Weisse Elefanten - Technikgeschichte der ETH Zürich
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NZZ Nr. 292, Mittwoch, 15. Dez. 1999, S. 68<br />
<strong>Weisse</strong> <strong>Elefanten</strong><br />
Dirk van Laak über grosstechnische<br />
Projekte des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
Wer im alten Siam einen weissen <strong>Elefanten</strong><br />
zum Geschenk erhielt, dem standen<br />
schwierige finanzielle Zeiten ins Haus,<br />
denn das seltene Albino stellte höchste<br />
Ansprüche an seine Pfleger. Als ein von<br />
mythologischer und religiöser Symbolik<br />
befrachtetes Tier erheischte es eine<br />
standesgemässe Zuwendung und<br />
verschlang allein schon deshalb – im mehr<br />
als buchstäblichen Sinn - Geld wie Heu.<br />
Zwar diente es auch <strong>der</strong> gesellschaftlichen<br />
Reputation des Beschenkten, aber eben nur<br />
gerade solange, wie sich dieser den<br />
Unterhalt seines Geschenkes überhaupt<br />
leisten konnte.<br />
Als weisse <strong>Elefanten</strong> bezeichnet man heute<br />
jene ebenso zahlreichen wie gigantischen<br />
grosstechnischen Projekte <strong>der</strong><br />
Entwicklungs-„hilfe“, die den beschenkten<br />
Län<strong>der</strong>n den prestigeträchtigen westlichen<br />
Fortschritt ins Haus lieferten und mangels<br />
sorgfältiger Technikfolgenabschätzung<br />
bzw. kontextbezogener Projektevaluation<br />
katastrophale wirtschaftliche, ökologische,<br />
politische und humanitäre Folgen zeitigten.<br />
<strong>Weisse</strong> <strong>Elefanten</strong> sind also Ungeheuer.<br />
Reiten kann man auf ihnen eigentlich nur,<br />
wenn man Buddha heisst und sich im<br />
vorgeburtlichen Stadium befindet, o<strong>der</strong><br />
wenn man Indra selbst ist und sich als Herr<br />
des Himmels, des Donners und <strong>der</strong> Wolken<br />
ausweisen kann. Manchmal allerdings hat<br />
sich auch ein tollkühnes Reiterpaar auf<br />
ihren weissen Rücken geschwungen. Ein<br />
Paar, das im 20. Jahrhun<strong>der</strong>t schon so<br />
manchen Geldgeber und so manche Nation<br />
ruiniert hat, indem es total verrückte<br />
technische Projeke schlicht und einfach in<br />
den Sand setzte.<br />
Die Rede ist vom Diktator und vom<br />
Ingenieur, die in ihrer idealtypischen<br />
Paarrolle auf dem Rücken von weissen<br />
<strong>Elefanten</strong> einen Szenenapplaus nach dem<br />
an<strong>der</strong>n erhalten, obwohl sie doch eigentlich<br />
gerade den Teufel reiten. Den grössten<br />
Erfolg hat das Paar jeweils vor Abschluss<br />
seiner Projekte zu feiern, weil diese<br />
Projekte immer einen in <strong>der</strong> Gegenwart<br />
eingelösten Wechsel auf zukünftigen Erfolg<br />
darstellen. Wenn später die Rechnungen<br />
und Hiobsbotschaften eintreffen, haben<br />
seine Emissäre längst das Weite gesucht<br />
und wohl auch gefunden. Sie geraten dann<br />
vielleicht nochmals in den<br />
Aufmerksamkeitsbereich ihrer<br />
Zeitgenossen, aber nur als Zielscheiben für<br />
eine späte Kritik<br />
Albert Speers und Adolf Hitlers<br />
„Germania“ o<strong>der</strong> Mitrofan Dawydows und<br />
Josef Stalins „Plan zur Umgestaltung <strong>der</strong><br />
Natur“ sind die gigantomanischen<br />
Papiertiger unter den weissen <strong>Elefanten</strong> des<br />
20. Jahrhun<strong>der</strong>ts. Die riesigen<br />
Erdbewegungen für den Bau des Belomor-<br />
Kanals, <strong>der</strong> ab 1931 von 100'000 Gulag-<br />
Zwangsarbeitern in nur 20 Monaten erstellt<br />
wurde, o<strong>der</strong> <strong>der</strong> fast schon absurde<br />
Aufwand an Beton und Stahl für den Bau<br />
des „Westwalls“ haben gezeigt, dass auch<br />
Papiertiger erstaunlich schnell Wirklichkeit<br />
werden können um als weisse <strong>Elefanten</strong> zu<br />
leben.<br />
Das Bild vom <strong>Elefanten</strong> reitenden,<br />
diktatorisch legitimierten Ingenieur, <strong>der</strong><br />
solche Verrücktheiten entwirft (und<br />
glücklicherweise selten realisiert), ist<br />
