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ZUR ENTWICKLUNG DER MUSIKÄSTHETIK IN DER ZWEITEN HÄLFTE DES 18. JAHRHUNDERTS

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Wolfgang Seifert<br />

<strong>ZUR</strong> <strong>ENTWICKLUNG</strong> <strong>DER</strong> <strong>MUSIKÄSTHETIK</strong><br />

<strong>IN</strong> <strong>DER</strong> <strong>ZWEITEN</strong> <strong>HÄLFTE</strong> <strong>DES</strong> <strong>18.</strong> JAHRHUN<strong>DER</strong>TS<br />

WOLFGANG SEIFERT<br />

Epocheneinteilungen sind nichts als (prinzipiell unzulängliche) Hilfsmittel.<br />

Das wissen wir, und das vergessen wir, zumindest gelegentlich, immer wieder.<br />

Eine Abfolge wie Barock – Rokoko – Galanter Stil – Empfindsamkeit –<br />

Sturm und Drang – Vor/Früh/Hochklassik – Vor/Früh/Hochromantik hat eine<br />

gewisse Logik. Deswegen aber ist Geschichte noch keine Kette von simpler<br />

Linearität. Hilfreich kann so ein Etikettierungsmodell schon sein, aber es ist<br />

klar, daß es der Komplexität historischer Wirklichkeit nicht gerecht wird.<br />

Nicht nur in unserer seit dem Wende-Herbst 1989 unübersichtlicher gewordenen<br />

Gegenwart zeigt sich das, sondern auch in der Vergangenheit, nimmt<br />

man sie nur genau genug unter die Lupe. Das gilt selbstverständlich auch für<br />

das <strong>18.</strong> Jahrhundert und insbesondere für den Übergang von der zweiten Hälfte<br />

des <strong>18.</strong> Jahrhunderts zum 19. Ich möchte die zeitliche Dichte musikalischer<br />

und literarisch-philosophisch beeinflußter musikästhetischer Entwicklungen<br />

und die zeitweilige Parallelität ganz verschiedener Stränge dieser Entwicklungen<br />

doch ins Gedächtnis rufen.<br />

Gerade in den 50 Jahren nach Bachs Tod, um die es hier im wesentlichen<br />

geht, überlappen und durchdringen sich die Stilrichtungen und Musikanschauungen,<br />

klaffen Theorie und Praxis der Komposition zuweilen weit auseinander.<br />

Und gar die ästhetische Reflexion: Sie vollzieht sich vielfach der Musikentwicklung<br />

nachhinkend, kurz vor und kurz nach der Jahrhundertwende aber<br />

auch rasant schnell, so schnell, daß beispielsweise der von mir auf Anregung<br />

Heinrich Besselers „ausgegrabene“ Christian Gottfried Körner 1 seine klassische<br />

Musikästhetik Über Charakterdarstellung in der Musik 1795 kaum formuliert<br />

hatte, als sie von der fast zeitgleich aufkommenden Frühromantik<br />

(Wackenroders Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, erschienen<br />

bereits 1797!) überlagert und bald verdrängt wurde.<br />

1 W. Seifert, Christian Gottfried Körner – ein Musikästhetiker der Deutschen Klassik,<br />

Regensburg 1960.<br />

86


Zur Entwicklung der Musikästhetik in der zweiten Hälfte des <strong>18.</strong> Jahrhunderts<br />

Um diese Zeit war Goethe die epochemachende Figur, eine geistesgeschichtliche<br />

Erscheinung von überragender Größe und Bedeutung wie auf rein<br />

musikalischem Feld drei Generationen vor ihm Johann Sebastian Bach. Er<br />

prägte – wir wissen das nicht erst seit Korffs Geist der Goethezeit 2 – die Epoche<br />

der Deutschen Klassik, die in ihren weitesten Grenzen von etwa 1770-<br />

1830 angesetzt wird. Aber wir wissen auch, wie wenig einheitlich diese Epoche<br />

war und was sich alles sonst noch in diesen 60 Jahren vor und nach 1800<br />

vollzog: Sturm und Drang, Romantik, Revolution, Befreiungskriege und Metternichsche<br />

