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FM4 Literaturwettbewerb 2004<br />
<strong>Werktags</strong>
Vorwort<br />
"Literatur ist die Kunst, Außergewöhnliches an gewöhnlichen Menschen zu entdecken<br />
und darüber mit gewöhnlichen Worten Außergewöhnliches zu sagen."<br />
Diesen Gedanken des russischen Literatur-Nobelpreisträgers Boris Pasternak haben wir an<br />
den Beginn des dritten FM4-Literaturwettbewerbs Wortlaut gestellt.<br />
Das Ergebnis war überwältigend: Über 1.000 Kurzgeschichten aus Österreich, Deutschland,<br />
der Schweiz, Italien, Spanien, Großbritannien und den USA haben uns erreicht. You're at home,<br />
baby ...<br />
Die Vorjury (Elisabeth Gollackner, Marianne Lang, Martin Pieper, Pamela Rußmann, Karl Schmoll,<br />
Astrid Schwarz, Veronika Weidinger, Markus Zachbauer und Zita Bereuter) war über die<br />
unterschiedlichsten Assoziationen zu "werktags" überrascht. Schöne Erlebnisse, interessante<br />
Gedanken, witzige Ideen, traurige Szenarien, heimliche Träume, abgefahrene Plätze, beklemmende<br />
Situationen - kurzum - großartige Texte. Diese wurden immer und immer wieder gelesen,<br />
weitergereicht, geordnet, besprochen, bis letztendlich zwanzig Kurzgeschichten an die Hauptjury<br />
übergeben wurden.<br />
Vorjahressiegerin Christina Lehner, FM4-Moderatorin und Filmemacherin Mirjam Unger, Autor<br />
und Künstler Paul Divjak, Kulturjournalist Christian Schachinger sowie Fernsehmacher David<br />
Schalko beschäftigten sich lange und intensiv mit den Texten, um sich letztendlich schweren<br />
Herzens auf die hier vorliegenden Gewinnertexte zu einigen. Gratulation!<br />
Allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern nochmals vielen Dank!<br />
Auf Wortlaut 2005 freut sich<br />
Zita Bereuter<br />
“Vielleicht verneigt sich das Universum, das vielleicht, aber das merkt keiner.”<br />
(Michael Köhlmeier aus: "Dein Zimmer für mich allein")<br />
Die Gewinner:<br />
1. Armin Konnert: Dinge, die man haben kann<br />
2. Tobias Hagleitner: Verkehren, werktags<br />
3. Gertraud Klemm: Vegas Baby<br />
Weitere Preisträger:<br />
Matthias Blaickner: Lises Freitag<br />
Yvonne Giedenbacher: siebenuhrdreißig ff<br />
Hans-Ulrich Gössel: Etwas von Paul<br />
Nora Holländer: Familienglück<br />
Harald Kittler: Immer <strong>Werktags</strong><br />
Elisabeth Koschat: Tango tangentiale<br />
Richard Purschwitz: Bohinj. Schweigen<br />
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werktags<br />
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Dinge, die man haben kann<br />
Armin Konnert<br />
Als ich diesen beschissenen Ferienjob in der Gewürzfabrik hatte, die man schon aus 5 km<br />
Entfernung riechen konnte, wenn der Wind richtig stand und gerade gemahlener roter<br />
Paprika entladen wurde, da bin ich acht Stunden am Tag an einer Maschine gestanden,<br />
die eine Pfeffermischung abgefüllt hat, in 500g Tüten, für die Gastronomie. Ich habe je 20<br />
Tüten in einen Karton verpackt und ihn auf ein Förderband gestellt, das ihn in ein dunkles<br />
Loch in der Wand führte.<br />
Manchmal ist eine dieser Tüten beim Befüllen an der Maschine zerplatzt und dann musste<br />
ich den „Not-Aus-Knopf“ drücken, mitten in einer Wolke scharfer, feuriger Luft, die ich<br />
nicht einatmen konnte und die alle meine Schleimhäute verätzt hat und mir die Tränen in<br />
die Augen trieb. Aber dieser Knopf musste gedrückt werden, vor dem Wegrennen aus der<br />
Wolke, damit die Maschine nicht die nächsten 500g feingemahlene Pfeffermischung in die<br />
Luft zerstäubte, 20 Sekunden später. Das war irgendwann ganz zu Anfang meines Studiums.<br />
Die Schicht begann um sechs. Ich bin um fünf aufgestanden, habe Kaffee getrunken und<br />
in der halben Stunde, in der ich mit meinem alten Kadett nach Freilassing fuhr, hörte ich<br />
Manic Street Preachers oder Heather Nova. Ich hatte Heather Nova auf einem Konzert<br />
gesehen und war verliebt in sie, ungefähr so wie ich mal in Anna, die Balletttänzerin aus<br />
der Fernsehserie, verliebt war, als ich 12 war. Nur mit dem Unterschied, dass ich mir<br />
Heather Nova jetzt gerne als die Frau vorstellte, die neben mir die letzte Nacht verbracht<br />
hätte. Und morgens würde sie im Bad singen! Das war eine gute, angenehme Vorstellung<br />
am Morgen.<br />
Eine andere gute Sache war mein erstes eigenes Auto, ein alter Kadett, der die ganze<br />
Fahrt brauchte, bis die Heizung richtig ging und der die Schadstoffklasse hatte, in der man<br />
ungefähr so viel Steuern zahlen muss, wie so ein Ferienjob in vier Wochen reinbringt. Das<br />
war nicht weiter wichtig, denn es war mein Auto und es fühlte sich gut an und es fühlte<br />
sich gut an dafür zu arbeiten.<br />
Die dritte gute Sache war, dass ich morgens gegen Osten fahren musste und dass die<br />
Sonne in jenen Sommertagen um zehn vor sechs im Osten hinter dem Gaisberg aufging<br />
und mir ins Gesicht schien. Sie setzte Untersberg und Staufen in ein rot glühendes Licht.<br />
Man konnte sehen, wie dieses Licht alle Nebel über den Wiesen wegschmelzen ließ und<br />
