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Dr. Lottemann - SPD-Fraktion im Niedersächsischen Landtag

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Kabinettsmitglied<br />

<strong>Dr</strong>. <strong>Lottemann</strong><br />

ROMAN IN GROSSER SCHRIFT<br />

Huntly Castle | Foto: Shutterstock<br />

NEUE<br />

Folge!<br />

Verantwortung, Mut und Irrsinn!<br />

Nikki Gordons erstes Jahr<br />

Geschrieben<br />

von den Besten


Kabinettsmitglied <strong>Dr</strong>. <strong>Lottemann</strong><br />

Nikki Gordons erstes Jahr<br />

E<br />

s war ein wunderbar milder<br />

Frühlingsabend. Solche<br />

Abende hatte es in letzter<br />

Zeit viel zu wenige gegeben. <strong>Dr</strong>.<br />

Hinrich <strong>Lottemann</strong> hatte die Augen<br />

geschlossen. Er genoss die<br />

Strahlen der untergehenden Sonne<br />

auf seiner Haut. An seine Ohren<br />

drang neben dem Plätschern des<br />

nahen Zierbrunnens das Rufen der<br />

Kiebitze, die über dem grünen Feld<br />

ihre Pirouetten in der Luft drehten.<br />

Der würzige Duft der eben verzehrten<br />

Speisen lag noch in der<br />

Luft und mischte sich mit dem<br />

Aroma des eiskalten trockenen<br />

Rieslings neben ihm auf dem Gartentisch.<br />

Ein wohliges Gefühl stieg in ihm<br />

auf. <strong>Dr</strong>. <strong>Lottemann</strong>, oder auch nur<br />

Hinrich, wie ihn seine Frau seit<br />

vielen gemeinsamen Ehejahren<br />

nannte, genoss das Leben in der<br />

kleinen Provinzstadt, die ihm so<br />

ans Herz gewachsen war, seitdem<br />

er vor mehr als eineinhalb Jahren<br />

aus der großen Metropole, der<br />

1<br />

Hauptstadt, nach einer langen und<br />

erfolgreichen Karriere weggezogen<br />

war.<br />

Er hatte nur kurz seinen wohlverdienten<br />

Ruhestand genossen, hatte<br />

wieder einen Job angenommen, der<br />

ihn ganz forderte. Damals <strong>im</strong><br />

Herbst des Vorjahres war es gewesen,<br />

als ihn ein Anruf von Dominik<br />

Gordon erreicht hatte, dem<br />

frisch gebackenen Ministerpräsidenten<br />

des Landes, in dem er<br />

jetzt Sonne, Plätschern, Zwitschern<br />

und Düfte genoss.<br />

„Das ist noch kein Jahr her…‚,<br />

sagte er mehr zu sich selbst, als zu<br />

seiner Frau und dem befreundeten<br />

Ehepaar aus dem Süden, das sie in<br />

ihrer Idylle überraschend besucht<br />

hatte. Aufgeregt war Gordon damals<br />

gewesen, als er ihm, dem<br />

Pensionär, das Angebot machte,<br />

Minister zu werden. Die Befürchtung,<br />

er würde ablehnen,<br />

hatte Gordon während des Telefonats<br />

kaum verbergen können.<br />

<strong>Dr</strong>astisch hatte ihm der junge Re-


gierungschef mit heiserer St<strong>im</strong>me<br />

die Situation geschildert und erklärt,<br />

warum er, <strong>Dr</strong>. Hinrich <strong>Lottemann</strong>,<br />

unbedingt neuer Landwirtschaftsminister<br />

werden müsse.<br />

Von Erblast war die Rede, von<br />

<strong>Dr</strong>unter und <strong>Dr</strong>über, von Tohuwabohu,<br />

von Kommunikationskatastrophen<br />

und von der<br />

Gefahr einer Niederlage bei der<br />

kommenden <strong>Landtag</strong>swahl, wenn<br />

nicht er, <strong>Dr</strong>. <strong>Lottemann</strong>, das Ruder<br />

aus der Hand von Amanda Kleinwald,<br />

der amtierenden Ministerin<br />

übernehmen würde. Vor neun<br />

Monaten hatte der Anruf stattgefunden.<br />

„Die Zeit rast.‚<br />

„Was meinst Du, Hinrich?‚, fragte<br />

<strong>Dr</strong>. <strong>Lottemann</strong>s Gattin, die gerade<br />

mit mehreren Kerzen und Windlichtern<br />

bepackt die mit Natursteinen<br />

belegte Terrasse betrat.<br />

„Sprichst Du schon wieder mit Dir<br />

selbst?‚ <strong>Dr</strong>. <strong>Lottemann</strong> öffnete die<br />

Augen. „Vermutlich. Wie hältst Du<br />

es bloß so lange mit mir aus?‚,<br />

sagte er und hinter seiner Brille<br />

und seinem buschigen grauen Bart<br />

war ein verschmitztes Lächeln zu<br />

erkennen. Das fröhliche Gewieher<br />

ihrer Gäste verriet den <strong>Lottemann</strong>s,<br />

dass ihre verbalen Scheingefechte<br />

als das erkannt wurden, was sie<br />

waren: große Vertrautheit.<br />

„Ich hab‘ Dich letztens <strong>im</strong> Fernsehen<br />

gesehen, Hinrich. Chapeau,<br />

große Klasse!‚, sagte der männliche<br />

Besucher. Ein pensionierter<br />

Jurist, der <strong>im</strong> Süden der Republik<br />

Karriere <strong>im</strong> Staatsdienst gemacht,<br />

aber nach einem überraschenden<br />

Regierungswechsel das Angebot<br />

des Vorruhestands schleunigst<br />

angenommen hatte. „Der Nassforschen<br />

hast Du es aber richtig<br />

gezeigt‚, donnerte der Gast, nahm<br />

einen mächtigen Schluck und<br />

knallte das Weinglas aus Bleikristall<br />

mit solcher Wucht auf den<br />

Tisch zurück, dass der Ministergattin<br />

angst und bange wurde.<br />

In der Tat war <strong>Dr</strong>. <strong>Lottemann</strong> mit<br />

seinem TV-Auftritt und allem, was<br />

sich darum rankte, recht zufrieden.<br />

Auf dem Höhepunkt eines erneuten<br />

Lebensmittelskandals hatte<br />

er seiner ehemaligen Chefin, der<br />

Bundesministerin Irene Reeder,<br />

zeigen können, wie richtiges Krisenmanagement<br />

geht. Diesmal<br />

ging es nicht um Dioxin in Futtermitteln,<br />

wie zu Beginn seiner<br />

Amtszeit. Es war ein mysteriöser<br />

Krankheitserreger, der auf Spros-<br />

2


sen nistete und bei all‘ denen, die<br />

sie verzehrten, eine gefährlichen<br />

Darmerkrankung auslöste. Es war<br />

zu mehreren Todesfällen gekommen<br />

und eine Hysterie drohte sich<br />

auszubreiten – erst in den Medien,<br />

dann in der Bevölkerung. Reeder<br />

hatte verkünden lassen, der Erreger<br />

sei über spanische Gurken ins<br />

Land gekommen, was sich wenig<br />

später als falsch herausgestellt hatte.<br />

Die Spanier waren darüber alles<br />

andere als amüsiert. „Ha, ha, Gurken!<br />

Was für eine hauptstädtische<br />

Gurkentruppe‚, lachte der Gast,<br />

griff ungefragt zur Weinflasche<br />

und schenkte sich großzügig nach.<br />

<strong>Dr</strong>. <strong>Lottemann</strong> setzte ein Lächeln<br />

auf, verkniff sich aber einen Kommentar.<br />

Dabei hätte er gerne erzählt,<br />

wie intensiv die Mitarbeiterinnen<br />

und Mitarbeiter der<br />

Landesverwaltung recherchiert<br />

hatten, wie sie auf den Sprossenverdacht<br />

kamen und wie er<br />

schließlich selbst die Entscheidung<br />

getroffen hatte, den Verdacht öffentlich<br />

zu machen. Ja, sicher, er<br />

hatte auf Risiko gespielt. Hätte er<br />

falsch gelegen, hätte er sich ebenso<br />

dem Spott ausgesetzt, der Reeder<br />

jetzt traf. Aber er hatte seiner Erfahrung<br />

vertraut – und gewonnen.<br />

Er stand nun bei Ministerpräsident<br />

Gordon in höchstem Ansehen.<br />

Gordon hatte ihn geholt und ihm<br />

vertraut.<br />

Kurz vor der Gurken-und-<br />

Sprossen-Nummer hatte sein Renommee<br />

be<strong>im</strong> Regierungschef allerdings<br />

auf der Kippe gestanden.<br />

Er, <strong>Dr</strong>. Hinrich <strong>Lottemann</strong>, hatte<br />

nach dem Kleinwald-Desaster auf<br />

Gordons Anweisung hin eine Tierschutzinitiative<br />

starten müssen.<br />

Und Gordon wollte sie be<strong>im</strong> jährlichen<br />

Landes-Landwirte-Konvent<br />

(LLK) den Agrariern vorstellen.<br />

Dabei war am Tag der Veranstaltung<br />

durchaus nicht sicher<br />

gewesen, ob dem Regierungschef<br />

statt der Herzen der murrenden<br />

Landwirte nicht doch eher handliche<br />