Restauration. Und wenn wir uns die zeitliche Parallelität – um<br />

wieder auf die Musik zu kommen – des Schaffens von Beethoven, E.T.A.<br />

Hoffmann, Weber und Schubert vergegenwärtigen, ist uns allen klar, daß<br />

Klassifizierungen wie „klassisch“ oder „romantisch“ sehr relativ sind.<br />

Und noch ein Hinweis auf die Parallelität ganz verschiedener historischer<br />

Stränge sei mir gestattet, der uns nun direkt zum Thema der Musiktheorie und<br />

Musikästhetik hinführt. Der berühmte Bach-Schüler Kirnberger publizierte<br />

erst relativ spät im Leben seine Kunst des reinen Satzes, nämlich 1771. Ganze<br />

Generationen von Musikern wurden bis in die Zeit um und nach 1800 nach<br />

diesem und anderen Standard-Lehrbüchern unterrichtet (wie Marpurgs und<br />

Fux’ Kontrapunktlehren), die im wesentlichen den kompositorischen Stand<br />

der Bach-Zeit festschrieben. Derselbe Kirnberger verfaßte aber auch die ersten<br />

112 Musik-Artikel in Sulzers 1771-1774 erschienenem Lexikon Allgemeine<br />

Theorie der schönen Künste. Hier finden sich durchaus schon Formulierungen,<br />

die sich als Vorläufer klassischer ästhetischer Definitionen einstufen<br />

lassen. Auch der erst über 20 Jahre später von Körner – unter dem Einfluß<br />

Herders, Kants, Goethes und Schillers – ausgebaute Charakterbegriff findet<br />

sich bereits 3 . Musikästhetik in der späteren vollen Breite des Begriffs gab es<br />

in der ersten Hälfte des <strong>18.</strong> Jahrhunderts kaum. In den philosophisch-ästhetischen<br />

Erörterungen spielte die Musik neben der Poesie eine eher zweitrangige<br />

Rolle, und auch das komplexe Regelwerk der musikalischen Rhetorik und<br />

„Figuren“-Lehre war eine Ableitung aus dem Reich des Verbalen.<br />

Im ersten Stadium der Entwicklung beherrschte noch die Schule Leibniz-<br />

Wolff-Baumgarten das philosophische Feld, und die Einflüsse des französischen<br />

Rationalismus, von dem die Deutschen den Nachahmungsgedanken<br />

übernahmen, wurden, wie Baumgartens 1750-58 erschienene Aestetica erkennen<br />

läßt, noch der Leibnizschen These von „der besten aller Welten“ subsumiert,<br />

„außerhalb derer der Künstler nur Unvollkommenes dichten kann“.<br />

2 H. A. Korff, Geist der Goethezeit, Versuch einer ideellen Entwicklung der klassischromantischen<br />

Literaturgeschichte, Bd 1-4, Leipzig 1949-55.<br />

3 M. Schmidt, Zur Theorie des musikalischen Charakters, München-Salzburg 1981<br />

(= Beiträge zur Musikforschung Bd 9).<br />

87


Wolfgang Seifert<br />

Die deutsche Musikästhetik des so interpretierten Rationalismus verschmolz<br />

den Gedanken der Nachahmung von beseelter und unbeseelter Natur<br />

mit der Affektenlehre. Walter Serauky, der in seinem wissenschaftlichen Übereifer<br />

die Wirksamkeit der Nachahmungsästhetik bis zur Zeit Richard Wagners<br />

ansetzt, unterscheidet zwischen der Hauptstufe der „inhaltlichen Interpretation<br />

des Nachahmungsprinzips“ (naturalistisch oder idealisierend) und dessen späterer<br />

nur noch „formaler“ Interpretation als Spätphase vor und um 1800 4 ).<br />

Hans Heinrich Eggebrecht bezweifelt schon 1955 meines Erachtens zu Recht,<br />

daß diese Serauky-Definition dann noch „den eigentlichen Herd der Musikdeutung<br />

dieser Zeit zu bezeichnen vermag“ 5 , denn längst walten mit dem aufkommenden<br />

Sturm und Drang das Genie- und Ausdrucksprinzip, die, um mit<br />

Besseler zu sprechen, subjektive „Erlebnisform“, die einfühlende Hingabe,<br />

das emotionale Nacherleben (wie es 1808 noch ein Beethoven in seinen Anmerkungen<br />

zur Pastorale verstand und formulierte).<br />

Spätestens ab 1760 wurden die rationalistischen Grundlagen durch neue<br />

Einflüsse verdrängt, die im Sturm und Drang – und damit im ersten Vorläufer<br />

der Romantik – mündeten. Diese teils französischen, teils englischen Einflüsse<br />

