel zu schaffen. Zuhause hatte<br />
Mama das immer gemacht, weshalb er keine Ahnung hatte, wie er<br />
die Kartoffel am besten von ihrer Schale befreien konnte. „Beim<br />
Klabautermann“ – Krank verdrehte die Augen und schüttelte den<br />
Kopf. Dem Jungen musste man wirklich alles von Grund auf<br />
beibringen.<br />
Insgeheim war der Koch froh, dass er den Jungen so überzeugend<br />
zum Schweigen bringen konnte. Was war ihm doch für ein Schock in<br />
56
die Glieder gefahren, als er Tim zum ersten Mal gesehen hatte. Für<br />
einen kurzen Moment hatte er begonnen, in alten Erinnerungen zu<br />
schwelgen. Er hatte doch tatsächlich vergessen, dass die Dinger<br />
Socken hießen. So langsam schien er zu verkalken. Es mussten<br />
tatsächlich schon über 50 Jahre verstrichen sein, seit er hier gelandet<br />
war. Während er den Jungen in die Geheimnisse des<br />
Kartoffelschälens einweihte, dachte er zurück an damals. Er hatte mit<br />
seinen Freunden eine Bootstour unternommen. Dann war dieses<br />
schreckliche Unwetter aufgekommen. Danach waren sie einige Zeit,<br />
es mussten ein paar Tage gewesen sein, ziellos auf dem Meer<br />
getrieben – unfähig, das Boot wieder auf Kurs zu bringen. Der Reihe<br />
nach waren sie ohnmächtig geworden und waren urplötzlich in einer<br />
ganz anderen Welt wieder zu sich gekommen. Man hatte sie an den<br />
Mast eines <strong>Pirat</strong>enschiffes gefesselt.<br />
Seine Leidenschaft für das Kochen hatte ihm damals das Leben<br />
gerettet. Der Schiffskoch war schwer krank geworden, da hatte er<br />
angeboten, für ihn einzuspringen. Zwar hatte er furchtbare Angst vor<br />
den <strong>Pirat</strong>en gehabt, doch war das Kochen für sie immer noch besser<br />
als an den Mast gebunden zu sein. Seit dieser Zeit hatten sie ihn nur<br />
noch Krank genannt. Er mochte den Namen zwar anfangs nicht, hatte<br />
sich aber schnell daran gewöhnt. Natürlich lebte er auf dem Schiff<br />
anfangs in großer Furcht und wollte nach Hause. Aber als er gesehen<br />
hatte, wie übel seine drei Freunde bei ihrem Fluchtversuch vom<br />
<strong>Pirat</strong>enschiff zugerichtet worden waren, war er froh, dass er zu feige<br />
gewesen war, um sich ihnen anzuschließen. Nur einer der drei hatte<br />
tatsächlich vom Schiff entkommen können, die anderen beiden<br />
waren gleich getötet worden. Krank war sich sicher, dass auch der<br />
andere nicht weit gekommen war. Er hatte im Gesicht geblutet und<br />
war ins Meer gesprungen. Zwar hatte er ihn wegschwimmen sehen,<br />
57
da es in dem Gewässer aber massig Haie gegeben hatte, war er davon<br />
ausgegangen, dass auch er nicht überlebte. Krank konnte sich nicht<br />
mal mehr an die Namen der drei erinnern, so lange war das schon<br />
her.<br />
Eigentlich war es nun schon ein großer Zufall, dass der Junge<br />
ausgerechnet bei ihm gelandet war. Er betrachtete Tim von der Seite,<br />
während dieser sich mit den Kartoffeln abmühte. Ob er wohl ein<br />
guter <strong>Pirat</strong> werden würde? Nicht, wenn Kapitän Stockfisch erfahren<br />
würde, dass ich ihn hier verstecke, dachte er sich. Wenn es nach dem<br />
Kapitän gegangen wäre, wäre der Junge schon tot. „Sein Leben liegt<br />
jetzt in meiner Hand!“ – diese Erkenntnis ließ Krank bzw. Reginald,<br />
wie er ja ursprünglich geheißen hatte, erschauern.<br />
