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Leseproben Grundwissen Philosophie E-Books - Reclam

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<strong>Leseproben</strong><br />

<strong>Grundwissen</strong> <strong>Philosophie</strong><br />

Herbert Schnädelbach: Kant<br />

Udo Tietz: Heidegger<br />

Reinhard Mehring: Politische <strong>Philosophie</strong><br />

Annette Vowinckel: Arendt<br />

Gunzelin Schmid Noerr: Geschichte der Ethik<br />

Alle Rechte vorbehalten<br />

© 2012 Philipp <strong>Reclam</strong> jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart<br />

Gesamtherstellung: <strong>Reclam</strong>, Ditzingen<br />

Made in Germany 2012<br />

RECLAM ist eine eingetragene Marke<br />

der Philipp <strong>Reclam</strong> jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart<br />

www.reclam.de


Kant, der klassische Philosoph der Moderne<br />

Im Jahr 2004 jährte sich der Todestag Immanuel Kants zum<br />

200. Mal, und auf vielfältige Weise wurde seiner gedacht. Was<br />

für ein Name – kantig und erzprotestantisch! Nicht herzerwärmend<br />

wie die Namen Mozarts oder Goethes, sondern ehrfurchtgebietend<br />

und einschüchternd. Kant ist schwer und<br />

dunkel: Wer weiß schon, was das Wort »transzendental« bedeutet<br />

oder was er mit dem legendären »Ding an sich« meinte?<br />

Und dann erscheint Kant vielen als der Philosoph mit dem erhobenen<br />

Zeigefinger, der die Pflicht um ihrer selbst willen eingefordert<br />

haben soll – typisch deutsch also – und deswegen sogar<br />

in die Geschichte des Präfaschismus eingeordnet wurde.<br />

(Vgl. Ebbinghaus 81ff.) In jüngerer Zeit wurde er überdies als<br />

rationalistisches Monstrum hingestellt, dessen Lebenslauf<br />

zeige, wohin zu viel Vernunft führt. (Vgl. Böhme/Böhme)<br />

Überhaupt dienen die skurrilen Geschichten über den alten<br />

und senil gewordenen Kant bis heute dazu, sich seiner zu erwehren<br />

und aus seinem Schatten zu entfliehen: »Seht, er war<br />

auch nur ein Mensch!« So ist das öffentliche Andenken an ihn<br />

wohl mehr Pflicht als Neigung, eine publizistische Verpflichtung,<br />

die dem allgemeinen Kulturkalender folgt, und da wäre<br />

es blamabel, wenn man eine Geistesgröße vergessen hätte.<br />

Ganz anders verhält es sich im philosophischen Diskurs; die<br />

daran teilnehmen, braucht man nicht an Kant zu erinnern.<br />

Hier ist er allgegenwärtig, und zwar mit einer Selbstverständlichkeit,<br />

die nicht leicht zu erklären ist. Nimmt man einmal<br />

Platon aus, für den Ähnliches gilt, so fällt auf: Keiner unserer<br />

»Großen«, von Aristoteles bis Hegel, Nietzsche und Heidegger,<br />

kann so unumstritten beanspruchen, im Kontext unseres eigenen<br />

Denkens zu Wort zu kommen wie Kant, und darum füllen<br />

Arbeiten über ihn ganze Bibliotheken; nicht die Forschung erhält<br />

Kant am Leben, sondern Kant die Forschung und damit


zahllose Forscher in Amt und Brot. Goethe und Schiller sagten<br />

dazu: »Wie doch ein einziger Reicher so viele Bettler in Nahrung/Setzt!<br />

Wenn die Könige bau’n, haben die Kärrner zu<br />

tun.« (Goethe I, 210) Sein Werk hat alles überlebt, was seitdem<br />

als philosophische Revolution daherkam, und trotz seiner Verwurzelung<br />

im 18. Jahrhundert bewies es immer erneut, dass<br />

es unüberholbar ist. Nicht dass wir alle seine Antworten und<br />

Auskünfte einfach übernehmen könnten, aber was Kant sagte,<br />

fordert bis heute ständiges Gehör; kein anderer Philosoph<br />

wurde so oft »überwunden«, um sich danach bald wieder unüberhörbar<br />

zu Wort zu melden.<br />

Was nicht veralten will, nennen wir »klassisch«. In diesem<br />

Sinne ist Platon der klassische Philosoph schlechthin; durch<br />

ihn wissen wir überhaupt erst, was <strong>Philosophie</strong> ist. Wir lesen<br />

ihn nicht wegen seiner positiven Theorien, die schon sehr<br />

lange nicht mehr zu überzeugen vermögen, sondern wegen<br />

der rätselhaften und unausschöpflichen Kraft seiner Schriften,<br />

unser eigenes Fragen anzuregen und zu bereichern. Überhaupt<br />

sind wohl die Fragen der <strong>Philosophie</strong> bestes Teil. Kant<br />

schreibt dazu: »Es ist schon ein großer und nötiger Beweis der<br />

Klugheit oder Einsicht, zu wissen, was man vernünftiger<br />

Weise fragen solle« (B 82), und er erbrachte selbst diesen Beweis<br />

in Form der berühmten vier Fragen, auf die sich ihm zufolge<br />

das gesamte »Feld der <strong>Philosophie</strong>« bringen lässt: »Was<br />

kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist<br />

der Mensch?« (Log A 25) Das sind klassische Fragen, weil<br />

nicht zu sehen ist, wie man es als <strong>Philosophie</strong>render unterlassen<br />

könnte, sie zu stellen. Im Unterschied zu Platon können<br />

wir aber bei Kant das, was er lehrte, nicht einfach auf sich beruhen<br />

lassen; seine Antworten gehen uns unvermindert an,<br />

und darum blieb es keinem bedeutenden Philosophen seit<br />

Kants Lebzeiten erspart, sich auch dann zuerst einmal mit ihm<br />

zu befassen, wenn er sich von ihm abwenden wollte. Es bleibt<br />

uns nichts anderes übrig, als die <strong>Philosophie</strong>geschichte in die<br />

Zeit »vor Kant« und »nach Kant« einzuteilen, und wir denken<br />

alle, wenn wir nicht bloß <strong>Philosophie</strong>historiker sein wollen,


»nach Kant«, d. h. unter Bedingungen, die er ermittelt und zu<br />

respektieren gelehrt hat.<br />

So ist Kant der philosophische Klassiker unserer Epoche – der<br />

klassische Philosoph der Moderne. Und doch ist Kant nicht<br />

modern im Sinne dessen, was gerade in Mode ist; sein Denken<br />

ist nicht der »letzte Schrei«, nicht der Inbegriff des Neuesten<br />

und Fortgeschrittensten, denn manches davon hat sich inzwischen<br />

als zeitbedingt und wissenschaftsgeschichtlich überholt<br />

erwiesen. »Moderne« kann hier nur als der Zustand gemeint<br />

sein, den unsere Kultur im Zuge der Neuzeit schließlich<br />

angenommen hat. Es ist Kants epochale Leistung, erkannt zu<br />

haben, was Modernität für unsere Orientierung im Bereich der<br />

Grundsätze unseres Denkens, Erkennens und Handelns bedeutet,<br />

und dies betrifft die Art der Fragen ebenso wie die<br />

Möglichkeiten und Grenzen ihrer Beantwortung. Wir können<br />

heute relativ unumstritten drei Strukturmerkmale angeben,<br />

die moderne Kulturen kennzeichnen: vollständige Reflexivität,<br />

Profanität und Pluralität, und bei Kant lässt sich beobachten,<br />

wie sich diese Trias in geradezu unwiderstehlicher<br />

Weise auch im Innenraum einer <strong>Philosophie</strong> durchsetzt, die<br />

an der Zeit ist und ihre Zeit in Gedanken erfasst.<br />

Seitdem es Menschen gibt, leben sie als Kulturwesen, aber das<br />

wussten sie sehr lange Zeit nicht. Kulturen sind reflexiv, wenn<br />

sie sich vom bloß Natürlichen zu unterscheiden wissen und<br />

damit als Kulturen erfassen; die Unterscheidung zwischen der<br />

Menschenwelt und einem »Draußen« wird in elementarer<br />

Form bereits in den Mythologien getroffen, und sie ist auch die<br />

Wurzel des uns geläufigen Begriffs der Natur. (Vgl. Schnädelbach<br />

1991, 517f.) Vollständig reflexiv sind Kulturen, wenn sie<br />

sich bei ihrer Selbstinterpretation nicht länger auf etwas beziehen<br />

können, was Kultur und damit menschlicher Verfügung<br />

entzogen wäre – seien es Dämonen, Götter oder »die« Natur. So<br />

ist in der Moderne die Kultur in allen Dingen ganz auf sich<br />

selbst verwiesen; sie ist ihr eigenes Subjekt, denn es gibt hier<br />

keine höhere Instanz als das kulturelle »Wir«. Dass Kant<br />

gleichwohl die klassischen philosophischen Fragen in der Ich-


Form formuliert, steht dazu nicht im Widerspruch, denn das<br />

»Wir« besteht ja, wenn es nicht selbst wieder zur einer mythischen<br />

Größe erhoben wird, faktisch aus lauter Einzelnen, die<br />

nur deswegen ›wir‹ sagen können, weil sie auch ›ich‹ zu sagen<br />

vermögen. So beginnt die <strong>Philosophie</strong> der Neuzeit seit René<br />

Descartes (1596–1650) ganz selbstverständlich mit dem seiner<br />

selbst bewussten Ich-Sagen: »Ego cogito, ergo sum (Ich denke,<br />

also bin ich)«, und dies ist der Raum der philosophischen Reflexion,<br />

in der sich die Reflexivität moderner Kulturen spiegelt;<br />

die <strong>Philosophie</strong> in einer Kultur, die sich anschickt, ihre<br />

eigene Subjektrolle zu übernehmen, ist notwendig <strong>Philosophie</strong><br />

der Subjektivität.<br />

Dabei wird zunächst der methodische Ausgang vom individuellen<br />

Bewusstsein nicht als Gefährdung der Allgemeingültigkeit<br />

der philosophischen Ergebnisse angesehen, weil man<br />

bis ins 19. Jahrhundert glaubt, von einer allgemeinen Menschennatur<br />

ausgehen zu können, die garantiert, dass das, was<br />

ich als Individuum im Medium des »Ich denke« über mich sicher<br />

wissen kann, auch für alle anderen gilt; in diesem Sinn<br />

spricht auch Kant vom »Bewußtsein überhaupt« (Prol A 82) als<br />

dem Garanten des philosophischen Wir-Sagens. Erst durch einen<br />

weiteren Aufklärungsschritt wurde es zum Problem:<br />

durch den Historismus, der erkennt, dass das, was Menschen<br />

über sich wissen, stets durch die jeweiligen historischen und<br />

kulturellen Verhältnisse bedingt ist, in denen sie leben; so ersetzt<br />

er das kantische »Bewußtsein überhaupt« durch das<br />

»historische Bewusstsein«, das als Bewusstsein vom Historischen<br />

sich selbst als ein historisches erfasst. (Vgl. Schnädelbach<br />

1983, 51ff.)<br />

Dieser methodische Individualismus ist freilich keine bloß<br />

theoretische Veranstaltung. Wenn man sich fragt, was einen<br />

<strong>Philosophie</strong>renden dazu bewegen könnte, sich gegen allen<br />

Common Sense zunächst einmal ganz auf sein Ego und sein<br />

Bewusstsein zurückzuziehen, dann finden wir bei Descartes<br />

die Antwort: Es ist der Zweifel – nicht um des Zweifels willen,<br />

sondern auf der Suche nach einem Wissen, das auch subjektiv


gewiss ist. Subjektive Gewissheit aber meint Autonomie im<br />

Wissen, unabhängig von der Macht der Traditionen und Autoritäten,<br />

und damit etwas eminent Praktisches, nämlich vernünftige<br />

Selbstständigkeit in allen Dingen. So ist die subjektive<br />

Vernunft als Prinzip der neuzeitlichen <strong>Philosophie</strong><br />

notwendig zugleich kritische Vernunft, die nichts gelten lassen<br />

möchte, was sie nicht selbst einzusehen vermag. Kant<br />

zeigte dann, dass dies notwendig die Selbstkritik der Vernunft<br />

einschließt, dass es also keine vernünftige <strong>Philosophie</strong> ohne<br />

Vernunftkritik geben kann; deswegen die gigantische Arbeit<br />

seiner drei »Kritiken« – der reinen Vernunft, der praktischen<br />

Vernunft und der Urteilskraft. So reicht die vollständige Reflexivität<br />

der Kultur, die sich um 1800 im Westen durchzusetzen<br />

beginnt, in Kants Werk bis in die innere Struktur dessen hinein,<br />

was die <strong>Philosophie</strong> als unsere Vernunft zu explizieren<br />

versucht.<br />

Vollständig reflexive Kulturen sind zugleich profane Kulturen.<br />

Profan ist das Weltliche, das was im Vorhof des Heiligen verbleibt,<br />

und dies ist bei den Prinzipien kultureller Moderne<br />

wirklich der Fall. Hier ist die politische Macht nicht mehr von<br />

Gottes Gnaden; sie geht vom Volk aus. Das Rechtssystem vollstreckt<br />

nicht länger göttliche Gebote, sondern von Menschen<br />

gesetztes Recht, und selbst im Bereich der Moral ist Religion<br />

Privatsache. Auch die autonom gewordene kritische Vernunft<br />

ist profan; die Philosophen der Neuzeit verstehen sie nicht<br />

mehr wie die Stoa und die Scholastik als einen Widerschein<br />

der göttlichen Weltvernunft, sondern als eine bloße Naturtatsache;<br />

sie mag zwar von Gott geschaffen sein, aber das hat<br />

keine Bedeutung mehr für ihre Selbstauslegung. Diese Autonomie<br />

der kritischen Vernunft bedeutet jedoch zugleich ein<br />

Problem und eine Last. Kant vergleicht die Vernunftkritik mit<br />

einem Gerichtsverfahren. (Vgl. B 779) Da es sich dabei um<br />

eine Kritik der Vernunft durch die Vernunft selbst handelt,<br />

muss sie die verschiedenen Rollen des Angeklagten, Anklägers,<br />

Verteidigers und Richters selbst übernehmen; externe<br />

Instanzen sind nicht im Spiel. Diese Merkwürdigkeit ist der


Preis für die vollständige Reflexivität der Vernunft unter Bedingungen<br />

der Profanität, und er erhöht sich zudem durch die<br />

Tatsache, dass es, wenn man das Prinzip der kritischen Vernunft<br />

ganz konsequent durchführt, keine Objektivität mehr<br />

geben kann, die nicht in der selbstgewissen Subjektivität<br />

gründete – eine ziemlich halsbrecherische Situation. Die neuzeitlichen<br />

Philosophen vor Kant waren davor noch zurückgeschreckt,<br />

und sie suchten Halt für ihr Denken bei Gott als<br />

einem höchsten und notwendigen Wesen, dessen Existenz sie<br />

glaubten beweisen zu können. Wir können heute kaum noch<br />

ermessen, welchen Schock Kants Nachweis für die Mitwelt bedeutete,<br />

dass Gottesbeweise prinzipiell unmöglich sind; es<br />

ging dabei weniger um den Gott der Bibel, als um den Zusammenbruch<br />

einer Weltdeutung, die sich die Perspektive des<br />

Absoluten zugetraut hatte. Nach Kant haben wir nur unsere<br />

eigene subjektive Vernunft, die als fehlbare ständig der Kritik<br />

bedarf; und sie allein muss jetzt die Lasten tragen, die wir uns<br />

mit unseren Ansprüchen auf Allgemeingültigkeit und Objektivität<br />

aufbürden.<br />

Kant selbst ist der kritische Abschied von dem, was er als dogmatische,<br />

d. h. nicht begründbare Metaphysik hinter sich lassen<br />

musste, sehr schwer gefallen; dass es keinen Gott geben<br />

könne, war für ihn wie für seine Zeitgenossen ein nicht fassbarer<br />

Gedanke, und das galt auch für die Unsterblichkeit der<br />

Seele sowie für die Willensfreiheit, die bis heute ins neuzeitliche<br />

Weltbild deswegen so gar nicht hineinpassen will, weil<br />

sie die Naturgesetze außer Kraft zu setzen scheint. Heinrich<br />

Heine verglich Kants Widerlegung der Gottesbeweise mit der<br />

Französischen Revolution und fand die Hinrichtung des Königs<br />

harmlos dagegen, denn jetzt gelte: »der Oberherr der Welt<br />

schwimmt unbewiesen in seinem Blute«, und doch sei Kant<br />

schließlich umgefallen und habe, um seinen alten Diener<br />

Lampe (und wohl auch sich selbst) zu trösten, den toten Gott<br />

nachträglich wieder ins Spiel gebracht. (Vgl. Heine, 250f.)<br />

Diese Legende ist seitdem häufig wiederholt worden, ohne dadurch<br />

wahrer zu werden. Gott, Freiheit und Unsterblichkeit


sind nach Kant keine Prinzipien, auf die sich Wissenschaft<br />

und Moral begründen ließen, sondern sie sind nur Postulate,<br />

d. h. notwendige Gedanken, die sich uns unwiderstehlich aufdrängen,<br />

wenn wir uns als Wesen verstehen, die zu wissenschaftlicher<br />

Erkenntnis und zu moralischem Handeln fähig<br />

sind. Dass Kant »redlich« ist, sich nichts vormacht und nichts<br />

erschleicht, wofür ihm die Gründe fehlen, hat sogar Nietzsche<br />

anerkannt, der sonst zu Kant ein ziemlich zwiespältiges Verhältnis<br />

unterhielt. Von Kant unterscheidet uns Heutige nur,<br />

dass uns der Verlust des Gottesglaubens und der Erwartung<br />

eines ewigen Lebens nichts mehr auszumachen scheint; wir<br />

können damit ganz gut leben. Und wie ist es mit der Freiheit?<br />

Neuerdings wollen die Neurowissenschaftler sie uns ausreden<br />

(vgl. Roth/Singer), und solange wir uns dagegen sträuben,<br />

bleiben wir gute Kantianer.<br />

Vollständige Reflexivität einer Kultur bedeutet aber nicht nur<br />

Profanität, sondern auch Pluralität. Wenn Kulturen sich erst<br />

einmal als Lebenszusammenhänge begriffen haben, die ohne<br />

göttliche Offenbarung und Weisung auskommen müssen,<br />

bleibt ihnen nichts anderes übrig, als ihre Weltdeutungen und<br />

Handlungsnormen selbst zu erfinden und zu verantworten;<br />

die aber sind dann notwendig umstritten, denn es sind ja immer<br />

viele, die sich daran beteiligen wollen. Moderne Kulturen<br />

sind darum Kulturen ohne eine »natürliche« oder gottgewollte<br />

»Mitte«, die menschlicher Verfügung entzogen wäre; in diesem<br />

Sinne sind sie dezentriert, und sie erhalten sich nur im<br />

Zusammenspiel und häufig genug im Konflikt der verschiedenen<br />

kulturellen Mächte und Instanzen. Genau in diesem Sinne<br />

hat Heinrich Rickert Kant in einem Buch, das zu dessen 200.<br />

Geburtstag im Jahre 1924 erschien, als Philosophen der modernen<br />

Kultur gefeiert. Darin entwirft er in ausführlichem<br />

Rückgriff auf Max Webers Modell der abendländischen Rationalisierung<br />

ein Bild der modernen Kultur und spricht Kant das<br />

folgende Verdienst zu: »Kant hat als erster Denker in Europa<br />

die allgemeinsten theoretischen Grundlagen geschaffen, die<br />

wissenschaftliche Antworten auf spezifisch moderne Kultur-


probleme überhaupt möglich machen, und insbesondere läßt<br />

sich dartun: sein Denken, wie es sich in seinen drei großen Kritiken<br />

darstellt, ist in dem Sinn ›kritisch‹, das heißt scheidend<br />

und Grenzen ziehend gewesen, daß es dadurch im Prinzip<br />

dem Prozeß der Verselbständigung und Differenzierung der<br />

Kultur entspricht, wie er sich seit dem Beginn der Neuzeit faktisch<br />

vollzogen, aber in der <strong>Philosophie</strong> vor Kant noch keinen<br />

theoretischen Ausdruck gefunden hatte.« (Rickert 141) Verselbstständigung<br />

und Differenzierung der Kultur meint das,<br />

was Max Weber als Ausdifferenzierung und Autonomisierung<br />

von Handlungssystemen und Wertsphären, Lebensformen<br />

und Weltbildern beschrieb, an deren Ende der »Polytheismus<br />

der Werte« steht, also ein Pluralismus letzter und oberster Lebensorientierungen,<br />

in dem sich die menschliche Vernunft<br />

zurechtfinden muss. (Vgl. Weber 474ff., insbes. 500; auch<br />

Habermas I, 225ff.)<br />

Dass moderne Kulturen kein Zentrum mehr aufweisen, von<br />

dem her alle Teilbereiche gesteuert werden könnten, wird seit<br />

ihrer Entstehung als »Entzweiung«, »Entfremdung« oder »Verlust<br />

der Mitte« beklagt; in unserer Tradition war hier vor allem<br />

Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) der Wortführer. So wurde<br />

er zum Stammvater der deutschen Romantik und ihrer<br />

Träume von Ganzheit und Versöhnung, die bis in unsere<br />

Gegenwart fortdauern. Dabei ist die Romantik selbst ein modernes<br />

Phänomen. Sie setzt die Erfahrung der Modernität voraus;<br />

sie verleugnet sie nicht einfach, möchte sie aber hinter<br />

sich lassen. Darum sind romantische Visionen in der Regel weniger<br />

bloß nostalgische Beschwörungen eines Vergangenen<br />

als vielmehr Vorgriffe auf eine Utopie. Die <strong>Philosophie</strong> des<br />

deutschen Idealismus, die nicht schon mit Kant, sondern erst<br />

mit Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) beginnt und in Hegels<br />