(Rousseau, Harris, Young, Avison) schlugen nach dem eher rationalistisch<br />

definierten „galanten Stil“ in einer neuen „Empfindsamkeit“ und in dem von<br />

Carl Philipp Emanuel Bach ideal verkörperten Typus des „Originalgenies“<br />

durch. Und plötzlich ist nicht mehr von „vernünftiger“ Nachahmung der Natur<br />

die Rede, wenn es um Musik geht, sondern davon, daß sie „vornehmlich<br />

das Herz rühren müsse“ (C. Ph. E. Bach).<br />

Der bereits erwähnte Lexikograph Sulzer faßt diese Entwicklung eklektizistisch<br />

zusammen 6 und räumt dabei zum erstenmal, darin Herder folgend (dessen<br />

1769 geschriebenes Viertes kritisches Wäldchen er, weil niemals gedruckt,<br />

freilich nicht kennen konnte), der Musik den ersten Rang unter den schönen<br />

Künsten ein: „Die erste und kräftigste derselben ist die, die durch das Gehör<br />

den Weg zur Seele nimmt, die Musik“. Das entspricht zu hundert Prozent dem<br />

Sturm- und-Drang-Ideal.<br />

In der weiteren Entwicklung – und im Lichte meiner Einleitung sehen wir<br />

diese jetzt nicht so sehr als aufeinanderfolgende Zeitstufen, sondern als zum<br />

Teil parallel verlaufende Schritte und Stränge einer ideengeschichtlichen Entwicklung<br />

–, in der weiteren Entwicklung vom Sturm und Drang zur Klassik<br />

4 W. Serauky, Die musikalische Nachahmungsästhetik im Zeitraum von 1700 bis 1850,<br />

Münster 1929.<br />

5 H. H. Eggebrecht, Das Ausdrucksprinzip im musikalischen Sturm und Drang, in:<br />

Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 29, 1955,<br />

S. 323-349. Hier insbesondere S. 338.<br />

6 J. G. Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Leipzig 1771-1774; weitere<br />

Auflagen folgten bis zum Jahrhundertende.<br />

88


Zur Entwicklung der Musikästhetik in der zweiten Hälfte des <strong>18.</strong> Jahrhunderts<br />

also sind wieder zwei Phasen, besser: zwei Linien zu unterscheiden. Sie wiederholen<br />

(oder reflektieren) auf höherer Stufe die Polarität der vorangegangenen<br />

Periode, die durch das Gegensatzpaar Vernunft (Rationalismus) und Natur<br />

(Sturm und Drang) gekennzeichnet war. Auch die Frühklassik, etwa ab 1780,<br />

kennt diese Polarität. Aus dem ursprünglich dunklen und irrationalistischen<br />

„natürlichen“ Weltgefühl der Sturm- und-Drang-Zeit entwickelt sich der durch<br />

Herder und den jungen Goethe vertretene frühklassische Naturidealismus als<br />

monistische Welt-, Lebens- und Kunstanschauung. Ihm stand seit 1781 Kants<br />

kritische Philosophie gegenüber, die – obzwar gerade sie die endgültige Überwindung<br />

der Aufklärung herbeiführte – n i c h t auf die Sturm- und-Drang-<br />

Bewegung, sondern in den Hauptpunkten auf den Rationalismus zurückzuführen<br />

ist. Sie wirkte als radikaler Vernunftidealismus dem Naturidealismus entgegen<br />

und manifestierte sich in ihrem Weben als dualistische Welt-, Lebensund<br />

Kunstanschauung. Nicht die Natürlichkeit der Vernunft wird jetzt behauptet,<br />

sondern ihre Übernatürlichkeit, und der Gegensatz zwischen Natur und<br />

Vernunft im Sinne strenger Vernunftgesetzlichkeit entschieden: Der kategorische<br />

