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Die Schachnovelle, Text - Scelva

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I. _________________________________________________<br />

Auf dem grossen Passagierdampfer, der um Mitternacht von New York nach Buenos Aires abgehen<br />

sollte, herrschte 1 die übliche Geschäftigkeit 2 vor der Abfahrt. Viele Leute standen herum, Namen wurden<br />

gerufen, Koffer wurden getragen, Kinder liefen neugierig auf dem Schiff herum, während das Orchester<br />

spielte.<br />

Ich stand mit einem Freund im Gespräch, als ich neben uns einen Mann sah, der von Reportern<br />

fotografiert und interviewt wurde.<br />

Mein Freund lächelte und sagte:”Wir haben einen Prominenten an Bord, den Czentovic.”<br />

“Wer ist das?” fragte ich.<br />

“Mirko Czentovic, der Schachweltmeister. Er hat in ganz Amerika Schach gespielt und überall<br />

gewonnen. Jetzt fährt er zu neuen Triumphen nach Argentinien.”<br />

Und jetzt erinnerte ich mich an diesen jungen Weltmeister und an seine Karriere. Mein Freund, ein<br />

aufmerksamerer 3 Zeitungsleser als ich, konnte mir einige Anekdoten über Mirko Czentovics Leben<br />

erzählen.<br />

“Man sagt, dass er keinen Satz ohne orthographische Fehler schreiben kann und völlig ungebildet 4 ist.<br />

Der Sohn eines armen Bauern war nach dem Tod seines Vaters als 12 jähriger von einem Priester des<br />

Dorfes aufgenommen worden. Der Priester versuchte, mit einigen Nachhilfestunden, dem ungebildeten,<br />

rückständigen 5 Kind zu helfen. Aber alle Anstrengungen waren vergeblich 6 . Mirko sah jedes<br />

geschriebene Wort immer wieder wie fremd an. Wenn er rechnen sollte, musste er auch im Alter von 14<br />

Jahren noch seine Finger zu Hilfe nehmen. Ein Buch oder eine Zeitung waren für ihn unverständlich 7 . Er<br />

machte nichts, ohne dass man ihn dazu aufforderte. Er stellte nie eine Frage, spielte nie mit anderen<br />

Kindern und saß, wenn er nichts zu tun hatte, nur alleine herum mit jenem leeren 8 Blick, wie ihn die<br />

Schafe 9 haben. Wenn der Priester mit dem Gendarmen abends seine Schachpartie spielte, saß er dumm<br />

daneben und starrte 10 schläfrig und gleichgültig 11 auf das karierte Brett.<br />

Eines Abends im Winter, während der Priester und der Gendarm ihre tägliche Schachpartie spielten, kam<br />

ein Bauer und klingelte an der Tür.<br />

Seine alte Mutter läge im Sterben und der Priester solle bitte kommen, um ihr die letzte Ölung 12 zu geben.<br />

Ohne zu Zögern folgte der Priester dem Bauern. Der Gendarm blieb noch.<br />

1 herrschen = régner<br />

2 die Geschäftigkeit, -en = l’activité, l’empressement<br />

3 aufmerksam = attentif<br />

4 ungebildet ≠ gebildet = inculte<br />

5 rückständig = arriéré<br />

6 vergeblich = vain<br />

7 unverständlich = incompréhensible<br />

8 leer ≠ voll = vide<br />

9 das Schaf, -e = le mouton<br />

10 starren = regarder fixement<br />

11 gleichgültig = indifférent<br />

12 die letzte Ölung geben = l’extrême-onction<br />

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Da er sein Bier noch nicht ausgetrunken hatte, zündete er sich eine neue Pfeife an.<br />

Er sah, dass Mirko das Schachbrett anstarrte.<br />

“Willst du die Partie zu Ende spielen?”, fragte er, völlig überzeugt 1 , dass der Junge keine einzige Figur<br />

richtig bewegen konnte.<br />

Der Junge nickte nur kurz und setzte sich auf den Platz des Priesters. Nach vierzehn Zügen war der<br />

Gendarm geschlagen. Schnell spielten sie eine zweite Partei und wieder verlor der Gendarm.<br />

Als der Priester zurückkam, erzählte ihm der Gendarm, was passiert war. Auch der Priester, der sofort<br />

dieses Wunder sehen wollte, spielte mit Mirko und auch er wurde von dem Jungen geschlagen.<br />

In den folgenden Tagen konnte weder der Priester noch der Gendarm eine Partie gegen Mirko gewinnen.<br />

Sie entschlossen 2 sich, in die Stadt zu fahren und Mirko dort im Schachklub spielen zu lassen. Auch im<br />

Schachklub gewann Mirko jede Partie gegen die Mitglieder des Klubs. Ein solches Wunder hatte man in<br />

dieser kleinen Provinzstadt noch nicht gesehen. Man entschloss sich, den Jungen nach Wien zu schicken<br />

und dort von einem bekannten Meister in der Schachkunst ausbilden zu lassen. Ein reicher Graf, Graf<br />

Simczic, der noch nie einen so seltsamen 3 Gegner erlebt hatte, wollte die Ausbildung 4 bezahlen.<br />

An diesem Tag begann die Karriere dieses armen Bauernsohnes.<br />

Er kam nach Wien und schon nach einem halben Jahr kannte Mirko alle Geheimnisse des Schachspiels,<br />

jedoch mit einer Einschränkung 5 . Mirko Czentovic konnte keine einzige Partie auswendig 6 - oder wie<br />

man auch sagt: blind – spielen. Er musste immer ein schwarzweißes Schachbrett mit den vierundsechzig<br />

Figuren vor sich haben. Er konnte sich das Spiel nicht vorstellen.<br />

Aber das konnte seine Karriere nicht verhindern.<br />

Mit 17 Jahren hatte Mirko schon ein Dutzend Schachpreise gewonnen, mit 18 die ungarische<br />

Meisterschaft und mit 20 endlich die Weltmeisterschaft gewonnen.<br />

Wenn Czentovic nicht vor seinem Schachbrett saß, wurde er zu einer grotesken und fast komischen Figur<br />

ohne intellektuelle Fähigkeiten, ohne Eleganz. Er blieb immer der langsame, schwerfällige 7 Bauernjunge.<br />

Mirko Czentovic dachte nur an eines. Gewinnen und viel Geld verdienen. Deshalb spielte er auf jedem<br />

Turnier, wenn er dafür Geld bekam. Ihm fehlte jeder Sinn fürs Lächerliche. Seit seinem Sieg bei der<br />

Weltmeisterschaft hielt er sich für den wichtigsten Mann der Welt und er war stolz, beim Schachspiel<br />

besser zu sein als die anderen, die doch viel gebildeter waren als er. Und diesen Stolz zeigte er, eitel 8 und<br />

dumm.”<br />

1 überzeugt = convaincu<br />

2 sich entschließen zu (ie, o, o) = se décider<br />

3 seltsam = étrange<br />

4 die Ausbildung, -en = la formation<br />

5 die Einschränkung, -en = l’exception<br />

6 auswendig = par cœur<br />

7 schwerfällig = lourd<br />

8 eitel = vaniteux, suffisant<br />

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II. _________________________________________________<br />