System (Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 1770–1831) ihren<br />

Gipfelpunkt erreicht, kann man nicht als romantisch bezeichnen;<br />

sie kommt aber mit der Romantik darin überein, dass sie<br />

die Moderne zwar auf den Begriff bringt, sie aber zugleich in<br />

die Perspektive ihrer Überwindung rückt. Kant hingegen er-


scheint hier wie bei allen Hegelianern bis hin zu Adorno als<br />

»Reflexionsphilosoph« (vgl. Hegel 2, 25ff. und 287ff.), d. h. als<br />

ein Denker, der vor der eigentlichen Aufgabe der <strong>Philosophie</strong>,<br />

das Wahre als das Ganze zu begreifen (vgl. Hegel 3, 24), resigniert<br />

und sich verstockt in seiner Subjektivität eingerichtet<br />

hat.<br />

Inzwischen sollten uns spätestens die Erfahrungen des Totalitarismus<br />

von jenen romantischen Ganzheitssehnsüchten<br />

geheilt haben; ihre Anhänger übersehen meist, dass hier nur<br />

freiheitsfeindliche Ideologien wie der moderne Fundamentalismus<br />

ein Angebot machen können. Wir haben gelernt, dass<br />

es die Pluralität, ja sogar die Gegensätzlichkeit der Prinzipien<br />

ist, die in der modernen Kultur unsere Freiheiten garantiert;<br />

und die Vorstellung, sie müssten sich sämtlich aus einem einzigen<br />

Superprinzip ableiten lassen, das womöglich noch von<br />

der politischen Macht verwaltet wird, sollte uns schrecken. In<br />

der modernen Kultur mit ihrer Pluralität der Prinzipien besteht<br />

unsere Freiheit in einer Pluralität von Freiheiten; diese<br />

gründen selbst in einer Reihe fundamentaler Unterscheidungen,<br />

die in ihrer Gegensätzlichkeit die Modernität unserer Kultur<br />

ausmachen. Aus dem, was ist, folgt nicht, was sein soll;<br />

also hat die Wissenschaft nicht die Kompetenz, uns zu sagen,<br />

was wir tun sollen. Moral und Politik stehen auf eigenen Füßen,<br />

und die Diktatur von Theoretikern ist ausgeschlossen,<br />

was umgekehrt Wissenschaftsfreiheit bedeutet. Moral und<br />

Politik bedürfen ihrerseits keiner religiösen Basis, was wiederum<br />

die Religion von der Zumutung entlastet, die Menschen<br />

Mores lehren zu sollen. Die Künste sind nicht länger die<br />

Mägde von Religion und Moral, und ihre politische Instrumentalisierung,<br />

an der in prämodernen Zeiten niemand Anstoß<br />

nahm, gilt jetzt als ästhetischer Frevel. All dies hat Kant wie<br />

keiner vor ihm auf den Begriff gebracht und auf Argumente gegründet,<br />

die auch heute noch standhalten; auch darum ist er<br />

der klassische Philosoph der Moderne.<br />

Die Frage ist freilich, ob die moderne Pluralität nicht doch eines<br />

inneren Zusammenhaltes bedarf; in der Tat kann sie nicht


das letzte Wort sein, wenn wir den möglichen Konflikt zwischen<br />

den verschiedenen Prinzipien bedenken, der oft genug<br />

in offenen Krieg übergeht. Kants Moralprinzip, der Kategorische<br />

Imperativ, bietet hier einen Ausweg. Er wurde seit Hegel<br />

(vgl. 2, 461ff.) immer wieder als formalistisch gescholten, und<br />

es wurde behauptet, man könne mit ihm alles und jedes, und<br />

sei es das Verbrechen, moralisch rechtfertigen und zur Pflicht<br />

erheben. (Vgl. Ebbinghaus, insbes. 85ff.) Dies schien nach<br />

dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu erklären, warum die kantianischen<br />

Deutschen Hitler pflichtbewusst bis in den Untergang<br />

folgten. Tatsächlich ist der Kategorische Imperativ formal,<br />

er lässt uns unsere jeweiligen Handlungsgrundsätze, die<br />

er »Maximen« nennt, fordert uns aber auf zu prüfen, ob wir sie<br />

als allgemeingültige Gesetze denken und wollen könnten, und<br />

nur dann seien sie moralisch. Das hat mit Formalismus nichts<br />

zu tun, denn bei solcher Prüfung scheiden viele Maximen als<br />

unmoralisch aus. Das Formale der kantischen Ethik aber hat<br />

den Vorteil, dass es uns die Entscheidung darüber, wie wir leben<br />

wollen, selbst überlässt, und uns nur dazu verpflichtet zu<br />

überlegen, ob dies mit der freien Entscheidung anderer, die<br />

anders ausfällt, verträglich ist oder nicht. Aus solchen Überlegungen<br />

ergibt sich ihm zufolge der Gedanke einer formalen<br />

Rechtsordnung, die die Menschen nicht bevormundet, sondern<br />

nur den Frieden unter ihnen garantiert. So ist Kant der<br />

Philosoph des Friedens unter Bedingungen der Moderne, d. h.<br />

einer Friedensordnung, die Pluralität eröffnet und lebbar<br />

macht.<br />

Diese Einführung versucht, an Kants <strong>Philosophie</strong> am Leitfaden<br />

der großen Unterscheidungen heranzuführen, die sein<br />

Denken bestimmten; in ihnen meldete sich die kulturelle<br />

Moderne im begrifflichen Medium zu Wort: »Wissenschaft<br />

und Aufklärung«, »Ding an sich und Erscheinung«, »Sinnlichkeit<br />

und Verstand«, »Verstand und Vernunft«‚ »Natur und Freiheit«,<br />

»Sein und Sollen«, »Pflicht und Neigung«, »Moral, Recht<br />

und Politik«, »Wissen und Glauben«, »Die Vernunft und der<br />

Mensch«. Sie alle haben immer wieder die »Kantüberwinder«


herausgefordert, weil sie doch nicht das letzte Wort der <strong>Philosophie</strong><br />

sein könnten; dabei übersahen sie stets, dass die kantischen<br />

Gegensätze sämtlich die Endlichkeit unserer Vernunft<br />

ausdrücken. Das hegelsche Argument, wer Endlichkeit gedacht<br />

habe, sei doch schon darüber hinaus, weil man schon<br />

Unendlichkeit gedacht haben müsse, um Endlichkeit denken<br />

zu können, hat bis heute manche überzeugt, und so glaubten<br />

sie, über Kant hinausgehen zu können. Dagegen ist zu sagen:<br />

Endlichkeit verweist unter Bedingungen der Moderne nicht<br />

mehr der Sache nach, sondern höchstens grammatisch auf die<br />

Unendlichkeit. Die Tatsache, dass wir verstehen, was ›unendlich‹<br />

bedeutet, ermächtigt uns noch nicht dazu, unsere Vernunft<br />

in dem Sinne für unendlich zu halten, dass wir mit ihr<br />

den Gottesstandpunkt einer absoluten Perspektive aller Perspektiven<br />

einnehmen könnten. Kant selbst gestand sogar zu,<br />

dass wir gar nicht umhinkönnen, das Ganze, das Unendliche,<br />

Absolute denkend ins Auge zu fassen, aber wir können nicht<br />

damit Erkenntnisansprüche verbinden oder gar unser Leben<br />

danach einrichten.


Einleitung<br />

»Jede philosophische Problematik hat etwas im Rücken, das<br />

sie selbst und trotz ihrer höchsten Durchsichtigkeit nicht erreicht,<br />

denn die Durchsichtigkeit hat sie gerade daher, daß<br />

sie um jene Voraussetzung nicht weiß.«<br />

Martin Heidegger<br />

Heidegger zählt zu den Denkern, die den philosophischen<br />

Diskurs der Moderne im 20. Jahrhundert entschieden geprägt<br />

haben. Wie wenige vor ihm hat er unser abendländisches<br />

Selbstverständnis einer grundlegenden Revision unterziehen<br />

wollen, die auch noch die Grundlagen eines Denkens betrifft,<br />

das sich auf das neuzeitliche Prinzip der Subjektivität und das<br />

damit verbundene Seinsverständnis gründet. Heidegger geht<br />

es um einen anderen Anfang, um einen Anfang, der nicht<br />

mehr den Menschen samt seiner verabsolutierten Zweckrationalität<br />

der »Durchrechnung alles Handelns und Planens« in<br />

den Mittelpunkt der Betrachtung stellt, sondern um einen Anfang,<br />

der auf dem Weg einer intern ansetzenden Überwindung<br />

der Metaphysik dieses Seinsverständnis überschreitet. Und insofern<br />

im Abendland die Metaphysik der Ort ist, an dem sich<br />

dieses Seinsverständnis artikuliert, zielt Heidegger nicht nur<br />

auf eine philosophische Revision des abendländischen Selbstverständnisses,<br />

sondern gleichzeitig auf eine Revision der<br />

gesamten Metaphysik.<br />

Es besteht kein Zweifel: Heidegger geht es um die Eröffnung<br />

neuer Denkhorizonte, die jenseits des vergegenständlichenden<br />

Denkens der traditionellen Metaphysik liegen, von der er<br />

meint, daß sie das abendländische Denken gefangenhält. Er<br />

stieß dabei jedoch auch an Grenzen, die er nicht zu überschreiten<br />

vermochte. Genau hier liegen die Schwierigkeiten<br />

einer angemessenen Rezeption. Denn angemessen kann keine<br />

Rezeption sein, die einzelne Begriffe, Thesen und Einsichten<br />

aus ihrem Zusammenhang heraushebt oder aber die Denk-


weise von Heidegger nur imitiert – einer der wohl unsympathischsten<br />

Züge der »Verehrung« eines Philosophen, der nur<br />

Verachtung für eine derartige Verehrung übrig gehabt hätte.<br />

Eine produktive Rezeption kann nur indirekter Art sein, wobei<br />

sich zweierlei zeigen müßte: erstens, inwieweit wir noch heute<br />

von den Fragen betroffen sind, die Heidegger umtrieben, und<br />

zweitens, wie sich einzelne Intentionen und Motive Heideggers<br />

retten lassen, ohne daß wir uns damit auf Prämissen verpflichten,<br />

die sich unter den Bedingungen eines Denkens nach<br />

Heidegger nicht mehr vertreten lassen.


Die Frühschriften<br />

Im Vorwort zu den Frühen Schriften stellt Heidegger 1972 fest:<br />

»Zur Zeit der Niederschrift der vorliegenden, im wörtlichen<br />

Sinne hilf-losen frühen Versuche, wußte ich noch nichts von<br />

dem, was später mein Denken bedrängte. Gleichwohl zeigen<br />

sie einen mir damals noch verschlossenen Wegbeginn: in Gestalt<br />

des Kategorienproblems die Seins-frage, die Frage nach<br />

der Sprache in der Form der Bedeutungslehre. Die Zusammengehörigkeit<br />

beider Fragen blieb im Dunkel. Die unvermeidliche<br />

Abhängigkeit ihrer Behandlungsart von der herrschenden<br />

Maßgabe der Lehre vom Urteil für alle Onto-Logik ließ das<br />

Dunkel nicht einmal ahnen.« (GA 1, 55) Nimmt man diese<br />

Feststellung ernst, dann deuten sich in Heideggers »hilf-losen<br />

frühen Versuchen« die zwei zentralen Themen seines Denkens<br />

an: die Seinsfrage und die Frage nach der Sprache. Beide<br />

Fragen haben ihn zeit seines Lebens beschäftigt.<br />

Bei den hier angesprochenen Versuchen handelt es sich um<br />

Heideggers Dissertation Zur Lehre vom Urteil im Psychologismus<br />

aus dem Jahr 1913 und um seine Habilitation zur<br />

Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus von 1915,<br />

die Heidegger Heinrich Rickert (1863–1936), dem damaligen<br />

Haupt des südwestdeutschen Neukantianismus, »in dankbarster<br />

Verehrung« widmet. Rickert, der auch schon der Zweitgutachter<br />

der Dissertation war, übte einen überaus starken Einfluß<br />

auf den frühen Heidegger aus, insofern dieser zusammen<br />

mit Emil Lask (1875–1915) und Edmund Husserl (1859–1938),<br />

dem Begründer der Phänomenologie, in Frontstellung zum<br />

Psychologismus das Urteil als »psychischen Vorgang des Zusammentreffens<br />

verschiedener Vorstellungen« gegenüber dem<br />

»Vorstellungsinhalt« im Sinne des »Urteilssinns« abgehoben<br />

hat – womit der Weg in Richtung einer antipsychologistischen<br />

und damit antirelativistischen Logikbegründung frei schien.


Auch Heidegger geht es in seinen beiden Qualifikationsarbeiten<br />

um solch eine antipsychologistische Logikbegründung,<br />

wobei sich das maßgebliche Argument aus der Unterscheidung<br />

von »Urteilssinn« und »Urteilsvollzug« ergeben soll. Heidegger<br />

entnimmt den beiden bedeutendsten antipsychologistischen<br />

Denkbewegungen am Anfang des 20. Jahrhunderts,<br />

der neukantianischen Geltungsphilosophie und der Phänomenologie,<br />

aber nicht nur seine Argumente gegen den<br />

Psychologismus, sondern auch seine Argumente zum »Wesen<br />

des Urteils«. Und dies ist kein Zufall. Heideggers Interesse am<br />

Urteil ist gut begründet. Er wählt die »Lehre vom Urteil [...],<br />

weil sich am Urteil, das mit Recht als ›Zelle‹, d. h. als Urelement<br />

der Logik, betrachtet wird, am schärfsten der Unterschied<br />

zwischen Psychischem und Logischem herausstellen lassen<br />

muß, weil vom Urteil aus der eigentliche Aufbau der Logik sich<br />

zu vollziehen hat« (GA 1, 64).<br />

Wie immer man das komplizierte Spannungsverhältnis von<br />

Geltungsphilosophie und Phänomenologie im Frühwerk von<br />

Heidegger einschätzen mag, sicher ist, daß Heidegger es seinerzeit<br />

Rickert, Lask und Husserl als Verdienst anrechnete, das Urteil<br />

vom »Vorstellungsinhalt« im Sinne des »Urteilssinns« abgegrenzt<br />

zu haben, womit Rickert, Lask und Husserl »den<br />

psychologischen Bann eigentlich gebrochen« haben. Auch<br />

Heideggers Antipsychologismus ist durch diese Unterscheidung<br />

von »Urteilssinn« und »Urteilsvollzug« charakterisiert.<br />

Antipsychologismus: Urteilssinn und Urteilsvollzug<br />

Heideggers Strategie, den Psychologismus zu widerlegen, besteht<br />

aus zwei Teilschritten: In einem ersten Schritt attackiert<br />

er die Konsequenzen, die sich aus den Versuchen ergeben, die<br />

Logik psychologistisch zu fundieren, um dann in einem zweiten<br />

Schritt mittels ebendieser Unterscheidung die Voraussetzungen<br />

des Psychologismus in Frage zu stellen.