Er selbst war damals 18 Jahre alt gewesen, als es ihn zu den<br />
<strong>Pirat</strong>en verschlagen hatte. Wenn er in diesem Alter schon solche<br />
Angst gehabt hatte, wie mochte es dem Jungen denn dann erst<br />
ergehen? Plötzlich tat er ihm leid. Er entschied sich, ihm zu helfen<br />
wieder nach Hause zu kommen.<br />
Da kam ihm ein Gedanke, der ihn noch mehr zum Grübeln brachte.<br />
Wenn der Junge den Weg zurück nach Deutschland kannte, konnte<br />
er selbst ja auch mitgehen. Wie gerne würde er wieder an die Orte<br />
seiner Jugend zurückkehren. Die große Wiese am Bach unten bei der<br />
alten Mühle, auf der er mit seinen Freunden immer Fußball gespielt<br />
hatte. Und das Haus einer Eltern, das als einziges im Dorf vom Krieg<br />
verschont geblieben war. Und Rosemarie. Mein Gott, dachte Krank,<br />
wie viele Jahre hatte er schon nicht mehr an sie gedacht! Er hatte<br />
sich fest vorgenommen, sich mit ihr zu verloben – und dann war er<br />
aus dieser heilen Welt gerissen und zu den <strong>Pirat</strong>en versetzt worden.<br />
Wie gerne würde er sie wieder sehen. Auf der anderen Seite war sie<br />
– wenn sie überhaupt noch lebte – jetzt auch eine alte Frau und hätte<br />
58
Kinder, ja vielleicht sogar Enkelkinder. Sie hätte ihn nach einiger<br />
Zeit der Trauer vergessen und er würde bei einem plötzlichen<br />
Auftauchen ihr Leben durcheinander bringen. Dennoch wäre es<br />
reizvoll. Ob sich Deutschland wohl sehr verändert hatte? Vielleicht<br />
würde er sich dort ja gar nicht mehr zurechtfinden. Er beschloss, den<br />
Jungen auszufragen, ohne dass dieser Verdacht schöpfte.<br />
59
11. Das Versteck in der Kombüse<br />
„He, <strong>Sockenfuß</strong>, erzähl mal, wie ist es denn in diesem Deutschland<br />
oder wie das heißt!“<br />
Tim war von der Frage so überrascht, dass er sich in den Finger<br />
schnitt. „Na ja“, antwortete er während er den blutenden Finger in<br />
den Mund steckte, „es ist dort ziemlich cool, wieso?“<br />
„Ach, nur so.“ – Krank gab sich betont gleichgültig. „Ich wollte<br />
nur nett sein.“<br />
Tim sah dies als Einladung an, dem alten Koch ausführlich von<br />
zuhause zu erzählen. Die Schule, sein neues Mountainbike, der neue<br />
Van seiner Eltern, die vielen Filme über <strong>Pirat</strong>en im Fernsehen, sein<br />
Computer und sein Lieblingsspiel „Das Geisterschiff“, das Internet<br />
und die vielen eMails, die er und sein amerikanischer Cousin Will<br />
sich täglich schickten. Krank staunte immer mehr. Mountainbike,<br />
Van, Fernsehfilme, Computer, eMail? Entweder musste es noch ein<br />
anderes Deutschland geben oder seine alte Heimat hatte sich so sehr<br />
verändert, dass es ihm total fremd vorkam. Wie dem auch sei, er war<br />
sich nun sicher, dass er dem Jungen helfen wollte wieder dorthin<br />
zurückzukehren, wo er hingehörte.<br />
„Sag mal, die Kiste, von der du erzählt hast, wo soll die denn<br />
sein?“. Tim gefiel der etwas zu freundlich-interessierte Unterton gar<br />
nicht. Erst hatte Krank ihn als Lügner hingestellt und jetzt wollte er<br />
plötzlich alles haargenau wissen. „Hier auf dem Schiff“, antwortete<br />
er misstrauisch, „in einem Raum weiter vorne unter Deck, dort wo<br />
Hasdrubal und Lazarus den Nachschub an Kanonenkugeln holen<br />
wollten.“ – „Das ist schlecht“, dachte Krank laut nach. Das war ganz<br />
in der Nähe des Kapitänsdecks, und auch die Kajüte von Tiberius<br />