Agrarprodukte zufliegen<br />

würden. Die Personenschützer<br />

hatten jedenfalls ihre Spezialregenschirme<br />

dabei gehabt. Doch es<br />

blieb ruhig. Und dann kamen der<br />

Ke<strong>im</strong>, die falschen Gurken, die<br />

richtigen Sprossen und eine belämmerte<br />

Reeder. Gordon war<br />

bester Laune.<br />

3


„Die Glut ist noch da. Soll ich noch<br />

ein wenig Entrecote auf den Rost<br />

legen‚, fragte <strong>Dr</strong>. <strong>Lottemann</strong> seine<br />

Gäste. „Das ist ein Gehe<strong>im</strong>rezept<br />

vom ehemaligen Leiter unserer<br />

Landesvertretung.‚ Der frühpensionierte<br />

Ex-Regierungsjurist<br />

aus dem Süden machte ein zufriedenes<br />

Gesicht. „Gerne! Und wie<br />

ich meine Gertrud kenne, sagt die<br />

auch nicht Nein, was Trudchen?‚,<br />

grunzte der Gast und klopfte der<br />

stillen Frau neben sich auf der Hollywood-Schaukel<br />

auf die Knie.<br />

<strong>Lottemann</strong>s wechselten einen<br />

ebenso kurzen wie vielsagenden<br />

Blick. „Na, dann hole ich doch<br />

noch einmal das Fleisch aus dem<br />

Kühlschrank. Hatte ich schon gesagt,<br />

dass es von einem Biohof<br />

kommt?‚<br />

*<br />

<strong>Dr</strong>ei Tage später, an einem Dienstag,<br />

saß <strong>Dr</strong>. <strong>Lottemann</strong> wie an fast<br />

jedem Dienstag in der Kabinettsrunde.<br />

Nahezu alle Kolleginnen<br />

und Kollegen hatten sich angesagt.<br />

Lediglich Finanzminister Burkhard<br />

<strong>Dr</strong>eist und Wirtschaftsminister Jens<br />

Esterich fehlten. <strong>Dr</strong>eist war gerade<br />

auf Einladung eines alten Schulfreundes<br />

in China um nahe der<br />

mongolischen Grenze eine Produktionsstätte<br />

für Babywindeln feierlich<br />

einzuweihen. Der Wirtschaftsminister<br />

und stellvertretende<br />

Regierungschef wiederum hatte<br />

seinen allmonatlichen Gesprächstermin<br />

in der Zentrale der größten<br />

Bank des Bundesstaates nicht auf<br />

einen anderen Tag legen können.<br />

„Man muss Prioritäten setzen‚,<br />

hatte der stets fröhliche Esterich<br />

geflötet, als er in der Vorwoche die<br />

verdutzte Leiterin der Staatskanzlei,<br />

Hilke Habicht, von seinem voraussichtlichen<br />

Fehlen en passant<br />

in Kenntnis gesetzt hatte. Alle anderen<br />

waren aber da. Innenminister<br />

Rolf-Michael Ambizioso unterhielt<br />

sich mit Kultusminister <strong>Dr</strong>.<br />

Hartmut Harnisch. Besser gesagt,<br />

er lächelte gelangweilt, während<br />

Harnisch ihm mit hochrotem Kopf<br />

von einem kommenden Termin berichtete,<br />

bei dem er eine Festrede<br />

zum 40-jährigen Bestehen von Gesamtschulen<br />

in ihrem Bundesland<br />

halten sollte. „Gerade ich! Wer hat<br />

bloß diesen Termin gemacht. Ich<br />

sage Dir, mein Ministerium ist<br />

<strong>im</strong>mer noch unterwandert. Überall<br />

4


Verschwörer! Du hast da doch<br />

Erfahrung. Wie kann ich rausfinden,<br />

wer gegen mich arbeitet?‚<br />

Während Harnisch noch nach den<br />

Möglichkeiten von Minikameras<br />

und Handy-Ortung fragte, betrat<br />

Sozialministerin Yasemin Ergün<br />

mit einem Fahrradhelm auf dem<br />

Kopf den Kabinettssaal. Etwas<br />

außer Atem nahm sie ihren Platz<br />

ein. „Fahrer sind auch nicht mehr<br />

das, was sie mal waren‚, seufzte sie<br />

bevor sie ihr bezauberndes Lächeln<br />

in die Runde warf. Danach schwieg<br />

sie – wie üblich – still.<br />

Ganz anders der Auftritt von Umweltminister<br />

Hubert Schotter, der<br />

laut deklamierend den Raum betrat,<br />

einen still leidenden Staatssekretär<br />

Thomas Eichler <strong>im</strong><br />

Schlepp. „Was bildet sich dieser<br />

Strahlenschützer eigentlich ein?<br />

Der soll ja nicht glauben, wen er<br />

vor sich hat! Soll er doch bohren,<br />

bitteschön, wo er will. Aber, wenn<br />

es schief geht, ist das sein Bier!<br />

Was? Oder? Empörend ist das…!‚<br />

Wissenschaftsministerin Dietlinde<br />

Taft-Wetter beobachtete kerzengerade<br />

schweigend von ihrem<br />

Platz die Szene. Nur die linke Augenbraue,<br />

die unmerklich einige<br />

Mill<strong>im</strong>eter in die Höhe schoss, verriet<br />

ihre Gemütslage. Der rechte<br />

Zeigefinger, den sie sonst so virtuos<br />

zu schwingen verstand, blieb<br />

mit der restlichen Hand auf Tischhöhe.<br />

Justizminister Rudolf „Rudi‚ Butzenmeier<br />

war ebenfalls still. Einer<br />

seiner legendären Presseabende<br />

mit den berüchtigten Selbstversuchen<br />

steckte ihm noch in den Knochen.<br />

Ein Glas mit einer fröhlich<br />

sprudelnden medizinisch-klaren<br />

Flüssigkeit darin nahm er von<br />

einem der dienstbaren Mitarbeiter<br />

der Staatskanzlei dankbar entgegen.<br />

Als letzte betraten Gordon und<br />

Habicht plaudernd den Raum. Wie<br />

kleine Kinder, die etwas ausgeheckt<br />

hatten, gingen sie tuschelnd<br />

und kichernd zu ihren<br />

Plätzen. So donnernd ließ Gordon<br />

einen Aktenstapel auf die Tafel<br />

knallen, dass die Kaffeetassen<br />

hüpften. Zufrieden ob des Effekts<br />

schaute er in die Runde. „Liebe<br />

Kolleginnen und Kollegen, ich<br />

habe heute wenig Zeit. Am Flughafen<br />

wartet ein Hubschrauber, der<br />

mich an die Küste bringen muss. Es<br />

gilt wieder einmal, einen histori-<br />

5


schen Knopf zu drücken. Also,<br />

Kampfauftrag: In wenigen Wochen<br />

jährt sich erstmals der Tag, an dem<br />

ich Ministerpräsident geworden<br />

bin. Ich erwarte Themenvorschläge,<br />

welche Erfolgsgeschichte wir<br />

erzählen können. Eine steht schon<br />

mal fest, was Hinrich?‚, sagte der<br />

Regierungschef und zwinkerte <strong>Dr</strong>.<br />

<strong>Lottemann</strong> mit Verschwörermiene<br />

zu. „Dann ist die Bildungsnummer<br />

doch auch klasse gelaufen, oder<br />

Hartmut?‚, sagte Gordon und<br />

knuffte dem zu seiner Rechten<br />

sitzenden Kultusminister jovial in<br />

die Seite.<br />

Für den nächsten Satz nahm er<br />

hingegen Haltung an und dafür<br />

keines der Kabinettsmitglieder in<br />

den Blick. Mit staatsmännischer<br />

Attitüde und deutlich betontem „s‚<br />

sprach er langsam den Satz: „Und,<br />

liebe Kolleginnen und Kollegen,<br />

ich finde, meine Energiepolitik ist<br />

auch super!‚<br />

Stille.<br />

Die Reaktionen waren nach Beobachtung<br />

von <strong>Dr</strong>. <strong>Lottemann</strong><br />

durchaus unterschiedlich. So<br />

schoss nun auch die zweite Augenbraue<br />

der Ministerin Taft-<br />

Wetter in die Höhe. Die Tatsache,<br />

dass ihr Ressort nicht als besonders<br />

erfolgreich bewertet wurde, schien<br />

die Dame zu kränken. Sozialministerin<br />

Ergün hatte indessen<br />

nicht erwartet, erwähnt zu werden.<br />

Der Ministerpräsident hatte während<br />

des vergangenen Jahres keinerlei<br />

Interesse an ihrer Arbeit<br />

gezeigt. Positive Presseberichte<br />

über einen ihrer zahlreichen PR-<br />

Termine nahm er zwar zust<strong>im</strong>mend<br />

knurrend zur Kenntnis.<br />

Wenn sie ihm aber Probleme <strong>im</strong><br />

SGB-II- oder Pflegebereich näher<br />

bringen wollte – was weiß Gott bei<br />

der Kompliziertheit der Thematik<br />

für sie schwer genug war – verwies<br />

Gordon darauf, dass er bewusst<br />

Wehrdienst abgeleistet habe. „Zum<br />

Pisspottschwenker tauge ich<br />

nicht‚, hatte er ihr einmal laut lachend<br />

gesagt und sie stehen lassen.<br />

Justizminister Butzenmeier erwartete<br />

ebenfalls nichts mehr. Er<br />

war froh, wenn die Häftlinge<br />