es ließ auch viel von der Müdigkeit der Nacht in mir wegschmelzen und mir ihr die Fragen,<br />
warum ich den Job machte, und leider auch das Gesicht von Heather Nova in meinem<br />
Kopf.<br />
Der Sonnenaufgang war ein Augenblick innerer Freiheit, den ich vor der Arbeit hatte und<br />
er war der Höhepunkt des Tages, der Moment, für den ich an diesem Tag aufgestanden<br />
war. Dafür und für „I give you my heart, I give you my shoulder”- yeah! Die meiste Zeit war<br />
herrlichstes Wetter. Tage, an denen die Sonne aufgeht wie am ersten Tag und das machte<br />
die ganze Arbeit sehr viel leichter.<br />
Helmut Becker arbeitete in der Gewürzmischung und schüttete oben, im 1. Stock, Säcke<br />
von Rohgewürzen in die großen Trichter, die dann zu den verschiedensten Mischungen<br />
verfälscht wurden. Gewürzmischungen, auf deren Packungen dann nur noch steht, zu<br />
welchem Gericht sie passen: Tomaten-Mozarella-Salz, Brathähnchen-Gewürz, Grill-<br />
Kräutermischung, Chilli-con-Carne-Mischung, Hühnchen kantonesisch usw. Das führte<br />
dazu, dass aus echten Dingen wie Pfeffer, Chilli, Salz, Muskat, Oregano, Thymian, Kardamom<br />
Dinge, die man haben kann<br />
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und Safran „Kompositionen“ wurden, die es den Menschen abnehmen zu überlegen, wie<br />
sie ihre Brathähnchen selbst mit Pfeffer, Salz und Kräutern am besten würzen, und die<br />
dazu führen, dass alle Brathähnchen in halb Deutschland gleich schmecken, und dass<br />
niemand mehr weiß, wie man mit den echten Sachen umgeht, weil einem das Nachdenken<br />
schon abgenommen wurde.<br />
Helmut Becker kam aus Kasachstan. Manchmal hatte er einen altertümlichen Satzbau,<br />
wenn er sprach, und einen russischen Akzent. Viele der Arbeiter, die ständig in der Fabrik<br />
arbeiteten, kamen von irgendwo. Er war Mitte 40 und hatte ein Kosakengesicht mit<br />
Nasenlöchern wie Höhlen. Seine Augen waren oft abwesend und stumpf aber hellten sich<br />
sofort auf, wenn man ihm ins Gesicht schaute. Dann wurde sein Gesicht sehr herzlich mit<br />
einem ehrlichen Lächeln.<br />
Ich mochte ihn und er hatte in der Mittagspause dicke Brote mit breiten Wurstscheiben<br />
dabei und einen Flachmann mit Wodka, von dem ich immer einen Schluck bekam. Am<br />
Anfang eher aufgezwungen, weil ich vorher noch nie in meinem Leben mittags Wodka<br />
getrunken hatte, und ich habe mir diese Angewohnheit auch nicht beibehalten. Aber in<br />
diesen Tagen stellte ich fest, dass es mir nichts ausmachte und ich es mochte.<br />
Helmut Becker erzählte viel, meistens von seinen Mädchen, Nadine und Natascha, die<br />
sehr gut in der Schule waren, was ihn sehr stolz machte. Oft erzählte er von Kasachstan<br />
und seiner Arbeit in einer Kolchose. Sie lag irgendwo an den Ausläufern der Himmelsberge,<br />
des Tien Shan, wo die Berge zu Hügeln werden und die Hügel langsam zu Steppe und<br />
wo die besten Äpfel überhaupt wachsen. Er erzählte von endlosen Weizenfeldern und<br />
kaputten Mähdreschern und davon, wie es war, als von allem zu wenig da war und es<br />
immer weniger wurde, bis es so wenig war, dass er mit seiner Familie nach Deutschland<br />
ausgewandert ist.<br />
Aber am besten erzählte Helmut Becker von seinem Adler, mit dem er auf die Jagd ritt,<br />
im Winter, wenn es nichts zu tun gab. Er ritt über die Steppe und durch die Täler der<br />
Ausläufer der Himmelsberge, den Adler auf seiner Hand, die von einem dicken<br />
Lederhandschuh geschützt war. Es sei ein mutiger Vogel gewesen, erzählte er, den er<br />
selbst aufgezogen und trainiert hatte, und er jagte damit alles bis zur Größe eines Fuchses.<br />
Er erzählte, dass er und der Adler jeden Winter genug Felle erbeuteten, um einen Mantel<br />
für seine Frau daraus zu machen, und wenn er die Felle verkaufte, war es der Gegenwert<br />
eines halben Jahreslohnes, weil die Füchse in Kasachstan wegen der Kälte das beste<br />
Winterfell hätten. Das weiß angeblich jeder zwischen Wladiwostock und Leningrad. Deshalb<br />
waren seine Felle bei den Pelzhändlern sehr begehrt.<br />
Manchmal war er tagelang weg mit seinem Adler, dem Pferd und seinem Gewehr. Er schlief<br />
an einem Feuer in der Steppe und abends aß er Kaninchen, was der Adler besonders<br />
gerne gejagt hat.<br />
„Wie hieß dein Adler?“, fragte ich ihn, als er eine Zeit lang davon erzählt hatte.<br />
„Adler!“, sagte er. „Adler! Man kann ihm keinen anderen Namen geben.“<br />
„Warum nicht?“, fragte ich.<br />
„Weil er so schön war. Es gibt keinen passenden Namen, den sich die Menschen ausdenken<br />
könnten.“<br />
„Adler!“, sagte ich, nahm noch einen Schluck Wodka und ich konnte fühlen wie unheimlich<br />
schön der Adler gewesen sein musste.<br />
Er erzählte, wie er das Kaninchen über einem Feuer gebraten hat, nur mit Salz. Aber es<br />
wäre besser gewesen als alles, was man mit diesen Gewürzmischungen machen könne.<br />
Dinge, die man haben kann<br />
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Überhaupt sei es das Beste gewesen, was er in seinem Leben je gegessen hatte. Und<br />