60
Stockfisch lag in Sichtweite. „Tagsüber kann ich dich unmöglich<br />
dorthin bringen, und auch nachts ist es zu gefährlich. Der Chef<br />
schläft so gut wie nie.“ – „Du willst mir helfen? Ich dachte, ich bin<br />
ein Spinner und Wichtigtuer!“, sagte Tim verwirrt. Dennoch spürte<br />
er wieder einen Funken Hoffnung aufkeimen. Sollte er es doch<br />
wieder nach Hause schaffen? Er müsste dann zwar seinen Opa, wenn<br />
er tatsächlich hier wäre und in Schwierigkeiten stecken würde, im<br />
Stich lassen, aber sein eigenes Leben würde er zumindest retten<br />
können.<br />
„Na ja, das alles hört sich schon ziemlich nach einem Märchen an,<br />
aber der alte Krank möchte nicht derjenige sein, der dir die Chance<br />
auf die Rückkehr raubt, falls es tatsächlich stimmen sollte, was du da<br />
erzählst.“<br />
Tim war unendlich froh. Während sie weiter Kartoffeln schälten,<br />
schmiedeten sie gemeinsam einen Plan, wie sie unentdeckt zu der<br />
Kiste kommen konnten. Sie beschlossen zu warten, bis die <strong>Pirat</strong>en<br />
das nächste Schiff überfielen. „Dann“, so sinnierte Krank, „sind<br />
Tiberius und seine Männer so beschäftigt, dass sie gar nicht auf uns<br />
achten werden. Mich werden sie da auch nicht brauchen, und deshalb<br />
schlägt da dann unsere große Stunde.“<br />
Und ich werde mit dir in die Kiste steigen, dachte er weiter, aber<br />
das werde ich dir jetzt nicht auf die Nase binden.<br />
„Allerdings kann das noch ein paar Tage dauern, du wirst dich also<br />
noch eine Weile hier unten verstecken müssen.“<br />
Als Krank damit begann, aus dem Teig von vorher kleine Fladen<br />
zu formen, schaute Tim wieder auf das kleine Stück Teig in Krank’s<br />
Haaren. Dieser hatte sich schon mehrmals mit dem Unterarm den<br />
Schweiß von der Stirn gewischt, wodurch sich die Teigspur<br />
61
inzwischen von der Schläfe bis hinters Ohr zog. Tim hatte das<br />
Gefühl, sofort die Hände waschen zu müssen.<br />
„Da, wisch sie dir an dem nassen Lappen ab“. Krank warf ihm<br />
etwas Glibbriges, Graues zu, das sich so eklig anfühlte, dass Tim es<br />
vorzog, seine Hände nochmal in das trübe Kartoffelwasser zu hängen<br />
und sie an seiner Hose abzuwischen.<br />
Einige Zeit später – Tim war gerade dabei, die Kartoffeln in kleine<br />
Stücke zu schneiden – kam Hasdrubal wieder die Treppe herunter.<br />
„Hey, hier kommt Onkel Hasdrubal und möchte nach seinem neuen<br />
Haustierchen sehen.“<br />
Als Tim und Krank ihn fragend anschauten, sah er ein, dass der<br />
Witz in die Hose gegangen war. „Schon gut“, sagte er, „ich möchte<br />
nur kurz schauen, ob bei euch alles klar ist. Der alte Stockfisch regt<br />
sich immer noch darüber auf, dass ihn der junge Matrose hier in aller<br />
Öffentlichkeit ausgelacht hat. Bei der Mannschaft bis du dagegen der<br />
Held, mein Junge, auch wenn sie dich für tot halten.“<br />
Hasdrubal war sichtlich amüsiert über die Geschehnisse an Deck.<br />
Tim würde bis zum nächsten Überfall das Gesprächsthema Nummer<br />
eins bleiben. Deshalb hoffte er, dass schnellstmöglich ein Schiff<br />
ihren Weg kreuzen würde.<br />
„Wie macht er sich als Assistent?“, wollte er von Krank wissen.<br />
„Och, unser <strong>Pirat</strong> <strong>Sockenfuß</strong> ist ein pfiffiges Kerlchen mit einer<br />
blühenden Fantasie. Stell dir vor, er hat erzählt, dass...“ – Tim warf<br />