<strong>Die</strong>se Informationen meines Freundes interessierten mich und hatten mich neugierig gemacht. Ich wollte<br />

mir während der Reise nach Rio diesen Czentovic ganz genau betrachten. Ich wollte ihn kennenlernen.<br />

Aber es gelang 1 mir nicht. Nach drei Tagen hatte ich immer noch kein Wort mit ihm gesprochen. Das<br />

ärgerte mich. Deshalb wollte ich ihm eine Falle 2 stellen. Ich kannte die Anziehungskraft 3 des<br />

Schachspiels auf Schachspieler. Deshalb setzte ich mich in den Salon und wartete, bis ich einen<br />

Spielpartner fand. Schliesslich fand ich den gewünschten Partner. Er hiess McConnor und war ein<br />

schottischer Ingenieur, der bei Ölbohrungen in Kalifornien reich geworden war. Er war ein grosser Mann<br />

mit einer rosigen Gesichtsfarbe. McConnor gehörte zu jener Sorte Erfolgsmensch, die keine Niederlage 4<br />

ertragen können und als Attacke auf ihre Persönlichkeit ansehen. Kritik war eine Beleidigung und ein<br />

Angriff auf die Würde.<br />

Obwohl ich kein guter Schachspieler bin, gewann ich die erste Partie. McConnor ärgerte sich und sagte,<br />

dass könne nur durch eine momentane Unaufmerksamkeit erklärt werden. Nach der dritten Niederlage<br />

sagte er, dass der Lärm im Nachbarraum nicht gut für seine Konzentration sei.<br />

Nie konnte er eine Partie verlieren, ohne Revanche zu fordern.<br />

Am dritten Tag gelang mir, was ich eigentlich mit diesen Schachpartien erreichen wollte. Czentovic kam<br />

näher und sah sich unser Spiel an. McConnor war am Zug. Czentovic sah den Zug, lächelte arrogant und<br />

verliess den Saal.<br />

“Ihr Zug scheint dem Meister nicht gefallen zu haben!”<br />

“Welchem Meister,”<br />

Ich erklärte ihm, dass sich der Schachweltmeister an Bord befinde, aber wahrscheinlich nicht am Spiel<br />

armer Leute interessiert sei. Meine Worte zeigten Wirkung 5 . Sofort war McConnor interessiert. Er habe<br />

noch nie gegen einen Schachweltmeister gespielt. Ob ich den Schachweltmeister persönlich kenne, ob ich<br />

ihn nicht fragen wolle, ob er gegen uns spielen wolle.<br />

Ich lehnte ab und sagte, dass Czentovic bestimmt nicht gegen drittklassige Spieler wie wir spielen wolle.<br />

Das wollte McConnor nicht hören. Sofort stand er auf und lief Czentovic nach.<br />

Ich wartete gespannt. Nach 10 Minuten kam McConnor zurück.<br />

“Nun?” fragte ich;<br />

“Sie haben recht gehabt”, antwortete er. “Kein sehr angenehmer Herr. Er hat mir nicht einmal die Hand<br />

gegeben. Als ich ihn fragte, ob er gegen uns spielen wolle, sagte er, dass er niemals ohne Honorar spielen<br />

würde. Sein Minimum sei zweihundert Dollar pro Partie.”<br />

Ich lachte. “Das ist wirklich ein bisschen teuer. Sie haben hoffentlich höflich abgelehnt.”<br />

1 gelingen (i, a, u) = réussir<br />

2 eine Falle stellen = tendre un piège<br />

3 die Anziehungskraft, ¨e = la force d’attraction<br />

4 die Niederlage, -n = la défaite<br />

5 Wirkung zeigen = produire de l’effet sur qc<br />

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McConnor blieb ernst.”<strong>Die</strong> Partie findet morgen Nachmittag um 3 Uhr statt.”<br />

Am nächsten Tag waren wir, McConnor einige andere Personen und ich, um 3 Uhr im Raucherzimmer.<br />

McConnor war sehr nervös und rauchte eine Zigarre nach der anderen. Czernovic liess uns warten. 10<br />

Minuten später kam er. Ruhig und gelassen kam er zu uns.<br />

“Da hier nicht genug Platz ist, um eine Simultanpartie zu spielen, schlage ich vor, dass sie alle zusammen<br />

gegen mich spielen! Jeder hat 10 Minuten Zeit für den Zug.”<br />

Wir waren natürlich mit seinen Anweisungen 1 einverstanden. Wir machten unseren Zug und Czernovic<br />

machte noch im Stehen seinen Gegenzug.<br />

Es hat wenig Sinn, über dieses Spiel zu berichten. Es endete wie es enden musste: Mit unserer totalen<br />

Niederlage. Czernovic blickte jedes mal nur kurz aufs Brett, machte seinen Zug und ging dann in seine<br />

Ecke, wo er darauf wartete, dass wir ihn riefen, um seinen Zug zu machen. Er sagte kein Wort und blickte<br />

uns nur herablassend 2 an.<br />

Auch am Ende der Partie sagte er nichts. Er sagte nur “Matt.”<br />

“Revanche!” rief McConnor. Er war rot im Gesicht und er schwitzte 3 . Man sah seine Nervosität.<br />

Ich begriff, dass dieser Fanatische so lange spielen und spielen und spielen würde, bis er wenigstens ein<br />

einziges Mal gegen den Schachweltmeister gewinnen würde. Und würde es sein Vermögen 4 kosten.<br />

Czernovic blieb ruhig. “Bitte”, antwortete er.<br />

Auch die zweite Partie verlief nicht anders. Über jeden Zug wurde von uns lange diskutiert und Czernovic<br />

sah nur kurz auf das Brett, um seinen Zug zu machen.<br />

III. _________________________________________________<br />

Wir waren beim siebzehnten Zug und glaubten, in einer für uns sehr positiven Konstellation zu sein, weil<br />

wir es geschafft hatten, den Bauern der C-Linie bis auf das vorletzte Feld C2 zu bringen. Wir mussten ihn<br />

nur auf C1 setzen, um eine neue Dame zu bekommen. Gerade wollte McConnor nach langer Diskussion<br />

den Zug ausführen, als er plötzlich am Arm festgehalten wurde und eine Person leise flüsterte 5 :”Um<br />

Gottes willen! Nicht!”<br />

Erschrocken drehten wir uns alle um. Es war ein Mann von etwa 45 Jahren, den ich schon vorher auf dem<br />

Schiff gesehen hatte.<br />

Schnell sagte er noch: “Wenn Sie jetzt eine neue Dame bekommen, schlägt er sie sofort mit seinem<br />