was er noch gemocht hatte, sei der Duft des Tees gewesen, den er im Sommer selbst<br />
gesammelt hatte und den er sich nun am Morgen am Feuer aufbrühte, nachdem er aus<br />
seinem Winterschlafsack der sowjetischen Armee rausgekrochen ist und klamm und kalt<br />
war. Der heiße Tee und ein Schuss Wodka, das hätte ihn wieder auf die Beine gebracht,<br />
wenn die Wintersonne tief über der kasachischen Steppe aufging, ganz langsam, ein richtig<br />
langer Sonnenaufgang, nicht so schnell wie die, die wir jetzt hier im Sommer hätten.<br />
Als er davon sprach, musste ich lächeln. Ich wusste, dass er den Sonnenaufgang am<br />
Morgen genauso wie ich gesehen hatte und ich wollte etwas sagen, davon erzählen, wie<br />
es mir ging. Aber ich tat es nicht. Ich fühlte, dass ich es nicht sagen musste. Ich hatte das<br />
unbestimmte Gefühl, dass Helmut Becker wusste, dass ich den Sonnenaufgang auch<br />
gesehen hatte und dass er wusste, wie ich ihn gesehen hatte. Und ich hatte auf einmal<br />
eine ungefähre Ahnung dessen, was es war, das ich schon immer an ihm gemocht hatte,<br />
ohne es zu wissen.<br />
Und so brachten uns in diesen Tagen die Geschichten von der Jagd mit dem Adler und<br />
den Ritten im kasachischen Winter durch die Mittagspausen und sie brachten mich jedes<br />
Mal durch den ganzen darauf folgenden Nachmittag und durch so manchem weiteren<br />
Arbeitstag in den vier Wochen Ferienjob, weil sie mich an der Pfeffermaschine träumen<br />
ließen und mich weit weg von der Maschine durch die Täler des Thien Shan trugen und<br />
hinaus auf die Steppe.<br />
Ich dachte mir auch, dass ich jetzt besser wusste, warum Helmut Becker selbst immer<br />
weit weg schien, und ich begriff die ganze Entfernung, die trotz der Herzlichkeit oft in<br />
seinen Augen lag. Jetzt erst fielen mir seine breiten Schultern auf, die sich selbst durch<br />
einen dicken Pullover wie ein Gebirge abzeichneten, und die großen Hände und ich<br />
versuchte mir vorzustellen, welcher Kraft und welchen Geschickes es bedarf, einen Adler<br />
auf dem Arm zu halten, der Füchse schlägt, und dabei zu reiten.<br />
Und ich dachte mir auch, wie komisch es sei, dass dies alles in diesem Land hier nun auf<br />
einmal nicht mehr zählte und nichts mehr wert war, genauso wenig, wie es noch zählte,<br />
was er über die Zubereitung von Kaninchen über dem offenen Feuer und über das Sammeln<br />
von Tee-Kräutern wusste. Jetzt lebt er mit seiner Familie in einem Land, in dem die<br />
Menschen aus political–correctness keine Fuchsmäntel tragen und sich kaum vorstellen<br />
können, wie die tiefe Sonne über der kasachischen Steppe im Winter scheint.<br />
Ein anderes Mal erzählte er, wie es war, als sie die ersten Dinge über Deutschland hörten,<br />
dem Land, aus dem seine Vorfahren vor 300 Jahren, dem Ruf Katharinas der Großen<br />
folgend, an die Wolga ausgewandert sind und dann von Stalin als Feinde der Sowjetunion<br />
nach Zentralasien deportiert wurden. Sie hörten Geschichten von allen Dingen, die es in<br />
Deutschland gab und in Kasachstan nicht: funktionierende Zentralheizung, Kabelfernsehen,<br />
Südfrüchte, Milka-Schokolade und einen Mercedes für jeden. Aber deswegen waren die<br />
Beckers nicht ausgewandert, sondern weil in Kasachstan nach der Unabhängigkeit alles<br />
zu wenig wurde und sie sich nicht mehr vorstellen konnten, wie es mal für ihre Kinder<br />
werden würde. Also haben sie ein paar Koffer gepackt, das Haus verkauft und sind<br />
ausgewandert. Und da sie fleißige Menschen waren, die ihre Arbeit gründlich machten,<br />
jede Art von Arbeit, und sich nicht beklagten, hatten sie bald ein wenig Geld, ein Auto,<br />
einen Fernseher und eine Wohnung, in der man den Ofen nicht mehr mit Holz oder<br />
abgeernteten Maiskolben einheizen muss.<br />
Dinge, die man haben kann<br />
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Leider hatte niemand Helmut Becker und seiner Frau von den Dingen erzählt, die es in<br />
Kasachstan gab und in Deutschland nicht. Von der weiten Steppe unter den Hufen von<br />
Pferden, von Fuchsmänteln und Adlern und der Art, wie man durch den Kampf um die<br />
Dinge des täglichen Lebens Selbstachtung und Würde gewinnt und dadurch das Leben<br />
in einem armen Land zu einem freien Leben werden kann.<br />
Das dachte ich manchmal, wenn ich ihn so sah und wenn er begeistert erzählte. Er gehört<br />
hier nicht hin, dachte ich; aber er dachte ganz und gar nicht so und in seinen Erzählungen<br />
war auch kein Satz, mit dem er sich beklagt hätte.<br />
„Was ist eigentlich aus deinem Adler geworden?“, fragte ich ihn.<br />
„Der Adler ist frei. Und er ist mutig. Er wird sich zurecht finden.“ Und er sagte es mit der<br />
Bestimmtheit von jemandem, der sich von seiner eigenen Aussage überzeugen muss.<br />
„Was machst du hier, Junge?“, fragte er mich.<br />
Anfangs hatte ich es nicht gemocht, wenn er mich so nannte. Aber da er mir seine<br />
Geschichten erzählt hatte, und ich begonnen hatte in ihm jemanden Besonderes zu sehen,<br />