Die Quintessenz seiner Psychologismuskritik besteht in der<br />

Feststellung, daß die »verschiedenen Urteilslehren in der allgemeinen<br />

Auffassung des Urteils« darin einig sind, daß »das<br />

Urteil [...] ein psychischer Vorgang« sei, der »sich in den<br />

Zusammenhang der psychischen Wirklichkeit einordnet«<br />

(GA 1, 116f.). Genau hierin sieht Heidegger den Grundfehler<br />

der bekämpften Position. »Die Ableitung des Urteils aus der<br />

Grundeigenschaft der apperzeptiven Geistestätigkeit [...] ist<br />

Psychologismus« (GA 1, 162), was insofern auch plausibel ist,<br />

als wir die Wahrheit oder Falschheit unserer Urteile ganz offensichtlich<br />

nicht von dem einwandfreien Funktionieren unseres<br />

Bewußtseins abhängig machen. Wenn wir fälschlicherweise<br />

von einem roten Tisch sagen, er sei blau, dann erklären<br />

wir diesen Fehler mit Rekurs auf eine Wahrnehmungstäuschung<br />

oder damit, daß wir die Farbprädikate »rot« und »blau«<br />

verwechselt haben, nicht aber damit, daß wir sagen, unser<br />

Bewußtsein hat gerade nicht richtig gearbeitet.<br />

Der Gehalt unserer Überzeugungen, Heidegger spricht hier<br />

durchweg von Urteilen, läßt sich nicht aus der »apperzeptiven<br />

Geistestätigkeit« ableiten. »Die Problematik des Urteils liegt<br />

nicht im Psychischen.« (GA 1, 164) Zudem kollidiert die psychologistische<br />

Fundierung der Logik mit ihrem normativen<br />

Charakter, weshalb solch eine Position abzulehnen sei. Denn<br />

wenn sich die Logik mit der Normierung des Denkens befaßt,<br />

dann kann die normierende Kraft nicht in einem empirischen<br />

Sinn verstanden werden. Für Heidegger ist früh schon klar,<br />

daß sich der Psychologismus mit »seinen relativistischen Konsequenzen«<br />

selbst widerlegt. Gleichwohl meint er, daß mit der<br />

Feststellung seiner relativistischen Konsequenzen in positiver<br />

Hinsicht wenig ausgemacht sei. (GA 1, 165)<br />

Heidegger greift also den Psychologismus als Relativismus mit<br />

einem Selbstwiderlegungsargument an und fragt dann, worin<br />

die Alternative zu dieser selbstwidersprüchlichen Position besteht.<br />

Und diese Alternative sieht er durch die Geltungsphilosophie<br />

vorgezeichnet, insofern hier »die Wirklichkeitsform des<br />

im Urteilsvorgang aufgedeckten identischen Faktors« als gel-


tender Sinn bestimmt wird. Heidegger orientiert sich mit der<br />

Unterscheidung von Urteilssinn und Urteilsvollzug, von logischem<br />

Gehalt und psychischen Akten an der Geltungsphilosophie,<br />

weil er der Auffassung ist, daß das »in der Zeit verlaufende<br />

Denkgeschehen« und der »ideale außerzeitliche<br />

identische Sinn« nicht identisch sein können. Nach Heidegger<br />

muß man das, »was ›ist‹, von dem, was ›gilt‹«, unterscheiden.<br />

Diese Unterscheidung, die für Heidegger eine zwischen dem<br />

Faktischen und dem Normativen ist, hat der Psychologismus<br />

nicht getroffen und statt dessen das Normative ins Faktische<br />

herabgezogen. Genau dies hält Heidegger für einen Fehler.<br />

»Die Logik bewegt sich nur in der Sphäre des Sinns«, nicht in<br />

der des Faktischen. Es ist das Reich der Geltung, das Heidegger<br />

für das Logische reserviert, ein Reich, welches der Psychologismus<br />

nicht kennt, weil er »die logische ›Wirklichkeit‹« nicht<br />

kennt, wobei Heidegger meint, daß dieses Reich nicht nur gegen<br />

das Psychische, sondern auch gegen das Metaphysische<br />

abzugrenzen sei. Er will den Relativismus nicht um den Preis<br />

eines Rückfalls in eine unkritische Metaphysik überwinden,<br />

sondern auf dem kritischen Weg.<br />

Für Heideggers antipsychologistische Logikfundierung ist somit<br />

erstens die Unterscheidung von »Urteilssinn« und »Urteilsvollzug«<br />

und zweitens die Unterscheidung von »Sein« und<br />

»Gelten« charakteristisch. Doch was ist das: »Sinn«? Auch Heidegger<br />

stellt sich diese Frage: »Hat es überhaupt Sinn, danach<br />

zu fragen? Wenn wir den Sinn des Sinnes suchen, müssen wir<br />

doch wissen, was wir suchen, eben den Sinn. Die Frage nach<br />

dem Sinn ist nicht sinnlos.« (GA 1, 170) Diese Frage ist nicht<br />

trivial. Denn von der Art und Weise ihrer Beantwortung hängt<br />

nicht nur die Plausibilität von Heideggers früher Psychologismuskritik<br />

ab, es werden zugleich die Weichen für spätere<br />

Entwicklungen gestellt.<br />

Wie beantwortet er nun die Frage nach dem Sinn? »Sinn steht<br />

im engen Zusammenhang mit dem, was wir ganz allgemein<br />

mit Denken bezeichnen, wobei wir unter Denken nicht den<br />

weiten Begriff Vorstellen verstehen, sondern Denken, das rich-


tig oder unrichtig, wahr oder falsch sein kann [...]. Die Wirklichkeitsform<br />

des Sinnes ist das Gelten.« (GA 1, 172) Der Sinn<br />

ist es, der gilt. Er »verkörpert« das Logische. Denn der Sinn ist<br />

der »Inhalt, die logische Seite des Urteils«, oder, wie Heidegger<br />

auch sagt: »Das Urteil der Logik ist Sinn.« (GA 1, 172)<br />

Bemerkenswert an dieser Antwort ist zum einen, daß der Sinnbegriff<br />

nicht mit Bezug auf die Sprache eingeführt wird, was<br />

insofern naheläge, als es sich bei Urteilen um einen sprachlich<br />

zugänglichen Sinn handelt, sondern mit Bezug auf das »Denken«,<br />

also innerhalb eines mentalistischen Paradigmas; und<br />

zum anderen, daß Heidegger behauptet: der Sinn gilt. Ebendiese<br />

Rede von einem Sinn, der gilt, ist keineswegs eindeutig.<br />

Eindeutig ist lediglich, daß Heidegger den Wahrheitsanspruch<br />

als einen Geltungsanspruch versteht. Denn das Wahre ist für<br />

ihn das Geltende selbst. Vergleichen wir aber die Prädikatausdrücke<br />

»... ist wahr« und »... gilt«, dann stellen wir fest, daß ein<br />

Wahrheitsanspruch kein Geltungsanspruch ist, da »gelten« in<br />

aller Regel in dreistelligen Prädikaten vorkommt, wobei wir<br />

zwei paradigmatische Fälle unterscheiden können: »X gilt für<br />

jemanden als Y« und »X gilt für jemanden für etwas«.<br />

Nun untersteht die Wahrheitsfrage allerdings keiner solchen<br />

normativen Beziehung. Der Anspruch, den wir mit einem konstatierenden<br />

Sprechakt erheben, ist lediglich der, daß das, was<br />

wir sagen, wahr ist. Daher ist es »nichtssagend, den Wahrheitsanspruch<br />

einen Geltungsanspruch zu nennen, weil das, was<br />

da als Geltung beansprucht wird, nichts anderes als die Wahrheit<br />

selbst ist, oder es ist irreführend, weil der Anspruch ›p ist<br />

wahr‹ und der Anspruch ›p gilt‹ schon aus semantischen Gründen<br />

nicht miteinander identisch sein können. Wahrheitsfragen<br />

sind keine Geltungsfragen in dem Sinn, daß man in<br />

allen Kontexten das Prädikat ›... ist wahr‹ durch das Prädikat<br />

›... gilt ...‹ ersetzen könnte.« 1<br />

Um den Relativismus in der Urteilstheorie abzuwehren, greift<br />

Heidegger also – in Reaktion auf den Psychologismus – zuerst<br />

das Wahrheitsproblem auf der Ebene der Erkenntnis auf und<br />

leitet damit den Übergang von der deskriptiven zur normati-


ven Rede ein, der dann mit dem Terminus »gelten« effektiv<br />

vollzogen wird. Nachdem auf diese Weise die objektive Geltung<br />

von den Relativierungen des Urteilsvorgangs abgezogen<br />

wurde, behauptet er nun, daß das »Gelten dieses von jenem<br />

[...] der logische Begriff der Kopula« besagt, die die »Relation<br />

zwischen Gegenstand und bestimmendem Bedeutungsgehalt«<br />

repräsentieren soll und daher als ein »notwendiger dritter<br />

Bestandteil des Urteils« (GA 1, 178) aufgefaßt werden muß. Im<br />

Bestreben, die Gebietsfremdheit von Logik und Grammatik<br />

darzutun, wird so die Kopula, also das grammatische Bindeglied<br />

zwischen Subjekt und Prädikat, »das wesentlichste und<br />

eigentümlichste Element im Urteil«. Denn sie repräsentiert<br />

das Logische überhaupt, »sofern dessen Wirklichkeitsform gerade<br />

das Gelten ist«. Und so meint Heidegger nun behaupten<br />

zu können: »Aus der bestehenden Zweigliedrigkeit folgt analytisch,<br />

daß die Kopula ein notwendiger dritter Bestandteil des<br />

Urteils sein muß.« (GA 1, 178)<br />

Mit dieser Interpretation der Kopula als dritter Bestandteil des<br />

Urteils glaubt Heidegger die »Frage nach dem ›Sinn des Seins‹<br />

im Urteil erledigt« zu haben. Die Schlußfolgerung, daß die<br />

Kopula als vermittelnde Mitte zwischen den Relaten die Vermittlung<br />

leistet, wäre jedoch nur zwingend, wenn man bereits<br />

akzeptiert, was erst noch zu zeigen wäre: daß das Urteil im<br />

Sinne der Gegenstandstheorie als eine Verbindung des Subjekts<br />

mit dem Prädikat gedacht werden muß. Wenn man jedoch<br />

das Urteil als »Relation« vorstellt und die Kopula als jenes<br />

»wesentlichste [...] Element im Urteil« interpretiert, das eine<br />

»Relation vor den Gliedern« darstellt, dann wird nicht nur<br />

deutlich, daß der Wahrheitsanspruch fälschlicherweise als ein<br />

Geltungsanspruch verstanden werden muß, insofern die<br />

Kopula das logische »gilt« repräsentieren soll, sondern auch,<br />

daß Heideggers Antipsychologismus erkauft wird mit einer<br />

Idealisierung der Geltung und der Bedeutung, die sich zu den<br />

Urteilen wie Platons (427–347 v. Chr.) Ideen zu ihren irdischen<br />

Manifestationen verhält.<br />

Dies zeigt sich, wenn wir Heideggers Beispiel des prädikativen


Satzes betrachten. Das »Urteil: ›Der Einband ist gelb‹ hat den<br />

Sinn: Gelbsein des Einbandes gilt. Dieser Sinn läßt sich genauer<br />

so ausdrücken: Vom Einband gilt das Gelbsein.« (GA 1,<br />

175) Doch was besagt eigentlich: »Vom Einband gilt das Gelbsein«?<br />

Klar ist, daß der Übergang von »Der Einband ist gelb« zu<br />

»Vom Einband gilt das Gelbsein« eine Veränderung des Ausdrucks<br />

mit sich bringt. Die Form des Ausdrucks hat sich in der<br />

Weise verändert, daß das Prädikat »ist gelb« durch eine Nominalisierung<br />

in den singulären Terminus »das Gelbsein« verwandelt<br />

wurde.<br />

Nun läßt sich aber nicht nur zeigen, daß die nominalisierte<br />

Form semantisch sekundär ist gegenüber der prädikativen<br />

Form, sondern auch, daß Heidegger dadurch, daß er die semantische<br />

Dimension überhaupt nicht wahrnimmt, die Bedeutung<br />

des Prädikates durch dessen Vergegenständlichung<br />

als einen selbständigen Gegenstand auffassen muß, auf den referierend<br />

Bezug genommen wird, so daß die Prädikation nach<br />

dem Modell der Referenz mißdeutet werden muß. Semantisch<br />

sekundär ist die nominalisierte Form deshalb, weil der nominalisierte<br />

Satz »daß p« nicht mehr, sondern weniger enthält als<br />

der ursprüngliche Satz »p«. Denn ihm wurde bei der Transformation<br />

in den singulären Terminus sein Behauptungsmoment<br />

entzogen. 2 Wenn man nur sagt: »daß es heute regnet«, gibt<br />

man im Unterschied zu »heute regnet es« noch nichts zu verstehen,<br />

schafft allerdings eine Leerstelle durch den Verzicht<br />

auf das Behauptungsmoment. Und die Bedeutung des Prädikats<br />

muß Heidegger deshalb als einen selbständigen Gegenstand<br />

auffassen, weil das Geltende, das ja gerade nicht mehr<br />

im Sinne von Existenz gedacht werden sollte, sich durch die<br />

Nominalisierung »das Gelbsein« selbst in ein Existierendes<br />

verwandelt 3 , so daß Heidegger analog zu Rickert, Lask und<br />

Husserl die Bedeutung des Aussagesatzes als einen zusammengesetzten<br />

Gegenstand auffassen muß. Zwar sagt Heidegger<br />

selbst: »Aus dem Eigenschaftswort ›blau‹ ergibt sich durch<br />

Nominalisierung ›das Blaue‹ und so in jedem Fall.« (GA 1, 356)<br />

Dennoch meint er, daß es zu jedem Ausdruck, also auch für


Adjektive wie »blau« oder für Zahlen wie »fünf«, eine besondere<br />

Entität gibt, zu der der Ausdruck in der Beziehung der<br />

Bezeichnung steht.<br />

Nominalisten – für die die Universalien nur Namen sind und<br />

nichts Wirkliches repräsentieren – hatten für solche Vergegenständlichungen<br />

von Entitäten nur abfällige Etikettierungen<br />

übrig, da dieser Universalienrealismus auf einem simplen<br />

Kategorienfehler beruht, der nach Gilbert Ryle (1900–1976)<br />

folgendermaßen funktioniert: So wie es eine mir bekannte<br />

Entität gibt, etwa meinen Hund Fido, der auf den Namen<br />

»Fido« hört und durch diesen Namen bezeichnet wird, so muß<br />

es für jeden sinnvollen Ausdruck eine besondere Entität geben,<br />

zu der er in der Beziehung der Bezeichnung steht, eben<br />

der durch »Fido«–Fido bezeichneten Realität. Während jedoch<br />

»Fido« tatsächlich ein Name ist, behandelt der Universalienrealist<br />

auch Ausdrücke als Namen, die überhaupt keine<br />

Namen sind, eben Ausdrücke wie »blau« und »fünf«.<br />

Während für den Nominalismus, der in ontologischer Hinsicht<br />

als eine Gegenposition zum Universalienrealismus angesehen<br />

werden kann, die These charakteristisch ist, daß es<br />

keine abstrakten Entitäten gibt, die durch singuläre oder allgemeine<br />

Termini bezeichnet werden 4 , glaubt Heidegger, daß<br />

das Nomen nicht nur einen »Gegenstand überhaupt« oder ein<br />

»Wesen« zu bedeuten hat, sondern eben auch, daß dieses<br />

Wesen das Universale »repräsentiert«. Damit sind in bedeutungstheoretischer<br />

Hinsicht schon in seiner Dissertation und<br />

seiner Habilitation die Weichen für eine gegenstandstheoretische<br />

Engführung der Sprachphilosophie im allgemeinen und<br />

der Prädikations- und Bedeutungstheorie im besonderen<br />

gestellt.<br />

Aber auch Heideggers These, daß sich die Urteile in positive<br />

und negative einteilen lassen und daß die »Negation primär in<br />

der Kopula ruht« (GA 1, 183f.), eine Auffassung, die Heidegger<br />

mit Rudolf Hermann Lotze (1817–1881), Rickert, Husserl und<br />

den meisten Logikern seiner Zeit teilte 5 – eine These im übrigen,<br />

die uns in ontologisch modifizierter Form in Heideggers


Freiburger Antrittsvorlesung, Was ist Metaphysik, wiederbegegnen<br />

wird, insofern Heidegger hier behauptet, daß das<br />

»Nichts«, also ein unbestimmter singulärer Terminus, der<br />

überhaupt erst durch seine Nominalisierung zu einem bestimmten<br />

singulären Terminus wird, »ursprünglicher als das<br />

Nicht und die Verneinung« (GA 9, 108) ist –, kann in dieser<br />

Form nicht richtig sein, da es keine Möglichkeit gibt, die Sätze<br />

in bejahende und verneinende einzuteilen. Denn das Prädikat<br />

»ist gelb« ist genauso positiv wie das Prädikat »ist nicht gelb«.<br />

Folglich unterscheiden sich die beiden Sätze nicht als Behauptungen,<br />

sondern lediglich hinsichtlich ihres propositionalen<br />

Gehalts. Dies jedoch bedeutet, daß die Negation keine Eigenschaft<br />

ist, die einem Urteil an sich zukommt, sondern eine<br />

Operation darstellt, die, auf einen Satz angewendet, den entgegengesetzten<br />

erzeugt. 6<br />

Der von Heidegger übersehene Punkt ist, daß der Aussagesatz<br />

»Der Einband ist gelb« genauso behauptend ist wie der Aussagesatz<br />

»Der Einband ist nicht gelb«. Der zweite Satz negiert<br />

nicht den ersten, sondern lediglich das, was der erste behauptet<br />

– seinen propositionalen Gehalt. 7 Der propositionale Gehalt<br />

entspricht nun aber genau dem, was in der nominalisierten<br />

Form durch »daß p« zum Ausdruck gebracht wird. Wenn also<br />

sowohl der Sprecher als auch der Hörer sagen kann: »das ist<br />

wahr«, dann sind die Sprechhandlungen, mit denen ein Hörer<br />

auf eine Behauptung des Sprechers reagiert, in der gleichen<br />

geregelten Weise auf die Äußerungen des Sprechers bezogen,<br />

wie die Sprechhandlungen eines Sprechers auf die Ja/Nein-<br />

Stellungnahmen des Hörers. Dies aber bedeutet, daß es keinen<br />

generellen Unterschied und auch kein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis<br />