Läufer C1. Sie nehmen den Springer zurück, aber er nimmt einen Bauern und bedroht ihren Turm. In<br />

neun bis zehn Zügen haben sie die Partie verloren. Es ist fast dieselbe Partie wie Aljechin gegen<br />

Bogoljubow auf dem Turnier im Jahre 1922. Vielleicht können wir noch ein Remis schaffen.”<br />

1 die Anweisung, -en = l’ordre<br />

2 herablassend = arrogant, dédaigneux<br />

3 schwitzen = transpirer<br />

4 das Vermögen = la fortune<br />

5 flüstern = chuchoter<br />

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Mc Connor ließ erstaunt die Finger von der Figur und starrte auf diesen Mann.<br />

Wer war dieser Mann, der auf neun Züge im voraus 1 ein Matt berechnen konnte? Es musste ein Spezialist<br />

sein.<br />

“Was würden Sie machen?”, fragte McConnor.<br />

Der Fremde sagte ihm, was er machen sollte.<br />

“Also den König von G8 auf H7?”, fragte McConnor.<br />

“Ja! Vor allem müssen Sie ausweichen 2 .”<br />

Mc Connor machte den Zug und wir riefen Czentovic. Er kam, blickte kurz auf das Brett und machte<br />

seinen Zug. Genau wie der Fremde es gesagt hatte.<br />

Aufgeregt 3 flüsterte dieser:”Den Turm von C8 auf C4!”<br />

Czentovic kam zurück. Zum erstenmal machte er seinen Zug nicht sofort, sondern blickte lange auf das<br />

Spiel. Dann machte er genau den Zug, den der Fremde uns angekündigt hatte und wollte gehen. Es<br />

geschah jedoch etwas Neues und Unerwartetes!<br />

Bevor er in seine Ecke ging, hob Czentovic den Blick und sah uns alle an. Er wollte bestimmt<br />

herausfinden, wer von uns mit einem Mal Widerstand leistete 4 .<br />

Wir waren alle nervös.<br />

Der Fremde hatte schon den nächsten Zug gesagt und wir konnten sofort Czentovic zurückrufen. Und nun<br />

kam unser erster Triumph! Czentovic, der bisher immer sofort im Stehen seinen Zug machte, zögerte 5 . Er<br />

zögerte und setzte sich schließlich auf einen Stuhl. Er sah uns nicht mehr von oben herab an, sondern war<br />

mit uns auf einer Ebene.<br />

Er überlegte lange, sehr lange. Dann machte er seinen Zug.<br />

“Nicht schlecht!”, flüsterte der Fremde ”Aber nicht gut genug. Wir bekommen unser Remis!”McConnor<br />

machte den nächsten Zug.<br />

<strong>Die</strong> Zeit verging beim Spiel.<br />

Nach etwa 7 Zügen sah Czentovic uns nach langem Nachdenken an und sagte:”Remis!”<br />

Es herrschte totale Stille. Man hörte den Wind und das Meer rauschen. Keiner von uns atmete.<br />

McConnor lehnte sich zurück und sagte:”Ah!”<br />

Ich beobachtete Czentovic. Mir schien zwar, als ob er blässer 6 geworden sei, aber sonst blieb er völlig<br />

ruhig.<br />

“Wünschen die Herren noch eine dritte Partie?”, fragte er, während er die Figuren mit der Hand vom<br />

Brett schob.<br />

1 im voraus = d’avance, à l’avance<br />

2 ausweichen = esquiver un coup<br />

3 aufgeregt = excité<br />

4 Widerstand leisten = résister<br />

5 zögern = hésiter<br />

6 blass = pâle<br />

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“Selbstverständlich!”, rief McConnor. “Aber jetzt müssen Sie allein gegen Czentovic spielen!”<br />

Er zeigte auf den Fremden.<br />

Doch nun ereignete sich etwas Seltsames. Der Fremde, der immer noch auf das Schachbrett starrte,<br />

erschrak.<br />

Er stotterte:“Auf keinen Fall! Das ist völlig ausgeschlossen....ich habe seit zwanzig, nein, fünfundzwanzig<br />

Jahren vor keinem Schachbrett gesessen...Bitte entschuldigen Sie, dass ich mich eingemischt 1 habe.”<br />

Und er ging aus dem Saal, um in seiner Kabine zu verschwinden.<br />

“Das ist doch nicht möglich!”, rief McConnor. “Unmöglich, dass dieser Mann seit 25 Jahren kein Schach<br />

mehr gespielt hat. Völlig unmöglich!”<br />

McConnor sah dabei Czentovic an. Der Weltmeister sagte nur:”Ich kann Ihnen dazu nichts sagen. Ich<br />

finde, dass der Mann seltsam gespielt hat. Deshalb habe ich ihm eine Chance gegeben. Wenn Sie oder der<br />

Herr Lust haben, können wir morgen einen neue Partie spielen.”<br />

Wir mussten alle lächeln, denn jeder von uns wusste, dass Czentovic unserem Helfer nicht großzügig eine<br />

Chance gelassen hatte. Es war einfach nur eine dumme Ausrede 2 .<br />

Wir beschlossen, alles zu versuchen, damit unser Helfer eine neue Partie gegen den Weltmeister spielt.<br />

Da der Schiffssteward uns gesagt hatte, dass der Unbekannte Österreicher war, wie ich auch, sollte ich ihn<br />

dazu überreden 3 , noch ein Spiel gegen Czentovic zu spielen.<br />

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IV. __________________________________________________________<br />

Ich brauchte nicht lange, um ihn auf dem Schiff zu finden. Er lag auf einem Deckchair und las. Ich<br />

betrachtete ihn und hatte den Eindruck, dass dieser Mann plötzlich gealtert war.<br />

Als ich zu ihm kam, stand er auf und stellte sich mir mit seinem Namen vor. Ich kannte diesen Namen. Es<br />

war eine hochangesehene 4 altösterreichische Familie.<br />

Als ich Dr. B. unsere Bitte mitteilte, war er verblüfft 5 . Er hatte nicht gewusst, dass er gegen den<br />

Schachweltmeister gespielt hatte.<br />

Nach langem Zögern erklärte er sich schließlich zu einer neuen Partie bereit.<br />

Aber er erklärte, dass wir uns keine zu großen Hoffnungen machen sollten. “Ich weiß wirklich nicht, ob<br />

ich eine Partie nach allen Regeln spielen kann. Ich habe wirklich seit meiner Gymnasialzeit, also seit<br />

mehr als 20 Jahren, keine Schachfigur mehr berührt. Und selbst zu der Zeit war ich nur ein sehr<br />

mittelmäßer 6 Schüler.”<br />

1 sich einmischen = se mêler de qc<br />

2 die Ausrede, -n = une excuse<br />

3 jem zu etw. überreden = persuader<br />

4 hochangesehen = estimé, renommé<br />

5 verblüfft = ahuri, épaté<br />

6 mittelmäßig = médiocre<br />

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“Aber sie haben sich theoretisch viel mit Schach beschäftigt, sonst hätten Sie sich nicht an die<br />