irreführend. Denn erstens kann diese<br />
Ingenieurfigur – wie ja auch ihr Boss – viel<br />
zu schnell als historischer Einzelfall isoliert<br />
werden, und zweitens haben auch<br />
demokratischer legitimierte<br />
Regierungshäupter ihre<br />
ingenieurtechnischen Beraterstäbe gehabt,<br />
mit denen sich weisse <strong>Elefanten</strong> ausbrüten,<br />
aufziehen, hätscheln und zu Grabe tragen<br />
liessen. Wer von Aramis, jenem in den<br />
1980er Jahren geplanten,<br />
milliardenschweren neuen Metrosystem in<br />
Paris noch nie etwas gehört hat, <strong>der</strong> sei<br />
wenigstens an Ronald Reagans „SDI“-<br />
Träume erinnert.<br />
Ein unbestrittener Superlativ unter den<br />
weissen <strong>Elefanten</strong> des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts<br />
hätte „Atlantropa“ werden können: Der
deutsche Architekt Hermann Sörgel wollte<br />
an <strong>der</strong> Strasse von Gibraltar einen Damm<br />
errichten. Damit sollte verhin<strong>der</strong>t werden,<br />
dass die natürliche Verdunstung des<br />
Mittelmeers vom Atlantik her kompensiert<br />
werden konnte. Mit dem Bau des Gibraltar-<br />
Dammes und mit ein paar „kleineren“<br />
Dammbauten beispielsweise an <strong>der</strong> Nilund<br />
an <strong>der</strong> Rhonemündung hätten<br />
einerseits (dank des ständig sinkenden<br />
Mittelmeerspiegels) riesige Kraftwerke für<br />
die Stromversorgung Europas gebaut<br />
werden können, an<strong>der</strong>erseits wären auf<br />
dem afrikanischen Kontinent neue<br />
Binnenmeere im Tschad- und Kongobecken<br />
entstanden, welche die verkehrstechnische<br />
Erschliessung Afrikas mit Schiffen<br />
erleichtert und offenbar das afrikanische<br />
Klima europäischen Ansprüchen angepasst<br />
hätte.<br />
Natürlich gibt es unzählige weisse<br />
<strong>Elefanten</strong>, die nie realisiert wurden. Wir<br />
tragen heute gewissermassen nur den<br />
Bruchteil <strong>der</strong> möglichen Kosten all jener<br />
Projekte, die irgendwann einmal geplant<br />
worden sind. Einige davon wurden jedoch<br />
wenigstens angefangen, gelangten ins<br />
Entwicklungsstadium o<strong>der</strong> erlebten gar<br />
einen mutigen Baubeginn, bevor sie an<br />
ihrer eigenen Grösse zerbrachen. In solchen<br />
Fällen stellt sich im Nachhinein und<br />
angesichts <strong>der</strong> Verrücktheit <strong>der</strong> Vorhaben<br />
jeweils die Frage, warum es immer wie<strong>der</strong><br />
dazu kommen kann, dass<br />
überdimensionale technische Projekte<br />
hinreichende kollektive Unterstützung<br />
erhalten. Warum kann <strong>der</strong> Schaden<br />
bisweilen nicht schon auf dem Papier<br />
gemessen werden?<br />
Vielleicht liefert dazu die Spieltheorie eine<br />
befriedigende Antwort, und zwar sowohl<br />
für die Planungsphase als auch für die<br />
Anfangsphase <strong>der</strong> Realisierung, die ja beide<br />
ihre eigenen Euphorien hervorbringen.<br />
<strong>Weisse</strong> <strong>Elefanten</strong> können als das kollektiv<br />
irrationale Ergebnis eines Spiels mit von<br />
ihrer Absicht her rationalen Spielern<br />
beschrieben. Wie Otto Keck behauptet, ist<br />
im Fall von weissen <strong>Elefanten</strong> <strong>der</strong><br />
Spielverlauf als soziale Interaktion dadurch<br />
gekennzeichnet, dass das Feedback über<br />
Irrtümer grundsätzlich gestört sei und dass<br />
diese Störung des Feedbacks sich deshalb<br />
über längere Zeiträume stabilisieren lasse,<br />
weil alle Spieler einen Abbruch des Spiels<br />
befürchten müssten. Deshalb dürfen weisse<br />
<strong>Elefanten</strong> nicht sterben, wenigstens in <strong>der</strong><br />
Öffentlichkeit nicht, o<strong>der</strong> sie dürfen es nur<br />
dann, wenn sich aufgrund eines<br />
strukturellen Wandels im politischen<br />
System <strong>der</strong> desaströse Spielverlauf<br />
propagandistisch ausschlachten lässt.<br />
Daher ziehen sich die meisten weissen<br />
<strong>Elefanten</strong> zum Sterben zurück.<br />