hübsch in ihren Zellen blieben und<br />

nicht auf die Idee kamen, in Scharen<br />

auszubrechen. Ansonsten<br />

machte er seinen Job und zog seine<br />

Befriedigung aus diversen Kabbeleien<br />

mit Justizministern anderer<br />

Bundesländer oder gar der Amts-<br />

6


kollegin des Bundesstaates in der<br />

Metropole. Umweltminister Schotter<br />

hingegen war zunächst versteinert.<br />

„Seine Energiepolitik?‚ Bald<br />

begann er, voller Unbehagen auf<br />

seinem Stuhl hin und her zu rutschen,<br />

und drehte sich dann unrhythmisch<br />

atmend zu seinem<br />

Staatssekretär um, der den Blick<br />

Schulter zuckend erwiderte. Danach<br />

sackte Schotter schmollend in<br />

sich zusammen. Ganz anders <strong>Dr</strong>.<br />

Harnisch: Dem ehemaligen Berufsoffizier<br />

hatte das Lob seines Vorgesetzten<br />

sehr gefallen. Wieder lief<br />

sein Kopf rot an, diesmal vor Stolz.<br />

Innenminister Ambizioso sah hingegen<br />

genauso gelangweilt aus,<br />

wie zu Beginn der Sitzung. Seine<br />

Gedanken konnte man ihm quasi<br />

auf der Stirn ablesen: „Meine Bilanz<br />

sähe viel besser aus.‚<br />

„So, lasst Euch was einfallen. Ich<br />

muss jetzt erst in den Strandhafer<br />

und dann in See stechen. Du übern<strong>im</strong>mst<br />

doch, Hilke?‚, sprach der<br />

Regierungschef und verließ <strong>im</strong><br />

Sturmschritt den Raum.<br />

*<br />

Wirtschaftsminister Esterich erfuhr<br />

auf der Rückfahrt von seinem Bankengespräch<br />

vom Auftritt des Ministerpräsidenten<br />

in der Kabinettsrunde.<br />

Noch während die<br />

Bankentürme vor dem Fenster<br />

seines Erste-Klasse-Abteils vorbeizogen,<br />

hatte ihn ein aufgeregter<br />

Schotter informiert. Dass sein Ressort<br />

nicht zu den Erfolgslieferanten<br />

gehören sollte, hatte Esterich nicht<br />

wirklich überrascht. Faktisch gesehen<br />

gab es dafür auch gar keinen<br />

Anlass. Allerdings wurmte es ihn,<br />

dass ihm als stellvertretendem<br />

Ministerpräsidenten und höchstem<br />

Repräsentanten des kleineren Koalitionspartners<br />

keine Rolle bei den<br />

anstehenden Gordon-Festspielen<br />

zugedacht worden war. Es war<br />

symptomatisch für das derzeitige<br />

Verhältnis innerhalb der Koalition.<br />

„<strong>Dr</strong>außen wird es Sommer, aber in<br />

der Regierung wird es <strong>im</strong>mer kälter‚,<br />

hatte Esterich vor wenigen<br />

Tagen bei einem Diskothekenbesuch<br />

spätnachts einem befreundeten<br />

Journalisten anvertraut.<br />

Esterich empfand es als persönlichen<br />

Affront, dass der Ministerpräsident,<br />

der sonst stets für einen<br />

lockeren, aufbauenden Spruch gut<br />

war, <strong>im</strong>mer dann eisern schwieg,<br />

wenn er, Esterich, der er doch <strong>im</strong>-<br />

7


merhin sein Stellvertreter war, von<br />

Journalisten, der Opposition oder<br />

anderen Neidern öffentlich angegriffen<br />

wurde. Dabei hätte Gordon<br />

als gewiefter Parteistratege doch<br />

Verständnis dafür haben müssen,<br />

dass Esterich darauf achten musste,<br />

seine Partei als eigenständige Kraft<br />

zu positio-nieren. „Ich bin nicht<br />

sein Zwilling und kann nicht sein<br />

Zwilling sein. Ein wenig Eigenständigkeit<br />

muss er mir zubilligen‚,<br />

sagte der Enddreißiger<br />

entschlossen in das ansonsten menschenleere<br />

Abteil hinein.<br />

So wie die Geleise und Bahnschwellen<br />

unter ihm hinweg sausten,<br />

flitzten auch die Gedanken<br />

durch Esterichs Kopf. Gordon hatte<br />

nichts unternommen, um den Streit<br />

zwischen ihm und Innenminister<br />

Ambizioso um die zukünftige Regelung<br />

des Glücksspielmarktes zu<br />

schlichten. Er hatte sogar zugelassen,<br />

dass der sinistere Minister<br />

und der Führer der größeren<br />

Regierungsfraktion, Boris Waal,<br />

mit der Opposition gemeinsame<br />

Sache gemacht hatten, um ihm zu<br />

schaden.<br />

Als er dann auch noch dafür angegriffen<br />

wurde, dass er einen<br />

s<strong>im</strong>plen Vortrag bei den Unterstützern<br />

seines politischen Kurses<br />

auf einer Insel hielt und dort in<br />

einer nur angemessenen Herberge<br />

übernachtete, rührte Gordon erneut<br />

keinen Finger. Ambizioso,<br />

Waal und andere sogenannte<br />

Freunde spotteten sogar hinter<br />

vorgehaltener Hand noch über ihn.<br />

Er hatte sie danach zur Rede gestellt.<br />

„Ich darf doch wohl etwas<br />

Respekt erwarten‚, hatte er ihnen<br />

zornig entgegengeschleudert. Doch<br />

sie hatten nur gelacht.<br />

Und dann die Sache mit der Wirtschaftsförderung.<br />

Was hatte er<br />

denn damit zu tun, dass seine Vorgänger<br />

mit Steuergeld solche<br />

Unternehmen bedachten, die es gar<br />

nicht nötig gehabt haben sollen?<br />

Das machten doch alle. War man<br />

dafür nicht in der Regierung, um<br />

diejenigen zu fördern, die Gutes<br />

für das Land bewirkten? „Kleingeistige<br />

Krämerseelen und Erbsenzähler‚,<br />

hatte er gesch<strong>im</strong>pft, nachdem<br />

er den Bericht der Revisoren<br />

gelesen hatte. Ein mehr als 40-<br />

seitiges Produkt gespeist aus Missgunst,<br />

Besserwisserei und Ignoranz.<br />

Dass die verklausuliert genannten<br />

Unternehmer, diese Ak-<br />

8


tivposten der Gesellschaft, welche<br />

Heerscharen einfallsloser Hungerleider<br />

über Wasser hielten, tatsächlich<br />

Gutes bewirken wollten, konnte<br />

er beurteilen. Schließlich kannte<br />

er die Akteure seit Jahren persönlich.<br />

Zugegeben, nicht so gut wie<br />

sein Vor-Vorgänger, aber er hatte<br />

sie auf seine Art schätzen gelernt.<br />

Und dann monatlich diese Prüfung,<br />

diese biblische Qual, die ihm<br />

so viel Geduld und übermenschliche<br />

Selbstbeherrschung<br />

abverlangte. Diese <strong>Landtag</strong>ssitzungen!<br />

<strong>Dr</strong>ei Tage lang auf unbequemen<br />

Ledersesseln hocken,<br />

deren durchgesessene Polster für<br />

Schweißflecken an Rücken und<br />

Gesäß sorgten. Sich stundenlang<br />

das Genöle der sogenannten<br />

Volksvertreter anhören, ohne wie<br />

früher aus der Haut fahren zu dürfen.<br />

Und dann neben sich einen<br />

Ministerpräsidenten, der lieber mit<br />

der Pressetribüne SMS‘ austauschte<br />

und ansonsten Interesse heuchelnd<br />

in seine Aktenmappen starrte, als<br />

sich mit ihm zu beraten. Mit ihm,<br />

der doch <strong>im</strong>merhin stellvertretender<br />

Regierungschef ist! Und<br />

dann dieser Waal und sein Geschäftsführer<br />

Hals, die vor ihm<br />

saßen und ihn inzwischen keines<br />

Blickes mehr würdigten.<br />

„Respekt, ich verlange Respekt!<br />

Undankbares Pack!‚, entfuhr es<br />

dem ansonsten so gefassten und<br />

grundpositiven Minister Esterich<br />

laut. Erschrocken schaute er sich<br />

um. Hoffentlich hatte ihn der höfliche<br />

junge Mann in der Eisenbahn-<br />

Uniform nicht gehört, der ihm vor<br />

zehn Minuten kostenlos diese leckeren<br />

Kekse angeboten hatte. „Ob<br />

er davon wohl noch welche hat?‚,<br />

fragte sich Esterich.<br />

*<br />

Beschwingt kehrte Kultusminister<br />

<strong>Dr</strong>. Hartmut Harnisch nach der<br />

Kabinettssitzung in sein Ministerium<br />

zurück. Er hatte die weitere<br />

Tagesordnung, die Staatskanzlei-<br />

Chefin Habicht innerhalb von 45<br />

Minuten abgearbeitet hatte, gar<br />

nicht mehr wahrgenommen. Sein<br />

Kopf war erfüllt von dem wohligen<br />

Gefühl, zum Erfolg beigetragen zu<br />

haben, ja, persönlich Teil einer<br />