Imperativ sollte, wenn ich das einmal salopp interpretieren darf, endlich<br />

die verdammten Gefühle im Zaum halten.<br />

Sogleich kam es zu einem heftigen Zusammenstoß zwischen den exponiertesten<br />

Vertretern beider Richtungen (Herder und Kant), aber andererseits zu<br />

einem – um wieder mit Kant zu sprechen – „a priori“ kaum zu erwartenden<br />

Ausgleich der Extreme, wie er sich unter dem Einfluß Goethes in der Person,<br />

im dichterischen Schaffen und vor allem in den philosophischen Schriften des<br />

reifen Schiller vollzog.<br />

Und genau an dieser Stelle – erste Hälfte der neunziger Jahre, wenn ich<br />

von Schreib- und nicht von Druckdaten ausgehe – ist der Beginn der Hochklassik<br />

anzusetzen, die aus der Auseinandersetzung zwischen Natur- und Vernunftidealismus<br />

erwuchs und diese beiden entgegengesetzten, aber tiefinnerst<br />

doch verwandten Formen des klassischen Idealismus, um wieder mit Korff zu<br />

sprechen, zum Gleichgewicht brachte. Ich könnte ebensogut auch von Synthese<br />

im Hegelschen Sinne sprechen, die aus Thesis und Antithesis als nächsthöhere<br />

Entwicklungsstufe erwächst.<br />

Das Gleichgewicht, das diese Synthesis mit sich brachte, fand die Hochklassik<br />

vor allem in der Kunst, ja, es ist nicht übertrieben zu sagen, daß die<br />

Hochklassik dieses Gleichgewicht in der Kunst am schönsten symbolisiert<br />

sah. Die allgemeine Grundidee der Hochklassik ist deshalb diese Idee des<br />

Gleichgewichts zwischen den beiden Seiten des Lebens (Natur und Vernunft),<br />

die Idee einer freien Gesetzlichkeit, die mit der Idee der Schönheit identifiziert<br />

wird. Nach Korff versteht die vom reifen Goethe repräsentierte Hochklassik<br />

unter Schönheit den „harmonischen Ausgleich zwischen Freiheit und<br />

Gesetz, Natur und Geist, Stoff und Form, unbewußtem Trieb und bewußtem<br />

Willen. Die Schönheit ist daher die eigentliche Idee der Klassik... Und ihre<br />

89


Wolfgang Seifert<br />

Weltanschauung hat darum einen ebenso ausgeprägten Charakter, wie ihre<br />

Kunstanschauung aus der letzten Tiefe ihrer Weltanschauung steigt. In der<br />

Kunst lösen sich für die Klassik die Fragen, mit denen das Leben uns bedrängt,<br />

aber sie lösen sich nur deshalb, weil die Kunst nach Analogie des Lebens<br />

betrachtet wird.“<br />

Dem Ideal der vom Naturidealismus verfochtenen natürlichen Humanität<br />

wurde von Kant das Erhabenheitsideal des sittlichen Idealismus gegenübergestellt.<br />

Aus der Synthese beider erwächst das hochklassische Ideal der auf Harmonie<br />

abgestellten schönen Humanität: das Schönheitsideal des ästhetischen<br />

Idealismus (Korff).<br />

So wird die exponierte Rolle der Schönheit, der Kunst und des Ästhetischen<br />

in der Hochklassik deutlich und verständlich: in einer neuartigen Beziehung<br />

zwischen Humanitätsideal und Ästhetik. Im Ästhetischen spiegelt sich<br />

(transzendent) das Ethische. Deshalb ist die ästhetische jetzt die einzig wahrhaft<br />

dem Menschenideal entsprechende Verhaltensweise. So verstanden, muß<br />

die ideelle Entwicklung der klassischen Ästhetik, gültig ausformuliert 1795 in<br />

Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen, aus ihren tief<br />

im Beginn des <strong>18.</strong> Jahrhunderts (also noch in der Bach-Zeit) verankerten<br />

Wurzeln auf diese Aufgipfelung zulaufend verstanden werden. Schiller erreichte<br />

diese Synthese über Kant hinaus nur durch den Einfluß Goethes, und<br />

in seiner unmittelbaren geistigen und zeitlichen Nähe bewegte sich ein Mann,<br />

der in der Musikästhetik der Zeit kurz vor der Jahrhundertwende eine Schlüsselrolle<br />

spielt: Christian Gottfried Körner.<br />

Er war eng mit Schiller befreundet, den er in Dresden bei sich aufgenommen<br />

hatte, verkehrte aber bald auch brieflich und persönlich mit Herder und<br />

Goethe. Von Haus aus Jurist, Appellations- und Oberkonsistorialrat, war er<br />

hochgebildet, auch in Sachen Musik. Er war Amateurkomponist und Leiter eines<br />

nach dem Vorbild Zelters aufgebauten privaten Singe-lnstituts, wirkte später<br />

in Berlin bis zu seinem Tode in der Sing-Akademie aktiv mit. In seinem<br />

Hause wohnte nicht nur Schiller, sondern dinierte auch Mozart. Während seines<br />