ihm einen eindringlichen Blick zu, schüttelte den Kopf und und<br />
bildete mit den Lippen ein „NEIN“. Krank sollte bloß nicht auch<br />
noch Hasdrubal einweihen. Es war schon mehr als genug, dass Krank<br />
davon wusste, der angeblich jedes Geheimnis für sich behalten<br />
konnte. Hasdrubal hatte davon aber gottseidank nichts<br />
mitbekommen.<br />
62
„<strong>Pirat</strong> <strong>Sockenfuß</strong>?“ – er hatte lautstark zu lachen begonnen. „<strong>Pirat</strong><br />
<strong>Sockenfuß</strong>, das ist guuuuuut, wie kommst du denn darauf?“.<br />
Hasdrubal zeigte mit dem Finger auf die weißen Socken, die Tim in<br />
seinen Sandalen trug. „Heißen die Dinger etwa Socken?“. Hasdrubal<br />
liefen die Lachtränen die Wangen hinunter, als plötzlich die<br />
Kombüsentür auf krachte und jemand eintrat. Geistesgegenwärtig<br />
gab Krank Tim ein Zeichen, sich zwischen den kleinen Rumfässern<br />
zu verstecken, die ihnen vorher als Sitzgelegenheit gedient hatten.<br />
Bumm, Klack. Bumm, Klack. Ein Mann mit einem Holzbein<br />
mühte sich Stufe für Stufe die Treppen herab. Krank warf eilig eine<br />
löchrige Decke über Tim und die Fässer.<br />
„...und dann stürmte das Mädel zur Tür hinaus, drehte sich<br />
nochmal um, keifte ‚du bist ja krank, Krank’ und rannte in vollem<br />
Tempo gegen den Pfosten.“. Hasdrubal brach erneut – für Tim’s<br />
Ohren etwas zu theatralisch – in schallendes Gelächter aus.<br />
Bumm, klack. Bumm, klack.<br />
„Ooh, welch seltener Gast in meiner Kombüse!“. Tim hörte, wie<br />
auch Krank all sein schauspielerisches Können in diesen Satz legte.<br />
Tim hätte unter seiner Decke gerne gesehen, ob der Koch seinem<br />
Besucher jetzt auch noch um den Hals fiel, doch dann fuhr ihm die<br />
Stimme des Besuchers bis ins Mark. „Feiert ihr hier eine Party oder<br />
was?“, keifte Kapitän Tiberius Stockfisch die beiden giftig an.<br />
„Wenn es hier auf diesem Schiff etwas zu lachen gibt, möchte ich<br />
gefälligst mitlachen. Also, was gibt es so Lustiges, hm?“<br />
Tim hatte die Decke inzwischen unbemerkt so hingezogen, dass er<br />
durch eines der vielen Löcher den Käpt’n genau im Auge hatte.<br />
Tiberius Stockfisch war der wohl humorloseste Mensch, den Tim je<br />
getroffen hatte. Hätte er nicht vorher die fast tödliche Begegnung mit<br />
ihm gehabt, er hätte jetzt wohl erneut lachen müssen. Durch das<br />
63
Loch sah er, wie sich der große, dicke Kapitän mit seiner<br />
Schuluniform abwechselnd vor Krank und Hasdrubal aufbaute und<br />
diesen mit dem Haken seines linken Armes vor dem Gesicht<br />
rumfuchtelte. Krank erzählte nochmal die Geschichte von der Frau,<br />
die gegen den Pfosten rannte, worauf Stockfisch ohne mit der<br />
Wimper zu zucken „witzig, sehr witzig“ sagte.<br />
Er drehte sich um, hielt kurz inne und zerquetschte mit seinem<br />
Holzbein gezielt einen großen Käfer, den Tim schon vorher auf dem<br />
Boden hatte Krabbeln sehen. „Kakerlaken, Drecksviecher“, piepste<br />
Stockfisch. „Du solltest in deiner Küche etwas mehr auf Sauberkeit<br />
achten, Koch!“ – „Ok, Boss“, antwortete Krank knapp, und Tim<br />
hörte fast den Stein auf den morschen Holzboden plumpsen, der<br />
Krank und Hasdrubal vom Herzen fiel, als der Kapitän mit einem<br />
„Klack, bumm. Klack, bumm“ wieder die Treppen hochstapfte.<br />