»zwischen bejahenden und verneinenden Aussagen<br />

gibt; wir können nur sagen, daß die zweite die Verneinung<br />

der ersten ist«, so wie die erste die Verneinung der<br />

zweiten. Beide Sprechhandlungen beziehen sich offenkundig<br />

auf dasselbe: Das, was der eine Sprecher verneint, wird von<br />

dem anderen Sprecher bejaht. 8<br />

Hätte sich Heidegger an der Konfrontation zweier entgegen-


gesetzter Behauptungen orientiert, dann hätte sich zweierlei<br />

gezeigt: erstens, daß die Möglichkeit der Verwendung des<br />

Wortes »wahr« mit der Erklärung der Verwendung assertorischer,<br />

also behauptender Sätze zusammenfällt. Und zweitens,<br />

daß das, was Heidegger mit Bezug auf Rickerts Aufsatz Urteil<br />

und Urteilen »beim Akt der Bejahung« eines »wahren Urteilsgehaltes«<br />

den »Ja-Sinn« nennt 9 (beim Akt der Verneinung des<br />

unwahren Urteilsgehalts müßten wir dann folglich von einem<br />

»Nein-Sinn« sprechen können, obgleich Rickert auch sagt, daß<br />

immer dann, wenn dem »gültigen Wertgehalte« kein »Bejahen<br />

im Subjektiven« entspricht, »Urteilen logisch sinnlos« sei 10 ),<br />

der als immanenter Urteilssinn dem objektiven Urteilsgehalt<br />

zur Seite steht, sich sprachanalytisch reformuliert als die Stellungnahme<br />

eines Hörers rekonstruieren läßt, der zu einem<br />

konstatierenden Sprechakt mit »Ja« oder »Nein« Stellung<br />

nimmt – und zwar ohne dafür auf einen objektiven Urteilsgehalt<br />

jenseits der tatsächlichen Bejahung oder Verneinung<br />

rekurrieren zu müssen. Dies setzt allerdings voraus, daß die<br />

Kopula nicht in die Negation lanciert und dann auch noch als<br />

die vermittelnde Mitte zwischen Subjekt und Prädikat interpretiert<br />

wird, die das Geltende repräsentiert. Denn eben mit<br />

dieser Interpretation der Kopula stellt Heidegger seine Bedeutungstheorie<br />

auf eine Basis, die es erforderlich macht, die Bedeutung<br />

des ganzen Satzes aus der Bedeutung seiner Teile zu<br />

rekonstruieren. Das Problem besteht jedoch gerade darin, daß<br />

sich der prädikative Satz überhaupt nicht als eine solche Relationsaussage<br />

verstehen läßt. Allein unter der gegenstandstheoretischen<br />

Voraussetzung, daß sich die Kopula vom Prädikat<br />

trennen läßt und als unselbständiges, also »synkategorematisches«<br />

Verbindungswort fungiert, das die Synthesis repräsentiert,<br />

kann es erst als sinnvoll erscheinen, daß das Prädikat für<br />

etwas steht und daß sich der Sachverhalt in einer kategorialen<br />

Synthesis konstituiert.<br />

Während sich also Heideggers Kritik an den relativistischen<br />

Konsequenzen des Psychologismus mittels der Unterscheidung<br />

von »Urteilsvollzug« und »Urteilssinn« auch heute noch


aufrechterhalten läßt, muß sein Versuch, die Voraussetzungen<br />

des Psychologismus durch eine gegenstandstheoretische Urteilstheorie<br />

in Frage zu stellen, als gescheitert angesehen werden.<br />

Und dies aus zwei Gründen: zum einen, weil die Widerlegung<br />

des Psychologismus mit einer falschen Ontologisierung<br />

logischer Sachverhalte erkauft wird, so daß Heidegger den<br />

Relativismus nur um den Preis des Absolutismus überwinden<br />

konnte – was ihm im Verlauf seines »Denkweges« bewußt<br />

wird; zum anderen, weil Heidegger eine Voraussetzung mit<br />

dem Psychologismus teilt, die Voraussetzung nämlich, daß<br />

das Urteil sich einer Synthesis von Subjekt und Prädikat verdankt,<br />

wobei der Status der Kopula innerhalb der einzelnen<br />

»Urteilslehren« strittig war. Diese Voraussetzung, die sowohl<br />

von Psychologisten als auch von Antipsychologisten nie angezweifelt<br />

wird, ist deshalb problematisch, weil sie das, was mit<br />

ebendieser Voraussetzung aufgeklärt werden soll, nämlich die<br />

logische Struktur des Urteils, nicht aufklären kann.<br />

Freilich bleibt die Frage offen, ob es für Heidegger überhaupt<br />

eine Alternative zum gegenstandstheoretischen Paradigma<br />

gab. Und eine solche gab es in der Tat – und zwar in Gestalt der<br />

Arbeiten von Gottlob Frege (1848–1925). 11 Freges Theorie des<br />

Sinns bietet uns einen Ansatz zur Lösung unserer Frage, insofern<br />

der Sinn lediglich in der Art und Weise der Bestimmung<br />

des Bezuges des Ausdrucks besteht, die ihrerseits ein Schritt<br />

ist bei der Bestimmung des Wahrheitswerts eines Satzes, in<br />

dem dieser Ausdruck vorkommt.<br />

Wenn es also innerhalb eines gegenstandstheoretischen Paradigmas<br />

unmöglich ist, die logische Struktur des prädikativen<br />

Satzes aufzuklären, dann kann es sich bei den Differenzen<br />

zwischen Heidegger, Husserl, Rickert, Lask und Josef Geyser<br />

(1869–1948) lediglich um binnentheoretische Unterschiede<br />

innerhalb eines Paradigmas handeln, eben des gegenstandstheoretischen.<br />

Dies bedeutet dann aber, daß die Frage, an der<br />

sich im »Psychologismusstreit« die Geister scheiden, nicht die<br />

ist, ob wir in der Urteilstheorie einen psychologistischen oder<br />

antipsychologistischen Standpunkt vertreten. Die Logistik ist


ja ebenfalls antipsychologistisch ausgerichtet. Die Frage, an<br />

der sich die Geister scheiden, bezieht sich darauf, ob wir in der<br />

Urteilstheorie einen gegenstandstheoretischen oder einen<br />

funktionalen Ansatz vertreten. Das heißt dann aber, daß die<br />

Frontlinie im »Psychologismusstreit« nicht nur zwischen<br />

Psychologisten und Antipsychologisten verläuft, da auch alle<br />

von Heidegger kritisierten psychologistischen Positionen<br />

gegenstandstheoretisch ausgerichtet sind, sondern zwischen<br />

Frege, Bertrand Russell (1872–1970) und dem frühen Ludwig<br />

Wittgenstein (1889–1951) auf der einen Seite und Heidegger,<br />

Husserl, Rickert, Lask und Geyser inklusive der psychologistischen<br />

Positionen von Wilhelm Wundt (1832–1920), Heinrich<br />

Maier (1867–1933), Franz Brentano (1838–1917), Anton Marty<br />

(1847–1914), und Theodor Lipps (1851–1941) auf der anderen<br />

Seite. Der Grund für diesen etwas seltsam klingenden Befund<br />

ist leicht benannt: Die gegenstandstheoretische Voraussetzung<br />

in der Urteilstheorie ist sowohl mit einer relativistisch-psychologistischen<br />

als auch mit einer absolutistischontologischen<br />

Deutung kompatibel, nicht hingegen mit einer<br />

funktionalen, mit der sich allein die logische Struktur prädikativer<br />

Sätze aufklären läßt.<br />

Heidegger und die Logistik<br />

Der beschriebenen Auffassung steht jedoch das Gros der Heidegger-Interpretationen<br />

entgegen, insoweit sie sich überhaupt<br />

auf unser Problem einlassen – was allerdings eher die Ausnahme<br />

als die Regel darstellt. So gibt Manfred Riedel zwar zu,<br />

daß sich Heidegger, um der »Subjektivierung des Wahrheitsproblems«<br />

zu entgehen, »die der angestrebten Objektivität der<br />

Lehre vom Urteil aufs härteste widerspricht«, auf »die neue<br />

Logik von Frege« hätte beziehen können, »die gegen die Reduktion<br />

der Kopula im Urteil auf das ›es gilt‹ auf ein ›es gibt<br />

(existiert)‹ zurückgreift und damit die Begrifflichkeit von Sinn


1. Die politische <strong>Philosophie</strong> als Frage nach<br />

der Freiheit<br />

»Was dieser heute baut,/reißt jener morgen ein;<br />

Wo itzund Städte stehn,/wird eine Wiesen sein.«<br />

Andreas Gryphius, 1643<br />

Eine Einführung zu einem philosophischen Thema besteht<br />

nicht nur aus Zahlen, Daten und Fakten; sie zielt auch auf<br />

das Verständnis der leitenden Fragestellung und Methode<br />

und möchte dem Leser das <strong>Philosophie</strong>ren näher bringen.<br />

<strong>Philosophie</strong>ren lernt man wie das Schwimmen. Man springt<br />

hinein und strampelt, bis es einen trägt. Eigentlich springt<br />

man aber nicht, sondern strampelt »immer schon« in einem<br />

Fluss ohne Ufer mit offenem Horizont. Man beginnt nicht zu<br />

einem bestimmten Zeitpunkt mit einem klar begrenzten Geschäft<br />

der <strong>Philosophie</strong>; vielmehr hat man Fragen, die mit der<br />

menschlichen Existenz gegeben sind und mehr oder weniger<br />

streng bedacht werden können. Man startet nicht bei null und<br />

endet nicht mit einer einzig wahren, absolut richtigen <strong>Philosophie</strong>.<br />

Es geht darum, sich Gedanken zu machen und sie<br />

professionell in der Auseinandersetzung mit der klassischen<br />

Überlieferung und im lebendigen Gespräch mit Lehrern und<br />

Freunden zu entwickeln.<br />

Der Wissensbestand oder Stoff, den philosophische Einführungen<br />

zu bieten haben, ist zumeist ziemlich unstrittig. So<br />

wird jeder Leser hier wohl erwarten, dass vom »Menschen«<br />

als einem sozialen, politisch lebenden Wesen, vom »Staat« als<br />

institutioneller Organisation des politischen Lebens und vom<br />

Verhältnis der Bürger zum Staat sowie der Staaten untereinander<br />

die Rede ist. Er wird auch erwarten, dass von Gerechtigkeit,<br />

Menschenrechten und Demokratie, von Krieg und<br />

Frieden gesprochen wird. Weniger selbstverständlich dürfte<br />

aber sein, wie sich die philosophische Betrachtungsweise von


der rechtswissenschaftlichen oder sozialwissenschaftlichen<br />

unterscheidet. Denn alle genannten Themen werden auch<br />

von Juristen, Soziologen und Politikwissenschaftlern in ihren<br />

Beschreibungen einer Staatsorganisation behandelt. Die Eigenart<br />

einer philosophischen Einführung also ist strittig. Welche<br />

Sprache ist ihr angemessen? Wie viel Stoff gehört hinein?<br />

Soll man sich auf die Ideengeschichte oder auf die philosophische<br />

Betrachtung aktueller Probleme konzentrieren?<br />

Gute Einführungen sind zugleich Werbeschriften für die<br />

<strong>Philosophie</strong>. Man kann nicht eine Teildisziplin darstellen,<br />

ohne zugleich eine Gesamtauffassung vom Fach zu vertreten.<br />

Das vorliegende Bändchen macht sie eingangs explizit. <strong>Philosophie</strong><br />

lässt sich, scheint mir, als argumentativer Versuch verstehen,<br />

die eigene Lebensführung akademisch umfassend zu<br />

verantworten: als Selbstbegründung der Freiheit. Weil Individuen<br />

sich Freiheit unterstellen, haben sie philosophische<br />

Fragen und Antworten. Politische <strong>Philosophie</strong> fragt deshalb<br />

nach den humanen Möglichkeiten und den historisch-politischen<br />

Bedingungen der Freiheit. Das Gute und das Gerechte<br />

lassen sich hier nicht gänzlich voneinander trennen. Denn die<br />

Selbstrechtfertigung zwingt moralisch zu der universalisierenden<br />

Forderung, dass auch andere Menschen unter<br />

ähnlichen Bedingungen in Freiheit leben sollten. Dies führt<br />

zu politischen Konsequenzen, ohne die eine <strong>Philosophie</strong><br />

nicht vollendet wäre. <strong>Philosophie</strong> rechtfertigt insofern einen<br />

Teilnahmestandpunkt und sollte deshalb auch engagiert betrieben<br />

werden. Ihr Versuch, den eigenen Standpunkt akademisch<br />

auszuweisen, unterscheidet sie dabei vom geläufigen<br />

Parteistandpunkt. Ihr Teilnehmerstandpunkt hingegen<br />

unterscheidet sie von der Beobachterperspektive der Rechtsund<br />

Sozialwissenschaften. Zwar sind auch Juristen keine<br />

»neutralen« Beobachter, sondern nehmen mit ihren Positionen<br />

und Begriffen am politischen »Ringen um ›Verfassung‹« 1<br />

Anteil; damit setzen sie aber einen Rechtsstandpunkt ihrer<br />

normativen Perspektive voraus. Politische Philosophen dagegen<br />

treten noch hinter das positiv geltende Recht zurück. Wie


Rechtsphilosophen fragen sie danach, ob eine Rechtsordnung<br />

gerechtfertigt ist. Anders als Rechtsphilosophen fragen sie jedoch<br />

auch, ob die konkrete Politik im Interesse der Entwicklung<br />

der humanen Möglichkeiten und politischen Verfassung<br />

wünschbar ist.<br />

Eine Einführung in die politische <strong>Philosophie</strong> ist kein Lehrbuch.<br />

Sie kann nicht alle Argumente durchspielen und eine<br />

breite Übersicht über die Vielfalt historisch und aktuell vertretener<br />

Positionen bieten. In der gebotenen Kürze möchte ich<br />

dennoch den Grundriss politischer <strong>Philosophie</strong> vom Keller<br />

bis zum Dach zeigen. Die philosophischen Fundamente gehören<br />

dabei ebenso dazu wie das aktuelle Material und die<br />

ideengeschichtlichen Tapeten. Die Einführung gliedert sich<br />

deshalb in einen philosophisch-systematischen, einen werkgeschichtlich-literaturwissenschaftlichen<br />

und einen politisch-aktuellen<br />

Teil: Sie skizziert einen systematischen Ansatz,<br />

literarische Traditionen und Methoden sowie einige<br />

aktuelle Aufgaben politischer <strong>Philosophie</strong>. Zunächst wird der<br />

leitende <strong>Philosophie</strong>begriff entwickelt, dann werden die<br />

ideengeschichtliche Methode und Überlieferung und schließlich<br />

einige aktuelle Aufgaben skizziert. Bei der kurzen Besichtigung<br />

des weiten Gebäudes soll dem Leser vor allem<br />

deutlich werden, dass politische <strong>Philosophie</strong> eine normativpraktische<br />

Disziplin ist, die sich in ständiger Reflexion auf die<br />

politische Geschichte entwickelt. Selbstverständlich gibt es<br />

auch andere Zugangsweisen: Peter Nitschke 2 berücksichtigt<br />

die politische Ideengeschichte eingehender, Christoph Horn 3<br />

sondiert die Fülle aktuell möglicher Ansätze systematisch. Ich<br />

will die Einheit des philosophischen Fragens im Ansatz skizzieren,<br />

die literarische Tradition vorstellen und einen politischen<br />

Faden philosophisch knüpfen.


2. Systematische Aspekte politischer<br />

<strong>Philosophie</strong><br />

<strong>Philosophie</strong>: Der »Sinn des Lebens«<br />

Die Rede von »politischer <strong>Philosophie</strong>« ist leicht missverständlich.<br />

Denn sie lässt eine politische Betrachtung der <strong>Philosophie</strong><br />

oder eine philosophische der Politik erwarten. Landläufig<br />

ist alles politisch, damit auch die <strong>Philosophie</strong>. Hier ist<br />

allerdings keine politische Betrachtung oder gar Politisierung<br />

der <strong>Philosophie</strong> gemeint, sondern eine philosophische Reflexion<br />

der Politik. Eine wichtige Aufgabe dieser <strong>Philosophie</strong> ist<br />

es, den Politikbegriff angemessen zu begrenzen. Denn nicht<br />

alles ist politisch. Zwar neigt der Sprachgebrauch dazu, alles<br />

interessegeleitete strategische Handeln politisch zu nennen.<br />

Dann müsste es aber auch Politik sein, wenn ein Kind sich von<br />

seinen Eltern ein paar Süßigkeiten erbettelt. Ein solcher<br />

Sprachgebrauch ist zu weit. Andererseits verengt es den Politikbegriff,<br />

politisches Handeln mit institutionellem Handeln<br />

gleichzusetzen und darunter nur staatliches Handeln zu verstehen.<br />

Damit würden die Bürger nur als Adressaten staatlicher<br />

Verwaltung angesprochen und fielen als politische Akteure<br />

aus. Zwischen diesen Extremen muss der Politikbegriff<br />

bestimmt werden. Statt also missverständlich von »politischer<br />

<strong>Philosophie</strong>« zu sprechen (oder den engeren Wortgebrauch<br />

nur durch eine Großschreibung als »Politische <strong>Philosophie</strong>«<br />

anzudeuten), sollte besser von einer »<strong>Philosophie</strong> der Politik«<br />

oder des »politischen Handelns« gesprochen werden, die sich<br />

auch als anwendungsorientierte politische <strong>Philosophie</strong> der<br />

Politik vorstellt. Deshalb könnte dieses Büchlein auch<br />

»Einführung in die <strong>Philosophie</strong> der Politik« heißen. Weil die<br />

Rede von politischer <strong>Philosophie</strong> aber verbreiteter ist und es<br />

gute Gründe gibt, sich am Sprachgebrauch zu orientieren,


wird weiter von politischer <strong>Philosophie</strong> gesprochen. Wo terminologische<br />

Klarheit erforderlich ist, steht »<strong>Philosophie</strong> der<br />

Politik«.<br />

Historisch betrachtet gibt es eine Vielzahl von <strong>Philosophie</strong>begriffen.<br />

Ein Blick in begriffsgeschichtliche Lexika 1 belehrt<br />

darüber. Es wäre somit naiv, den eigenen Begriff schlicht für<br />

»die« <strong>Philosophie</strong> zu erklären. Andererseits gehört der Geltungsanspruch<br />

auf »Wahrheit« zur Sache. Die vorliegende<br />

Einführung will keine beliebige Meinung, sondern allgemein<br />

zustimmungsfähige Einsichten formulieren. Ein elementares<br />

Fachverständnis ist dabei weniger strittig als die systemphilosophische<br />

Ausarbeitung. Die Vielfalt der vertretenen <strong>Philosophie</strong>begriffe<br />

reduziert sich bei vergleichender Betrachtung<br />

überhaupt schnell. Typologien und Klassifikationen belegen<br />

die Begrenztheit sinnvoll und konsequent möglicher Standpunkte.<br />

2<br />

Das Wort »<strong>Philosophie</strong>« 3 stammt bekanntlich aus dem Griechischen<br />

(philosophia). Es ist ein Kompositum aus philos<br />

(Freund) und sophia (Weisheit) und meint ein liebendes Streben<br />

nach Wissen im weiten Sinne von Kenntnissen, Fertigkeiten,<br />

Umsicht und Urteilskraft. Der Philosoph strebt nach<br />

Wissen. Er hat es nicht geoffenbart bekommen oder für sich<br />

gepachtet. Selten nennen wir einen Wissenschaftler weise.<br />

Denn »Weisheit« meint heute ein praktisches Tugendwissen.<br />

Einen weisen Menschen stellt man sich gern als alten Mann<br />

oder alte Frau am Fluss vor, als eine Person, die um die Sitten<br />

weiß und Lebenserfahrungen gesammelt hat, die sie in Geschichten,<br />

moralischen Exempeln oder Spruchweisheiten<br />

mitteilt. Ein solches Tugendwissen fällt in traditionalen Gesellschaften<br />

unter stabilen Verhältnissen mit dem Wissen um<br />

die Sitten, Gebräuche, Gepflogenheiten zusammen. Solche<br />

Klugheitsregeln des sozialen Erfolgs sind, historisch betrachtet,<br />

in einem Zwischenraum zwischen einem religiösen und<br />

einem säkular-moralischen Wissen um Prinzipien und Regeln<br />

angesiedelt. An der Schwelle der Unterscheidung moralischer<br />

Normen von religiösen Geboten steht ein Tugendwissen, das


sich nicht mehr rein religiös und noch nicht dezidiert moralisch<br />

in der Unterscheidung von konventionell überkommenen<br />

Sitten versteht. Es kennt die Gründe nicht, weshalb es<br />

moralisch ist, und pflegt ein moralisches Vorurteil für die Sitten.<br />

Das ist aber auch pragmatisch heikel. Denn die Sentenzen<br />

der Guten, Alten, Weisen verlieren unter gewandelten<br />

Lebensverhältnissen an praktischem Nutzen und Geltungskraft.<br />

<strong>Philosophie</strong> hingegen ist keine solche Weisheitslehre,<br />

sondern Wissenschaft. Sie begnügt sich nicht mit lehrhaften<br />

Geschichten, sondern sucht die moralischen Gründe für ein<br />

Verhalten im Rahmen der wissenschaftlichen Arbeit an einem<br />

Weltbild begrifflich zu bestimmen.<br />

Historisch lässt sich der Unterschied von <strong>Philosophie</strong> und<br />

Weisheitslehre an der Schwelle der Entstehung der okzidentalen<br />

Wissensform »<strong>Philosophie</strong>« gut studieren. Man kann ihn<br />

auch diskursanalytisch und literaturwissenschaftlich untersuchen.<br />

Der philosophische Diskurs entstand in der Abgrenzung<br />

von der überlieferten religiösen und mythologischen Weltdeutung<br />

mit der Ausbildung wissenschaftlicher Prosa. 4 Die ersten<br />

Autoren, die als Philosophen kanonisiert sind, pflegten noch<br />

literarische Formen, die heute nicht als Sachtexte gelten. Das<br />

Lehrgedicht, das Epigramm, der Aphorismus, der Kunstdialog,<br />

der Brief sind literarische Formen der Frühzeit der <strong>Philosophie</strong>.<br />