einen großen Mann, halb Jäger, halb Sucher in den Weiten der Tien Shan Berge und der<br />
ewigen Steppe, billigte ich ihm innerlich das Recht zu, mich „Junge“ zu nennen. Es störte<br />
mich nur noch wenig. Er nannte mich so, weil er mich mochte.<br />
„Ich brauche Geld für mein Auto und für den Rest der Ferien“, sagte ich.<br />
„Was tust du sonst?“<br />
„Studieren.“<br />
„Das ist gut, super gut sogar. Was willst du werden?“<br />
„Arzt“, sagte ich und mir fiel auf, dass ich es nie als so super gut empfunden hatte. Ich<br />
studierte es eben und es lief und irgendwann würde ich einer sein, aber es war nicht das<br />
finale Ziel, auf das mein Geist bewusst ausgerichtet war.<br />
„Ausgezeichnet“, sagte er. „Du musst den Leuten genauso zuhören wie bei meinen<br />
Geschichten, dann wirst du ein guter Arzt werden.“ Ich musste lächeln. Ich hoffte, er würde<br />
mich nicht fragen, was ich den Rest der Ferien vorhatte. Ich wollte mit einem Freund nach<br />
Schottland zum Trekking, um Abenteuer zu erleben, draußen zu schlafen und weit weg<br />
von der Zivilisation zu sein. Aber nachdem ich Helmut Beckers Geschichten gehört hatte,<br />
kam mir das tatsächlich wie der Plan eines Jungen vor, der, noch grün hinter den Ohren,<br />
keine wirkliche Ahnung von der Wildnis hatte. Mir wurde bewusst, dass es für mich keinen<br />
wilden, freien Ort gab, an dem ich mich mit solch großer Selbstverständlichkeit und<br />
Sicherheit aufhalten und bewegen könnte, geschweige denn jagen, mit einem Adler! Es<br />
bedarf der Zeit und eines langen Lebens und des von Kind an Aufwachsens in einer<br />
Landschaft, um wirklich tiefe, innere Bande damit zu haben. Um den Wind, den Zug der<br />
Wolken und den Flug der Vögel deuten zu können. Um Teil davon zu sein und sich mit<br />
großem Vertrauen alleine darin zu bewegen, durch intuitive Orientierung und durch ein<br />
sicheres Gefühl für sich selbst, die Landschaft und alle anderen Kreaturen darin, seien es<br />
Begleiter wie Pferd, Hund oder Adler oder das Wild, das man jagt.<br />
So etwas würde es nie geben für mich und ich bewunderte es unendlich und war neidisch<br />
darauf.<br />
„Und deine Arbeit? Du bist die ganze Zeit hier?“, fragte ich ihn.<br />
„Ja. Was anderes werde ich nicht mehr so leicht finden, bald bin ich 50.“ Er sagte es recht<br />
neutral, ohne den Unterton der Klage. Ich fand den Gedanken furchtbar angesichts seines<br />
Lebens, das er in Kasachstan gehabt hatte, und konnte das auch nicht verbergen, obwohl<br />
ich versuchte verständlich zu nicken.<br />
„Weißt du“, sagte er „man kann nicht alles haben. Meine Mädels lernen gut und meine<br />
Frau muss nicht jeden Wintermorgen aufstehen und Holz hacken. Das sind einige der<br />
Dinge, die man haben kann<br />
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Gründe, warum wir in Deutschland sind, und es sind gute Gründe, glaub mir. Meine Mädels<br />
werden hier mehr Chancen als ich haben und das macht mich zu einem reichen Mann.“<br />
„Aber fehlt dir das alles nicht?“<br />
„Es fehlt mir.“, sagte er und atmete einmal schwer durch. Das einzige Mal in der ganzen<br />
Zeit, dass ich ihn so habe atmen sehen, tief einatmen und ausatmen mit einem Seufzer.<br />
„Es fehlt mir. Manche Freunde fehlen mir und die Jagd. Mir fehlt, an einem Feuer zu sitzen,<br />
unter den Sternen und die Nacht kommen zu lassen, die Kälte am Rücken zu fühlen und<br />
die heißen Strahlen des Feuers im Gesicht. Mir fehlt auch mit einem Freund zu trinken und<br />
zu singen bis zu dem Zustand, der die Gefühle eines jeden Liedes vervielfacht und die<br />
Klarheit jedes Gedankens nach sofortigem Handeln schreien lässt – allein die Glieder sind<br />
zu matt und man ist zu betrunken, um etwas tun zu können. Das ist das Gefühl von<br />
Kasachstan, aber es ist auch der Zustand. Das Gefühl fehlt mir, der Zustand nicht.“<br />
„Hm“, sagte ich. „Dann ist es also besser für dich?“<br />
„Das ist gar nicht so wichtig. Vielleicht ist es besser, vielleicht nicht. Und dann, wenn es<br />
nicht besser ist, ist es vielleicht nur meine Erinnerung, die alles viel besser macht, als es<br />
wirklich gewesen ist. Egal, man kann nicht alles haben.“<br />
Die Mittagspause war zu Ende. Wir packten die Tupperware-Dosen wieder ein und gingen<br />
an die Arbeit.<br />
So war es in jenen Tagen, als ich einen Ferienjob in der Gewürzfabrik hatte, in Heather<br />
Nova verliebt war und Helmut Becker traf, der einen Adler abgerichtet hatte, den er Adler<br />
nannte, der meinen Tag mit Geschichten aus den Himmelsbergen rettete und mir erklärte,<br />
was man haben kann und was nicht.<br />
Dinge, die man haben kann<br />
7
verkehren werktags<br />
Tobias Hagleitner<br />
„Menü 1: Gemischter Salat – Tirolerknödel mit Kraut – Himbeercreme“ steht da auf dem Zettel,<br />
der mit seiner pastellrosa Einfärbung die Zunge bereits mit einem visuellen Vorgeschmack auf<br />
das Dessert zu belegen scheint. Die Fettflecken lassen die Tirolerknödel ahnen und dass diese<br />