Als die Tür wieder zugefallen war, versuchte sich Tim von der<br />
Decke zu befreien. „Das war knapp“, nuschelte Hasdrubal, während<br />
Krank kopfschüttelnd feststellte, dass der Käpt’n schon mindestens<br />
ein Jahr nicht mehr in der Kombüse gewesen war.<br />
Tim schaute sich interessiert die platt getretene Kakerlake an. Er<br />
hatte zwar immer wieder von ihnen gehört, aber gesehen hatte er<br />
bisher noch keine. Fasziniert sah er zu, wie sie sich – obwohl sie<br />
eigentlich ziemlich tot ausgesehen hatte – mit ihren drei noch<br />
gesunden Beinen davon zu schleppen versuchte. Zack! Krank’s Fuß<br />
krachte vor Tim auf die Kakerlake nieder. Tim hörte es knacken.<br />
„Diese Mistviecher sind so etwas von zäh. Man meint, sie seien tot,<br />
und dann rennen sie davon und strecken dir auch noch die Zunge<br />
heraus.“<br />
Tim sah Krank mit großen Augen an. Er wunderte sich, wie<br />
grausam und eklig <strong>Pirat</strong>en sein konnten. „Hier, putz die Sauerei<br />
64
weg.“ – Krank hielt ihm den grauen Lappen entgegen, den er ihm<br />
vorher schon zum Hände-Abwischen gegeben hatte. Tim konnte den<br />
Würgereiz in seinem Hals gerade so unterdrücken.<br />
Die darauf folgenden Tage waren für Tim alles andere als<br />
interessant. Er saß unten in der stickigen Kombüse fest, was vor<br />
allem dann schlimm für ihn war, wenn ihm bei starkem Seegang<br />
wieder hundeelend war und er eine Ladung frische Luft gut hätte<br />
brauchen können. Zu essen und trinken hatte er dort unten genug,<br />
doch war das alles natürlich nichts im Vergleich zu dem, was er von<br />
seiner Mutter gewohnt war. Wie gerne hätte er mal wieder bei ihr<br />
gegessen – wenn es sein musste sogar Kartoffeln und Fleisch.<br />
Stattdessen musste er sich mit Haferbrei, Kartoffelsuppe und<br />
geschmacksneutralem Fladenbrot begnügen. Dazu gab es Wasser,<br />
das im Lauf der Tage auch nicht unbedingt frischer wurde.<br />
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<strong>12</strong>. Das lange Warten<br />
Auch an Deck wurde die Stimmung täglich schlechter. Kein Schiff<br />
war weit und breit zu sehen. Den Männern war langweilig, und je<br />
mehr sie sich langweilten, umso aggressiver wurden sie. Tim war<br />
froh, dass er diese schlechte Stimmung nicht direkt mitbekam, auch<br />
wenn immer mal wieder ein schlecht gelaunter <strong>Pirat</strong> nach unten kam,<br />
um sich über „den Rattenfraß“ zu beschweren.<br />
Der Sprung hinter die Rumfässer war für Tim schnell zur Routine<br />
geworden. Er hatte sich dort mit ein paar leeren Kartoffelsäcken eine<br />
Art Matratze gebaut, auf der er die Nächte verbrachte. Meist lag er<br />
die halbe Nacht wach, dachte an seinen Großvater und an zuhause,<br />
bis er dann meist erst im Morgengrauen erschöpft in einen unruhigen<br />
Schlaf fiel.<br />
Sein fünfter Tag an Bord begann dann anders als die Tage zuvor.<br />
Hatte Krank, der am hinteren Ende der Kombüse hinter einem<br />
Vorhang in einer Hängematte nächtigte, ihn sonst schlafen lassen bis<br />
die Sonne weit oben am Himmel stand, so weckte er ihn diesmal<br />
schon kurz nach Sonnenaufgang. Tim musste erst kurz vorher<br />
eingeschlafen sein und er fühlte sich wie gegessen und wieder<br />
ausgespuckt.<br />
„<strong>Sockenfuß</strong>, dein Tag ist gekommen. Der Mann im Ausguck hat<br />