Erfolgsgeschichte zu sein. Sein<br />

Staatssekretär Hubert Erdwall hörte<br />

dem Bericht seines Chefs wortlos<br />

zu. Er freute sich für den Mann,<br />

9


der ihn aus der Provinz in die pulsierende<br />

Landeshauptstadt geholt<br />

hatte, die bekanntlich niemals<br />

schläft. Allerdings hatte er eine<br />

etwas andere Wahrnehmung der<br />

vergangene zwölf Monate.<br />

„Verantwortung braucht Mut‚<br />

lautete die Überschrift, die Ministerpräsident<br />

Gordon seiner ersten<br />

Regierungserklärung gegeben hatte.<br />

Nach sieben Jahren unter seinem<br />

Vorgänger und Ziehvater<br />

Karl-Heinz Fuchs wollte Gordon<br />

dem Land eine neue Vision geben.<br />

Er versuchte, verbal nahezu die<br />

ganze Welt zu umarmen inklusive<br />

politischem Gegner und britischem<br />

Königshaus samt schottischen<br />

Weltkriegsveteranen. Sein Herz lief<br />

ihm über. Und all‘ diejenigen Dinge,<br />

die in seinem Herz sehr viel<br />

Platz hatten, kamen vor. Andere<br />

Dinge wiederum gar nicht. Aber<br />

eines war Gordon wichtig gewesen:<br />

Er wollte den Streit mit der<br />

Opposition um die Schulen des<br />

Landes, der unter Fuchs und der<br />

ehemaligen Kultusministerin Erdmute<br />

Feger erbittert geführt worden<br />

war, beilegen. Er war ganz<br />

ergriffen von seiner Mission als<br />

Friedensstifter. Er ging sogar so<br />

weit, der Minderheit <strong>im</strong> Parlament<br />

Mitarbeit anzubieten. Wie ein<br />

Gandhi der Schulen war Gordon<br />

aufgetreten, nur etwas behaarter,<br />

korrekter gekleidet und besser <strong>im</strong><br />

Futter.<br />

Gordon war bei dieser Passage<br />

seiner Rede so gefangen, dass er<br />

die kritischen Blicke einiger seiner<br />

Parteifreunde <strong>im</strong> <strong>Landtag</strong> und<br />

auch be<strong>im</strong> kleineren Koalitionspartner<br />

unter Führung ihres <strong>Fraktion</strong>schefs<br />

Christoph Obeso wohl<br />

übersehen hatte. Erdwall hingegen<br />

hatte sie bemerkt, selbst aus der<br />

zweiten Reihe heraus. Nachdem<br />

Gordon seine Rede beendet hatte,<br />

brandete „starker, nicht enden<br />

wollender Beifall‚ bei den Regierungsfraktionen<br />

auf, wie das <strong>Landtag</strong>sprotokoll<br />

festhielt. Danach, in<br />

einem stillen unbeobachteten Moment,<br />

ging Gordon auf Harnisch<br />

zu, drückte ihm die Hand und sah<br />

ihm tief in die Augen. „Du machst<br />

das. Ich vertraue auf Dich‚, hatte<br />

der neue Regierungschef seinem<br />

Kultusminister fast schon ergriffen<br />

gesagt. Danach ging er seiner Wege<br />

und mischte sich nicht mehr in die<br />

Schulpolitik ein.<br />

10


Erdwall erinnerte sich genau, mit<br />

welchem Elan Harnisch die Aufgabe<br />

übernahm. Als erstes ließ er<br />

stillschweigend das Gesprächsangebot<br />

an die Minderheit unter<br />

den Tisch fallen. „Ich habe genug<br />

Opposition <strong>im</strong> Haus, da brauche<br />

ich diese Rachegöttinnen aus dem<br />

Parlament nicht auch noch‚, hatte<br />

Harnisch <strong>im</strong> Hinblick auf die drei<br />

herausgehobenen<br />

Schulpolitikerinnen<br />

der Opposition geknurrt,<br />

die schon seine Vorgängerin<br />

an den Rande des Nervenzusammenbruchs<br />

gebracht<br />

hatten. Dann ging er auf Werbetour.<br />

Mit seinem natürlichen<br />

Charme und seinem Kommunikationstalent<br />

gelang es ihm, diverse<br />

Akteure <strong>im</strong> Bildungsbereich, die<br />

seiner Vorgängerin mit äußerster<br />

Distanz begegnet waren, zu beeindrucken.<br />

Wehte tatsächlich ein<br />

neuer Wind?<br />

Gordon beobachtete bei Gelegenheit<br />

aus der Distanz das Wirken<br />

seines Kultusministers. Und es<br />

erfüllte ihn mit Freude. Er hatte<br />

sich um andere Dinge zu kümmern.<br />

Er musste sich bekannt machen.<br />

Dutzende Handwerks- und<br />

Handelsgilden wollten besucht<br />

und umschmeichelt sein. Dann<br />

musste er auch manchmal in die<br />

Metropole. Doch allen Fragestellern,<br />

die sich argwöhnisch erkundigten,<br />

ob er denn nach Höherem<br />

strebe, gab er selbstsicher lächelnd<br />

die Antwort, dass er <strong>im</strong><br />

Lande bleiben werde. Zur Bekräftigung<br />

holte er sogar manchmal<br />

seinen Schützenhut hervor, um<br />

seine Verbundenheit mit der he<strong>im</strong>atlichen<br />

Scholle zu unterstreichen.<br />

Doch dann von unerwarteter Seite<br />

aus den eigenen Reihen wurde<br />

Harnisch gestoppt. Irgendwann<br />

wurde den prinzipientreuen Männern<br />

und Frauen in den Regierungsfraktionen<br />

die Konsens-<br />

Strategie der Herren Gordon und<br />

Harnisch unhe<strong>im</strong>lich. Es waren<br />

schließlich Christoph Obeso und<br />

seine <strong>Fraktion</strong>smitglieder unterstützt<br />

von einigen Parteigängern<br />

Gordons, die Harnisch in die Parade<br />

fuhren. Erdwall erinnerte sich<br />

gut. Bei der nationalen Eisenbahngesellschaft<br />

gab es zeitgleich<br />

Probleme mit der Kl<strong>im</strong>atisierung<br />

von Zügen. Und auch bei ihnen<br />

ging es um Züge, Klassenzüge –<br />

drei, vier oder fünf. Es wurde in-<br />

11


nerhalb der Koalition gestritten, als<br />

hinge das Weltenheil davon ab, vor<br />

und mehr noch hinter den Kulissen.<br />

Schließlich, nach harten Verhandlungen,<br />

wurde das Rad neu<br />

erfunden. Das Rad hieß „Überschule‚,<br />

lief von seiner Konstruktion<br />

her nicht ganz so rund wie das<br />

Original, aber man konnte es als<br />

neu feiern. Gordon war begeistert.<br />

Harnisch war genervt aber zufrieden,<br />

weil sein Chef zufrieden war.<br />

„Erdwall, unsere Überschule wird<br />

zum nationalen Trendsetter. Das<br />

steht schon mal fest‚, beendete<br />

Kultusminister <strong>Dr</strong>. Harnisch seinen<br />

Bericht von der jüngsten Kabinettssitzung.<br />

„Lassen Sie in diesem Sinne<br />

ein paar Textbausteine für die<br />

Jahrestags-Rede des Herrn Ministerpräsidenten<br />

anfertigen. Und<br />

sorgen Sie dafür, dass wir unser<br />

Licht nicht unter den Scheffel stellen.<br />

Dieses hervorragende Ergebnis<br />

wurde erreicht durch harte Arbeit,<br />

großen Einfallsreichtum und vertrauensvolle<br />

Teamarbeit, ist das<br />

klar?‚, donnerte Harnisch und ließ<br />

zur Unterstützung die flache Hand<br />

auf die postmoderne Schreibtischplatte<br />

aus massivem Nussbaum<br />

niedersausen. „Jawohl, Herr Minister<br />

<strong>Dr</strong>. Harnisch‚, antwortete der<br />

Staatssekretär, drehe sich auf dem<br />

edlen Parkettboden des Chefz<strong>im</strong>mers<br />

gekonnt um exakt 180 Grad,<br />

setzte sich zügig aber ohne Hast in<br />

Bewegung und hörte be<strong>im</strong> Schließen<br />

der lederbeschlagenen Tür<br />

noch ein gedämpftes „Wegtreten‚.<br />

*<br />

Als die schriftliche Anforderung<br />

aus der Staatskanzlei bei Innenminister<br />

Ambizioso eintraf, man<br />

möge doch bitte Textbausteine für<br />

eine Bilanz-Regierungserklärung<br />

des ersten Gordon-Jahres liefern,<br />

legte der Angeschriebene sie mit<br />

einem Schmunzeln nach ganz<br />

unten unter einen hohen Papierstapel<br />

auf seinem Schreibtisch. Er<br />

würde nicht einen Finger rühren<br />

für diesen orientierungslosen<br />

Warmduscher, dachte Ambizioso,<br />

der vor 47 Jahren als Rolf-Michael<br />

Müller auf die Welt gekommen<br />

war. Er hatte seinen Allerwelts-<br />

Nachnamen nie gemocht und deshalb<br />

nach der Hochzeit den Namen<br />