Kombinationen der einzelnen Meister erinnern können, oder?!”<br />

“Viel beschäftigt! – Weiß Gott, dass kann man sagen, dass ich mich mit Schach viel beschäftigt habe.<br />

Aber nicht so wie Sie es sich denken! Wenn Sie eine halbe Stunde Zeit haben......”<br />

Gerne nahm ich seine Einladung an.<br />

“Sie haben mir gesagt, dass Sie den Namen meiner Familie kennen, aber ich vermute, dass Sie nicht von<br />

der Anwaltskanzlei 1 gehört haben, die ich mit meinem Vater leitete. Wir waren eine Anwaltskanzlei, die<br />

das Vermögen der großen Klöster und der ehemaligen kaiserlichen Familie verwalteten 2 . <strong>Die</strong>se Arbeit<br />

erforderte höchste Diskretion, so dass man nicht sehr viel über uns in der Öffentlichkeit 3 erfuhr.<br />

Als dann Hitler in Deutschland an die Macht kam und die Kirchen und Klöster 4 bedrohte und ihren Besitz<br />

beschlagnahmen 5 wollte, gingen viele Transaktionen durch unsere Hände, um den Besitz 6 zu retten.<br />

<strong>Die</strong>ses Arbeit geschah durch geheime Kuriere, die bei uns ein und aus gingen.<br />

Nun hatten die Nationalsozialisten schon in jedem Betrieb 7 ihre eigenen geheimen Zellen und überall<br />

saßen ihre Spione. Auch in unserer Kanzlei war einer ihrer Spione. Obwohl wir sehr vorsichtig waren,<br />

konnte dieser Spion Informationen über uns sammeln und an die Gestapo übermitteln.<br />

Noch an dem Abend des Tages, an dem die Nazis in Österreich einmarschierten (12.3.1938), kamen SS-<br />

Leute zu mir, um mich zu verhaften 8 . Zum Glück konnte ich noch die wichtigsten Papiere verbrennen,<br />

bevor die SS zu mir kam.”<br />

Dr B. machte eine Pause, um sich eine Zigarre anzuzünden.<br />

“Sie denken jetzt wahrscheinlich, dass ich Ihnen jetzt vom Konzentrationslager erzählen werde, aber dies<br />

geschah nicht. Ich kam in eine andere Kategorie. <strong>Die</strong> Nazis hofften, von mir wichtige Informationen zu<br />

bekommen, um zu wissen, wo das Vermögen der Klöster war. Sie holten mich gleich am ersten Tag. Ich<br />

kam in das Hotel Metropol, das Hauptquartier der Gestapo, wo ich ein Zimmer bekam.<br />

Ein eigenes Zimmer in einem Hotel - das hört sich doch sehr human an, oder?! Aber es war keine humane<br />

Methode. Man wollte mich nicht körperlich misshandeln 9 . Ich sollte durch Isolation gefoltert 10 werden.<br />

Man tat mir nichts – man stellte mich nur in das absolute Nichts. Statt von aussen durch Prügel 11 und<br />

Kälte, sollte von innen Druck erzeugt 12 werden.<br />

1 der Anwalt, ¨e = l’avocat, notaire<br />

2 verwalten = gérer<br />

3 die Öffentlichkeit = le public<br />

4 das Kloster, ¨ = le monastère<br />

5 beschlagnahmen = confisquer<br />

6 der Besitz = das Vermögen<br />

7 der Betrieb, -e = l’entreprise<br />

8 verhaften = arrêter<br />

9 misshandeln = maltraiter<br />

10 foltern = torturer<br />

11 die Prügel = des coups de bâton<br />

12 Druck erzeugen = exercer une pression<br />

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Das Zimmer war einfach. Es hatte eine Tür, ein Bett, einen Sessel, eine Waschschüssel und ein<br />

vergittertes 1 Fenster. <strong>Die</strong> Tür blieb Tag und Nacht verschlossen.<br />

Auf dem Tisch durfte kein Buch, keine Zeitung, kein Blatt Papier, kein Bleistift liegen.<br />

Gegenüber dem Fenster sah man nur auf eine andere Mauer. Man hatte mir alles genommen, die Uhr, das<br />

Messer, den Bleistift. Nichts blieb mir, nichts! Ich sah kein menschliches Gesicht. Nie hörte ich eine<br />

menschliche Stimme. Ich blieb nur mit mir allein in dem absoluten Nichts. Es gab nichts zu tun, nichts zu<br />

hören, nichts zu sehen. Nichts. Man wartete und wartete, aber es geschah nichts.<br />

Man wartete, wartete, wartete, man dachte, dachte, dachte, bis der Kopf weh tat. Nichts geschah. Man<br />

blieb allein. Allein. Allein.<br />

Das dauerte vierzehn Tage, die ich ausserhalb 2 der Zeit, ausserhalb der Welt lebte. Wäre damals ein Krieg<br />

ausgebrochen, ich hätte es nicht erfahren.<br />

Meine Welt bestand nur aus Tisch, Tür, Bett, Waschschüssel, Sessel, Fenster und Wand und immer<br />

starrte ich auf dieselbe Tapete. Ich kannte ihr Muster ganz genau.<br />

Dann begannen die Verhöre 3 . Man wurde plötzlich gerufen, ohne zu wissen, ob es Tag oder Nacht war.<br />

Man wurde gerufen und durch einige Gänge geführt. Dann wartete man und stand plötzlich vor einem<br />

Tisch, an dem einige uniformierte Leute saßen und dann begannen die Fragen. Mit welchen Banken ich<br />

korrespondierte, ob ich einen Herrn X kenne oder nicht. Das Schlimmste bei diesen Verhören war, dass<br />

ich nicht wusste, was die Leute von der Gestapo schon wussten. Deshalb wurde jede Antwort zu einer<br />

großen Verantwortung. Wenn ich ich etwas zugab, was sie noch nicht wussten, lieferte ich ihnen<br />

vielleicht jemanden ans Messer. Sagte ich nichts, schadete 4 ich mir selbst<br />

Aber das Verhör war noch nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war das Zurückkommen in mein<br />

Nichts, in dasselbe Zimmer, mit demselben Bett, derselben Waschschüssel, derselben Tapete. Ich war<br />

wieder allein mit mir und meinen Gedanken und rekapitulierte das Verhör, überlegte, ob ich einen Fehler<br />

gemacht hatte und vielleicht eine Person verraten 5 hatte.<br />

Nach jedem Verhör kam die Folter der Einsamkeit 6 und die Folter des Fragens. Und um mich herum nur<br />

der Tisch, das Bett, die Tapete, das Fenster. Kein Buch, keine Ablenkung 7 , keine Zeitung, kein fremdes<br />