am Horizont ein Handelsschiff erspäht, darauf nehmen wir jetzt<br />
Kurs. Sobald die Jungs den Angriff starten, bringe ich dich zu deiner<br />
Kiste.“<br />
Tim war jetzt hellwach. Endlich würde er wieder nach Hause<br />
zurückkehren können.<br />
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Oben an Deck herrschte reges Treiben, und obwohl Tim tief unten<br />
im Schiff versteckt war, konnte er die knisternde Atmosphäre spüren,<br />
die sich an Bord breit gemacht hatte. Befehle wurden gerufen, die<br />
Männer sangen, und Tim hätte vieles dafür gegeben, bei dem<br />
Überfall und den Vorbereitungen zuschauen zu können. Hatte er<br />
nicht gerade davon immer geträumt? Vielleicht konnte er ja<br />
zumindest auf dem Weg zur Kiste ein paar Blicke auf das Geschehen<br />
erhaschen. Das wären bestimmt Eindrücke, von denen er seinen<br />
Enkeln noch erzählen könnte. Nu ja, wenn sie ihm die Geschichte<br />
überhaupt glaubten...<br />
„Wie lange dauert’s denn noch, bis wir hier raus können?“, fragte<br />
er Krank. Auch dieser schien aufgeregt zu sein. Tim wunderte sich,<br />
dass sogar ein alter Seebär wie Krank vor dem Überfall so nervös<br />
war. Er musste im Laufe der Jahre doch schon hunderte solcher<br />
Übergriffe auf andere Schiffe miterlebt haben. „Ich gehe kurz nach<br />
oben und schaue, wie weit wir noch weg sind“, antwortete der alte<br />
Koch und stapfte die Treppen nach oben.<br />
Er war aufgeregt wie lange nicht mehr. Bald könnte er dorthin<br />
zurückkehren, wo er vor über 50 Jahren gelebt hatte und von wo er<br />
einfach so herausgerissen worden war. Und wenn er sich dort nicht<br />
mehr zurechtfinden würde, was sollte es, dann könnte er immer noch<br />
wieder hierher zurückkehren. Er musste nur den Jungen überzeugen,<br />
ihn mit einsteigen zu lassen. Wie er das anstellen sollte, wusste er<br />
zwar noch nicht, aber da würde ihm schon etwas einfallen.<br />
Das Handelsschiff war noch einige Seemeilen weg. Es war eine<br />
kleine Nussschale, die keine Chance gegen die <strong>Pirat</strong>en haben würde.<br />
Die Besatzung schien die bedrohliche schwarze Flagge an dem<br />
eindrucksvollen <strong>Pirat</strong>enschiff schon bemerkt zu haben. Krank sah,<br />
dass man dort volle Segel gesetzt hatte, um umzukehren und das<br />
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Weite zu suchen. Er wusste aber auch, dass es für das Schiff kein<br />
Entrinnen gab. Stockfisch’s Kahn war eines der schnellsten Schiffe<br />
der Meere, und nur wenige konnten es mit ihm aufnehmen.<br />
Spätestens am Mittag, wenn die Sonne am höchsten am Himmel<br />
stand, mussten sie die bedauernswerten Händler eingeholt haben.<br />
Dann würde es von der Bereitschaft der Besatzung abhängen, ob und<br />
- wenn ja - wieviele Tote es geben würde. Die Handelsware wäre<br />
zwar verloren, aber sie würden zumindest ihre Haut retten können,<br />
wenn sie sich ohne zu kämpfen ergaben. War der Kapitän aber ein<br />
Draufgänger oder war er unerfahren und würde versuchen sein Schiff<br />
zu verteidigen, könnte es ein Gemetzel geben. Kapitän Stockfisch<br />
konnte zwar großzügig sein, wenn der Gegner ihm Respekt in Form<br />
einer weißen Flagge entgegenbrachte. Wenn dieser aber meinte ihn<br />
besiegen zu können, zeigte Kapitän Tiberius Stockfisch sein wahres<br />
Gesicht. Er liebte es, seine Gegner die ganze Palette der Macht<br />