Dresden-Besuchs 1789 ließ dieser sich von Körners Schwägerin, Dora<br />

Stock, zeichnen und vergaß über dem Fantasieren am Klavier völlig das Essen.<br />

Bei Hofe spielte er sein Klavierkonzert D-Dur KV 537, das Körner also<br />

ebenso selbstverständlich kannte wie andere Opern, Orchester- und Kammermusikwerke<br />

des von ihm hoch verehrten Österreichers. In seiner Singanstalt<br />

wurden u. a. Pergolesis Stabat mater, Haydnsche Messen, die Mozart-Opern<br />

Figaro und Don Giovanni konzertant wie später auch das Requiem so kompetent<br />

aufgeführt, daß die Leipziger Allgemeine Musikalische Zeitung dies berichtenswert<br />

fand 7 . Andere zeitgenössische Zeugnisse belegen, daß Körner<br />

7 Allgemeine Musikalische Zeitung 9, 1806/1807, S. 466.<br />

90


Zur Entwicklung der Musikästhetik in der zweiten Hälfte des <strong>18.</strong> Jahrhunderts<br />

ebenso mit den Werken der älteren Italiener, Hasses, Naumanns, Carl Philipp<br />

Emanuel Bachs und der norddeutschen Schule (Nichelmann, Benda, Reichardt<br />

u. a.) wohl vertraut war. Für unseren Zusammenhang ist noch wichtiger,<br />

daß Körner sich in zeitlich sehr engem Abstand mit den jeweils neuesten<br />

Werken der Wiener Klassiker bekannt machte, seit 1795/96 auch mit Beethoven.<br />

Später hatte er, nicht nur wegen der Leyer und Schwert-Vertonungen seines<br />

Sohnes Theodor, auch zu Carl Maria von Weber gute persönliche Beziehungen.<br />

Auf eine einfache Formel gebracht: Körners Beziehungen zur Wiener<br />

Klassik als dem Gipfelpunkt der Musik seiner Zeit waren ebenso gut wie die<br />

zur Weimarer Klassik, eine für den Autor einer musikästhetischen Abhandlung<br />

wirklich bemerkenswerte und bedeutsame Koinzidenz. Der Aufsatz Über<br />

Charakterdarstellung in der Musik wurde, fast zeitgleich mit Schillers ästhetischen<br />

„Briefen“, 1795 publiziert, und zwar in den von Schiller redigierten und<br />

von Goethes Gedankenwelt geprägten Horen. Heinrich Besselers Schlußfolgerung,<br />

mit der er mich vor rund 40 Jahren „auf die Sprünge brachte“: „Wenn<br />

das Organ der Klassik als einzigen Musikbeitrag diesen Aufsatz enthält, so<br />

muß seine Fragestellung als aktuell empfunden worden sein, seine Antwort als<br />

überzeugend.“ In der Tat wirkte der Aufsatz, der die zuvor stichwortartig umrissene<br />

philosophische Entwicklung vom Sturm und Drang bis zu Hochklassik<br />

auf originelle Weise reflektiert und auf die Musik überträgt, wie ein Programm.<br />

Nicht nur Schiller und Goethe, sondern auch Herder, Wilhelm von<br />

Humboldt und Friedrich Schlegel haben ihm ausdrücklich zugestimmt. Körners<br />

musikbezogene ästhetische Abhandlung war ein Bekenntnis, war d a s<br />

Musikbekenntnis der Weimarer Klassik, bezogen auf die Wiener Klassik, hauptsächlich<br />

auf die Musik Mozarts. Das war schon etwas herausragend Besonderes<br />

in der Mitte des letzten Jahrzehnts des <strong>18.</strong> Jahrhunderts. Die Musiker hatten<br />

normalerweise ihre Schwierigkeiten mit der klassischen Kunsttheorie. Seit ihrem<br />

Anschluß an Kant bewegte sie sich auf einem Niveau, dem die meisten<br />

Musiker, noch im vergleichsweise simplen Vokabular von Affektenlehre und<br />

Nachahmungstheorie zu Hause, nicht mehr gewachsen waren. Nur einer brachte<br />

es fertig, die neuen Dinge selbständig zu verarbeiten und als ursprünglicher<br />