Gesicht, kein Streichholz, um damit zu spielen. Nichts, nichts, nichts!<br />

Jetzt verstand ich, wie teuflisch, wie psychologisch diese Folter war. In einem Konzentrationslager hätte<br />

man schwer arbeiten müssen, bis einem die Hände bluteten, aber man hätte Gesichter gesehen, man hätte<br />

Bäume oder Sterne gesehen. Aber hier war es immer dasselbe.<br />

1 vergittert = barré<br />

2 ausserhalb = en dehors de<br />

3 das Verhör, e = l’interrogatoire<br />

4 schaden = nuire<br />

5 verraten = trahir<br />

6 die Einsamkeit = la solitude<br />

7 die Ablenkung, -en = la distraction<br />

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Hier war nichts, was mich ablenken konnte von meinen Gedanken, von meinem krankhaften<br />

Rekapitulieren. Und gerade das wollten sie.<br />

Ich sollte an meiner Einsamkeit und meinen Gedanken leiden, bis ich alles sagen würde und andere<br />

Menschen verraten würde. ...<br />

V. _____________________________________<br />

<strong>Die</strong>ser Zustand dauerte vier Monate. Keinem kann man erklären, wie es einen zerfrisst 1 und zerstört,<br />

dieses Nichts und Nichts und Nichts um einen, dieses immer nur Tisch und Bett und Waschschüssel und<br />

Tapete und das Schweigen und immer dieselben Gedanken. Ich spürte, wie meine Kraft nachließ. Ich<br />

spürte, immer näher kam der Augenblick, wo ich, um mich zu retten, alles sagen würde.<br />

In dieser äußersten Not ereignete sich nun etwas Unvorhergesehenes, was Rettung bot.<br />

Es war Ende Juli. Im Vorzimmer des Untersuchungsrichters musste ich warten. Auch dieses Warten<br />

gehörte zur Technik. Man ließ mich besonders lange warten. Zwei Stunden wartete ich schon stehend und<br />

sah mir das Zimmer genau an.<br />

Plötzlich blieb mein Blick starr an etwas haften. Ich hatte entdeckt, dass an einem der Mäntel die<br />

Seitentasche etwas aufgebauscht 2 war. Ich trat näher heran und glaubtean der rechteckigen Form der<br />

Ausbuchtung 3 zu erkennen, was diese tasche in sich bar: ein Buch! Mir begannen die Knie zu zittern: ein<br />

BUCH! Vier Monate lang hatte ich kein Buch in der Hand gehabt, und schon die bloße Vorstellung eines<br />

Buches, in dem man aneinander gereihte Worte sehen konnte, Zeilen, Seiten, Blätter eines Buches, aus<br />

dem man andere, neue, fremde, ablenkende 4 Gedanken lesen, verfolgen, sich ins Hirn nehmen könnte,<br />

hatte etwas Berauschendes 5 . Hypnotisiert starrten meine Augen auf die kleine Wölbung 6 , die jenes Buch<br />

innerhalb der Tasche formte. Schliesslich konnte ich meine Gier 7 nicht verhalten; unwillkürlich schob ich<br />

mich näher heran. Schon der Gedanke, ein Buch durch den Stoff mit den Händen wenigstens antasten zu<br />

können, machte mir die Nerven in den Fingern bis zu den Nägeln glühen 8 . Fast ohne es zu wissen,<br />

drückte ich mich immer näher heran; ... Und wie ein Schuss 9 durchzuckte mich der Gedanke: stiehl dir<br />

das Buch! Vielleicht gelingt es und du kannst dir’s in der Zelle verstecken und dann lesen, lesen, endlich<br />

wieder einmal lesen! Der Gedanke wirkt wie starkes Gift....<br />

Und dann: ein Griff, ein leichter vorsichtiger Zug und plötzlich hatte ich das kleine Buch in der Hand.<br />

Jedoch wohin damit?<br />

1 zerfressen = ronger<br />

2 aufgebauscht = bouffant<br />

3 die Ausbuchtung, en = le bombement<br />

4 ablenkend = ici : divertissand<br />

5 berauschend = enivrant<br />

6 dei Wölbung, en = la bosse<br />

7 die Gier = le désir avide<br />

8 glühen = brüler<br />

9 der Schuss, ¨sse = le coup de feu<br />

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Ich schob das Buch hinter meinen Rücken unter die Hose, an die Stelle wo sie der Gürtel hielt....<br />

Glücklicherweise fiel das Verhör diesmal kurz aus, und ich brachte das Buch heil 1 in mein Zimmer.<br />

Nun vermuten sie wahrscheinlich, ich hätte sofort das Buch gepackt, betrachtet, gelesen. Keineswegs!<br />

Erst wollte ich die Vorlust auskosten, dass ich ein Buch bei mir hatte. ...<br />

Ich wünschte mir, es sollte ein Buch sein, das mich geistig anstrengte, nichts Flaches 2 , nichts Leichtes,<br />

sondern etwas, das man auswendig lernen konnte, Gedichte, und am besten ... Goethe oder Homer. Aber<br />

schließlich konnte ich meine Gier, meine Neugier nicht länger verhalten. Hingestreckt auf das Bett, so<br />

dass der Wärter, wenn er plötzlich die Tür aufmachen sollte, mich nicht ertappen könnte, zog ich zitternd<br />

unter dem Gürtel das Buch heraus.<br />

Der erste Blick war eine Enttäuschung und sogar eine Art erbitterter 3 Ärger: dieses mit so ungeheurer 4<br />

Gefahr erbeutete 5 , mit so glühender Erwartung aufgesparte Buch war nichts anderes als ein<br />

Schachrepetitorium, eine Sammlung von hundertfünfzig Meisterpartien.<br />

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VI. ____________________________________________<br />

Wäre ich nicht verriegelt, verschlossen gewesen, ich hätte im ersten Zorn das Buch durch ein offenes<br />

Fenster geworfen, denn was sollte ich mit diesem Nonsens anfangen? Schach kann man doch nicht<br />

spielen ohne einen Partner und schon gar nicht ohne Figuren, ohne Brett. Verdrossen blätterte ich die<br />

Seiten durch. Ich fand nichts als die nackten quadratischen Schemata der einzelnen Meisterpartien und<br />

darunter mir zunächst unverständliche Zeichen, A1 – A2, Sf1 – G3 und so weiter.... Allmählich<br />

enträtselte 6 ich, dass die Buchstaben A, B, C für die Längsreihen, die Zahlen für die Querreihen<br />

eingesetzt waren und den jeweiligen Stand der einzelnen Figur bestimmten.... Dann begann ich aus<br />

kleinen Brotkrümeln 7 die Figuren des Schachs zurechtzumodeln. Ich konnte schließlich auf dem karierten<br />