seiner Frau Maria angenommen. Er<br />

hatte die Tochter eines mittelständischen<br />

Duftwasser-Herstellers<br />

12


aus der Lombardei bei einer Messe<br />

kennengelernt. Ihr gefiel seine Fähigkeit,<br />

nahezu jede Situation sofort<br />

einordnen und erklären zu<br />

können. Ihm gefiel diese Eigenschaft<br />

auch. Er hatte hart an sich<br />

gearbeitet, bis er sein Talent, das<br />

Wichtige vom Unwichtigen zu<br />

unterscheiden und lästige Details<br />

auszublenden, zur Perfektion gebracht<br />

hatte.<br />

Sein Intellekt war inzwischen so<br />

geschärft, dass er keinen Widerspruch<br />

duldete. Das brachte ihm in<br />

dem Ministerium, das er nunmehr<br />

seit acht Jahren leitete, den Beinamen<br />

„Don‚ ein. Er machte sich<br />

von Zeit zu Zeit einen Spaß daraus,<br />

Untergebene, die einen Fehler gemacht<br />

hatten, zu sich zu bestellen<br />

und ihnen mit leiser, heiserer<br />

St<strong>im</strong>me zu eröffnen: „Sie haben<br />

gegen die Familie gehandelt. Sie<br />

haben mich sehr enttäuscht.‚ Wenn<br />

der Angesprochene dann in<br />

Schweiß ausbrach und Entschuldigungen<br />

stammelte, konnte<br />

„Don‚ Ambizioso nur mit Mühe<br />

ein Lächeln unterdrücken.<br />

Acht Jahre Innenminister! „Mindestens<br />

drei Jahre zu viel‚, grummelte<br />

Ambizioso und blickte auf<br />

die mittelalterliche japanische Rüstung<br />

und die Sammlung von Samurai-Schwertern,<br />

die sein Büro<br />

schmückten. Schon unter Ministerpräsident<br />

Fuchs hatte er das Gefühl<br />

gehabt, er sei zu Höherem berufen.<br />

Aber Fuchs hatte ihn <strong>im</strong>mer wieder<br />

zusammengestaucht, wenn er zu<br />

sehr das eigene Profil geschärft<br />

hatte. Fuchs war nicht zu unterschätzen<br />

gewesen. Weiche Schale,<br />

harter Kern. Ambizioso akzeptierte<br />

das, auch wenn er mehrmals unter<br />

dem Reg<strong>im</strong>e des Fuchses hatte<br />

leiden müssen.<br />

Dann deutete sich der Wechsel <strong>im</strong><br />

Regierungsamt an, und Ambizioso<br />

rechnete sich Chancen aus aufzusteigen.<br />

Seine Bilanz war makellos.<br />

Abgesehen von den üblichen Mäkeleien<br />

der unvermeidlichen Gutmenschen<br />

und Naivlinge hatte er<br />

viel Zust<strong>im</strong>mung erfahren. Wenn<br />

er bei einem Repräsentationstermin<br />

ein Festzelt betrat war<br />

es so, als würde der Sheriff den<br />

Saloon betreten, zwei sch<strong>im</strong>mernde<br />

Engelmacher an der Hüfte, klirrende<br />

Sporen an den Stiefeln, und der<br />

Pianist hörte auf zu spielen.<br />

Doch nicht er, Ambizioso, machte<br />

das Rennen. Fuchs‘ Ziehsohn Gor-<br />

13


don kam zum Zuge. Dieser hatte<br />

von Anfang an die besseren Chancen<br />

gehabt, musste sich Ambizioso<br />

eingestehen. Aber, dass der Halbschotte<br />

mit einem fröhlichen „Holla,<br />

die Waldfee!‚ an ihm vorbeizog,<br />

hatte ihn unsagbar gekränkt.<br />

„Frau Peters‚, sprach Ambizioso in<br />

die Gegensprechanlage auf seinem<br />

Schreibtisch, „wann wird der MP<br />

nochmal seine Regierungserklärung<br />

halten?‚ - „Moment‚,<br />

ertönte es aus dem Lautsprecher.<br />

Dann: „Freitag übernächster Woche.‚<br />

- „Da ist doch best<strong>im</strong>mt ein<br />

wichtiger Termin in der Bundeshauptstadt,<br />

oder? Ich bin mir ziemlich<br />

sicher. Wenn nicht, machen Sie<br />

einen klar. Zur Not schalten Sie die<br />

Pressestelle ein, die sollen ein<br />

Interview mit der Hauptstadtredaktion<br />

von Res Publica<br />

eintüten oder einem anderen Magazin.<br />

Ich will auf jeden Fall nicht<br />

hier sein müssen, wenn der MP<br />

seine Erfolgsgeschichte zum Besten<br />

gibt.‚<br />

*<br />

Umweltminister Schotter war <strong>im</strong>mer<br />

noch wie vom Donner gerührt.<br />

Seit acht Jahren verantwortete er<br />

die Energiepolitik der Landesregierung.<br />

Viel Kritik hatte er einstecken<br />

müssen. Zugegeben, er hatte auch<br />

die Konfrontation gesucht. Daran<br />

hatte er Freude. „Streit ist der Pfeffer<br />

in der Suppe‚, pflegte er seinen<br />

Mitarbeitern zu sagen, wenn sie ein<br />

ums andere Mal seine Ideen mit<br />

Vorbehalten und Bedenken kommentierten.<br />

Nichtsdestotrotz war er<br />

derjenige gewesen, der seinen Kopf<br />

hingehalten hatte, der in Treue und<br />

auch aus Überzeugung diejenige<br />

Politik gestützt und verkündet<br />

hatte, die auf eine weitere Nutzung<br />

der Nuklearanlagen <strong>im</strong> Land abzielte.<br />

Ha! Was hatte er sich <strong>im</strong><br />

<strong>Landtag</strong> Schlachten geliefert. Die<br />

intellektuellen Wortklauber der<br />

Opposition hatten sich so ereifert.<br />

Irgendwann hatte er diesen detailversessenen<br />

Krakee-lern gar nicht<br />

mehr zugehört, nur noch die eigenen<br />

unumstößlichen Wahrheiten<br />

verkündet und sich über diejenigen<br />

Abgeordneten amüsiert, die<br />

schäumend <strong>im</strong>mer wieder seinen<br />

Rücktritt gefordert hatten. Denn er<br />

wusste, er war oben, die waren<br />

unten und so würde es bleiben.<br />

14


Fuchs hatte ihm freie Hand gelassen.<br />

Gordon hatte ihm bedeutet,<br />

es würde so bleiben. Doch dann<br />

flog in irgendeinem gottverlassenen<br />

Land eine Nuklearanlage<br />

in die Luft. Schotter ging davon<br />

aus, dass nach ein paar Wochen<br />

kein Hahn mehr danach krähen<br />

würde. Und auch Gordon sah das<br />

offenbar zunächst so.<br />

Er, Schotter, hatte den jungen Regierungschef<br />

persönlich informiert.<br />

Gordon stand gerade auf dem<br />

höchsten Höhenzug des Landes<br />

und ließ sich in Anwesenheit dutzender<br />

Honoratioren und unter<br />

Spielmannszugklängen von der<br />

lokalen Salbei-Königin die traditionelle<br />

Ehrenschärpe umlegen, als<br />

ihn Schotters ebenso lange wie<br />

kryptische SMS erreichte. Nach<br />

einem kurzen Blick auf das Display<br />

seines amerikanischen Mobiltelefons<br />

chinesischer Produk-tion hatte<br />

Gordon „OK!‚ als Antwort getippt,<br />

um sich danach wieder den Reizen<br />

der Landschaft zu widmen.<br />

Doch in den nächsten Tagen war<br />

gar nichts OK! Gordon machte auf<br />

einmal selber Energiepolitik. Das<br />

heißt, er schaute, wohin in der<br />

Hauptstadt, der fernen Metropole<br />

der Hase lief und setze seine Duftmarken<br />

so geschickt, dass er der<br />

verdutzten Öffentlichkeit unwidersprochen<br />

erzählen konnte, er sei es<br />

gewesen, der dies und das und<br />

jenes erreicht habe. Schotter fühlte<br />

sich dabei wie ein Hund, den man<br />

vor dem Laden angebunden hatte.<br />

„Wir müssen draußen bleiben.‚<br />

Und von dieser Position aus musste<br />

der Minister, der sich jahrelang<br />

ohne Murren ins größte Kampfgetümmel<br />

gestürzt hatte, mitansehen,<br />

wie Gordon eine Position nach der<br />

anderen aufgab. Die Nachricht,<br />

Gordon habe der Presse erklärt, er<br />

sei bekanntlich ja schon <strong>im</strong>mer ein<br />

Skeptiker der Nukleartechnik gewesen,<br />

ließ Schotter zu seinen<br />

Tropfen greifen. Als der alerte Regierungschef<br />

dann kurz darauf<br />

breit grinsend zu ihm kam und<br />

ihm mit den Worten „Hubsi, wir<br />

machen Geschichte‚ auf die arthritische<br />

Schulter klopfte, war für<br />

Umweltminister Hubert Schotter<br />

klar: „Es gibt kein zurück.‚<br />

Früher waren ihm diejenigen<br />

Wendehälse, die mit den Wölfen<br />

heulten, zuwider gewesen. Doch<br />

jetzt würde er seine Lungen bis<br />