Kantianer Goethes Naturanschauung und ihren Organismusgedanken in die<br />

Kunstbetrachtung einzubeziehen: Christian Gottfried Körner. Spürbar ist in seiner<br />

Ästhetik – bei aller Nähe zur idealistischen Abstraktion Schillers – die ich<br />

Ihnen jetzt nicht im einzelnen auseinandersetzen will und kann – ein lebendigkonkreter<br />

Zug, der offensichtlich auf profunder Musikkenntnis beruhte und die<br />

Zeitgenossen überzeugte. Das war neu, und wir werden jetzt festzustellen haben,<br />

welcher Stufe der Musikentwicklung in der Wiener Klassik Körners mit<br />

der Weimarer Klassik untrennbar verbundene Musikästhetik entspricht.<br />

Kernbegriff bei Körner ist der Charakter, erstmals in den Mittelpunkt der<br />

Musikbetrachtung gerückt. Körner faßt den Begriff nicht psychologisch, wie<br />

91


Wolfgang Seifert<br />

es beim Blick auf das Theater naheläge, sondern ästhetisch, als das eigentlich<br />

Darstellungswürdige in allen Künsten, insbesondere auch in der Musik. Zu<br />

Begriffserklärung verweist Körner auf das Gegensatzpaar des männlichen und<br />

des weiblichen Lebensprinzips: Tätigkeit und Empfänglichkeit im Verhalten<br />

zur Welt. Beide sind an die menschliche Person gebunden, beide kommen –<br />

und das ist so modern, daß selbst heutige Feministinnen damit einverstanden<br />

sein können – mit unendlich mannigfachen Abstufungen in jeder Person vor,<br />

und zwar unabhängig von ihrem Geschlecht. Von Charakter spricht man,<br />

wenn zwischen Tätigkeits- und Empfänglichkeitstrieb ein bestimmtes Verhältnis<br />

besteht, das unveränderlich fortdauert. Charakter – nach Körner – ist also<br />

die einheitgebende Kraft innerhalb der Mannigfaltigkeit der Person, ihr Ethos.<br />

Im Moralischen begründet, rechtfertigt für Körner der Charakter auch das<br />

Ästhetische. Jedes Kunstwerk – ich folge in meiner Zusammenfassung jetzt<br />

Besselers Beitrag zum Mozart-Kongreß 1956, dem wiederum teilweise meine<br />

Jenaer Dissertation zugrundeliegt 8 –, jedes Kunstwerk beruht auf der ordnenden<br />

Kraft des Geistes, der das Zufällige, Willkürliche, Verschiedenartige unter<br />

das Gesetz der Einheit bringt, eine Grundforderung der Klassik. Höchstes<br />

Thema jeder Kunst ist nach Körner der Charakter, weil sie nur durch ihn Anteil<br />

an der Würde der menschlichen Natur, am Unendlichen ihrer Freiheit hat<br />

– auch das ein Kerngedanke der klassischen Ästhetik. Der Charakter ist „ein<br />

Mannigfaltiges im Gebrauch der Freiheit, und in dieser Mannigfaltigkeit eine<br />

Einheit.“<br />

Körners Grundbegriffe, die auch für andere Künste gelten, sind neu für die<br />

Musik, die er damit aus ihrer ästhetischen Isolation herausholt. Wieder ein<br />

Besseler-Satz: „Sie (die Musik) hat nun für Weimar den Rang einer klassischen<br />

Kunst“. Das allein verdiente Beachtung, aber Körners Horen-Aufsatz<br />

ist mehr als bloße Nutzanwendung klassischer Begriffe. Das Thema wird von<br />

vornherein originell angefaßt, die Musik neuartig und zeitgemäß gesehen.<br />

Hatte bisher bei ästhetischen Betrachtungen immer die Vokalmusik im Vordergrund<br />

gestanden, so ist für Körner zum erstenmal die Instrumentalmusik Mittelpunkt,<br />

also die „absolute Musik“ ohne Wort oder Bild.<br />

Für ihn ist ihre „Unbestimmtheit“, die nicht durch das Hinzutreten einer<br />

anderen Kunst ausgeglichen werden muß, im Gegensatz zu den meisten Ästhetikern<br />

seiner Zeit geradezu ein Vorzug. Denn nur dadurch wird das freie<br />

Spiel der Einbildungskraft ermöglicht. Der neue Vorrang der Instrumentalmusik<br />