Noch Platon (428/427–349/348 v. Chr.) spricht nicht<br />

im eigenen Namen, sondern lässt für sich sprechen. Auch die<br />

Texte des Aristoteles (384/383–322 v. Chr.), ursprünglich<br />

Vorlesungsmanuskripte für den Schulgebrauch, wurden erst<br />

im 1. Jahrhundert v. Chr. (von Andronikos von Rhodos) zusammengestellt<br />

zum Muster der okzidentalen Wissenschaftsprosa.<br />

In den heutigen Sprachgebrauch geht die <strong>Philosophie</strong>geschichte<br />

ein. Schon Aristoteles setzte beim philosophiegeschichtlichen<br />

Sprachgebrauch an und prüfte ihn systematisch.<br />

Dieser begriffsgeschichtliche und -analytische Zugang<br />

ist heute selbstverständlich. Wenn es einen Fortschritt in der<br />

<strong>Philosophie</strong> gibt – und wenn <strong>Philosophie</strong> eine Wissenschaft


ist, sollte es ihn geben –, dann kondensiert die Alltagssprache<br />

ihn mehr oder weniger klar. Nicht nur die <strong>Philosophie</strong>geschichte,<br />

sondern auch der alltagssprachliche Gebrauch ist<br />

deshalb ein Anhalt des <strong>Philosophie</strong>begriffs.<br />

Fragt man, wie Sokrates (470–399 v. Chr.) einst die Bürger und<br />

Sklaven Athens, in Deutschland einen beliebigen Passanten<br />

auf der Straße nach dem Gegenstand der <strong>Philosophie</strong>, so wird<br />

er vermutlich etwa sagen: »Die <strong>Philosophie</strong> sucht irgendwie<br />

nach dem ›Sinn des Lebens‹.« Bildungsstolz klingt an. Fragt<br />

man weiter nach der Methode, die die Wissenschaftlichkeit<br />

der <strong>Philosophie</strong> kennzeichnet, so antwortet er vielleicht:<br />

»Philosophen labern.« Eine solche Antwort baut den ersten<br />

Respekt mit der auftrumpfenden Versicherung ab, jedermann,<br />

so auch der Passant, philosophiere irgendwie und<br />

irgendwann. Der Durchschnittsbürger banalisiert die <strong>Philosophie</strong><br />

zur Durchschnittsmeinung und hält alle Meinungen für<br />

relativ wahr. Er bezweifelt die Wissenschafts- und Wahrheitsfähigkeit<br />

der <strong>Philosophie</strong> und negiert den Sinn der »Sinnfrage«,<br />

von der er eingangs selbst sprach. Seine Skepsis gegenüber<br />

dem »Gelaber« ist zwar durchaus angebracht;<br />

Geringschätzung aber ist nicht angemessen. Denn Menschen<br />

»wohnen« in ihrer Sprache.<br />

Die gängige Auffassung, <strong>Philosophie</strong> bearbeite in diskursiver<br />

Form und natürlicher Sprache Fragen nach dem »Sinn des<br />

Lebens«, kann als Minimalverständnis akzeptiert werden. Die<br />

Frage nach dem »Sinn des Lebens« heißt hier deshalb die<br />

»Grundfrage« der <strong>Philosophie</strong>. Sie kann nicht empirisch gültig<br />

beantwortet werden, weil sie die Handlungsorientierung<br />

durch Prinzipien und Normen betrifft, und sollte dennoch so<br />

intensiv wie möglich diskutiert werden.<br />

Wie gestaltet sich nun das Verhältnis der <strong>Philosophie</strong> zu den<br />

anderen Wissenschaften? Die <strong>Philosophie</strong> gilt als Mutter aller<br />

Wissenschaften. Die Wissenschaftsgeschichte erscheint dann<br />

als ein Prozess der »Ausdifferenzierung« selbstständiger Wissenschaften.<br />

Dies lässt sich als Fortschritt der Profilierung der<br />

einzelnen Wissenschaften, so auch der <strong>Philosophie</strong>, auffas-


sen. Systemtheoretisch belehrt sehen wir heute die Schwierigkeiten<br />

interdisziplinärer Kooperation. Wissenschaftler tragen<br />

die Brille ihres Fachs und können die Methoden und<br />

Ergebnisse der anderen kaum nachvollziehen. Das ist für die<br />

<strong>Philosophie</strong> besonders beunruhigend, weil sie als weltanschauliches<br />

Synthesefach von der Überschau und Zusammenschau<br />

des gegenwärtigen Wissens lebt. 5 Der Universalitätsanspruch<br />

der <strong>Philosophie</strong>, »Platzanweiser« der<br />

einzelnen Wissenschaften zu sein 6 und jedem positiv festgestellten<br />

Wissen seinen Ort in einem enzyklopädischen System<br />

zuzuweisen, erscheint den anderen Wissenschaften heute<br />

zwar oft als eine Anmaßung; er rechtfertigt sich aber durch<br />

einen »schwachen«, oder besser: normativ-praktischen und<br />

»lebensweltlichen«, Wissenschaftsbegriff. <strong>Philosophie</strong> klärt<br />

den Funktions- und Organisationszusammenhang des Lebens<br />

aus der Perspektive des normativ-praktisch interessierten<br />

Individuums. Menschen müssen die Frage nach dem<br />

»Sinn des Lebens« individuell beantworten. Deshalb lässt<br />

<strong>Philosophie</strong> sich in der Tat als Mutter aller Wissenschaften bezeichnen.<br />

Denn alle Wissenschaften dienen in unterschiedlicher<br />

Weise der pragmatischen Bewältigung des Lebens<br />

durch eine Rationalisierung der Lebensführung.<br />

Wissenschaft gibt es nur, weil Menschen sich als frei handelnde,<br />

moralische Wesen verstehen, die ihr Leben sinnhaft<br />

führen können. Diverse Wissenschaften haben einen pragmatischen<br />

Bezug zur Rationalisierung der Lebensführung,<br />

den sie allerdings in ihrer alltäglichen Forschungspraxis nicht<br />

thematisieren. <strong>Philosophie</strong> kann ihnen nicht hineinregieren;<br />

doch sie kann als Wissenschaftstheorie mit ihnen kommunizieren.<br />

Der wissenschaftstheoretische Bezug richtet sich dabei<br />

heute vornehmlich auf die methodologische Kritik der<br />

Forschungspraxis. <strong>Philosophie</strong> prüft dann die Begriffe und<br />

Methoden der anderen Wissenschaften und misst sie an ihren<br />

eigenen Begriffen.<br />

Immanuel Kant (1724–1804) hat in seiner Universitätsschrift<br />

klassisch vorgeführt, wie dies geschieht 7 . Er geht dabei von


der überlieferten Einteilung der mittelalterlichen Universität<br />

aus und zeigt, dass den »oberen«, berufsausbildenden (theologischen,<br />

juristischen und medizinischen) Fakultäten die leitenden<br />

Grundbegriffe durch Kirche und Staat vorgegeben<br />

sind. Im Rahmen dieser autoritativen Vorgaben ist den oberen<br />

Fakultäten, so Kant, eine umfassende Bestimmung der Religion,<br />

des Rechts, der Gesundheit nicht möglich. Sie sind an<br />

einen »Nutzen« für Kirche und Staat gebunden, was freie, an<br />

der Idee der »Wahrheit« orientierte Forschung unmöglich<br />

macht. Die untere, philosophische Fakultät dagegen sei nur<br />

der Idee freier Forschung verpflichtet und könne deshalb die<br />

vorausgesetzten Begriffe von Religion, Recht, Gesundheit in<br />

ihren Grenzen prüfen.<br />

Bei der heutigen, komplexeren Struktur der Universitäten ist<br />

diese Unterscheidung nutzenorientierter Ausbildung und<br />

wahrheitsorientierter Forschung zu einfach. Viele Wissenschaften<br />

institutionalisieren ihre philosophische Kritik auch<br />

in eigenen Lehrstühlen oder Lehraufträgen, und ein großer<br />

Teil der philosophischen Forschung hat sich aus dem interdisziplinären<br />

Gespräch auf das eigene Fach und dessen Geschichte<br />

zurückgezogen. Die Begriffs- und Theoriebildung<br />

der anderen Wissenschaften unterscheidet sich aber dennoch<br />

von der philosophischen. Es macht einen Unterschied, ob<br />

man seine Begriffe von Gott, der Natur oder dem Recht im<br />

Rahmen theologischer, physikalischer oder juristischer Forschung<br />

oder im Zusammenhang genuin philosophischer Theoriebildung<br />

entwickelt.<br />

Idealtypisch lässt sich hier zwischen analytisch-beschreibenden<br />

und philosophisch-konstruktiven Theoriebildungen<br />

differenzieren. Unstrittig findet in theologischen oder juristischen<br />

Fakultäten auch philosophische Forschung statt. Umgekehrt<br />

mögen etablierte Philosophen bisweilen wie Historiker<br />

oder Juristen arbeiten. Dennoch ist die Unterscheidung<br />

hilfreich. So beschreiben etwa theologische oder auch transkonfessionelle<br />

religionswissenschaftliche Studien Praktiken<br />

und Selbstverständnisse, die sie historisch oder aktuell vor-


finden, ohne ihre Resultate an einer metapositiven philosophischen<br />

Begriffsbildung zu messen und etwa zu entscheiden,<br />

ob eine empirisch gegebene Religion einen philosophisch<br />

adäquaten Begriff von Gott hat. So analysieren<br />

beispielsweise Juristen die interne Kohärenz und Semantik<br />

eines Rechtssystems und formulieren dogmatisch tragende<br />

Grundbegriffe, ohne sie vor das Forum eines metapositiven<br />

Gerechtigkeitsbegriffs zu zitieren. Kant hat das spitz bemerkt:<br />

»Was ist Recht? Diese Frage möchte den Rechtsgelehrten [...] eben so<br />

in Verlegenheit setzen, als die berufene Aufforderung: Was ist Wahrheit?<br />

den Logiker. Was Rechtens sei (quid sit iuris), d. i. was die Gesetze<br />

an einem gewissen Ort und zu einer gewissen Zeit sagen oder gesagt<br />

haben, kann er noch wohl angeben; aber ob das, was sie wollten,<br />

auch recht sei, und das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt<br />

Recht sowohl als Unrecht (iustum et iniustum) erkennen könne,<br />

bleibt ihm wohl verborgen, wenn er nicht eine Zeitlang seine empirischen<br />

Prinzipien verläßt, die Quellen jener Urteile in der bloßen Vernunft<br />

sucht (wiewohl ihm dazu jene Gesetze vorzüglich zum Leitfaden<br />

dienen können), um zu einer möglichen positiven Gesetzgebung<br />

die Grundlage zu errichten.« 8<br />

Die bundesdeutsche Rechtswissenschaft trägt der Eigenart<br />

einer juristisch disziplinierten Theoriebildung dadurch Rechnung,<br />

dass sie die analytische Rechtstheorie bis in die Lehrstuhlbeschreibungen<br />

hinein terminologisch von der Rechtsphilosophie<br />

absetzt. 9 Schon Georg W. F. Hegel (1770–1831) 10<br />

unterschied beiläufig zwischen »Theorie« und »<strong>Philosophie</strong>«.<br />

Das ist sinnvoll, um die jeweilige akademische Perspektivierung<br />

von Grundlagendiskursen zu kennzeichnen. Deshalb<br />

schlage ich vor, trotz der abweichenden Begriffsgeschichte,<br />

die auf eine Gleichsetzung der beiden Termini hinausläuft,<br />

generell zwischen Theorie und <strong>Philosophie</strong> zu unterscheiden.<br />

Von analytischen Theoriebildungen ist dann zu sprechen,<br />

wenn Grundfragen aus der Perspektive empirischer Wissenschaften<br />

behandelt werden, von <strong>Philosophie</strong> dagegen nur


dort, wo die Begriffs- und Theoriebildung metapositiv mit<br />

philosophischen Mitteln erfolgt. Das ermöglicht es, den methodischen<br />

Ansatz bestimmter Forschungen terminologisch<br />

deutlicher zu markieren und den Beitrag philosophischer<br />

Fragestellungen im interdisziplinären Gespräch zu ermitteln.<br />

Im fachphilosophischen Gespräch gibt es immer wieder Unklarheiten<br />

darüber, wann sich ein Philosoph im Kompetenzbereich<br />

anderer Wissenschaften bewegt und wann er einen<br />

philosophischen Beitrag leistet. Solche Grenzüberschreitungen<br />

sind unvermeidlich und unerlässlich. Philosophen sollen<br />

möglichst »universitär« kommunizieren. Sie sollten aber auch<br />

wissen, was ihr genuiner Aufgaben- und Kompetenzbereich<br />

ist und wo sie in fremden Jagdgründen wildern. Das ist schon<br />

um der Klärung der jeweiligen Wissenschaftsstandards und<br />

Diskurspflichten willen nötig.<br />

Üblicherweise wird innerhalb der <strong>Philosophie</strong> beispielsweise<br />

von Erkenntnistheorie oder Wissenschaftstheorie gesprochen.<br />

11 Hilfreich ist es, darüber hinaus zwischen Wissenschaftstheorie<br />

und -philosophie zu unterscheiden. Wissenschaftstheoretische<br />

Fragestellungen betreffen insbesondere<br />

die Methodologie der Forschung. Die Kompetenzvermutung<br />

liegt hier zunächst bei den empirischen Wissenschaften, die<br />

ihre Forschungspraxis oft besser beschreiben können, als<br />

Philosophen dies möglich ist. Dennoch gibt es interessante<br />

perspektivische Differenzen und Berührungen, weshalb ein<br />

interdisziplinäres Gespräch über wissenschaftstheoretische<br />

Fragen sinnvoll ist. Jenseits dieser Fragen gibt es aber auch<br />

einen Bereich wissenschaftsphilosophischer Fragen, bei denen<br />

die Kompetenzvermutung eher auf Seiten der Fachphilosophen<br />

liegt. Sie betrifft beispielsweise ethische Probleme der<br />

Forschungspraxis und ihrer technischen Verwertung oder<br />

den Status einer Wissenschaft im Feld der Natur- bzw. Geisteswissenschaften<br />

und die »Einheit« der Wissenschaften im<br />

Gesamtzusammenhang humaner Orientierung.<br />

Im interdisziplinären Gespräch interpretieren Philosophen<br />

die Ansätze und Erträge der anderen Wissenschaften im Hin-


lick auf deren Konsequenzen für die Menschen. Auch innerhalb<br />

des Kernbereichs philosophischer Forschung wird freilich<br />

die initiale Frage nach dem »Sinn des Lebens« kaum noch<br />

explizit gestellt. Erst in den letzten Jahren hat sich das in den<br />

Debatten um <strong>Philosophie</strong> als »Lebenskunst« zwar etwas geändert<br />

12 , doch die Kärrnerarbeit an oft sehr speziellen Forschungsfragen<br />

und viel akademische Betriebsamkeit und<br />

Jargon lenken von der Grundfrage ab. Dabei weist die Frage<br />

nach dem Sinn des Fachs schon auf jene Grundfrage der<br />

<strong>Philosophie</strong> und die Richtung einer Antwort.<br />

Wozu <strong>Philosophie</strong>? Welchen Sinn macht es in der Ökonomie<br />

eines Lebens, darauf Zeit und Mühe zu verwenden? Es gibt<br />

doch andere Wissenschaften, deren Studium sichere Erträge<br />

und berufliche Perspektiven verheißt! <strong>Philosophie</strong> ist kein<br />

Brotstudium, das einen klar umrissenen Ausbildungsbedarf<br />

deckt und seinen Absolventen gute berufliche Perspektiven<br />

bietet. Aus der Sicht der Berufswelt, unter den Bedingungen<br />

von Massendauerarbeitslosigkeit, ist sie existenziell riskant.<br />

Dennoch ist es sinnvoll, <strong>Philosophie</strong> zu studieren, weil die<br />

Frage nach dem »Sinn des Lebens« individuell bedacht und<br />

beantwortet sein will. Sie ist mit der menschlichen Existenz<br />

gegeben, weil der Mensch, anders als andere Lebewesen,<br />

nicht instinktiv gelenkt ist, sondern sein Leben bewusst führen<br />

muss. Die menschliche Freiheit ist das Problem, das praktische<br />

Antworten verlangt. Weil Menschen nicht sicher wissen,<br />

wie sie leben sollen, müssen sie ihr Leben selbst<br />

gestalten. Dieses praktische Problem individueller Selbstbestimmung<br />

stellt für sie zugleich ein theoretisches dar. <strong>Philosophie</strong><br />

fragt deshalb nach dem Grund und Zweck menschlicher<br />

Freiheit; sie stellt diese Fragen aus der Position des<br />

Individuums, das seine Lebensführung politisch versteht und<br />

moralisch zu orientieren sucht.<br />

Vieles lässt sich zwar teleologisch betrachten. Jede Maschine<br />

hat einen Funktionszusammenhang, jeder Organismus seine<br />

Zwecke. Von einem »Lebenssinn« oder »Sinn des Lebens« aber<br />

sprechen wir nur, wo ein Spielraum individueller Wahrneh-


mung und Handlungsorientierung existiert. Solche Selbstbestimmung<br />

hat eine normative Struktur. Die Handlungszwecke<br />

diktiert ein »Wollen«, das dem Handelnden auch sinnhaft<br />

als »Sollen« erscheint. Der Sollenscharakter der Handlungsnormen<br />

begegnet objektiv als soziale Forderung, die Gemeinschaften<br />

oder Mitmenschen an einen richten, die vom Handelnden<br />

aber (positiv oder negativ) individuell bewertet wird.<br />

Die sokratische Frage nach dem »guten« und »richtigen« Leben<br />

und die neuere, nach Kant seit Friedrich Nietzsche<br />

(1844–1900) und Wilhelm Dilthey (1833–1911) gängige 13 und<br />

heute landläufige Frage nach dem »Sinn des Lebens« meinen<br />

deshalb eigentlich dieselbe Grundfrage der <strong>Philosophie</strong>: die<br />

Freiheit als Grund und Zweck des individuellen Lebens.<br />

Individuen stellen sich diese Frage in ihrer Geschichte. Jedes<br />

Individuum stellt sie mehr oder weniger explizit. Das Fach<br />

<strong>Philosophie</strong> hat insofern lebensweltliche Wurzeln. Es radikalisiert<br />

und professionalisiert lebensweltlich geläufige Fragen.<br />

<strong>Philosophie</strong> geht von der Erfahrung einer individuellen<br />

Lebensführungsproblematik aus, klebt aber nicht an der Lebenswelt<br />

und bestärkt nicht die alltägliche Selbstgerechtigkeit,<br />

sondern reflektiert auf die allgemeinen anthropologischen<br />

Möglichkeiten und die historisch-politischen<br />

Bedingungen gelingenden Lebens oder individueller Freiheit.<br />

Dieser Rückgang auf allgemeine Möglichkeiten und Bedingungen<br />

ist schon moralisch geboten: Der moralische Standpunkt<br />

fordert eine Distanzierung von individuellen Aspekten<br />

und eine Generalisierung der Antwort. Als philosophische<br />

Antworten überzeugen nur systematische Argumente: keine<br />

heiligen Texte, historische Autoritäten oder exklusive Erfahrungen<br />

eines Du und Wir. Akademisches <strong>Philosophie</strong>ren<br />

nimmt seinen Ausgang zwar meist bei mehr oder weniger<br />

kontingenten und speziellen Arbeitsschwerpunkten und Problemen.<br />

Jedes originäre Gesamtwerk aber lässt einen Bezug<br />

auf die Grundfrage und eine interne problemgeschichtliche<br />

Konsequenz erkennen und drängt zur systematischen Antwort.