zum Bersten füllen, um mitheulen<br />

15


zu können. Er würde seine Leute<br />

antreiben, einen Textbaustein zu<br />

liefern, der so brillant sein würde,<br />

dass Gordon daran einfach nicht<br />

vorbei könnte. „Der Ministerpräsident<br />

mag es ja als seine Energiepolitik<br />

verkaufen. Aber ich bin<br />

derjenige, der sie formuliert‚, dachte<br />

sich Schotter und spannte noch<br />

einmal seine Muskeln an.<br />

Seine Chancen standen seiner Ansicht<br />

nach nicht schlecht. Schließlich<br />

hatte Gordon ihn noch vor<br />

zwei Wochen zu einer „gemeinsamen‚<br />

Pressekonferenz mitgenommen,<br />

auf der er „ihr‚ Energiekonzept<br />

vorgestellt hatte. In<br />

staatstragender, manchmal sogar<br />

pathetischer Weise hatte er die<br />

Schritte erläutert, dann und wann<br />

seinem „Hubsi‚ sogar das Wort<br />

erteilt. Und dieser hatte sein Bestes<br />

gegeben und den neuen Kurs mit<br />

Erläuterungen und Ergänzungen<br />

versehen.<br />

Dann fragte ein Journalist, wie man<br />

sich denn die Umstellung vorstellen<br />

müsse. Daraufhin hatte<br />

Gordon den Staatsmann abgelegt<br />

und den Entertainer wieder nach<br />

vorne geholt. So wie be<strong>im</strong> Geschlechtsverkehr<br />

bei Igeln müsse es<br />

laufen. „Ganz vorsichtig‚, hatte der<br />

MP verschmitzt gemeint. Und<br />

Schotter hatte einem Geistesblitz<br />

folgend dre<strong>im</strong>al eine gedämpftes<br />

„Aua‚ von sich gegeben. Großes<br />

Gelächter war die Folge. Gordon<br />

lachte auch und Schotter war<br />

glücklich.<br />

Doch dann kam die bewusste Kabinettssitzung<br />

und der alte Politkämpe<br />

fühlte sich erneut ausgegrenzt<br />

und abgemeldet. Zu allem<br />

Unglück lauerte sein Staatssekretär<br />

Eichler auch noch darauf, dass er<br />

seinen Ministerstuhl endlich räumen<br />

würde. Ja, sicherlich war das<br />

so ausgemacht worden, damit<br />

Eichler neuer Parteichef <strong>im</strong> Lande<br />

werden könne. Er, Schotter, hatte<br />

das ja selbst vorgeschlagen. Aber<br />

den Termin wollte er bitteschön<br />

selbst festlegen. Und eines war ihm<br />

klar: „Ein Schotter geht nicht still<br />

von der Bühne. Ein Schotter geht<br />

mit einem Paukenschlag. Darauf<br />

könnt ihr euch verlassen.‚<br />

*<br />

Einige Tage später aßen <strong>Dr</strong>. <strong>Lottemann</strong><br />

und Finanzminister Burkhard<br />

<strong>Dr</strong>eist gemeinsam bei „Luigi‚<br />

16


zu Abend. <strong>Dr</strong>eist hatte nach seiner<br />

Rückkehr aus China kurzfristig um<br />

diesen Termin gebeten und auch<br />

den Treffpunkt vorgeschlagen. Das<br />

italienische Restaurant war an<br />

einer Hauptverkehrsstraße gelegen.<br />

Die kleine Terrasse davor war<br />

wegen des Wetters menschenleer.<br />

<strong>Lottemann</strong> konnte deutlich sehen,<br />

wie die dicken Regentropfen auf<br />

die weißen Kunststoffstühle prasselten.<br />

Auch <strong>im</strong> Lokal war nicht<br />

viel los. Man könnte auch sagen,<br />

die beiden Minister hatten das<br />

Restaurant ganz für sich alleine.<br />

<strong>Dr</strong>. <strong>Lottemann</strong> war kein großer<br />

Freund der italienischen Küche.<br />

Ihm hätte auch eine gemischte<br />

Aufschnittplatte mit Gewürzgurken<br />

und frischem Schwarzbrot<br />

gereicht, wie er sie früher, als er<br />

noch in der Metropole gelebt hatte,<br />

in seinem Lieblingsweinlokal bekommen<br />

konnte. Bei „Luigi‚ fühlte<br />

er sich von der Fülle der angebotenen<br />

Speisen überfordert und<br />

bestellt das, was er be<strong>im</strong> Italiener<br />

<strong>im</strong>mer bestellte: eine Lasagne und<br />

ein Glas Valpolicella. <strong>Dr</strong>eist hingegen<br />

war in seinem Element:<br />

Bruschetta mit Tomate und Basilikum,<br />

danach ein kleiner Tagliatelle-Teller<br />

mit gehobelten Trüffeln,<br />

Brasato al Barolo als Hauptgang<br />

(was auch die Weinauswahl festlegte)<br />

gefolgt von einer kleinen<br />

Käseauswahl. Zum Abschluss orderte<br />

<strong>Dr</strong>eist Tiramisu und einen<br />

doppelten Espresso.<br />

<strong>Dr</strong>. <strong>Lottemann</strong> war schon lange<br />

fertig, als <strong>Dr</strong>eist noch speiste und<br />

von China berichtete. Das sei ein<br />

fabelhaftes Land, zwar nicht ganz<br />

demokratisch geführt, aber, dort<br />

könnten entschlussfreudige Männer<br />

noch etwas bewegen. Sein<br />

Schulfreund würde übrigens jetzt<br />

das nächste Projekt angehen. „Sie<br />

glauben ja nicht, welchen Bedarf es<br />

an Babywindeln in China gibt‚,<br />

schloss <strong>Dr</strong>eist gleichzeitig Bericht<br />

und Nahrungsaufnahme ab, bestellte<br />

bei Luigi noch einen Grappa<br />

und lehnte sich zufrieden zurück.<br />

<strong>Dr</strong>eist nahm seine typische Körperhaltung<br />

an: Das Gesäß auf der<br />

vorderen Kante der Sitzfläche balancierend,<br />

die Beine übereinandergeschlagen,<br />

einen Arm<br />

lässig auf die Lehne gestützt hielt<br />

er in der anderen Hand das schlanke<br />

Grappa-Glas. „Kommen wir zur<br />

Sache‚, sagte der Finanzminister in<br />

seiner lässig-schnodderigen<br />

17


Sprechweise, von der <strong>Dr</strong>. <strong>Lottemann</strong><br />

überzeugt war, dass <strong>Dr</strong>eist<br />

sie sich antrainiert hatte. „Was<br />

halten Sie eigentlich von diesem<br />

Tierschutzplan, mit dem sie unser<br />

Nikki beauftragt hat. Er will sich ja<br />

wohl dafür abfeiern lassen. Ist das<br />

klug?‚ <strong>Dr</strong>eist war das einzige Kabinettsmitglied,<br />

das vom Ministerpräsidenten<br />

nicht als MP, Chef<br />

oder zumindest Gordon sprach. Er<br />

benutzte die Verniedlichungsform<br />

des Vornamens des Regierungschefs,<br />

als handele es sich bei ihm<br />

um einen Schüler. Er konnte es sich<br />

leisten. Niemand kannte sich in<br />

dem weitverzweigten Netz, das<br />

sich Landeshaushalt nannte, so gut<br />

aus wie <strong>Dr</strong>eist. Er kannte jedes<br />

Schlupfloch, jede schwarze Kasse,<br />

jeden Schattenhaushalt. Er war<br />

unangreifbar. Hinzu kam, dass<br />

<strong>Dr</strong>eist ebenso wie Ambizioso der<br />

Ansicht war, dass ihm niemand<br />

das Wasser reichen konnte. Anders<br />

als der Innenminister wurde er<br />

aber nicht von übersteigertem Ehrgeiz<br />

verzehrt. Er gab sich mit dem<br />

Wissen um seine Einzigartigkeit<br />

zufrieden.<br />

„Sicherlich ist es nicht schön, wenn<br />

sich Puten und Hühner kaputtstehen<br />

oder irgendwelchen Babyviechern<br />

Schnäbel, Krallen und<br />

was sonst noch abgeknipst werden.<br />

Da sieht ein Tierschutzplan schon<br />

ganz gut aus. So ist halt der Zeitgeist.<br />

Aber, was sagen denn die<br />

Bauern dazu?‚, fragte <strong>Dr</strong>eist. <strong>Dr</strong>.<br />

<strong>Lottemann</strong> wollte gerade antworten,<br />

dass es sicherlich eine gewisse<br />

Zeit brauche, bis sich die Landwirte<br />

umgestellt hätten, dass man<br />

deshalb auch Übergangsfristen<br />

eingeräumt habe, dass man auf viel<br />

Verständnis und Kooperationsbereitschaft<br />

gestoßen sei. Doch da<br />

redete <strong>Dr</strong>eist schon weiter: „Ich<br />

kann mir ungefähr vorstellen, was<br />

die uns sagen werden. Aber ich<br />

weiß ganz genau, was die tun werden.<br />

Die wählen uns nicht mehr, so<br />

ist das.‚ <strong>Dr</strong>eist lehnte sich zurück<br />

und nippte an seinem Grappa.<br />

„Nun, …‚, hob <strong>Dr</strong>. <strong>Lottemann</strong> zu<br />