Betttuch die im Buch abgebildete Position rekonstruieren und versuchte, die erste Partie nachzuspielen.<br />

Ich verwirrte mich in den ersten Tagen unablässig; fünfmal, zehnmal, zwanzigmal musste ich diese Partie<br />

immer wieder von Anfang beginnen. Nach sechs Tagen spielte ich die Partie tadellos 8 zu Ende, nach<br />

weiteren acht Tagen brauchte ich nicht einmal die Krümel auf dem Betttuch, um mir die Position zu<br />

vergegenständlichen 9 und nach weiteren acht Tagen wurde auch das karierte Betttuch entbehrlich 10 .<br />

Automatisch verwandelten sich die abstrakten Zeichen zu visuellen, plastischen Positionen. Nach<br />

weiteren vierzehn Tagen war ich im Stande, jede Partie aus dem Buch auswendig nachzuspielen. ...<br />

1 heil = indemne<br />

2 flach = ici. simple<br />

3 erbittert = aigri<br />

4 ungeheuer = groß<br />

5 erbeuten = capturer, prendre (à l’ennemi)<br />

6 enträtseln = deviner<br />

7 der Krümel, - = la miette<br />

8 tadellos = ohne Problem<br />

9 vergegenständlichen = se représenter qc<br />

10 entbehrlich = superflu<br />

10


5<br />

10<br />

Ich besaß mit den hundertfünfzig Turnierpartien eine wunderbare Waffe gegen die erdrückende<br />

Monotonie des Raumes und der Zeit. ... Ich war beschäftigt, ohne mich zu ermüden.<br />

Ich lernte die Feinheiten, Tücken und Schärfen in Angriff und Verteidigung und erkannte bald die<br />

persönliche Note jedes einzelnen Schachmeisters.<br />

Was als bloß zeitfüllende Beschäftigung begonnen, wurde Genuss 1 . Ich empfand mein Gehirn<br />

aufgefrischt und durch die ständige Denkdisziplin sogar gleichsam neu geschliffen 2 . ...Von diesem<br />

Zeitpunkt an gab ich mir bei den Vernehmungen keine Blöße mehr und mir dünkte 3 sogar, dass die<br />

Gestapoleute mich mit einem gewissen Respekt zu betrachten begannen.<br />

<strong>Die</strong>se Glückszeit dauerte etwa zweieinhalb bis drei Monate. Plötzlich stand ich neuerdings vor dem<br />

Nichts. Denn sobald ich jede einzelne Partie zwanzig- oder dreißigmal durchgespielt hatte, verlor sie den<br />

Reiz 4 der Neuheit. Welchen Sinn hatte es, nochmals und nochmals Partein zu wiederholen, die ich Zug<br />

um Zug längst auswendig kannte?<br />

15<br />

20<br />

25<br />

30<br />

VII. ______________________________________<br />

Ich musste mir statt der alten Partien neue erfinden. Ich musste versuchen, mit mir selbst oder vielmehr<br />

gegen mich selbst zu spielen.<br />

Aber schon die flüchtigste Überlegung dürfte ausreichen, um klarzumachen, dass beim Schach es<br />

logischerweise eine Absurdität bedeutet, gegen sich selbst zu spielen. Das Attraktive des Schachs beruht<br />

darauf, dass sich seine Strategie in zwei Gehirnen verschieden entwickelt. Dass Schwarz die jeweiligen<br />

Manöver von Weiß nicht kennt, während wiederum Weiß die geheimen Absichten von Schwarz zu<br />

parieren strebt. Bildeten nun Schwarz und Weiß ein und dieselbe Person, so ergäbe sich der widersinnige<br />

Zustand, dass ein und dasselbe Gehirn gleichzeitig etwas wissen und doch nicht wissen sollte. Ein solches<br />

Doppeldenken setzt eigentlich eine vollkommene Spaltung 5 des Bewusstseins 6 voraus.<br />

Aber ich hatte keine Wahl als diesen Widersinn 7 . Ich war durch meine Situation gezwungen, diese<br />

Spaltung in ein Ich Schwarz und ein Ich Weiß zu versuchen.<br />

Ich musste versuchen, bei diesem Spiel im abstrakten Raum der Fantasie als Spieler Weiß vier oder fünf<br />

Züge im voraus zu berechnen und ebenso als Spieler Schwarz, also gewissermaßen mit zwei Gehirnen<br />

vorauszukombinieren, mit dem Gehirn Weiß und dem Gehirn Schwarz. ... Jedes meiner beiden Ich<br />

triumphierte, wenn das andere einen Fehler machte und erbitterte sich gleichzeitig über sein eigenes<br />

Ungeschick. ...<br />

1 der Genuss, ¨sse = le plaisir<br />

2 schleifen (ei, i, i) = aiguiser, affûter<br />

3 mir / mich dünkt = il me paraît<br />

4 der Reiz, -e = l’attrait<br />

5 die Spaltung, -en = la division, (ici : psych. = le dédoublement)<br />

6 das Bewußtsein = la conscience<br />

7 der Widersinn = l’absurdité<br />

11


5<br />

10<br />

15<br />

Kaum hatte mein Ich Weiß einen Zug getan, stieß schon mein Ich Schwarz fiebrig 1 vor.<br />

Kaum war die Partie beendet, so forderte ich mich schon zur nächsten heraus, denn jedesmal war doch<br />

eines der beiden Schach-Ich von dem anderen besiegt und verlangte Revanche.<br />

Von morges bis abends dachte ich an nichts als an Läufer und Bauern und Turm und König und A und B<br />

und C und Matt und Rochade. Ich konnte nur Schach denken. Sogar im Schlaf spielte ich unbewusst<br />

weiter. Ich konnte schließlich nicht mehr stillsitzen. Ununterbrochen ging ich, während ich die Partien<br />

überlegte, auf und ab, immer schneller und schneller und schneller auf und ab, auf und ab. Ich begann<br />

mich zu beschimpfen 2 – “schneller, schneller!” oder “vorwärts, vorwärts!”, wenn das eine Ich nicht<br />

schnell genug ripostierte.<br />

Heute bin ich mir im klaren, dass dieser Zustand eine pathologische Form geistiger Überreizung 3 war, für<br />

die ich keinen anderen Namen finde, als den medizinisch unbekannten: eine Schachvergiftung 4 .<br />

Schließlich begann diese monomanische Besessenheit 5 nicht nur mein Gehirn, sondern auch meinen<br />

Körper zu attackieren. Ich magerte ab 6 , ich schlief unruhig. Manchmal fühlte ich mich derart schwach,<br />

dass ich ein Trinkglas nur mit Mühe 7 bis zu den Lippen brachte. Aber kaum, dass das Spiel begann,<br />

überkam mich eine wilde Kraft: ich lief auf und ab und wie durch einen Nebel hörte ich manchmal meine<br />

eigene Stimme, wie sie heiser und böse “Schach” oder “Matt!” sich selber zuschrie.<br />