spüren zu lassen, die er besaß. Nur selten nahm er Gefangene, und er<br />
musste schon einen sehr guten Tag haben, wenn er mal ein Schiff<br />
nicht komplett niederbrennen ließ, dessen Besatzung sich anfangs<br />
gewehrt hatte.<br />
Krank wunderte sich immer wieder, wieviel Grausamkeit in dem<br />
Kapitän steckte. Er hatte ihn zum ersten Mal gesehen, als er selbst<br />
noch recht jung gewesen war. Tiberius Stockfisch war schon als<br />
Junge relativ mollig gewesen. Die anderen Kinder schienen ihn<br />
schon damals zu fürchten. Krank war zum ersten Mal auf ihn<br />
aufmerksam geworden, als der ungefähr sechsjährige Stockfisch mit<br />
einem teuflischen Grinsen im Gesicht einen jungen Hund quälte. Das<br />
Jaulen des Hundes klang heute noch in Krank’s Ohren. Als Tiberius<br />
dann elf Jahre alt war, durfte er zum ersten Mal mit den <strong>Pirat</strong>en in<br />
See stechen. Sein Onkel, der selbst ein <strong>Pirat</strong> gewesen war, hatte<br />
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damals so lange auf seinen Kapitän eingeredet, bis dieser ihm<br />
schließlich die Erlaubnis gegeben hatte, den Jungen mit an Bord zu<br />
nehmen. Der dicke Junge schien dort total fehl am Platze, bis er der<br />
ganzen Schiffsbesatzung das Leben gerettet hatte, als er ein Feuer an<br />
Bord entdeckte. Er war zum Helden geworden, auch wenn immer<br />
wieder behauptet wurde, dass er das Feuer selbst gelegt hätte.<br />
Jedenfalls genoss er ab diesem Zeitpunkt alle Freiheiten bei seinem<br />
Kapitän, was er ein paar Jahre später dazu nutzte, diesen eigenhändig<br />
umzubringen und dessen Stelle auf dem Schiff einzunehmen.<br />
Stockfisch’s offizielle Version war gewesen, dass sein Lehrmeister<br />
bei einem Angriff auf ein königliches Schiff von einem Soldaten der<br />
Krone feige von hinten geköpft worden war. Augenzeugen wollten<br />
aber gesehen haben, dass es Tiberius Stockfisch selbst war, der – als<br />
das Schiff des damaligen Königs schon am Sinken war – dem<br />
verletzt am Boden liegenden Kapitän seinen Säbel zwischen die<br />
Rippen gerammt hatte. Kurz darauf waren eben diese Zeugen spurlos<br />
verschwunden, so dass niemand mehr deren Version der Geschichte<br />
nachprüfen konnte. Der Weg für Stockfisch war damit frei<br />
geworden, um einer der mächtigsten <strong>Pirat</strong>en der Karibik zu werden.<br />
Der Verlust seines linken Auges durch den Säbel eines Gegners<br />
hatte ihn nur noch grausamer gemacht.<br />
Als Kapitän Stockfisch im Alter von 25 Jahren bei einem Kampf<br />
über Bord gefallen und von einem Hai angegriffen worden war,<br />
sahen viele das Ende seiner Schreckensherrschaft gekommen. Doch<br />
dann war es ausgerechnet der bärbeißige Lazarus, der den leblosen<br />
Körper des Kapitäns unter Einsatz seines eigenen Lebens aus dem<br />
Wasser zog. Stockfisch hatte im Kampf mit dem übermächtigen Hai<br />
sein linkes Bein und seine linke Hand eingebüßt.<br />
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Doch nur sechs Monate später war er schon wieder auf der<br />
Kommandobrücke seines Schiffes gestanden. Zwar war er auf<br />
seinem Holzbein, das er aus bestem Mahagoniholz anfertigen ließ,<br />
anfangs noch etwas wacklig, doch das hielt ihn nicht davon ab, mit<br />
aller Grausamkeit wieder über die Meere zu ziehen.<br />