einer Antwort an, als ihm <strong>Dr</strong>eist<br />

schon wieder in die Parade<br />

schnodderte: „Lieber Kollege, bleiben<br />

sie ganz ruhig. Ich kenne die<br />

Lösung.‚<br />

<strong>Dr</strong>eist machte eine Kunstpause,<br />

leerte sein Grappa-Glas und ließ<br />

seinen Kabinettskollegen dabei<br />

nicht aus den Augen. <strong>Dr</strong>. Lotte-<br />

18


mann hielt dem Blick Stand. „Wir<br />

wollen doch, dass unser Nikki<br />

noch viele schöne Regierungserklärungen<br />

abgeben kann, nicht<br />

wahr?‚, fuhr <strong>Dr</strong>eist fort. „Deshalb<br />

werden wir unsere Agrarier vor<br />

der Wahl mit Wohltaten bedenken,<br />

dass ihnen Hören und Sehen vergeht.‚<br />

<strong>Dr</strong>. <strong>Lottemann</strong> dachte kurz<br />

nach. Der Landeshaushalt war auf<br />

Kante genäht. Wie sollte das gehen?<br />

„Wie wollen Sie das schaffen?‚,<br />

fragte er leise. „Nun‚, antwortete<br />

der Finanzminister, „die<br />

Steuereinnahmen sprudeln und<br />

wir haben noch etliche Kreditermächtigungen,<br />

die nicht ausgeschöpft<br />

wurden. Das füllt die<br />

Kriegskasse.‚ – „Aber, Kreditermächtigungen<br />

sind doch nichts<br />

anderes als neue Schulden.‚ –<br />

„Falsch, das sind Rücklagen! Die<br />

sind so gut wie bares Geld. Um das<br />

flüssig zu machen, brauchen wir<br />

nicht einmal eine Erlaubnis des<br />

<strong>Landtag</strong>es. Die liegt nämlich schon<br />

vor‚, sagte <strong>Dr</strong>eist und winkte Luigi<br />

an den Tisch. „Noch einen Grappa,<br />

oder wollen sie auch einen, <strong>Lottemann</strong>?<br />

– Gut, dann also zwei.‚<br />

<strong>Lottemann</strong> erinnerte sich an seine<br />

Zeit in der Metropole. Damals war<br />

eine verfassungsrechtliche Schuldenbegrenzung<br />

diskutiert und<br />

seiner Erinnerung nach auch beschlossen<br />

worden. „Was ist denn<br />

mit der Schuldenbremse?‚, fragte<br />

er. „Tja‚, antwortete <strong>Dr</strong>eist, „das ist<br />

ein Problem, aber noch nicht akut.<br />

Jetzt wollen wir erst einmal eine<br />

Wahl gewinnen. Wenn’s klappt,<br />

sehen wir weiter. Und wenn nicht,<br />

dann haben die anderen das Problem.<br />

Und wir können sie dann<br />

wegen ihrer unmenschlichen Sparpolitik<br />

ans Brett nageln, Salute!‚,<br />

erläuterte der Finanzminister die<br />

Strategie.<br />

Nachdem er sein Glas abgestellt<br />

hatte, beugte <strong>Dr</strong>eist sich mit Verschwörermiene<br />

zu <strong>Dr</strong>. <strong>Lottemann</strong><br />

herüber: „Übrigens sind Sie nicht<br />

der einzige mit Finanzierungsbedarf.<br />

Der Harnisch hat ein riesiges<br />

Problem mit seinen illegal beschäftigten<br />

Hilfslehrern an der<br />

Backe.‚ <strong>Dr</strong>. <strong>Lottemann</strong> erinnerte<br />

sich an die Geschichte von Tausenden<br />

pädagogischer Hilfskräfte an<br />

Ganztagsschulen, die über Jahre an<br />

der Sozialversicherung vorbei als<br />

Scheinselbstständige beschäftigt<br />

worden waren. Die Sache war<br />

schon so weit gediehen, dass die<br />

19


Staatsanwaltschaft mit einem<br />

Durchsuchungsbefehl vor dem<br />

Kultusministerium aufgetaucht<br />

war.<br />

„Was glauben Sie, was passiert,<br />

wenn diese Idioten alle vor das<br />

Arbeitsgericht ziehen und auf Festanstellung<br />

klagen?‚, fragte <strong>Dr</strong>eist<br />

und dämpfte seine St<strong>im</strong>me. „Na?<br />

Was wohl? Die gewinnen natürlich!<br />

Und dann kommt Harnisch zu<br />

mir und muss brav bitte, bitte machen.<br />

Ha, das wird ein Spaß! Noch<br />

einen Grappa?‚<br />

Der Kultusminister hatte <strong>Dr</strong>. <strong>Lottemann</strong><br />

bereits Wochen zuvor am<br />

Rande einer <strong>Landtag</strong>ssitzung angesprochen<br />

und um Rat gefragt. „Sie<br />

kennen sich doch aus mit Krisenbewältigung.<br />

Was raten Sie mir?‚ –<br />

„Ermitteln Sie akribisch das Ausmaß,<br />

betreiben Sie eine offensive<br />

Informationspolitik, spielen Sie mit<br />

offenen Karten und – vor allem –<br />

schieben Sie nichts auf die lange<br />

Bank‚, hatte der krisenerfahrene<br />

Landwirtschaftsminister geantwortet<br />

und dafür schallendes Gelächter<br />

von Harnisch geerntet. „Wissen Sie<br />

eigentlich, wie lange dieser Mist<br />

schon läuft? Wissen Sie, wem wir<br />

das zu verdanken haben, wer vor<br />

sieben Jahren sehenden Auges den<br />

Karren in den <strong>Dr</strong>eck gefahren<br />

hat?‚, ereiferte sich der Kultusminister.<br />

In diesem Augenblick<br />

steuerte Justizminister Rudi Butzenmeier<br />

beladen mit einer Cola<br />

und einer Bulette vom Verpflegungsstand<br />

auf ihren Tisch zu,<br />

sah den hochroten Kopf seines<br />

Nach-Nachfolgers und drehte ab.<br />

„Besten Dank auch!‚, rief ihm Harnisch<br />

sarkastisch hinterher.<br />

*<br />

Stanley Oliver Norbert Hals war<br />

ein friedliebender Mensch. Er<br />

konnte keiner Fliege etwas zuleide<br />

tun. Allerdings war der Enddreißiger<br />

mit dem vollen lockigen<br />

Haarschopf mit einem recht stürmischen<br />

Temperament gesegnet.<br />

Wenn man ihn reizte, wusste er<br />

seine enorme Körperlänge und -<br />

masse beeindruckend gepaart mit<br />

einem lauten Organ in Szene zu<br />

setzen. Ließ man ihn in Ruhe, war<br />

er der liebreizendste Koloss, den<br />

man sich denken konnte.<br />

Hals hatte seine einzigartige Vornamenkombination<br />

einerseits<br />

einem filmbegeisterten Vater und<br />

20


andererseits dem alten Herrn seiner<br />

Mutter zu verdanken. Opa<br />

wollte den neuen Kinderwagen für<br />

den Enkel nämlich nur dann spendieren,<br />

wenn der Sprössling auch<br />

seinen Namen erhielt. Im normalen<br />

Leben beschränkte sich Hals – zum<br />

Leidwesen seines <strong>im</strong>mer noch rüstigen<br />

Großvaters – allerdings auf<br />

seinen zweiten Vornamen. Auch<br />

<strong>im</strong> <strong>Landtag</strong>shandbuch wurde der<br />

Parlamentarische Geschäftsführer<br />

der größeren Regierungsfraktion<br />

nur als Oliver Hals geführt.<br />

Er galt als anständiger aber auch<br />

ungeduldiger Chef. Und wenn sich<br />

die <strong>Fraktion</strong>smitarbeiter auf den<br />

Fluren warnen wollten, dass wieder<br />

die Luft brannte, vollführten<br />

sie eine ganz best<strong>im</strong>mte Geste. Die<br />

geöffnete rechte Hand wurde mit<br />

leicht gespreizten Fingern vor dem<br />

Kragen knapp unterhalb des Kinns<br />

gehalten und dabei leicht vor und<br />

zurück bewegt. Gleichzeitig sprach<br />

man gedämpft einen folkloristischen<br />

Begriff aus dem Rheinland<br />

aus: „Son‘ Hals!‚<br />

Oliver Hals genoss es, unter Menschen<br />

zu sein. Er liebte die langen<br />

Skatabende mit guten Freunden an<br />

Kneipentischen. Und offizielle<br />

Empfänge mochten ihm erst so<br />

richtig gefallen, wenn zwei <strong>Dr</strong>ittel<br />

der Gäste gegangen waren und<br />

sich nur noch die geselligsten der<br />

Geselligen an den Stehtischen befanden.<br />

Und wenn es sich ergab<br />

und er sich rundum wohl fühlte,<br />

bot Hals seinem Gesprächspartner<br />

auch gerne einmal das „Du‚ an.<br />

„Ich bin der Olli‚, sagte er dann<br />

und ließ seine rechte Pranke nach<br />

vorne schnellen.<br />

Es gab aber auch Tage, an denen<br />

Hals mit einer latenten Aggressivität<br />

aufwachte, weil er wusste, dass<br />

der Tag eine schwierige Aufgabe<br />

mit sich bringen würde, beispielsweise<br />

die Verteidigung seiner<br />

Schützlinge. Wenn etwa Mitglieder<br />

der Landesregierung oder seiner<br />