kulinarische Information nicht zum ersten Mal auf dem Tisch hier liegt, und nicht erst seit<br />
kurzem.<br />
Ich sitze in der Kantine und warte auf meine Mitarbeiter, die bald kommen sollten. Rajab und<br />
die anderen in ihren blauen Arbeitsoveralls. „He Kleine!“, wird es dann wieder heißen, obwohl<br />
ich weder klein noch weiblichen Geschlechts bin. Aber ich verzeihe ihnen die sprachlichen<br />
Verfehlungen, die zum Teil auf grammatikalische Wurschtigkeit, zum Teil auf unabsichtliche<br />
Großer-Bruder-Gefühle zurückzuführen sind.<br />
„He Kleine“ bin ich hier nun seit meiner Einstellung vor drei Monaten. Weil ihnen mein Name<br />
nicht wichtig ist, weil sie mir die einfachsten Tätigkeiten erklären müssen, weil mir beim Lachen<br />
Tränen in die Augen schießen, weil ich im Gymnasium war, weil es mir peinlich ist, wenn ich<br />
etwas falsch mache. Aber ich habe mich daran gewöhnt, es gehört dazu zu meinem neuen<br />
Lebensabschnitt. Zu meinen so angenehm berechenbaren Tagesabläufen, die sich von einem<br />
Wochenende zum anderen erstrecken und sich dann irgendwie wiederholen, von Montag um<br />
acht bis Freitag um zwei, wenn wir noch ein Bier trinken gehen. Auch alle anderen Ereignisse<br />
ordnen sich wohl strukturiert, wie es mir bisher nicht bekannt war, nach Regelmäßigkeiten und<br />
Wiederholungen. So auch die Mittagspausen zwischen zwölf und eins. Wie jetzt. Alles zu<br />
erwarten. Beim Essen werden wir über das Masturbieren reden, über geile Frauen oder eigentlich<br />
Titten, über den Sohn vom Chef und Knieprobleme. Wir werden uns über die Sekretärin<br />
amüsieren, einer wird sie gekonnt nachmachen, wie sie angerührt immer wieder Kritik<br />
vorzubringen versucht und dabei von den Arbeitern jedes Mal wieder mit süffisantem Grinsen<br />
auf verletzende Art nicht ernst genommen wird.<br />
Donnerstag ist Tirolerknödeltag in der Kantine. Die sind hier so gut, dass wir bis jetzt jede<br />
Woche mit dem rostigen Bus herknatterten, alle vier vorne nebeneinander sitzend hinter der<br />
Windschutzscheibe mit einer Memphis im Mund und Regionalradioklängen im Ohr.<br />
Wir sind Arbeiter, das heißt sie sind Arbeiter und „He Kleine“ darf dabei sein. Was sie sind, ist<br />
bei mir nur ein Feeling, ein bezahltes Erlebnis, das ich betrachten und genießen kann: in einem<br />
Kleinbus fahren, in die Kantine gehen, Hunger haben, ehrlich müde sein. Fleißig und ehrlich.<br />
Für mich auf perverse Art romantisch, für sie stinknormal, deshalb bin ich „He Kleine“, weil ich<br />
über so etwas nachdenke, weil ich das perverse Wort „romantisch“ verwende für stinknormale<br />
Arbeit. Deshalb haben sie recht, mich so zu nennen. Ich arbeite auch nur vorübergehend in<br />
der Reinigungsfirma und ich beobachte sie, beobachte nun all die Geschehnisse des<br />
<strong>Werktags</strong>lebens der Arbeiter, meiner Kollegen.<br />
Männer kommen in die Kantine, und zwar richtige Männer, nicht Mensaweicheier. Nein, wir<br />
sind in einer Kantine, wo hart gekocht wird. Zum Beispiel Tirolerknödel mit ordentlich Speck,<br />
die dann mit ordentlichem Hunger gegessen werden. Mit rumpelnden Gesten wird ordentlich<br />
gegessen mit den Kollegen im Takt. Anständig Hunger haben, anständig essen.<br />
Plötzlich denke ich an Playmobilmännchen mit Arbeitsgewändern und stelle mir vor, es sitzen<br />
fünfundzwanzig solcher Männchen da, mit schwarzen, braunen und gelben Haaren, die mit<br />
ihren Trinkbecherhaltehänden synchron Tirolerknödel hinunterrumpeln. Irgendwie wird die<br />
verkehren werktags<br />
8
Szenerie, die mich ohnehin beeindruckt, dann fast noch niedlicher. Die Tirolerknödel wären<br />
dann kleine beige Plastikkugeln, die auch wunderbar als Munition für die Kanonen der blauen<br />
Fortsoldaten verwendet werden könnten.<br />
Ich hole mir ein Bier bis die anderen kommen, die noch irgendwie am Wasserstaubsauger<br />
herumbasteln. Durch die rauchvergilbten Fensterscheiben der Kantine, die der Mittagssonne<br />
nur mehr ihren melancholischsten Lichtanteil durchgehen lassen, beobachte ich ihre routinierten<br />
Handlungen. Während ich aus meiner kleinen blauen Playmobilflasche Bier in die verstaubte<br />
Kehle rinnen lasse, saugt Rajab am Schlauch vom Sauger bis das Schmutzwasser wie in einer<br />
Achterbahn über den Hochpunkt im Schlauchinneren dem Rajabmundunterdruck weit genug<br />
entgegengekrochen ist, um sich dann in einem schnellen Sturzbach hinunter auf den Boden<br />
auszukotzen. Zeitgleich spielt sich in meiner Speise- und Getränkeröhre während des<br />
Bierschluckens ganz Ähnliches ab und ich bin gezwungen, mir Analogien vorzustellen. Und<br />
wie das so ist mit Zwangsgedanken, je mehr ich mein Gehirn dagegen konzentriere, umso<br />
mehr wird mir das Bier im Rachen zu dem grauen Dreckgespül, das sich draußen in den Kanal<br />
vor der Kantine ergießt.<br />
Mir ist die Prozedur bereits bekannt – vielleicht mit ein Grund, warum ich so schnell in die<br />
Kantine verschwand, sicher sogar. Mit der Behauptung ich müsse dringend aufs Klo. (Auch<br />