Die Entwicklung solcher Fragen und Antworten kann man anhand<br />

der Klassiker gründlich studieren. Aristoteles beispielsweise<br />

hat die teleologische Ausrichtung alles organischen<br />

Lebens auf Zwecke durchgängig herausgestellt und handlungsanalytisch<br />

nach dem letzten Ziel (telos) alles menschlichen<br />

Lebens gefragt. Dieses Ziel bezeichnete er formal als<br />

das Glück (eudaimonia). Die Eigenart des Menschen im Gesamtzusammenhang<br />

des Lebens bestimmte er durch die Freiheit,<br />

zwischen verschiedenen Glücksentwürfen zu wählen<br />

und unterschiedliche Lebensformen zu kultivieren. Er unterschied<br />

dabei grob zwischen einer Orientierung des Lebens<br />

am Endzweck der »Lust« (hêdonê), der politischen Orientierung<br />

an der »Ehre« (timê), also dem Ansehen in der Bürgerschaft,<br />

und der intellektuellen Orientierung an der wissenschaftlichen<br />

Schau (theôria). Das philosophische Leben (bios<br />

theôrêtikos) betrachtete er als das höchste Glück der Menschen.<br />

Diese Typologie möglicher »Lebensformen« ließe sich<br />

weiter differenzieren und auch anders diskutieren, als Aristoteles<br />

dies tat. Im 20. Jahrhundert bestimmte eine Richtung<br />

philosophischer Anthropologie die Eigenart des Menschen im<br />

Mensch-Tier-Vergleich und Zusammenhang der neueren biologischen<br />

und ethologischen Forschung genauer. Arnold Gehlen<br />

(1904–1976) 14 betonte dabei in Anschluss an Nietzsche<br />

das Problem, dass sich der Mensch, das »nicht festgestellte<br />

Tier« (Nietzsche), mühsam orientieren muss, um sein Überleben<br />

zu sichern.<br />

Kommen wir nun zum »Anfang« und zum Aufbau des <strong>Philosophie</strong>rens:<br />

Aus der Grundfrage ergibt sich die Methodik der<br />

<strong>Philosophie</strong>. Wenngleich sich die Frage nach dem Sinn des<br />

Lebens alltäglich stellt und in der gängigen Weltauslegung<br />

beantwortet wird, diszipliniert <strong>Philosophie</strong> doch diese Antworten.<br />

Die »Logik«, die Lehre vom Denken, ist deshalb ihre<br />

Fundamentaldisziplin. Sie beschränkt sich allerdings nicht<br />

auf die formale Lehre vom korrekten Definieren, Folgern und<br />

Schließen, sondern ist eine umfassende Lehre vom richtigen<br />

und überzeugenden Argumentieren. Ihr Grundgerüst und


ihre Reichweite lassen sich ihrer ersten umfassenden Durchbildung<br />

ablesen: dem sog. Organon des Aristoteles. Aristoteles<br />

hat die Formen der Rationalität in Syllogistik, Dialektik<br />

(Topik) und Rhetorik so umfassend und genau beschrieben,<br />

dass dieser Teil seines Werks lange autoritativ galt und noch<br />

heute für eine lebensweltliche Theorie der Rationalität anregend<br />

ist; er analysierte auch das wissenschaftliche Argumentieren<br />

und betrachtete dessen Regeln als Teil einer umfassenden<br />

Lehre vom überzeugenden Argumentieren. Aristoteles<br />

gab dieser Argumentationslehre einen politischen Sinn, so<br />

dass man sogar von einer Theorie des »Bürgerdiskurses« sprechen<br />

kann. 15<br />

Eine Einführung in die <strong>Philosophie</strong>, die als systematischer<br />

Lehrgang angelegt ist, könnte mit der Logik als Analyse des<br />

Instrumentariums des <strong>Philosophie</strong>rens beginnen. So macht es<br />

Max Bense (1910–1990) 16 in seiner Einleitung in die <strong>Philosophie</strong>,<br />

die als »Einübung des Geistes« die ethische Absicht hat,<br />

»das Leben vor den Geist« zu bringen, bewusst zu führen und<br />

so für eine intellektuell disziplinierte, »geistige« Lebensführung<br />

zu werben. Und so ist es auch in der wohl umstrittensten<br />

Logik der <strong>Philosophie</strong>geschichte: in Hegels Wissenschaft der<br />

Logik. Hegel beantwortet die Frage nach dem Anfang des<br />

<strong>Philosophie</strong>rens ebenfalls mit einem Verweis auf das Denken<br />

als Mittel und Medium aller Erkenntnis. Seine – strittige – Erweiterung<br />

des Begriffs und der Aufgaben der Logik wurde<br />

dabei philosophiegeschichtlich durch Kants Kritik der reinen<br />

Vernunft (1781) ermöglicht.<br />

Kants sog. »Erste Kritik«, das Grundbuch aller neueren <strong>Philosophie</strong>,<br />

ist keine Logik; sie beschreibt nicht die Regeln des<br />

Denkens, sondern kritisiert die Annahme einer »reinen Vernunft«<br />

in ihren Grenzen erkenntnistheoretisch. Kant abstrahiert<br />

»zwei Stämme« (KrV B 30) der Erkenntnis, »Sinnlichkeit«<br />

und »Verstand«, und macht darauf aufmerksam, dass<br />

alles Denken von sinnlichen Eindrücken ausgeht. Er setzt der<br />

»Logik« eine »Ästhetik« voraus und betrachtet beide »transzendental«<br />

als ermöglichende Bedingungen aller »Erkennt-


nis«: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne<br />

Begriffe sind blind.«(KrV B 75) Erkenntnis ist ein Zusammenspiel<br />

von Wahrnehmen und Denken, das Kant in seinem Ablauf<br />

minutiös (aber anders als die heutige Psychologie und<br />

Kognitionswissenschaft) beschreibt. Diesen Erkenntnisprozess<br />

richtet er auf die Frage nach der Möglichkeit eines »reinen<br />

Denkens« aus und diskutiert die metaphysischen Ideen<br />

von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit als Ideen, die notwendig<br />

gedacht werden müssen, um die Einheit der Erfahrung zu<br />

begründen. Kant unterscheidet strikt zwischen »Denken« und<br />

»Erkennen«. Erkenntnis ist an die Anschauung gebunden. Die<br />

metaphysischen Ideen dagegen können nur gedacht werden<br />

(müssen dies freilich auch), weil ihnen keine sinnliche Wahrnehmung<br />

entspricht. Er verwirft also die Idee einer »reinen<br />

Vernunft« nicht gänzlich, sondern verteidigt sie für die metaphysischen<br />

Ideen. Dieses reine Denken der Ideen verweist<br />

religionsphilosophisch auf einen vernünftigen »Glauben«. 17<br />

Deshalb schreibt Kant in seiner Vorrede: »Ich mußte also das<br />

Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu machen.«(KrV<br />

B 30) Kants »Vernunftglaube« brach dabei mit der christlichen<br />

Orthodoxie.<br />

Die Frage nach dem Anfang und der ersten Aufgabe der <strong>Philosophie</strong><br />

beantworteten viele also mit der Logik: Den ersten und<br />

eigensten Gegenstand philosophischer Forschung bilden die<br />

Regeln des Denkens. Die Logik stellt die Teildisziplin der<br />

<strong>Philosophie</strong> dar, ohne die nichts anderes geht; sie ist deshalb<br />

im Studium auch das erste und wichtigste Thema. Schon Mephistopheles<br />

spottete zwar: »Zuerst Collegium Logicum. Da<br />

wird der Geist Euch wohl dressiert,/In spanische Stiefel eingeschnürt,/Daß<br />

er bedächtiger so fortan/Hinschleiche die<br />

Gedankenbahn,/Und nicht etwa, die Kreuz und Quer,/Irrlichteliere<br />

hin und her.« 18 Man lasse sich aber vom Teufel<br />

nicht schrecken: Auf das Tempo kommt es nicht an. Wo nicht<br />

logisch argumentiert wird, gibt es kein vernünftiges Gespräch.<br />

Wenn jemand sich in Widersprüche verwickelt und<br />

den Grundsatz vom Ausschluss des Widerspruchs als Ein-


wand nicht anerkennt, erübrigt sich jede weitere Diskussion.<br />

Eine beliebte Strategie ist es in philosophischen Disputen<br />

denn auch, Widersprüche nachzuweisen. Das geschieht mitunter<br />

nicht nur im Interesse der Klärung der Argumente, sondern<br />

auch als Totschlagargument zur akademischen Disqualifizierung<br />

des Diskutanten. Die Anerkennung der Logik als<br />

Methode und Gegenstand des <strong>Philosophie</strong>rens kann aber unter<br />

Philosophen nicht ernstlich strittig sein. Wer sie bezweifelt,<br />

disqualifiziert sich selbst. Allerdings ist es legitim, die<br />

Logik auf der Grundlage unstrittiger Regeln zu erweitern.<br />

Eben dies zeigen schon die Beispiele Aristoteles, Kant, Hegel<br />

und Bense. Sie zeigen auch, wie die philosophische Betrachtung<br />

der Logik weitere Teilgebiete wie Erkenntnistheorie, Ontologie<br />

und Metaphysik erschließt. Es ist also doch nicht ganz<br />

beliebig, womit man das Studium der <strong>Philosophie</strong> beginnt; es<br />

beginnt eigentlich erst mit der Arbeit an der eigenen Begrifflichkeit<br />

und Argumentation. Stets geht es um die Perfektionierung<br />

des Denkens und Erkennens im Interesse der Orientierung<br />

des eigenen Standpunkts.<br />

Die moderne <strong>Philosophie</strong> kennzeichnet dabei eine besondere<br />

Hinwendung zur Sprache (»linguistic turn«). Diese sprachphilosophische<br />

Wendung – mit dem Namen Ludwig Wittgensteins<br />

(1889–1951) eng verbunden – richtet sich gleichermaßen<br />

auf die »natürlichen« und die »formalen« Sprachen. Die<br />

moderne <strong>Philosophie</strong> verfeinert ihre Instrumentarien in Aufnahme<br />

linguistischer wie mathematisch-kybernetischer<br />

Mittel. Man kann die <strong>Philosophie</strong>geschichte deshalb in erster<br />

Annäherung auch durch Paradigmenwechsel gliedern und<br />

von einer antiken, neuzeitlichen und modernen Epoche<br />

sprechen. Schnädelbach unterscheidet ein »ontologisches«,<br />

ein »mentalistisches« und ein »linguistisches« Paradigma; das<br />

»Sein«, »der Geist« und die »Sprache« waren demnach jeweils<br />

vorherrschende Themen des <strong>Philosophie</strong>rens. 19 Die Pointe<br />

dieser Unterscheidung liegt darin, dass die alten Fragen nicht<br />

durch die neueren abgelöst und erledigt sind, sondern den alten<br />

Fragen lediglich neue zuwachsen und die Standards der


Diskussion aller überlieferten Fragen steigen. Durch die<br />

sprachwissenschaftliche Erweiterung des <strong>Philosophie</strong>rens<br />

stellen sich heute die alten Fragen im Paradigma der Sprache<br />

und Horizont ihrer sprachlichen Verfasstheit sinnkritisch. 20<br />

Damit kann unsere erste Definition der <strong>Philosophie</strong> (als »akademisch<br />

umfassende Selbstverantwortung einer Lebensführung«)<br />

durch eine andere ergänzt werden. Schnädelbach<br />

definiert das <strong>Philosophie</strong>ren als »die Tätigkeit der denkenden<br />

Orientierung im Bereich der Grundlagen unseres Denkens,<br />

Erkennens und Handelns« 21 . Diese Definition berücksichtigt<br />

die akademische Arbeitsteilung und Eigenständigkeit aller<br />

Wissenschaften durch die Beschränkung auf den Bereich der<br />

Grundlagen. Die Sinnfrage kommt in der seit Kant verbreiteten<br />

Rede von »Orientierung« zur Sprache. 22 Sie meint weder<br />

eine autoritative Vorgabe noch ständige Sinnhuberei. Es<br />

widerspricht der Orientierungsaufgabe deshalb auch nicht,<br />

<strong>Philosophie</strong> als kritische »Verunsicherungswissenschaft« und<br />

»Abbruchunternehmen« zu propagieren. 23 <strong>Philosophie</strong>ren<br />

lässt sich als ein ständiger Versuch ansehen, das wissenschaftliche<br />

Instrumentarium und Rüstzeug des Denkens auf<br />

die leitende Grundfrage zurechtzuschneiden und das Niveau<br />

an Wissenschaftlichkeit zu finden, das den Problemen angemessen<br />

ist. Diese Klärung der Wissenschaftsstandards, die<br />

möglich sind, bei Akzeptanz »schwacher« Gründe, wo keine<br />

»stärkeren« zu haben sind, erfolgt unter der Voraussetzung,<br />

dass die philosophischen Fragen immer schon irgendwie<br />

beantwortet sind: wenn nicht durch <strong>Philosophie</strong>, so durch Religion<br />

oder die Idole unserer Erlebnisgesellschaft. Platon bereits<br />

konzipierte die <strong>Philosophie</strong> dagegen als eine dialogischdialektische<br />

Prüfung der herrschenden Meinungen über das<br />

Seiende im Ganzen. Die Frage nach dem »Sinn des Lebens«<br />

geht alle Menschen an. Nicht alle aber stellen sie explizit;<br />

viele lassen sie sich durch geläufige Weltdeutungen beantworten.<br />

Deshalb wurde auch nicht immer und überall philosophiert.<br />

Nicht jede Weltanschauung ist <strong>Philosophie</strong>. <strong>Philosophie</strong><br />

entwickelte sich als methodische Disziplin unter


historisch-politisch angebbaren, prekären Bedingungen und<br />

ist heute als institutionell etablierte akademische Disziplin erneut<br />

in ihrem Bestand gefährdet.<br />

Aufgaben und Methoden der <strong>Philosophie</strong> stehen also in<br />

einem Bedingungsverhältnis. Die <strong>Philosophie</strong> hat immer<br />

wieder strenge Wissenschaftlichkeit angestrebt, indem sie<br />

ihre Aufgaben begrenzte. Kants Kritizismus suchte bereits<br />

das falsche »dogmatische« Wissen aufzuheben, »um zum<br />

Glauben Platz zu machen«. In neuerer Zeit meinte Wittgenstein:<br />

»Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man<br />

schweigen.« 24 Die Gefahr ist dabei groß, dass die Limitierung<br />

der Wissenschaftsstandards undisziplinierter Schwärmerei<br />

und Gerede das Terrain überlässt. Die Selbstbegrenzung der<br />

<strong>Philosophie</strong> mag dazu führen, dass das Fach vor seinen ursprünglich<br />

leitenden Fragen kapituliert. Wenn <strong>Philosophie</strong><br />

aber einen lebensweltlichen Ursprung und Sinn – in der Klärung<br />

der Frage nach dem Sinn des Lebens – hat, verfehlt ein<br />

allzu enges Fachverständnis die Aufgaben. Denn die Fragen<br />

sind immer gestellt und beantwortet. Es widerspricht der<br />

»Mündigkeit« des Menschen, sich ein zu striktes Schweigen<br />

über drängende Fragen aufzuerlegen. 25 Damit sinkt nur das<br />

Niveau ihrer Beantwortung. Beliebigkeit und Obskurantismen<br />

breiten sich aus.<br />

Spezielle Forschungsbeiträge in einer Teildisziplin sind kaum<br />

möglich, wenn das philosophische Profil nicht insgesamt klar<br />

umrissen ist. Eine Orientierung über den ganzen Aufgabenbereich<br />

und Zusammenhang des Fachs ist unerlässlich. Immer<br />

philosophiert man gewissermaßen aus der Mitte des<br />

Fachs von einem leitenden <strong>Philosophie</strong>begriff her. Klassische<br />

Muster sind die platonischen Kunstgespräche, die als Einführungen<br />

in die <strong>Philosophie</strong> konzipiert wurden und über die<br />

aporetische Zuspitzung oder auch Klärung bestimmter Fragen<br />

hinausgehend auf die Einübung der dialogischen Methode<br />

zielten. Platon gestand seinen Texten insgesamt nur<br />

einen propädeutischen Status zu, weil er das lebendige Gespräch<br />

bevorzugte und die monologische Schriftlichkeit als


ein defizientes Medium des <strong>Philosophie</strong>rens ansah. Nach<br />

Aristoteles erst festigte sich das System der <strong>Philosophie</strong> mit<br />

der editorischen Ordnung des überlieferten Textkorpus. Immer<br />

wieder entwickelten Philosophen im Lehrbetrieb der<br />

Schulen dann neue Einteilungen. Dies verstärkte sich in der<br />

Neuzeit mit gewachsenem Methodenbewusstsein und der<br />

institutionellen Etablierung des Fachs.<br />

Die systematischen Einteilungen lassen sich heute an den<br />

gängigen Lehrstuhlbezeichnungen ablesen. Die erste und<br />

wichtigste Unterteilung ist die Gliederung in theoretische und<br />

praktische <strong>Philosophie</strong>. Dazu kommen meist bescheidener<br />

ausgestattete Professuren für Geschichte der <strong>Philosophie</strong>. Sie<br />

sind häufig nach lokalen Traditionen der Institute oder Forschungsschwerpunkten<br />

ihrer Vertreter für bestimmte Epochen<br />

(etwa für die antike <strong>Philosophie</strong> oder den deutschen<br />

Idealismus) spezifiziert. Die theoretische <strong>Philosophie</strong> untergliedert<br />

sich in Disziplinen wie Logik, Erkenntnistheorie oder<br />

Wissenschaftstheorie. Heute dringen weitere Zweige wie<br />

Medientheorie oder Kognitionswissenschaften vor, die auch<br />

als Teile der Erkenntnistheorie gefasst werden können. Die<br />

praktische <strong>Philosophie</strong> umfasst Disziplinen wie Ethik,<br />

Rechts- und Sozialphilosophie, politische <strong>Philosophie</strong>, Kulturphilosophie<br />

oder auch philosophische Anthropologie.<br />

Viele Kombinationen und Untergliederungen sind möglich.<br />

Wichtig ist aber, dass es in dieser Vielfalt ein verbindendes<br />

Fachverständnis gibt.<br />

Gleiches gilt für die Fakultäten und Universitäten. Die zentrale<br />

Stellung der <strong>Philosophie</strong> innerhalb der neueren deutschen<br />

Universität basierte auf Überzeugungen von der philosophischen<br />

»Idee« und »Einheit« aller Wissenschaften.<br />

Wilhelm von Humboldt (1767–1835) setzte die universitäre<br />

Wahrheitsorientierung als »Einheit von Forschung und<br />

Lehre« ins Werk, indem er die Lehre unter den Primat der<br />

Forschung stellte. Diese Forschungsuniversität hatte ihre<br />

Spitze in der <strong>Philosophie</strong>; sie zog die humanen Konsequenzen<br />

aus den wissenschaftlich-technischen Entwicklungen für


das Weltbild und Selbstverständnis der Gesellschaft. Zivilisation<br />

steigert Standards möglichen Handelns. <strong>Philosophie</strong><br />

fordert ein Höchstmaß an kultureller Differenzierung. Um<br />

Aristoteles zu zitieren: »Was dem einzelnen wesenseigen ist,<br />

das stellt für den einzelnen von Natur das Höchste und das<br />

Lustvollste dar. Für den Menschen ist das also das Leben des<br />

Geistes, nach dem dieser vor allem das wahre Selbst des Menschen<br />

darstellt, und dieses Leben ist denn also auch das<br />

glücklichste.« 26<br />

Moral: Individuelle Verantwortung eigenen Handelns<br />

Moral und Politik gehören für das Alltagsverständnis eng<br />

zusammen. Nicht jedes moralische Handeln nennen wir politisch<br />

und nicht jedes politische moralisch. Dabei nennen wir<br />

nur dasjenige soziale Handeln »politisch«, das die staatliche<br />

Willensbildung beeinflussen möchte oder effektiv beeinflusst<br />

und bestimmt. Der Begriff der Politik lässt sich aber philosophisch<br />

nicht unabhängig vom »moralischen Standpunkt«<br />

bestimmen. Vielmehr kennzeichnet es gerade die philosophische<br />

Teilnehmerperspektive gegenüber der rechts- und sozialwissenschaftlichen<br />

Beobachterperspektive, dass sie eine<br />

moralische Kritik der Politik ermöglicht. Deshalb bedarf politische<br />

<strong>Philosophie</strong> auch einer ethischen Grundlegung. Sie beginnt<br />

mit einer Klärung des Begriffs der Moral.<br />

Rechtsfähig sind auch juristische Personen, handlungsfähig<br />

hingegen nur entwickelte menschliche Individuen. So beurteilen<br />

wir Säuglinge nicht moralisch. Weil moralische Urteile<br />

sich ausschließlich auf verantwortliches Handeln richten,<br />

muss zunächst geklärt sein, ob überhaupt ein solches vorlag.<br />

Dann erst lässt sich fragen, ob es gut oder böse war. Nicht jedes<br />

Verhalten heißt ein Handeln, sondern nur dasjenige, das<br />

intentional gewollt und vollzogen ist. Wo wir keine Freiheit<br />

voraussetzen, urteilen wir nicht moralisch. Auch Unterlassen


Ein Leben zwischen Politik und <strong>Philosophie</strong><br />

Hannah Arendt (1906–1975) war studierte Philosophin, doch<br />

lehnte sie es ab, als Philosophin bezeichnet zu werden. Ihrem<br />

Selbstverständnis nach beschäftigte sie sich mit politischer<br />

Theorie, die sich naturgemäß nicht mit der <strong>Philosophie</strong> vertrage.<br />