– wie er sich seit den 80er Jahren in der Wiener Klassik spiegelt, wird also<br />

mit einem Gedanken von Kant und Schiller begründet. Das Spiel der Phantasie<br />

aber kann sich nicht im Grenzenlosen verlieren, denn sie hat feste Richt-<br />

8 H. Besseler, Mozart und die Deutsche Klassik, in: Kongreßbericht Mozartjahr 1955,<br />

Graz-Köln 1958, S. 47-54.<br />

92


Zur Entwicklung der Musikästhetik in der zweiten Hälfte des <strong>18.</strong> Jahrhunderts<br />

punkte. Auch in der reinen Instrumentalmusik bleibt nach Körner „in der Art<br />

der Bewegung Bestimmtheit genug übrig, die auf einen Charakter hindeutet.“<br />

Körner, der übrigens demselben Jahrgang angehört wie sein musikalisches<br />

Ideal Wolfgang Amadeus Mozart, hat die Musikästhetik auf die Höhe seiner<br />

Zeit gehoben und förmlich revolutioniert. Keine Naturnachahmung und keine<br />

Leidenschaft soll mehr Gegenstand der Musik sein, sondern der Charakter in<br />

seiner jeweils einmaligen männlich/weiblichen Proportionierung als Prinzip<br />

der Einheit in der Mannigfaltigkeit. Das Persönlich-Subjektive – erst von den<br />

Romantikern wieder höher bewertet – wird von Körner in eine überpersönliche<br />

Ordnung eingefügt. Das entspricht, so Besseler, in der Literatur der Entwicklung<br />

vom Sturm und Drang zur Klassik. Welche musikalische Entsprechung<br />

hat diese Ästhetik, an wessen Musik hatte Körner gedacht, als er seine<br />

Abhandlung in der Sprache der Weimarer Klassik formulierte? Zweifellos,<br />

und dies ist keine willkürliche Schlußfolgerung aus den inzwischen bekannten<br />

Fakten, an die der Wiener Klassik, die ihm bis 1795 bekannt wurde, und das<br />

waren hauptsächlich Haydn und vor allem Mozart.<br />

Und jetzt, im Schlußteil meiner Darstellung der musikästhetischen Entwicklung<br />

in der zweiten Hälfte des <strong>18.</strong> Jahrhunderts, komme ich auf die eigentliche<br />

Fragestellung dieses mit den Bach-Tagen Berlin 1993 verbundenen<br />

Colloquiums zurück: auf Johann Sebastian Bachs historische Position – Abschluß<br />

oder Neubeginn? Natürlich beides. Es gibt unleugbar den „Traditionsknick“,<br />

der Hans Heinrich Eggebrecht so viel bedeutet. Es gibt aber gleichwohl<br />

genügend Anhaltspunkte dafür, daß das <strong>18.</strong> Jahrhundert musikalisch wie<br />

musikästhetisch durchaus als Einheit betrachtet werden kann. Johann Sebastian<br />

Bach war ebenso im Mittelalter verwurzelt wie prägend für seine Gegenwart<br />

und die Generation seiner Schüler, Söhne und Enkel. Da dürfen wir uns<br />

von der überwältigenden Größe seiner Erscheinung nicht irritieren lassen, die<br />

es nahelegt, von einer einmaligen Krönung und dem definitiven Abschluß einer<br />

über Jahrhunderte zurückreichenden Entwicklung nicht nur der Polyphonie,<br />

sondern einer musikalischen Ordnung im weltanschaulichen Sinne zu<br />

sprechen.<br />

Bachs Bedeutung liegt für mich gerade darin, daß er, wie Besseler in seiner<br />

berühmten „Wegbereiter“-Abhandlung von 1953 anhand der Begriffe des<br />

Gefühlhaften, des Charakteristischen, der Erlebnisform und der musikalischen<br />