diskretes Drücken vor unangenehmen Tätigkeiten sind im Pseudonym „He Kleine“ angesprochen.)<br />
Solche Details Ekel erregender Arbeit kämen natürlich in der Playmobilarbeitswelt nicht vor.<br />
Das wär sauber. Lauter kleine Männer, anständige, kleine Männer, die immer lächelnd ihre<br />
polierten Maschinen bedienen würden, nur saubere Arbeiten machen müssten, mittags<br />
Tirolerplastikkugeln speisen und stets freundlich mit ihren Trinkbecherhaltehänden winken<br />
würden.<br />
Am Nebentisch sitzt die Orangefraktion richtiger Männer, Straßenarbeiter mit Dreitagebärten.<br />
Die Himbeercreme schlägt sich damit farblich irgendwie: Dieses Rosa, das vielleicht noch zu<br />
den Stadtgärtnermännchen mit grünem Overall am Tisch neben der Tür passt, wird also vor<br />
diesem Orange zu einer abgeschmackten Sache, dass es fast unappetitlich ist. Ihre blassen<br />
Gesichter schauen mürrisch drein, aber nicht wegen der Dessertfarbe, denke ich. Sie würden<br />
natürlich auch lächeln in der Plastikübertragungswelt.<br />
Von den rissigen schwarzbraunen Fingern werden die kleinen Löffel in die zarte Himbeercreme<br />
hineingesteckt und zu einem Spitzmündchen geführt, das sich also auch furchtbar mit dem<br />
Gesamtbild nicht verträgt. So ein gegerbtes Gesicht sollte kein Spitzmündchen machen. Kann<br />
man denn nicht Himbeercreme authentischer essen? Arbeitermässig?<br />
Der Spitzmund würde bei den Spielzeugmännchen mit der glatten Gesichtshaut und den<br />
unverbrauchten Gesichtszügen besser passen. Das Löffeln könnte mit den<br />
Trinkbecherhandwinkeln allerdings auch Probleme machen, stelle ich mir vor.<br />
Ich wende meinen Blick ab und beginne die Kantine nach neuen Opfern für mein Spiel<br />
abzusuchen, das Playmobilkantinenspiel: „Geöffnet an allen Werktagen außer Samstag“ und<br />
„Mahlzeit“ steht auf einem Papierplakat über dem Buffet – über „Rosis Buffet“ – mit rotem<br />
Filzer aufgetragen in dicken ausgemalten Lettern und einem Herz über der Rosi. Hier wird<br />
noch Mahlzeit gesagt, nicht das Vegetarier-ist-deins-auch-gut meiner üblichen Umgebung.<br />
Wie romantisch. Echte kleine Männchen eben, die noch Mahlzeit sagen.<br />
Die Stadtgärtner sitzen mit breiten Ellenbogen abgestützt am Tisch, der mit seinem schweren<br />
Eichenholzrustikallook für die statischen Anforderungen gerade klobig genug zu sein scheint.<br />
Wie das Holz sind auch die Gärtnerstimmen dunkel, die Gespräche etwas ungehobelter. Als<br />
ihre Playmobilentsprechungen wären sie richtig natürliche Gärtner, froh von der Arbeit an der<br />
frischen Luft und zufrieden hungrig.<br />
verkehren werktags<br />
9
Eine Truppe von Anstreichern stapft herein, arrogant und selbstsicher. Das sind solche, die<br />
sich in die Mitte setzen und dort dann ihre dreckigen Witze so erzählen, als wären sie nur zur<br />
Selbstunterhaltung gedacht, gleichzeitig aber eine Lautstärke wählen, die auch für alle anderen<br />
in der Kantine ein Weghören unmöglich macht. Sie verraten sich dann, indem sie mit schnellen,<br />
schielenden Seitenblicken sich der Aufmerksamkeit der umliegenden Tische versichern. Wären<br />
die Anstreicher aus Kunststoff, hätten sie sympathische Malermützchen auf und eine Leiter<br />
in der Trinkbecherhaltehand.<br />
Arbeiter eben. Kleine, typische, anständige Arbeitermänner wären sie alle dann.<br />
Rajab und die anderen stehen noch rauchend draußen und schauen einer Frau in engem<br />
Jeansminirock hinterher. Mein Entfremdungsfilter scheitert: Playmobilröcke sind eher schwierig,<br />
überhaupt Erotik, stricke ich noch meine abstrakten Phantasiekleidungen, als es plötzlich<br />
geschieht mit mir:<br />
Einer der Tirolerknödel, die ich mir eben geholt habe, bleibt mir im Hals stecken. Er verhärtet<br />
sich an der Stelle, wo sonst nur der Adamsapfel herausquillt. Panik packt mich und ich führe<br />
langsam meine Hand dort an die Stelle, wo mir der Knödel zum Problem wird. Eine riesige<br />
harte Kugel steckt dort und es gelingt mir gerade noch vor einem Erstickungsanfall sie<br />
hinunterzudrücken mit meinen ... Trinkbecherhaltehänden! Dann geht alles Schlag auf Schlag,<br />
meine Hose versteift sich, wird blau und blauer und glänzt, meine Knie verhärten und strecken<br />
sich, ich muss aufstehen. Ich kann meine Beine nicht mehr abwinkeln. Ich möchte mich<br />
hinunterbücken und nachsehen, aber es geht nicht. Nur mehr meinen Kopf kann ich drehen<br />
und grinsen. Ja, ich muss grinsen, obwohl es schrecklich traurig ist: Stumm und steif sitzen<br />
neunundzwanzig Arbeiter in glänzenden Overalls um mich herum und starren mich an. Sitzen<br />
wie zuvor an den Tischen. Neben mir die orangen Straßenarbeiter, hinten die grünen Gärtner,<br />
die jetzt graue Schaufeln mit den Becherhänden umklammern.<br />
Sie sitzen steif auf ihren braunen Plastikstühlen, die Beine waagrecht ausgestreckt, dass sie<br />
beim Tischnachbarn wieder herausschauen. Wie schrecklich. Murren macht sich breit im<br />
Raum. Einige werfen mit steifer Drehung einen ihrer Arme wütend in die Höhe und machen<br />