Seit dem Prozess gegen Sokrates, erklärte sie, habe sich<br />

das Denken vom Handeln und das Handeln vom Denken<br />

verabschiedet. Während das Denken auf der Suche nach der<br />

einen Wahrheit gewesen sei, habe das Handeln nur auf der<br />

Grundlage der Akzeptanz vielfältiger Meinungen funktionieren<br />

können; während das Denken stets ein Dialog des Einzelnen<br />

mit sich selbst sei, sei das Handeln auf den Dialog der<br />

vielen angewiesen.<br />

Gleichwohl arbeitete Arendt auch in ihren politisch-theoretischen<br />

Schriften stets mit philosophischen Begriffen und<br />

Konzepten. In ihrem Prozessbericht über Eichmann in Jerusalem<br />

bezog sie sich auf Kants Begriff der Urteilskraft, an der<br />

es dem Angeklagten Arendt zufolge mangelte, in ihrem Buch<br />

über den Totalitarismus beklagte sie den von totalitären Regimen<br />

unternommenen Versuch, die Pluralität als Grundbedingung<br />

menschlicher Existenz abzuschaffen, und ihre biografischen<br />

Schriften sind samt und sonders Plädoyers dafür, die<br />

Idee von der einen und einzigen Wahrheit zugunsten der<br />

Meinungsvielfalt und des Dialogs zu opfern.<br />

Es ist ihre Präferenz für das perspektivische Denken und eine<br />

von Pluralität bestimmte Welt, die Arendt gegen die einsame<br />

Welt des Philosophen setzte, und es ist die Einsicht, dass<br />

Geschichte nicht von Philosophenkönigen, sondern von den<br />

Zufällen und von der Willkür der handelnden Menschen gelenkt<br />

wird, die sie zu einer politischen Denkerin par excellence<br />

machten. Arendts frühe Abkehr von der <strong>Philosophie</strong><br />

und die gleichzeitige Hinwendung zur politischen Theorie


und zur Geschichtsschreibung ist indes kaum nachvollziehbar<br />

ohne Kenntnis ihrer Lebensgeschichte, die Ernest Gellner<br />

(1925–1995) einmal als Parabel der Moderne beschrieben hat:<br />

»If Hannah Arendt had not existed it would most certainly be<br />

necessary to invent her. Her life is a parable, not just of our<br />

age, but of several centuries of European thought and experience.«<br />

1 (Auf Deutsch: Wenn Hannah Arendt nicht existiert<br />

hätte, hätte man sie erfinden müssen. Ihr Leben ist nicht nur<br />

eine Parabel unseres Zeitalters, sondern mehrerer Jahrhunderte<br />

europäischen Denkens und Handelns.)<br />

1906 in Hannover geboren, verbrachte Arendt ihre Kindheit<br />

und Jugend in Königsberg, wo sie ein altsprachliches Gymnasium<br />

besuchte. Schon früh las sie die Werke der großen<br />

Philosophen, die im elterlichen Bücherschrank standen.<br />

Nach eigener Auskunft hatte sie im Alter von vierzehn Jahren<br />

bereits Kant gelesen, später Kierkegaard und Karl Jaspers’<br />

Psychologie der Weltanschauungen. Nachdem sie als Achtzehnjährige<br />

wegen Anstiftung zum Unterrichtsboykott der<br />

Schule verwiesen worden war und das Abitur als externe<br />

Schülerin hatte ablegen müssen, nahm sie das Studium der<br />

<strong>Philosophie</strong>, des Griechischen und – obwohl sie selbst aus<br />

einer jüdischen Familie stammte – der protestantischen Theologie<br />

an der Universität Marburg auf. Das Interesse für die<br />

Theologie ergab sich aus einer frühen Kierkegaard-Lektüre,<br />

während ihr Interesse an <strong>Philosophie</strong> quasi einem existenziellen<br />

Grundbedürfnis entsprang: »Da können Sie fragen:<br />

Warum haben Sie Kant gelesen? Irgendwie war es für mich<br />

die Frage: entweder kann ich <strong>Philosophie</strong> studieren oder ich<br />

gehe ins Wasser sozusagen.« 2<br />

Bereits im ersten Semester besuchte Arendt die Seminare<br />

von Martin Heidegger (1889–1976), den sie als »heimlichen<br />

König« im Reich des Denkens bezeichnete. 3 Schon bald<br />

bahnte sich eine Affäre zwischen Heidegger und seiner Studentin<br />

an – eine Affäre, die streng geheim gehalten werden<br />

musste, da Heidegger verheiratet war und zwei Söhne hatte.<br />

1926 ging Arendt, um den amourösen Verwicklungen zu ent-


kommen, nach Heidelberg zu Karl Jaspers (1883–1969), bei<br />

dem sie 1929 mit einer Dissertation über den Liebesbegriff bei<br />

Augustinus promovierte. Zwar hatte sie sich infolge ihrer<br />

Affäre mit Heidegger gezwungen gesehen, Marbach zu verlassen,<br />

doch trug ihr diese Affäre auch das Privileg ein, die<br />

Entstehung von Heideggers Hauptwerk, Sein und Zeit, aus<br />

allernächster Nähe verfolgen zu können. Obwohl Arendt sich<br />

in den folgenden Jahren aufgrund der politischen Entwicklungen<br />

in Deutschland ostentativ von der <strong>Philosophie</strong> und<br />

von Martin Heidegger als Person distanzierte, hinterließ die<br />

Lektüre von Sein und Zeit nachhaltige Spuren, die sich in all<br />

ihren Werken finden lassen.<br />

Ebenfalls 1929 heiratete Arendt den Philosophen Günther<br />

Stern (1902–1992) – der sich später Günther Anders nannte –<br />

und nahm die Arbeit an einer Habilitationsschrift über die<br />

deutsche Romantik auf. Als sie auf Hinweis ihrer Freundin<br />

Anne Mendelssohn, einer Nachfahrin des jüdischen Aufklärers<br />

Moses Mendelssohn, den Nachlass der Dichterin Rahel<br />

Varnhagen (1771–1833) in der Berliner Staatsbibliothek entdeckte,<br />

änderte sie ihre Pläne und begann, eine Biografie<br />

der Dichterin zu schreiben. Am Abschluss des Verfahrens<br />

hinderte sie jedoch die nationalsozialistische Machtübernahme,<br />

die Arendt nach kurzer Inhaftierung dazu bewegte,<br />

gemeinsam mit ihrer Mutter nach Paris zu flüchten. Günther<br />

Stern folgte ihnen nach Paris, allerdings hatte sich das Ehepaar<br />

schon in Berlin auseinander gelebt und ließ sich bald<br />

wieder scheiden.<br />

Über gemeinsame Bekannte lernte Arendt in Paris ihren zweiten<br />

Ehemann Heinrich Blücher (1899–1970) kennen, der als<br />

Kommunist ebenfalls nach Frankreich geflüchtet war. Beide<br />

wurden nach dem Einmarsch der deutschen Truppen interniert,<br />

konnten aber dem Lager entkommen und trafen sich bei<br />

Freunden in Südfrankreich wieder, von wo aus sie mit amerikanischen<br />

Notvisa nach New York ausreisten. Bald fand<br />

Arendt eine Stelle als Lektorin im New Yorker Schocken-Verlag<br />

und übernahm dort die Verantwortung für die Edition der


Werke Franz Kafkas. Später arbeitete sie für die Jewish Cultural<br />

Reconstruction, in deren Auftrag sie 1949 erstmals wieder<br />

nach Europa reiste, um Listen erhalten gebliebener jüdischer<br />

Kulturgüter zu erstellen.<br />

In diesen Jahren schrieb Arendt mehrere Aufsätze für akademische<br />

Zeitschriften und Kolumnen für die deutschsprachige<br />

Emigrantenzeitschrift Der Aufbau, bevor sie 1951 ihr erstes<br />

großes Werk unter dem Titel The Origins of Totalitarianism<br />

in englischer Sprache veröffentlichte (dt.: Elemente und Ursprünge<br />

totaler Herrschaft, 1955). Im selben Jahr nahm sie die<br />

amerikanische Staatsbürgerschaft an. Es folgten mehrere<br />

Lehraufträge, unter anderem in Princeton und Berkeley, bevor<br />

Arendt eine Professur an der University of Chicago und<br />

später an der New Yorker New School for Social Research<br />

annahm. Sie starb am 4. Dezember 1975 in ihrer New Yorker<br />

Wohnung, kurz nachdem sie die Arbeit an einer Vorlesungsreihe<br />

über das Urteilen aufgenommen hatte.<br />

Während Arendts Werke in der politischen Theorie und der<br />

Geschichtswissenschaft unmittelbar nach Erscheinen kontrovers<br />

diskutiert wurden, ließ die Rezeption durch die akademische<br />

<strong>Philosophie</strong> noch einige Zeit auf sich warten. Erst<br />

nach der Veröffentlichung von Elisabeth Young-Bruehls umfangreicher<br />

Biografie im Jahr 1980 4 setzte eine Arendt-Renaissance<br />

ein, zunächst in den Vereinigten Staaten, dann in<br />

Deutschland und schließlich in Frankreich. Ihren Höhepunkt<br />

in Deutschland erreichte sie kurz nach dem Fall der Berliner<br />

Mauer – wobei die abenteuerliche Lebensgeschichte vermutlich<br />

dazu beitrug, das Interesse eines breiten Publikums für<br />

Arendts Leben und Werk zu wecken. Obwohl sich Jürgen<br />

Habermas (geb.1929) mit seiner Theorie des kommunikativen<br />

Handelns bereits in den siebziger Jahren auf Hannah<br />

Arendt bezogen hatte, fand sie erst jetzt auch bei der deutschen<br />

Linken Beachtung, der sie wegen des in der Schrift<br />

Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft angestellten Vergleichs<br />

der nationalsozialistischen mit der stalinistischen<br />

Ideologie als Antikommunistin gegolten hatte.


Nun aber wurde das Buch sehr breit rezipiert. Arendts Ansatz<br />

wurde als Alternative zu den von der Linken traditionell favorisierten<br />

Faschismustheorien wiederentdeckt und Arendt als<br />

Person rehabilitiert. Seither ist in Deutschland eine verstärkte<br />

Auseinandersetzung mit ihrem Werk zu verzeichnen, verbunden<br />

mit einer großen Bereitschaft, die Autorin als moralische<br />

Autorität anzuerkennen. Nicht nur wies sie den Weg<br />

für die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit,<br />

sie zeigte gleichzeitig auch Alternativen zum ideologischen<br />

Marxismus auf. Dass man es bei ihr nicht mit einer<br />

Amerikanerin im Dienste eines Reeducation-Programms zu<br />

tun hatte, sondern mit einer Exildeutschen, die Goethe, Schiller<br />

und Kant gelesen hatte, trug ein Übriges zu der posthumen<br />

Erfolgsgeschichte bei.<br />

Seither sind so gut wie alle Aspekte ihres Werks gründlich<br />

untersucht worden, wobei neben den philosophischen Kernfragen<br />

vor allem ihre persönliche Beziehung zu Martin Heidegger<br />

im Zentrum der Aufmerksamkeit stand. In der vorliegenden<br />

Einführung wird diese Beziehung – von der zu<br />

Arendts Lebzeiten niemand außer ihren engsten Vertrauten<br />

und Heideggers Ehefrau Elfride etwas wusste – jedoch<br />

nur dort eine Rolle spielen, wo sich heideggersches Gedankengut<br />

in Arendts Werken wiederfindet beziehungsweise<br />

weiterentwickelt wird. Dies gilt vor allem im Hinblick<br />

auf die phänomenologische Methode, die möglicherweise<br />

das stärkste gemeinsame Charakteristikum aller Werke darstellt.<br />

Im negativen Sinn hat Heidegger das arendtsche Werk<br />

aber auch im Hinblick auf die Frage nach dem Antagonismus<br />

von Politik und <strong>Philosophie</strong> geprägt: Wiederholt nannte<br />

Arendt ihn als Beispiel für einen Philosophen, der in der<br />

Abgeschiedenheit des Denkens den Sinn für Pluralität und<br />

Diskursivität als Grundbedingungen des menschlichen<br />

Miteinanders verloren hatte.<br />

Leitfaden der vorliegenden Einführung ist die Frage nach dem<br />

Verhältnis von Politik und <strong>Philosophie</strong>, die Arendt bereits<br />

früh beschäftigte und die sich als Subtext durch alle nach der


Rahel-Biografie verfassten Schriften hindurchzieht. Dabei<br />

erscheint die frühe Abkehr von der <strong>Philosophie</strong> und die verstärkte<br />

Auseinandersetzung mit politischen Fragen vordergründig<br />

als Reaktion auf die nationalsozialistische Machtübernahme.<br />

Wie Arendt später in einem Interview erklärte,<br />

stand dieser Paradigmenwechsel in unmittelbarem Zusammenhang<br />

mit dem Verhalten vieler deutscher Akademiker,<br />

mit denen sie sich bis dahin eng verbunden gefühlt<br />

hatte: »Man denkt heute oft, daß der Schock der deutschen<br />

Juden 1933 sich damit erklärt, daß Hitler die Macht ergriff.<br />

Nun, was mich und Menschen meiner Generation betrifft,<br />

kann ich sagen, daß das ein kurioses Mißverständnis ist. [...]<br />

Das Problem, das persönliche Problem war doch nicht etwa,<br />

was unsere Feinde taten, sondern was unsere Freunde taten.<br />

[...] Ich lebte in einem intellektuellen Milieu, ich kannte aber<br />

auch andere Menschen, und ich konnte feststellen, daß unter<br />

den Intellektuellen die Gleichschaltung sozusagen die<br />

Regel war. Aber unter den anderen nicht. Und das hab’ ich<br />

nie vergessen. Ich ging aus Deutschland, beherrscht von<br />

der Vorstellung – natürlich immer etwas übertreibend –: Nie<br />

wieder! Ich rühre nie wieder irgendeine intellektuelle Geschichte<br />

an.« 5<br />

In einer 1954 gehaltenen Vorlesung über Philosophy and Politics<br />

reichte sie eine fundierte Begründung für ihre »Wende«<br />

nach. Hier verwies sie auf die historische Trennung der<br />

<strong>Philosophie</strong> von der Politik infolge des Todesurteils gegen<br />

Sokrates. 6 Gegenstand der <strong>Philosophie</strong> sei seither die<br />

Wahrheitsfindung, während Politik als bloßer Austausch von<br />

Meinungen gelte, die mit großer Geschwindigkeit auftauchen,<br />

um dann ebenso schnell wieder zu verschwinden.<br />

Fortan hätten die Philosophen gemeint, es könne nur eine einzige<br />

Wahrheit geben, die in den vielfältigen, perspektivisch<br />

bedingten und stets variablen Meinungen der Politiker qua<br />

Definition nicht enthalten sein könne. Der Philosoph meide<br />

seither den öffentlichen Austausch und ziehe sich auf den<br />

Dialog mit sich selbst zurück. Der Politiker hingegen sei nicht


handlungsfähig ohne Öffentlichkeit, ohne die Anwesenheit<br />

von anderen, mit denen er seine Argumente austauschen, die<br />

er überzeugen oder von denen er sich überzeugen lassen<br />

kann.<br />

Der Pluralität als Grundbedingung menschlichen Lebens<br />

nicht Rechnung getragen, sie gar als Defizit – nämlich als<br />

Nährboden für die Entstehung »bloßer« Meinungen – behandelt<br />

zu haben ist Arendt zufolge das größte Defizit der abendländischen<br />

<strong>Philosophie</strong>. Die einzige Ausnahme sei Immanuel<br />

Kant (1724–1804), der in der Kritik der Urteilskraft wiederholt<br />

darauf verweist, dass das Urteilen nur auf der Grundlage einer<br />

»erweiterten Denkungsart« funktionieren könne. Als solche<br />

bezeichnet er das Bemühen, die Welt nicht nur mit den eigenen<br />

Augen zu sehen, sondern sie sich auch aus der Perspektive<br />

anderer vorzustellen.<br />

Die Beschreibung des Antagonismus von Politik und <strong>Philosophie</strong>,<br />

von Meinung und Wahrheit verbindet Arendt mit der<br />

Beschreibung eines zweiten Problems, das die Geschichte der<br />

<strong>Philosophie</strong> seit Platon maßgeblich bestimmt hat. Es ist die<br />