Einheitsgestaltung dargelegt hat 9 , a u c h wesentliche strukturelle Elemente<br />

der Klassik vorausgenommen und damit die spätere Entwicklung auf höchst<br />

bedeutsame Weise vorgeprägt hat.<br />

9 H. Besseler, Bach als Wegbereiter, in: Archiv für Musikwissenschaft 12, 1955, S. 1-<br />

39.<br />

93


Wolfgang Seifert<br />

Joseph Haydn hat über Carl Philipp Emanuel Bach den Anschluß an diese<br />

Vorprägung Johann Sebastians gefunden und zwischen den „Sonnenquartetten“<br />

des Jahres 1772 und seinen „Russischen Quartetten“ von 1781 das Prinzip<br />

der einheitlichen Satzgestaltung durch thematische Arbeit zu einer ersten<br />

Stufe der Vollkommenheit entwickelt, an die Mozart sogleich anknüpfen<br />

konnte, der seinerseits ebenfalls Bach studierte (soweit er ihm durch den Baron<br />

van Swieten zugänglich war). Die Haydn gewidmeten Streichquartette<br />

KV 387 bis 465, zwischen 1782 und 1785 entstanden, markieren die nächste<br />

Stufe, die späteren Streichquintette, Klavierkonzerte und vor allem die Sinfonien<br />

g-Moll und C-Dur KV 550/51 die hochklassische musikalische Entsprechung<br />

– oder besser: das hochklassische musikalische Vorbild – von Körners<br />

musikästhetischem Ideal der Einheitsgestaltung durch Charakterdarstellung.<br />

Daß Einheit für die klassische Musik wesentlich ist, weiß man. Körners<br />

Horen-Aufsatz macht gerade in der Entschiedenheit, mit der er die Einheit<br />

fordert, klar, welch zentrale Bedeutung der Begriff damals hatte, für die Kunst<br />

im allgemeinen wie für die Musik speziell. Die Stufe des Persönlich-Subjektiven<br />

sollte, darauf lief die ästhetische Forderung hinaus, vom Künstler überwunden<br />

und in eine alles übergreifende Ordnung des Kunstwerks, also der<br />

Musik (des Quartett-, Sonaten- oder Sinfoniesatzes) überführt werden. Für<br />

Körner ist der Charakter das Einheitsprinzip der Musik, alle Einzelzüge eines<br />

Werkes, eines Satzes, müssen auf diese Gesamtordnung abgestellt sein.<br />

Die kompositorische Voraussetzung zur Erfüllung dieser Forderung waren<br />

die entwickelten elementaren Sprachmittel der Musik, also die durchgebildete<br />

motivisch-thematische Arbeit im vielfach „durchbrochenen“ Satz, wie sie in<br />

den 70er und 80er Jahren von Haydn und Mozart in wechselseitiger Vorbildfunktion<br />

und nicht ohne Rückbezüge zur Polyphonie der Bach-Zeit herausgebildet<br />

und damit zum Ausgangspunkt Beethovens wurde. In diesem Zusammenhang<br />

ist auch die von seinem Biographen Griesinger überlieferte Aussage<br />

Haydns zu sehen, daß er in seinen Sinfonien „öfters musikalische Charaktere<br />

geschildert habe“ 10 .<br />

Natürlich gibt es in der Wiener Klassik parallel zu den streng durchgeformten<br />

Kammer- und Orchesterwerken, die Körners ästhetischen Ansprüchen<br />

genügen, immer auch die gesellige Linie der mehr oder minder tänzerisch bestimmten<br />

Divertimento- und Serenadenmusik, selbst noch bei Beethoven.<br />

Aber den wirklich klassischen Schöpfungen, dem, was wir heute große Musik<br />

nennen, eignet die bis ins letzte durchgestaltete Einheit, die Körner in seiner<br />

Arbeit von 1795 mit dem Begriff Charakter umschreibt. „Damit ist“, so beendet<br />

Besseler seine Betrachtungen über Mozart und die Deutsche Klassik, „die<br />

Beziehung auf den Menschen hergestellt, die für die Klassik fundamental war.<br />

10 Zitiert nach: H. Besseler, Mozart und die Deutsche Klassik, a. a. O., S. 47.<br />

94


Zur Entwicklung der Musikästhetik in der zweiten Hälfte des <strong>18.</strong> Jahrhunderts<br />

Es ist aber zugleich gesagt, daß der Wert dieser Schöpfungen nicht im Persönlich-Subjektiven<br />

liegt, sondern in der objektiven, für jedermann verbindlichen<br />

Ordnung“ 11 . Auch das – und das ist nun mein Schluß – verbindet das Ende<br />

mit dem Anfang des <strong>18.</strong> Jahrhunderts, also Haydn, Mozart und Beethoven mit<br />

Johann Sebastian Bach, musikalisch wie musikästhetisch.<br />

11 Ebenda, S. 54.<br />

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