<strong>Fraktion</strong> <strong>im</strong> Parlament mit unberechtigter<br />

Kritik und unverschämten<br />

Schmähungen belegt<br />

wurden, dann nahm er sie mit aller<br />

Konsequenz und ohne Rücksicht<br />

auf eigene Nachteile in Schutz.<br />

Heute war so ein Tag. An diesem<br />

Tag wollte Ministerpräsident Dominik<br />

Gordon seine Jahrestags-<br />

Regierungserklärung halten. Und<br />

er, Oliver Hals, würde es nicht<br />

zulassen, dass dem Regierungs-<br />

21


chef, dem „MP‚, dem Zugpferd<br />

irgendetwas schaden könnte. Der<br />

Plenarsaal sollte Gordons Schutzraum<br />

sein. Dafür wollte Hals sorgen.<br />

Vor der Sitzung <strong>im</strong> Plenarsaal traf<br />

er mit Boris Waal, seinem <strong>Fraktion</strong>svorsitzenden<br />

zusammen. Bei<br />

aller äußerlichen Ähnlichkeit (auch<br />

Waal hatte einen breiten Rücken)<br />

war dieser ansonsten das genaue<br />

Gegenteil. Brauste Hals auf, blieb<br />

Waal ruhig. Schlug Hals mit der<br />

Faust auf den Tisch und machte<br />

zornige Zwischenrufe, saß Waal<br />

gelassen auf seinem Stuhl. Er hatte<br />

von sich selber das Bild des souveränen,<br />

staatstragenden Parlamentariers,<br />

der über den Querelen steht,<br />

stets korrekt bleibt und es sich<br />

dann, wenn er es tut, auch moralisch<br />

leisten kann, dem politischen<br />

Gegner den blanken Zeigefinger zu<br />

zeigen. Das hatte ihm vom politischen<br />

Gegner hässliche Spitznamen<br />

eingebracht, in denen Plüschbären<br />

und Beruhigungsmittel eine Rolle<br />

spielten. Aber, das focht Boris Waal<br />

nicht an.<br />

„Was meinst Du, bleibt es heute<br />

ruhig‚, fragte Waal seinen engsten<br />

Mitarbeiter Hals. „Die sollen es nur<br />

versuchen. Diesen Tag lassen wir<br />

uns nicht kaputt machen‚, raunzte<br />

ein finster dreinblickender Geschäftsführer,<br />

den politischen Gegner<br />

<strong>im</strong>mer <strong>im</strong> Blick. „Hast Du gesehen?<br />

Die Fernsehkameras sind<br />

wieder nicht auf uns gerichtet‚,<br />

bemerkte Waal be<strong>im</strong> Blick auf die<br />

Pressetribüne. Ein drahtiger kleiner<br />

Abgeordneter mit randloser Brille<br />

spritzte von hinten heran und<br />

krähte Waal zu: „Ich habe einen<br />

Verdacht.‚ Der <strong>Fraktion</strong>svorsitzende<br />

drehte nicht einmal<br />

den Kopf.<br />

Noch zwei Minuten bis zum Beginn<br />

der Sitzung. <strong>Landtag</strong>spräsident<br />

Heinrich Dongel, eine<br />

hagere, Respekt einflößende Gestalt<br />

mit grauen Schläfen, betrat<br />

den Saal, schüttelte Hände links<br />

und rechts und steuerte auf den<br />

Präsidentenplatz zu.<br />

Noch eine Minute: Die Reihen der<br />

Abgeordneten füllten sich. Auch<br />

die Minister nahmen Platz. Mit<br />

Zeichensprache wurden die ersten<br />

Verabredungen zwischen Politikern<br />

und den auf der Pressetribüne<br />

sitzenden Journalisten abgemacht.<br />

Auf der Zuschauertribüne drängte<br />

22


sich eine Schulklasse vorbei an<br />

einem Kegelklub zu ihren Plätzen.<br />

Die Sitzung begann: Präsident<br />

Dongel räusperte sich, setzte seine<br />

Brille zurecht, nahm sein Manuskript<br />

zur Hand, las sich die ersten<br />

Worte noch einmal still vor, schaute<br />

dann nach vorne, zählte leise bis<br />

fünf und begann: „Meine Damen<br />

und Herren! Ich eröffne die 111.<br />

Sitzung <strong>im</strong> 36. Tagungsabschnitt<br />

der 16. Wahlperiode des <strong>Landtag</strong>es…‚<br />

*<br />

Ministerpräsident Dominik Gordon<br />

stand in seinem Raum hinter<br />

der Regierungsbank. Vor ihm die<br />

Tür zum Plenarsaal. In wenigen<br />

Augenblicken würde er seine Jahrestags-Regierungserklärung<br />

halten.<br />

Vor einem Jahr hatte er seine<br />

erste Regierungserklärung „Verantwortung<br />

braucht Mut‚ genannt.<br />

Nach langem Grübeln hatte er als<br />

Titel seines heutigen Vortrags<br />

„Mutig Verantwortung gezeigt‚<br />

ausgewählt.<br />

Es war ein tolles Jahr: Er hatte ja<br />

schon vorher viel gesehen. Aber in<br />

den vergangenen zwölf Monaten<br />

war er in Afrika gewesen und in<br />

Indien. Was ihn am meisten erstaunte<br />

war, dass die Leute dort<br />

exakt dieselben Autos fuhren, wie<br />

in der Landeshauptstadt. Und<br />

dann war er in den Bergen und am<br />

Meer und er hat viele neue Menschen<br />

kennengelernt und zahllose<br />

Spielmannszüge und Blaskapellen.<br />

Und er hat wichtige Politik gemacht<br />

für das Land.<br />

Toll war auch die Reise nach<br />

Schottland. Eigentlich wollte er<br />

seinem Clanchef, dem Marquess<br />

von Huntly, seine Aufwartung<br />

machen. Doch als der gar nicht da<br />

war und sich Huntly Castle zur<br />

Überraschung aller auch noch als<br />

Ruine herausstellte, ist man mit<br />

großem Hallo nach Edinburgh<br />

zurück gefahren, und der nette<br />

Reporter vom Fernsehteam hatte<br />

auch noch die Hamburger bezahlt.<br />

Und er hat wichtige Politik gemacht<br />

für das Land. Das heißt,<br />

seine Minister habe tolle Politik<br />

gemacht.<br />

Auf Finanzminister <strong>Dr</strong>eist und<br />

Innenminister Ambizioso konnte er<br />

sich hundertprozentig verlassen.<br />

Und sein Kultusminister und alter<br />

Freund Hartmut Harnisch hatte<br />

23


wie versprochen den Schulstreit<br />

beendet. Besonders stolz war er<br />

darauf, dass er in der Kleinwald-<br />

Sache so schnell gehandelt hatte.<br />

Schon nach einem halben Jahr hatte<br />

er die Dame aus dem Weg geräumt.<br />

Und mit Hinrich <strong>Lottemann</strong><br />

hatte er wirklich einen unendlichen<br />

Glücksgriff getan.<br />

Mit größter Genugtuung erfüllte<br />

Dominik Gordon allerdings sein<br />

Coup bei der Energiepolitik. Es<br />

war ihm gelungen, dass ganz viele<br />

Menschen <strong>im</strong> Land glaubten, er<br />

alleine hätte in einem über viele<br />

Jahre geführten zähen Ringen das<br />

Ende der Nuklearanlagen herbeigeführt.<br />

„Und so war es ja auch –<br />

mehr oder weniger‚, rief er sich<br />

selber zu. Gleich würde er seine<br />

Rede halten. Der Parlamentspräsident<br />

saß schon auf seinem<br />

Platz. Jetzt war es Zeit. Sein Auftritt!<br />

Gordon freute sich auf den<br />

Applaus.<br />

* * *<br />

„Kabinettsmitglied <strong>Dr</strong>. <strong>Lottemann</strong> – Nikki Gordons erstes Jahr“ ist eine politische Satire der <strong>SPD</strong>-<strong>Fraktion</strong> <strong>im</strong> <strong>Niedersächsischen</strong><br />

<strong>Landtag</strong>, Hinrich-Wilhelm-Kopf-Platz 1, 30159 Hannover. Verantwortlich: <strong>Dr</strong>. Cornelius Schley, Redaktion:<br />

Olaf Reichert. Diese Publikation darf nicht für Wahlkampfzwecke verwendet werden.<br />

Alle Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und realen Handlungen sind gewollt. In diesem Text widergegebene Dialoge<br />

sind gleichwohl reine Fiktion und entspringen der Fantasie des Autors.<br />

Titel: Anette Gilke, Text: Olaf Reichert, Eigendruck der <strong>SPD</strong>-<strong>Landtag</strong>sfraktion, Hannover <strong>im</strong> Juni 2011.<br />

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IMPRESSUM<br />

Herausgeber <strong>SPD</strong>-<strong>Fraktion</strong> <strong>im</strong> <strong>Niedersächsischen</strong> <strong>Landtag</strong><br />

Hinrich-Wilhelm-Kopf-Platz 1<br />

30159 Hannover<br />

www.spd-landtag-nds.de<br />

V.i.S.d.P. <strong>Dr</strong>. Cornelius Schley

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