20<br />

25<br />

VIII. ________________________________________<br />

Eines Morgens wachte ich auf und es war ein anderes Erwachen als sonst. Ich schlug langsam die Lider 8<br />

auf. Und Wunder: es war ein anderes Zimmer, in dem ich mich befand. Ein ungegittertes Fenster ließ<br />

freies Licht herein und einen Blick auf Bäume – wahrhaftig, ich lag in einem neuen, fremden Bett. Eine<br />

Frau kam heran, eine Frau mit weißer Haube 9 über dem Haar, eine Pflegerin, eine Schwester... Ich befand<br />

mich in einem Hospital. Mittags kam der Arzt. “Sonderbar”, murmelte er. “Im Fieber haben Sie immer so<br />

sonderbare Formeln geschrien – C3, C4.”<br />

Ich erkundigte mich, was mit mir vorgegangen sei. Er lächelte merkwürdig. “Eine akute Irritation der<br />

Nerven. ... Kein Wunder bei dieser Methode.” Zwei Tage später erklärte mir der Doktor, was vorgefallen<br />

war. Der Wärter hatte mich in meiner Zelle laut schreien gehört. Kaum hatte er sich an der Tür gezeigt,<br />

hatte ich mich auf ihn gestürzt und ihn mit wilden Ausrufen angeschrien, die ähnlich klangen wie:<br />

1 das Fieber = la fievre<br />

2 beschimpfen = insulter<br />

3 die Überreizung = surexitation<br />

4 die Vergiftung = l’empoisonnement<br />

5 besessen sein von = être possédé<br />

6 abmagern = maigrir<br />

7 mit Mühe = avec peine<br />

8 das Lid, -er = la paupière<br />

9 die Haube, -n = la coiffe<br />

12


5<br />

10<br />

15<br />

”Zieh schon einmal; du Schuft, 1 du Feigling.” ...<br />

<strong>Die</strong> ersten Nächte im Hospital hatte ich in einer Art Gehirnfieber verbracht. “Freilich”, fügte er leise bei,<br />

“werde ich das lieber nicht den Herrschaften melden, sonst holt man Sie am Ende noch einmal dorthin<br />

zurück. Verlassen Sie sich auf mich; ich werde mein Bestes tun.”<br />

Was dieser Arzt meinen Peinigern 2 über mich berichtet hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls<br />

erreichte er meine Entlassung. So brauchte ich nur die Verpflichtung 3 zu unterzeichnen, unsere Heimat<br />

innerhalb von vierzehn Tagen zu verlassen.<br />

Erst nach Wochen, eigentlich erst hier auf dem Schiff, fand ich wieder den Mut, mich zu besinnen, was<br />

mir geschehen war.”<br />

Vom Schiffsende tönte der Gong, der zum Abendessen rief. Wir mussten fast zwei Stunden verplaudert 4<br />

haben. Ich dankte ihm herzlich und verabschiedete mich.<br />

“Noch eines! Wollen Sie den Herren gleich im voraus ausrichten: ich spiele nur eine einzige Partie. ...Ich<br />

möchte nicht ein zweites Mal in dieses Spielfieber geraten ... und übrigens hat mich auch der Arzt<br />

gewarnt. 5<br />

Jeder, der einer Manie verfallen war, bleibt für immer gefährdet 6 ..”<br />

IX.<br />

______________________________________<br />

20<br />

25<br />

Pünktlich um drei Uhr waren wir am nächsten Tag im Rauchsalon versammelt. Auch Czentovic ließ nicht<br />

auf sich warten, und nach der obligaten Wahl der Farben begann die denkwürdige Partie dieses Homo<br />

obscurissimus gegen den berühmten Weltmeister. ... Erst beim siebten oder achten Zug schien sich etwas<br />

wie ein bestimmter Plan zu entwickeln. Czentovic verlängerte seine Überlegungspausen 7 . ... Ich<br />

beobachtete beunruhigt, wie Dr. B. je länger sich die Partie hinzog, immer unruhiger auf seinem Sessel<br />

herumzurücken begann, bald aus Nervosität eine Zigarette nach der anderen anzündend, bald nach dem<br />

Bleistift greifend, um etwas zu notieren. Es war offenbar 8 , dass er hundertmal schneller kombinierte els<br />

Czentovic. Jedesmal, wenn dieser nach endlosem Überlegen sich entschloss, eine Figur vorwärts zu<br />

rücken, lächelte unser Freund nur wie jemand, der etwas lang Erwartetes eintreffen sieht, und riposierte<br />

bereits. Je länger Czentovics Entschluss 9 sich verzögerte, um so mehr wuchs seine Ungeduld.<br />

1 der Schuft, -e = la crapule, la canaille<br />

2 der Peiniger, - = le tortionnaire<br />

3 die Verpflichtung, -en = l’engagement<br />

4 plaudern = causer<br />

5 warnen = avertir<br />

6 gefährdet sein = être en danger<br />

7 überlegen = réféchir<br />

8 offenbar = ici : évident<br />

9 der Entschluss, ¨sse = la décision<br />

13


5<br />

10<br />

15<br />

20<br />

Aber Czentovic ließ sich keinesweg drängen 1 .<br />

Beim zweiundvierzigsten Zug, nach zweidreiviertel Stunden, saßen wir schon alle ermüdet um den<br />

Turniertisch.<br />

Aber da geschah plötzlich bei einem Zug Czentovics das Unerwartete. Sobald Dr; B. merkte, dass<br />

Czentovic den Springer fasste, um ihn vorzuziehen, duckte er sich zusammen 2 wie eine Katze vor dem<br />

Absprung. Sein ganzer Körper begann zu zittern. Kaum hatte Czentovic den Zug getan, schob er scharf<br />

die Dame vor, und sagte laut triumphierend:”So! Erledigt!” 3 ...<br />

Czentovic rührte sich nicht. Unserem Freund schien dieses stumme Warten ebenso unerträglich wie uns<br />

selbst. Mit einem Ruck stand er plötzlich auf und begann im Raucherzimmer auf und ab zu gehen, erst<br />

langsam, dann schneller und immer schneller.<br />

Mir fiel auf, dass seine Schritte immer nur die gleiche Spanne 4 Raum ausmaßen. Schaudernd erkannte<br />

ich, dieses Auf und Ab reproduzierte unbewusst das Ausmaß 5 seiner einstigen Zelle; genau so musste er<br />

in den Monaten des Eingesperrtseins auf und ab gerannt sein wie ein eingesperrtes Tier im Käfig. ...<br />

Aber noch schien sein Denkvermögen völlig intakt, denn von Zeit zu Zeit wandte er sich ungeduldig dem<br />

Tisch zu, ob Czentovic sich inzwischen schon entschieden hätte. Aber es wurden neun, es wurden zehn<br />