Gesten mit ihren Trinkbecherhaltehänden zu mir herüber, die bedrohlich ausschauen. Auf den<br />
Tischen stehen blaue Plastikfläschchen und blaue Teller auf denen die beigen Tirolerkugeln<br />
liegen. Ich rufe in meiner Verwirrung: „Ich wollte das nicht“, meine Stimme klingt, als würde<br />
sie von Dagmar Koller synchronisiert, „es war nur eine Phantasie! Ich habe nur nachgedacht<br />
über euch Arbeiter, euch ehrliche, fleißige Leute!“. Es ist blöd, was ich sage, aber in der<br />
Situation: Was sagt man da? Vor allem mit dieser ungewohnten Stimme. Komplett hysterisch<br />
werde ich: „Ihr dürft mir das nicht verübeln, was schaut ihr denn so? Ihr habt mich einfach<br />
erinnert an Spielzeughandwerker, ich wollte einfach im Kopf ein bisschen mit euch spielen, mit<br />
euch kleinen Männern. Es war ja nur ein Tagtraum, sozusagen!“<br />
Das Murren der Männchen vervielfacht sich und entflammt zu einem bösartigen Stimmengewühl.<br />
Vor lauter Erregung höre ich nur gelegentlich Wortfetzen wie aus weiter Ferne. „Supergscheiter“,<br />
heißt es da, „Schnösel!“, „Schmarotzer“.<br />
Sie, die von mir verwandelt wurden, dem Fremdkörper, einem Spion der Arbeitswelt aus gutem<br />
Hause, sie sind zum Plastikprodukt meiner verniedlichenden Phantasien geworden.<br />
„Keine Ahnung hast du“, ruft einer, „du Student!“ Obwohl ich kein Student bin, glaube ich zu<br />
ahnen, was er meint und will gerade zu einem schüchternen Konter ausholen, als derjenige<br />
in seinem weißen Overall mit Mützchen eine nach der anderen seiner Tirolerkugeln nimmt und<br />
nach mir zu werfen beginnt. Bald tun es ihm die anderen gleich und ich werde förmlich<br />
geknödelt. Ein Gedonner aus beigen Kugeln prallt an meinem blauen Plastikpanzer ab,<br />
fürchterlich.<br />
Ich habe meine Kollegen inzwischen fast vergessen. Wo sind sie eigentlich? Sie kennen mich<br />
verkehren werktags<br />
10
schon ein bisschen besser, vielleicht würden sie die Sache regeln können. Aber niemand.<br />
Lange, grausame, demütigende Zeiten kommt niemand. „Wir wollen überhaupt keine kleinen<br />
Männer sein!“, schreit einer der Strassenarbeiter, und die anderen bestätigen ihn: „Ja!“, „Genau!“.<br />
Und sie beginnen erneut zu werfen – auch noch mit den blauen Flaschen. Wäre ich nicht aus<br />
Plastik, würde ich in Tränen ausbrechen, verzweifelt meine Unschuld hinausweinen, meine<br />
Dummheit.<br />
Ich sehe um mich in achtundfünfzig braune Augenpunkte, die alle böse schauen. Mich böse<br />
anschauen. Verzweiflung ergreift mich. Ich ringe meine harten blauen Arme, ich hüpfe mit<br />
meinen Parallelbeinen einen skurrilen Tanz der völligen Verwirrung, einen ekstatischen<br />
Ausdruckstanz der tiefen Reue mit einem noch immer grinsenden Mund.<br />
„He Kleine!“ höre ich da plötzlich und wende meinen steifen Kopf zur Tür hinüber. Was sehen<br />
meine erleichterten Augen hinter den Plastikstirnfransen: Rajab und die anderen. Plötzlich fühle<br />
ich mich ihnen so innig verbunden, als wären wir Geschwister, die besten Freunde. Wie froh<br />
ich bin. Doch in dem Moment, als sie eintreten, geschieht – und ich bemerke es erst gar nicht<br />
– das Unglaubliche. Als wäre die Türschnalle der Aktualisierungsbutton meiner Wirklichkeit,<br />
beginnen sich langsam mit dem Öffnen der Tür die Beine der Männchen zu lockern, die<br />
Haartoupets zerfallen wieder in weiche Strähnen, die Trinkbecherhände zerteilen sich in<br />
zweihundertneunzig Finger, die Gesichter werden wieder kantig und männlich, richtig männlich.<br />
Rajab und die anderen bemerken gar nichts. Ich werde es ihnen auch nicht erzählen. Die<br />
Kantine ist unverändert: die dunklen Gärtnerstimmen, die Malerwitze, das Leuchtorange.<br />
Und ich, ich kann beschwören, noch ganz benommen wie ich bin, dass dies kein Traum war.<br />
Was immer es war, es war eine Verkehrung von Wirklichkeit und Phantasie mit Auswirkungen<br />
auf beiden Seiten. Es waren mit Sicherheit meine letzten Tirolerknödel. Die Himbeercreme mag<br />
ich jetzt auch nicht mehr. Scheiß pastellrosa. Typisch Vorurteil.<br />
verkehren werktags<br />
11
Vegas, Baby<br />
Gertraud Klemm<br />
Mit Badeschlapfen und einem kurzen, glänzenden schwarzen Nachthemd über eine feuchte<br />
Herrenhose bekleidet schlenderte ich am Strip in Las Vegas entlang und fiel nicht auf. Ein träger<br />
Strom nordamerikanischer und ausländischer Touristen wälzte sich durch den grellen heißen<br />
Montag Vormittag, die Blicke nach oben gerichtet auf die riesigen Hotels und Casinos, absurde<br />
Nachbildungen europäischen Kulturerbes, kitschige Themenparks und wahnwitzige<br />
Hochschaubahnen, alles scheinbar vom Himmel gefallen mitten in dieser gleißenden,<br />
lebensfeindlichen Wüste Nevadas.<br />
Entgegen meinen Erwartungen war ich glücklich, fühlte mich frisch geschlüpft, hitzig, frei, bereit<br />
mitzuspielen, wobei auch immer. Vor dem riesigen Hotel Bellagio befand sich ein künstlicher<br />
Teich, Informationstafeln kündigten ein viertelstündlich stattfindendes Wasserballett mit<br />