Frage nach der Differenz von Sein und Erscheinung, die Platon<br />

bekanntlich mit einer Zwei-Welten-Theorie beantwortet<br />

hat: Alles, was existiert, ist Abbild einer unter der bloßen<br />

Erscheinung liegenden Idee, die nur als geistige zu verstehen<br />

und die allein wahrhaftig ist; alles sinnlich Wahrnehmbare ist,<br />

im Unterschied zur Idee, abhängig von der Wahrnehmung;<br />

die Wahrnehmung aber ist perspektivisch und kann keinen<br />

Anspruch auf Wahrheit geltend machen.<br />

Dieses Auseinanderfallen von Sein und Erscheinen steht für<br />

Arendt in zeitlichem wie auch kausalem Zusammenhang mit<br />

dem Auseinanderfallen von Wahrheit und Meinung, von<br />

<strong>Philosophie</strong> und Politik: Die Wahrheit des Philosophen ist<br />

wirklich und ewig, während die Meinung des Politikers nur<br />

erscheint und bald wieder verschwindet. Vor diesem Hintergrund<br />

erscheint Arendts Gesamtwerk als ein Versuch, die von<br />

Platon erdachte Zweiteilung der Welt zu überwinden, Pluralität<br />

und Perspektivität als genuin menschliche Bedingungen


und Begabungen zu rehabilitieren und Sein und Erscheinung<br />

wieder in eins zu setzen.<br />

So erklärte sie in ihrem Spätwerk Vom Leben des Geistes ohne<br />

Umschweife, sie versuche, »die Metaphysik und die <strong>Philosophie</strong><br />

mit allen ihren Kategorien, wie wir sie seit ihren Anfängen<br />

in Griechenland bis auf den heutigen Tag kennen, zu<br />

demontieren« (LG 1 207); doch hatte sie längst gezeigt, dass<br />

auch das »trostlose Ungefähr«, das als akzidentiell und partikular,<br />

als willkürlich und perspektivisch erscheinende Treiben<br />

der Menschen im öffentlichen Raum Gegenstand des<br />

<strong>Philosophie</strong>rens sein kann und soll. Mehr noch: Zum eigentlichen<br />

Gegenstand der <strong>Philosophie</strong> erhob sie Begriffe und<br />

Konzepte wie Natalität und Pluralität, Perspektivität als Bedingung<br />

für eine »erweiterte Denkungsart«, Spontaneität als<br />

die Fähigkeit, »eine Reihe von vorn anzufangen« (Kant), Performativität<br />

als Modus, in dem alles Handeln stattfindet, das<br />

Angewiesensein der Menschen auf die Erde als Lebensraum<br />

und die Körperlichkeit der menschlichen Existenz.<br />

Wenn auch Arendt die Möglichkeit einer politischen <strong>Philosophie</strong><br />

bestritt, so gehört sie doch selbst zu denen, die – im<br />

Anschluss an die husserlsche und heideggersche Phänomenologie<br />

und Existenzphilosophie – mit ihren Schriften die<br />

Grundlagen für eine mögliche <strong>Philosophie</strong> des Politischen gelegt<br />

haben.<br />

Die Anordnung der folgenden Kapitel entspricht der Chronologie<br />

des Gesamtwerks. Nicht berücksichtigt wird die Korrespondenz,<br />

die Arendt teilweise über Jahrzehnte hinweg kontinuierlich<br />

pflegte, wobei vor allem der Briefwechsel mit Karl<br />

Jaspers als Lektüre zu empfehlen ist. 7 Auch die »Denktagebücher«,<br />

eine Reihe von neunundzwanzig Notizbüchern mit<br />

handschriftlichen Einträgen aus den Jahren 1950 bis 1973,<br />

werden im Rahmen dieser Einführung nicht behandelt. Bei<br />

diesen Notizen handelt es sich überwiegend um fragmentarische<br />

Aufzeichnungen und Zitate, die zwar die Entstehungsgeschichten<br />

der Monografien erhellen, selten aber ganz neue<br />

Gedanken enthalten. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt


auf den für die Frage nach dem Verhältnis von Politik und<br />

<strong>Philosophie</strong> maßgeblichen Texten, wobei neben den Monografien<br />

in Ausnahmefällen auch kleinere Essays beziehungsweise<br />

Aufsatzsammlungen berücksichtigt werden (Reflections<br />

on Little Rock, Menschen in finsteren Zeiten).


Moral und Ethik<br />

»Euathlos wurde von Protagoras zum Anwalt ausgebildet. Man traf<br />

eine großzügige Vereinbarung, nach der Euathlos erst dann und nur<br />

dann für sein Studium bezahlen muss, wenn er seinen ersten Fall gewinnt.<br />

Zum Ärger von Protagoras, der viel Zeit für die Ausbildung seines<br />

Schülers aufgewendet hatte, entscheidet sich dieser jedoch, Musiker<br />

zu werden und die Robe an den Nagel zu hängen. Protagoras<br />

verlangt daraufhin, dass Euathlos ihn für seine Ausbildung bezahlt.<br />

Euathlos aber weigert sich, und so geht Protagoras vor Gericht. So wie<br />

Protagoras die Dinge sieht, muss Euathlos, wenn er den Prozess verliert,<br />

seine Schulden an ihn zurückzahlen. Aber auch wenn Euathlos<br />

gewinnt, muss er bezahlen, da er ja dann seinen ersten Prozess gewonnen<br />

hat. Euathlos sieht die Sache etwas anders. Wenn ich verliere,<br />

so denkt er, habe ich meinen ersten Prozess verloren und muss, wie<br />

der Vertrag es vorsieht, keinen Cent bezahlen. Wenn ich jedoch gewinne,<br />

darf Protagoras nicht mehr auf dem Vertrag beharren, so dass<br />

ich ebenfalls nicht zahlen muss.« 1<br />

Armer Richter! Wenn beide Argumentationsweisen in sich<br />

logisch schlüssig sind, dann kann es in diesem Prozess kein<br />

gerechtes Urteil geben. Die antiken griechischen Philosophen,<br />

von denen diese logische Paradoxie überliefert ist, liebten<br />

solche gedanklichen Verwirrspiele, bei denen es keinen<br />

Ausweg zu geben scheint. Aber angesichts dieser Abgründe<br />

der Logik sollte man nicht übersehen, dass sich dahinter neben<br />

rechtlichen Fragen auch moralische Probleme verbergen.<br />

Dies wird deutlich, wenn man sich den Fall nicht als logisches<br />

Gedankenspiel, sondern als reale Auseinandersetzung vorstellt.<br />

Dann würden die Beteiligten nämlich Fragen wie diese stellen<br />

beziehungsweise beantworten müssen: Wie ernst war die<br />

Absicht des Euathlos, den Beruf des Anwalts zu ergreifen?


Zu welchem Zeitpunkt hat er sich entschlossen, diese Absicht<br />

fallen zu lassen? Hat er seinen Lehrer längere Zeit über seine<br />

neue Absicht im Unklaren gelassen oder getäuscht? Hat Protagoras<br />

bei Euathlos falsche Erwartungen geweckt? Was verstanden<br />

beide ursprünglich unter Euathlos’ »erstem Fall«, und<br />

ist dieses Verständnis Bestandteil der Absprache oder nicht?<br />

Welche Absicht verfolgte der Lehrer mit dem Arrangement<br />

des Erfolgshonorars? Wenn seine Kunst darin besteht, den<br />

nächstbesten Fall ganz unabhängig davon zu gewinnen, worum<br />

es inhaltlich geht, ist dann nicht diese Kunst selbst<br />

moralisch fragwürdig? Geschieht ihm dann vielleicht Recht,<br />

wenn er sein Honorar nicht bekommt?<br />

Beim juristischen Streitfall und der richterlichen Entscheidung<br />

kommt es darauf an, was bewiesen wird oder was zumindest<br />

als plausibel angenommen werden kann und unter<br />

welche Gesetze die so rekonstruierten Vorgänge fallen. Die<br />

moralische Frage bezieht sich dagegen darauf, was wir von<br />

unseren Mitmenschen oder was diese von uns berechtigterweise<br />

erwarten können. Und es geht auch darum, was wir<br />

selbst von uns erwarten, wie wir uns selbst sehen, wie wir leben<br />

wollen. Das Recht stellt also ein äußeres Gebot dar, das im<br />

Zweifelsfall, wenn auch nicht immer erfolgreich, durch Polizei<br />

und Gerichte durchgesetzt werden kann. Demgegenüber<br />

wirkt das Moralische, wenn es denn wirkt, als innere Orientierung.<br />

Im Konfliktfall erscheint es als inneres Gebot, das<br />

nicht mit äußeren Zwangsmitteln durchgesetzt wird, sondern<br />

sich als Stimme des Gewissens Gehör zu schaffen versucht.<br />

Obwohl das Moralische bisweilen als von außen an uns<br />

herangetragene Pflicht erscheint, wird die Erfüllung dieser<br />

Pflicht nur dann als eigentlich moralisch angesehen, wenn sie<br />

freiwillig erfolgt und gefühlsmäßig bejaht wird. Wir sollen<br />

das, was wir sollen, auch wollen.<br />

Moralische Bewertungen fließen in die alltäglichen Auseinandersetzungen<br />

oft unbemerkt ein. Sie kommen in begrenzten<br />

Feststellungen (»Du kannst nicht eine Arbeit in Rechnung<br />

stellen, die du nicht geleistet hast«), eher selten auch als


moralische Regeln begrenzter Reichweite (»Betrug ist nicht<br />

erlaubt«) zu Wort. Wird dagegen über Gut und Böse, richtiges<br />

und falsches Handeln grundsätzlicher nachgedacht und<br />

versucht man, moralische Annahmen ausdrücklich festzuschreiben,<br />

dann geht man – der diesem Buch zugrunde liegenden<br />

Definition zufolge – von der Moral zur Ethik über. Ethik ist<br />

eine Form der Kommunikation, in der Lebensverhältnisse<br />

hinsichtlich der in ihnen enthaltenen Chancen, Beeinträchtigungen<br />

und Verpflichtungen verglichen und bewertet werden.<br />

Ethische Prinzipien tauchen auch schon im Alltag auf,<br />

insbesondere in Form der so genannten goldenen Regel (»Was<br />

du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern<br />

zu«), aber auch in Form von Standesregeln und berufsethischen<br />

Kodizes. Ethiktheorien versuchen, moralische Normen<br />

und Werte mit Gründen und Prinzipien abzustützen oder<br />

problematische Ansichten darüber zu widerlegen. Während<br />

also Moral eine individuelle und gesellschaftliche Praxis<br />

darstellt, ist Ethik eine Theorie dieser Praxis.<br />

Dementsprechend wird in diesem Buch unter »Ethik« in Übereinstimmung<br />

mit dem heute vorherrschenden Sprachgebrauch<br />

die <strong>Philosophie</strong> der Moral verstanden, wobei »Moral«<br />

nicht nur den engeren Bereich des unbedingten Sollens,<br />

sondern auch den weiteren des Strebens nach einem gelingenden<br />

Leben umfasst. Die Ethik als philosophische Disziplin<br />

befasst sich analysierend und wertend mit den moralischen<br />

Normen und Werten des menschlichen Handelns, vor<br />

allem mit ihren Begründungen, ihren Prinzipien und ihren<br />

Anwendungen.<br />

Es gibt allerdings auch andere Bestimmungen der Ausdrücke<br />

»Ethik« und »Moral«. Dies kann, wenn man die Unterschiede<br />

übersieht, durchaus zu Verwirrungen führen. Einige Philosophen<br />

verwenden beide Ausdrücke gleichbedeutend – dies entspricht<br />

überwiegend dem alltäglichen Sprachgebrauch. Andere<br />

machen sich den sprachlichen Unterschied inhaltlich<br />

zunutze. Beispielsweise wird »Ethik« manchmal (in Anlehnung<br />

an die vorherrschende Thematik der antiken Ethik) als


Lehre vom wesensgemäß gelungenen Leben verstanden,<br />

während »Moralphilosophie« (in Anlehnung an die vorherrschende<br />

Thematik der modernen Ethik) die Lehre von der Gerechtigkeit<br />

im Interessenausgleich bezeichnet. Oder »Moral«<br />

beschreibt das in einer Gesellschaft üblicherweise Gesollte,<br />

während »Ethik« den moralischen Reflexions- und Entscheidungsprozess<br />

meint, mit dem Individuen sich auch gegen<br />

eine herrschende Moral abgrenzen können (für diese Gegenüberstellung<br />

werden auch die Begriffe »Sittlichkeit« und<br />

»Moralität« verwendet). Oder gerade umgekehrt wird unter<br />

»Ethik« der Bereich der konkreten kulturellen Orientierung<br />

und individuellen Entscheidung verstanden, während »Moral«<br />

sich auf grundsätzliche Fragen der Legitimität der Handlungsorientierungen<br />

bezieht.<br />

Solche Unterscheidungen setzen aber immer schon bestimmte<br />

inhaltlich-theoretische Festlegungen voraus. Eine<br />

Geschichte der Ethik, die es mit einer Zeitspanne von zweieinhalbtausend<br />

Jahren und entsprechend unterschiedlichen<br />

Kulturen, Individuen und Theorien zu tun hat, verwendet<br />

dagegen sinnvollerweise einen Ethikbegriff, der möglichst<br />

wenig inhaltlich vorbestimmt ist, um sich den Blick auf die<br />

jeweils dargestellte Ethiktheorie nicht durch vorgefasste<br />

Kategorien zu verstellen.<br />

»Ethik« in der allgemeinen Bedeutung von »Moralphilosophie«<br />

entspricht auch der geschichtlichen Herkunft dieser<br />

Begriffe selbst. Als philosophische Disziplin wurde die<br />

Ethik innerhalb des abendländischen Denkens zum ersten<br />

Mal von Aristoteles (ca. 384–322 v. Chr.) abgegrenzt und benannt,<br />

wobei er Sokrates (ca. 469–399 v. Chr.) als denjenigen<br />

bezeichnete, der sich als Erster (im Unterschied zu den<br />

vorsokratischen Naturphilosophen) mit dem Wesen des<br />

»Ethischen« (tà ethiká) beschäftigt habe. Aristoteles verwendete<br />

das Adjektiv »ethisch« (ethikós) entweder im Zusammenhang<br />

mit einem Substantiv (er sprach von ethischer<br />

Tüchtigkeit, ethischer Abhandlung) oder auch als substantiviertes<br />

Adjektiv (das Ethische). Schon Sokrates und Pla-


ton (ca. 427–347 v. Chr.) bevorzugten diese Sprachform (»das<br />

Fromme«, »das Schöne«, »das Gerechte«), um den Blick auf<br />

das Wesen der Sache zu lenken und von allen zufälligen<br />

Besonderheiten zu abstrahieren. Das Adjektiv »ethisch« gehört<br />

sprachlich zum Substantiv »Ethos«, das im Griechischen<br />

zunächst die Grundbedeutung der Wohnstätte und, davon<br />

abgeleitet, zwei weitere Bedeutungen hatte: Gewohnheit/<br />

Sitte/Brauch und Charakter/Tugend. Unter »Ethos« wird seither<br />

die (einigermaßen verlässliche) Regelung von Grundverhaltensweisen<br />

der Menschen zueinander und zu ihrer<br />

Umwelt verstanden. Durch das Ethos als Lebensform werden<br />

die wechselseitigen Verhaltenserwartungen zu relativ dauerhaften<br />

Einstellungen geformt.<br />

Eine Geschichte der Ethik kann angesichts des begrenzten<br />

Umfangs – dies ist fast überflüssig zu sagen – keineswegs beanspruchen,<br />

auch nur alle »klassischen« Autoren zu behandeln,<br />

ja sie kann nicht einmal die ethischen Ansichten der<br />

jeweils behandelten Autoren im Ganzen wiedergeben. Während<br />

die meisten Ethikgeschichten einen (dann doch allzu<br />

knappen) Überblick über die jeweiligen Ansätze geben, verfolgt<br />

das vorliegende Buch vor allem den Zweck der Einführung.<br />

Sich in philosophisches Denken einführen zu lassen<br />

heißt aber weniger, Denkresultate zur Kenntnis zu nehmen,<br />

als sich mit ausgewählten Gedanken und Argumentationsweisen<br />

auseinander zu setzen. Deshalb habe ich mich für ein<br />

exemplarisches Verfahren entschieden. Das heißt, aus der<br />

Fülle der Ethiktheorien wurden einige Gedanken herausgegriffen,<br />

die als charakteristisch für den jeweiligen Autor und<br />

seine Epoche gelten können und über ihre Zeit hinaus bis<br />

heute gewirkt haben. Die Kriterien dieser Auswahl sind nicht<br />

allein objektiv zu rechtfertigen, ein subjektiver Anteil daran<br />

ist unleugbar, aber, wie ich hoffe, auch nicht nachteilig. Die<br />

Verweise auf den jeweiligen geschichtlichen Kontext, in dem<br />

ein ethischer Ansatz zu verorten ist, mussten aus Umfangsgründen<br />

auf ein Minimum reduziert werden. Auch habe ich<br />

mich auf das abendländische ethische Denken beschränkt.


Außereuropäische Ethiken vom Kodex des Hammurabi bis<br />

zu Gandhis Satyagraha-Lehre mussten ganz außer Betracht<br />

bleiben. Schließlich endet die vorliegende Geschichte der<br />

Ethik auf vielleicht etwas willkürlich anmutende Weise in<br />

der Mitte des 20. Jahrhunderts. Versteht man jedoch unter<br />

»Geschichte« das Vergangene, dann kann man das, was seither<br />

die moralphilosophischen Diskussionen bestimmt, zur<br />

»Gegenwart« der Ethik zählen.<br />

Willkürlich, wenn auch unvermeidlich, ist ein solcher Einschnitt<br />

allerdings auch insofern, als sich Geschichte und<br />

Gegenwart in der <strong>Philosophie</strong> anders zueinander verhalten als<br />

in den Wissenschaften. Philosophische Fragen, zumal die der<br />

Ethik, erledigen sich zumeist nicht ein für alle Mal, es gibt<br />

hier, ähnlich wie im Bereich des Ästhetischen, keinen geradlinigen<br />

Fortschritt, vielmehr eine erstaunliche Kontinuität der<br />

Diskussion. Im geschichtlichen Abstand erscheint zwar auch<br />

manches zeitgebunden und überholt, anderes aber aktuell<br />

wie je. Auch das Vergessen und die Rückschritte hinter einmal<br />

Erreichtes gehören zur Geschichte der Ethik. Die in der Wissenschaftsgeschichte<br />

übliche Differenzierung in gesicherte<br />

Erkenntnis und historische Irrtümer wäre im Fall der Ethik<br />

selbst ein Irrtum. Die strikte Entgegensetzung von geschichtlichen<br />

und systematischen Fragen ist in der <strong>Philosophie</strong> unangemessen.<br />

Vielmehr sind beide Aspekte untrennbar. <strong>Philosophie</strong>geschichtliche<br />

Darstellungen müssen sowohl die<br />

Voraussetzungen und Motive der dargestellten geschichtlichen<br />

Personen wie auch die philosophischen Fragen der<br />

Gegenwart im Auge behalten. <strong>Philosophie</strong> ohne <strong>Philosophie</strong>geschichte<br />

verliert den breiten Horizont ihrer Fragemöglichkeiten<br />

aus dem Blick, während <strong>Philosophie</strong>geschichte ohne<br />

<strong>Philosophie</strong> steril bleibt.<br />

Das bedeutet, dass <strong>Philosophie</strong>geschichte auch von der systematischen<br />

Erörterung des jeweils Dargestellten lebt. <strong>Philosophie</strong><br />

war und ist eine vielstimmige Diskussion über Orte<br />

und Zeiten hinweg, und dazu gehören unabdingbar das Kommentieren,<br />

Auslegen, Kritisieren. Indessen musste ich auch


diesen notwendigen Anteil im Rahmen einer knappen<br />

Einführung in die Geschichte der Ethik stark beschränken. Im<br />

Vordergrund steht neben zeitgenössischer oder späterer<br />

Kritik der dargestellten Ansätze ihr bis heute wirksames<br />

Anregungspotenzial.


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