Minuten. Dann endlich geschah, was niemand von uns erwartet hatte. Czentovic hob langsam seine<br />

schwere Hand. Aber Czentovic tat keinen Zug, sondern schob mit einem entschiedenen Ruck alle Figuren<br />

langsam vom Brett. Czentovic hatte die Partie aufgegeben. Er hatte kapituliert. Unser Freund, der<br />

Anonymus, hatte den stärksten Schachspieler der Erde besiegt.<br />

X. __________________________________________<br />

25<br />

30<br />

“Noch eine Partie?” fragte er.<br />

“Selbstverständlich”, antwortete Dr. B. und sezte sich sofort wieder und begann mit fiebriger Hast die<br />

Figuren neu aufzuestellen. ... Das Zucken fuhr immer öfter um seinen Mund, und sein Körper zitterte 6 wie<br />

von einem Fieber geschüttelt.<br />

“Nicht!” flüsterte ich ihm leise zu. “Nicht jetzt! Es ist für Sie zu anstrengend.”<br />

“Anstrengend! Ha!” lachte er laut und boshaft. “Siebzehn Partien hätte ich unterdessen spielen können!”<br />

Mit einem Mal stand etwas Neues zwischen den beiden Spielern; eine gefährliche Spannung 7 , ein<br />

leidenschaftlicher Hass.<br />

1 drängen = forcer<br />

2 sich zusammen/ducken = ici : se courber<br />

3 erledigt = fini<br />

4 die Spanne = ici : l’espace<br />

5 das Ausmaß, -e = la dimension<br />

6 zittern = trembler<br />

7 die Spannung, -en = la tension<br />

14


5<br />

10<br />

15<br />

20<br />

25<br />

30<br />

Czentovic zögerte lange, ehe er den ersten Zug tat. Offenbar hatte der geschulte Taktiker schon<br />

herausgefunden, dass er gerade durch seine Langsamkeit den Gegner ermüdete und irritierte.<br />

Alle Symptome einer anomalen Erregung 1 zeichneten sich deutlich ab.<br />

Als beim vierten Zug Czentovic wieder endlos überlegte, verließ ihn die Haltung, und er fauchte ihn<br />

plötzlich an 2 :<br />

“So spielen sie doch schon endlich einmal!”<br />

Czentovic blickte kühl auf:”Wir haben meines Wissens zehn Minuten Zugzeit vereinbart. Ich spiele<br />

prinzipiell nicht mit kürzerer Zeit.” ...Dr. B. wurde immer nervöser.<br />

Czentovic schwieg. Erst nach sieben Minuten tat er den nächsten Zug. Er versteinerte gleichsam immer<br />

mehr. Schließlich schaltete er immer das Maximum der vereinbarten Überlegungspause ein, ehe er sich<br />

zum Zug entschloss, und das Benehmen 3 unseres Freundes wurde immer sonderbarer.<br />

Es hatte den Anschein, als ob er an der Partie gar keinen Anteil mehr nehme, sondern mit etwas ganz<br />

anderem beschäftigt sei. Mit einem stieren, fast irren Blick ins Leere vor sich starrend, murmelte er<br />

ununterbrochen unverständliche Worte. Entweder verlor er sich in endlosen Kombinationen, oder er<br />

erarbeitete – dies war mein innerster Verdacht 4 – sich ganz andere Partien aus, denn jedesmal, wenn<br />

Czentovic endlich gezogen hatte, musste man ihn aus seiner Geistesabwesenheit zurückholen. Dann<br />

brauchte er immer einige Minuten, um sich in der Situation wieder zurechtzufinden. Immer mehr<br />

beschlich mich der Verdacht, er habe Czentovic und uns alle längst vergessen in dieser kalten Form des<br />

Wahnsinns 5 .<br />

Und tatsächlich, bei dem neunzehnten Zug brach die Krise aus.<br />

Kaum hatte Czentovic seine Figur bewegt, stieß Dr. B. plötzlich, ohne auf das Feld zu blicken, seinen<br />

Läufer drei Felder vor und schrie laut:”Schach! Schach dem König!”<br />

Wir blickten alle auf das Brett. Czentovic hob ganz, ganz langsam den Kopf und blickte in unserem Kreis<br />

von einem zum andern. Er schien irgend etwas zu genießen 6 , denn auf seinen Lippen war ein zufriedenes<br />

und deutlich höhnisches Lächeln.<br />

“Bedaure 7 – aber ich sehe kein Schach. Sieht vielleicht einer von den Herren ein Schach gegen meinen<br />

König?”<br />

Wir blickten auf das Brett und dann beunruhigt zu Dr. B.. Czentovics König war tatsächlich – ein Kind<br />

konnte das erkennen – durch einen Bauern gedeckt 8 , also war ein Schach dem König nicht möglich.<br />

1 die Erregung, -en = l’excitation<br />

2 an/fauchen = brusquer<br />

3 das Benehmen = le comportement<br />

4 der Verdacht = le soupçon<br />

5 der Wahnsinn = la folie<br />

6 genießen (ie, o, o) = savourer<br />

7 bedauern = regretter<br />

8 gedeckt = ici : couvert, protégé<br />

15


5<br />

10<br />

15<br />

“Aber der König gehört doch auf F7...er steht falsch, ganz falsch. Sie haben falsch gezogen! Alles steht<br />

falsch auf diesem Brett ...der Bauer gehört doch auf G5 und nicht auf G4 ...das ist ja eine ganz andere<br />

Partie ...Das ist ...”<br />

Er stockte plötzlich. Ich hatte ihn heftig am Arm gepackt. Er wandte sich um und starrte mich wie ein<br />

Traumwandler 1 an.<br />

“Was .... was wollen Sie?”<br />

Ich sagte nichts als “Remember!”. Dann begann er plötzlich zu zittern.<br />

“Um Gottes willen”, flüsterte er mit blassen Lippen. “Habe ich etwas Unsinniges gesagt oder getan ... bin<br />

ich wieder....?”<br />

“Nein”, flüsterte ich leise. “Aber Sie müssen die Partie abbrechen. Erinnern Sie sich, was der Arzt Ihnen<br />

gesagt hat.”<br />

Dr. B. stand mit einem Ruck auf. “Ich bitte um Entschuldigung für meinen dummen Irrtum.”<br />

Er verbeugte sich und ging. Nur ich wusste, warum dieser Mann nie mehr ein Schachbrett berühren 2<br />

würde.<br />

Czentovic erhob sich von seinem Sessel und warf noch einen Blick auf die halbbeendete Partie. “Schade”,<br />

sagte er großmütig 3 . “Der Angriff war gar nicht so übel disponiert. Für einen Dilettanten ist dieser Herr<br />

eigentlich ungewöhnlich begabt 4 .”<br />

1 der Traumwandler = der Schlafwandler (le somnambule)<br />

2 berühren = toucher<br />

3 großmütig = généreux<br />

4 begabt sein = être doué<br />

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