Lazarus konnte sich seither fast alles erlauben. So grausam<br />
Stockfisch auch war, so großzügig zeigte er sich gegenüber seinem<br />
Lebensretter.<br />
Krank beobachtete Kapitän Stockfisch, wie er vom Kapitänsdeck<br />
aus seine Leute anschnauzte, um den Angriff vorzubereiten.<br />
Innerhalb einer halben Stunde sollte alles in Position gebracht sein,<br />
damit sie kampfbereit waren. Dann müssten sie nur noch abwarten,<br />
bis sie ihr Ziel erreicht hatten.<br />
Der Koch stieg die Treppe wieder hinunter und berichtete Tim von<br />
seinen Beobachtungen. Dann drückte er ihm einen Besen in die<br />
Hand. „Feg mal die Kombüse durch, ich muss das ausnutzen,<br />
solange du noch hier bist.“, zwinkerte er dem Jungen zu.<br />
Tim begann voller Erwartung den Besen zu schwingen. Bald<br />
könnte er sich wieder in Sicherheit bringen. Von zuhause aus könnte<br />
er dann immer noch Pläne schmieden, um seinem Großvater zu<br />
helfen. Er wusste ja nun, wie er hierher gelangen konnte. Vielleicht<br />
konnte er dann auch seine Eltern fragen, wie genau sein Opa<br />
gestorben war. Sie hatten immer ein Geheimnis aus den Umständen<br />
seines Todes gemacht, da sie ihn nicht damit belasten wollten. Er<br />
selbst hatte nur irgendwann einmal gemerkt, dass Opa nicht mehr da<br />
war. Leider wollte ihm niemand genau sagen, wo er war oder was<br />
geschehen war. Kurz darauf hieß es, er sei tot, was ein ziemlich<br />
großer Schock für Tim war. Abwesend stellte er einen Mehlsack zur<br />
Seite, um dahinter zu kehren. Zwei Kakerlaken sprinteten davon und<br />
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versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Tim erwischte eine davon<br />
mit dem Besen und stocherte hinter eine Kiste, um auch die zweite<br />
zu erwischen. Aus den Augenwinkeln sah er die erste davonrennen,<br />
die er eigentlich tot wähnte. Er musste Krank zustimmen, die<br />
Viecher waren wirklich zäh.<br />
Tim hielt mit dem Besen inne, denn gerade war ihm ein Gedanke<br />
gekommen. Was wäre, wenn sein Großvater nur für tot gehalten<br />
wurde, weil er verschwunden und nicht mehr zurückgekehrt war?<br />
Das war zwar sehr weit hergeholt, doch wie sollte es sonst möglich<br />
sein, dass er noch in der <strong>Pirat</strong>enwelt zu leben schien? Gut, er hatte ja<br />
noch keinen Beweis dafür, und es würde auch nicht erklären, wie er<br />
im Traum zu ihm sprechen konnte. Aber es wäre zumindest ein<br />
Ansatz einer Erklärung. Er musste unbedingt herausfinden, wie Opa<br />
Jakob gestorben war. Sobald er wieder zuhause wäre, würde er bei<br />
seinen Eltern nachbohren. Jetzt galt es aber erstmal, von den <strong>Pirat</strong>en<br />
unentdeckt zur Kiste zurückzukommen.<br />
Krank hatte die Zeit mit Fladenbrot-Backen überbrückt. Auch er<br />
schien in seinen Gedanken versunken.<br />
Es dauerte noch ungefähr eine Stunde, ehe Hasdrubal in die<br />
Kombüse kam. Tim hatte sich schnell mit einem Hechtsprung hinter<br />
die Fässer versteckt, als er die schwere Holztüre knarren hörte.<br />
„Kannst vorkommen, ich bin’s nur“, rief Hasdrubal. „Oben ist alles<br />
bereit. In ein paar Augenblicken haben wir die kleine Nussschale<br />
erreicht, und dann ist Showtime. Endlich mal wieder Action hier auf<br />
dem Kutter. Drückt uns die Daumen und bleibt hier unten.“<br />
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