Dirk van Laak hat in seinem <strong>Elefanten</strong>buch<br />
eine kunterbunte Sammlung von<br />
grosstechnischen Projekten untergebracht<br />
und sich vorgenommen, sie hinsichtlich<br />
ihrer Ansprüche und hinsichtlich <strong>der</strong><br />
Gründe für ihr Scheitern zu untersuchen.<br />
Der Absicht nach handelt sich hier also<br />
schon fast um ein historiographisches<br />
Grossprojekt. Der Umstand, dass van Laak<br />
ausschliesslich assoziativ vorgeht – nach<br />
dem Motto „ein Beispiel führt zum<br />
nächsten“–, hat seine Realisierung gleich<br />
doppelt verhin<strong>der</strong>t.<br />
Erstens bewegt sich van Laak auf lockeren<br />
300 Seiten zum Beispiel von <strong>der</strong><br />
chinesischen Mauer über den Atlantikwall<br />
zum Suezkanal, führt uns zur Bagdad-Bahn<br />
und über verschiedene Brücken (aus Stahl<br />
und Metaphern) in die<br />
Elektrifizierungsgeschichte (Lenin, Tenesee<br />
Valley Authority, Assuan-Staudamm,<br />
Atomenergie mit schnellen Brütern und<br />
Tschernobyl), wonach wir das Vergnügen<br />
haben, nach Atlantropa geführt zu werden<br />
und an <strong>der</strong> Nord-Südachse Germanias, <strong>der</strong><br />
Hauptstadt des „Tausendjährigen Reiches<br />
zu enden.<br />
Der Duktus wird auch im Kleinen aufrecht<br />
erhalten: Im Kapitel „Korrekturen an <strong>der</strong><br />
Erdgeschichte“ erhalten wir auf knappen<br />
acht Seiten Einblick in die anthropologische<br />
Begründung für die Notwendigkeit <strong>der</strong><br />
Menschheit, Technik in ihren Dienst zu<br />
nehmen, werden mit dem Snowy<br />
Mountains Projekt in Australien vertraut<br />
gemacht, lesen über das kalifornische<br />
Central Valley Projekt (Hinweise auf<br />
Goldrush und Hollywood werden<br />
mitgeliefert), springen dann in den<br />
kaspisch-mittelasiatischen Raum und
vernehmen einiges über den stalinistischen<br />
Karakum-Kanal von 1954, <strong>der</strong> aber schon<br />
seit den Zeiten Peters des Grossen<br />
„angedacht“ gewesen sei, um uns dann<br />
noch ein paar Notinformationen über das<br />
„grösste jemals von Menschenhand<br />
gegrabene Loch <strong>der</strong> Welt“ erzählen zu<br />
lassen. Es befindet sich in Chile.<br />
Zweitens ist van Laaks Buch deshalb nicht<br />
zu einem Grossprojekt geworden, weil er<br />
sich so konsequent jeglicher analytischer<br />
Tiefenschärfe und systematischer<br />
Überlegungen enthält, dass <strong>der</strong> mit einem<br />
Defoe-Zitat von 1697 eingeleitete Ausklang<br />
des Buches einer Zeitbombe gleichkommt,<br />
die mit subversiver Ironie vor sich hintickt.<br />
„Bei näherer Durchsicht <strong>der</strong> einzelnen<br />
Kapitel dieses Buches“, so schrieb vor mehr<br />
als dreihun<strong>der</strong>t Jahren Daniel Defoe in den<br />
Schlussbemerkungen seines Essays „Über<br />
Projektemacherei“, „finde ich, dass wohl<br />
einiges durch die Kürze meiner Darstellung<br />
gelitten haben mag, welchem Übelstande<br />
ich aber jetzt nicht mehr abzuhelfen in <strong>der</strong><br />
Lage bin.“<br />
Man möchte an dieser Stelle einiges<br />
bedauern: Die verpasste Chance etwa, ein<br />
tolles Thema adäquater zu behandeln, o<strong>der</strong><br />
die fehlende Selbstkritik des Autors, die<br />
das Defoe-Zitat in letzter Minute noch als<br />
Notbremse für das eigene Buchprojekt<br />
hätte nutzen können. Daneben gibt es die<br />
Hoffnung, <strong>der</strong>einst ein sorgfältiger<br />
geschriebenes Buch über weisse <strong>Elefanten</strong><br />
zu sehen, sowie die Gewissheit, dass das<br />
Buch jenen, die es geschenkt erhalten, keine<br />
grossen Kosten bereiten wird – im<br />
Unterschied zu weissen <strong>Elefanten</strong>.<br />
David Gugerli, <strong>Zürich</strong><br />
Dirk van Laak, <strong>Weisse</strong> <strong>Elefanten</strong>. Anspruch und<br />
Scheitern technischer Grossprojekte im 20.<br />
Jahrhun<strong>der</strong>t, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt<br />
GmbH 1999, ISBN 3-421-05185-2, 304 Seiten,<br />
mit Abbildungen, 37.- Fr.