größenwahnsinnig klingenden Dimensionen an. Das Chlorgeruch verströmende türkise Wasser<br />
zog mich in seinen Bann und löste ein schmerzliches aber nicht unangenehmes Ziehen im Magen<br />
aus – ein Gefühl, das nach Heimweh roch, aber nach Fernweh schmeckte. Ich habe immer<br />
Heim- oder Fernweh, manchmal aber beides gleichzeitig. Auf der breiten Steinbalustrade ließ<br />
ich mich nieder und genoss das heiße Gift der Sonne auf meinen Schultern.<br />
Die Menschen strömten weiter, französische Ehepaare mit weißen Schlapphüten, die üblichen<br />
rasch dahinwuselnden Japanerschwärme, dann absurd fett gefressene Amerikaner mit Oberarmen<br />
so dick wie Rümpfe, hängenden Fettwülsten in den Kniekehlen und Frauen mit kolossalen,<br />
atemberaubenden Ärschen. Alle aßen Chips oder Eis und tranken aus Pappbechern oder<br />
Plastikgefäßen in der Form des Eiffelturms. Zwischen den Gehsteigen verlief eine achtspurige<br />
Strasse, auf der in regelmäßigen Abständen überlange Limousinen kreuzten. Eine Ahnung der<br />
Überforderung beschlich mich, aber ich wischte sie beiseite und ließ die Eindrücke auf mich<br />
einprasseln, saugte sie auf wie ein Schwamm, nur um nicht an das denken zu müssen, was sich<br />
am Morgen dieses Tages abgespielt hatte.<br />
Ich weiß nicht, wie lange ich auf der heruntergeklappten Klobrille, eingesperrt im Bad des<br />
Hotelzimmers gesessen und versucht hatte, ruhig nachzudenken.<br />
Die Stille im Hotelzimmer, das Wissen um die Präsenz meines wütenden, schmollenden Freundes<br />
Clemens hinter der verschlossenen Türe versetzte mich in Panik. Unser Streit war von einer<br />
ungeahnten Heftigkeit gewesen und eine Versöhnung bei diesem Stand der Dinge hoffnungslos.<br />
Still ließ ich die Abfolge der Ereignisse sedimentieren, Schicht für Schicht. Ein halbes Jahr<br />
Beziehung. Langeweile. Bedeutungslose Krisen. Substantielle Krisen. Urlaub in Las Vegas.<br />
Schwerer Streit am Tag zwei des Urlaubs. Flucht ins Badezimmer.<br />
Es galt, das Hotelzimmer zu verlassen, möglichst ohne eine weitere fruchtlose Konversation zu<br />
provozieren. Meine Bockigkeit hatte in den Stunden des Eingesperrtseins dem Anlass völlig<br />
unangebrachte Dimensionen angenommen.<br />
In meiner eigenen riesigen Blase aus Trotz und Wut gefangen hatte ich schon als Kind keinen<br />
Ausweg gefunden. Ich wusste aus bitterer Erfahrung, dass nur eines half: Distanz und wirres<br />
Herumrennen, bis dem Monster in mir die Kraft ausging.<br />
Dies war nun schon der zweite Versuch; meine vorherige Flucht war von Clemens vereitelt<br />
worden, der sich angepirscht und so lange vor der Klotüre verharrt hatte, bis ich sie, mich in<br />
Sicherheit wiegend, lautlos aufschloss, fast gleichzeitig aufriss und hinausstürmte, mitten in seinen<br />
vorwurfsvoll dastehenden, massigen Körper hinein. Sein fassungsloser Blick traf meinen, bevor<br />
ich wie eine Krake die feige Flucht nach hinten antrat, die Türe verschloss, mir die Ohren zuhielt<br />
und es mir wieder am Klositz gemütlich machte. Schließlich entdeckte ich Clemens bierbefleckte<br />
Vegas, Baby<br />
12
Hose, die er, braver Hausmann, noch vor dem Zubettgehen ausgewaschen und zum Trocknen<br />
in die Duschkabine aufgehängt hatte. Ich zog sie an, das klamme Gefühl war mir egal. Dann<br />
öffnete ich das Schloss geräuschvoll und entschlossen, trat aus der Türe, griff nach meinem<br />
Rucksack und den Schuhen und verließ das Hotelzimmer. In den Spiegel im Vorraum blickend,<br />
sah ich Clemens am Rücken im Bett liegen. Seine Augen waren geschlossen und ich wusste,<br />
ich hatte ihn weich gekocht; mürbe, verzweifelt und gefügig wartete er nun auf Rettung, bereit,<br />
auf meine Forderungen einzugehen, wie abstrus auch immer sie wären. Es ist zu spät, war der<br />
einzige Gedanke, der von mir Besitz ergriffen hatte. Mich diesem beugend riss ich mich von dem<br />
Anblick los und verließ das Zimmer.<br />
Gurgelnde Geräusche lenkten meine Aufmerksamkeit auf die Gegenwart; hinter mir war das<br />
Wasserballett ausgebrochen, mächtige Fontänen schossen aus der Wasserfläche empor, die<br />
Choreographie den kitschigen Rhythmen einer Celine-Dion-Nummer gehorchend. Der plärrende<br />
Gesang verdarb mir den Spaß an der Sache, also ging ich schnell weg und wechselte die<br />
Straßenseite. Ich kaufte mir eine Flasche Wasser und ein Sandwich mit Zwiebel und Thunfisch<br />
und schlenderte weiter, überquerte den Boulevard unzählige Male auf Rolltreppen und machte<br />
ein paar Photos, von denen ich wusste, dass ich mich später darüber ärgern würde, weil das<br />
Licht grausam und grell war und die meisten Bilder versaut haben würde. Beim Hotel Hilton<br />
angelangt hatte ich mein ganzes Wasser geleert und musste pinkeln, also trat ich ein, erschreckte<br />
wie immer über die verschwenderische, klimatisierte Kälte, deren Künstlichkeit man fühlen kann.<br />
Das großzügige Foyer war bis zum Bersten mit Spielautomaten gefüllt, deren Geblinke und<br />
Gedudel mich sofort einlullte. An den Automaten saßen Menschen, die mechanisch und freudlos<br />
Münzen in die Geldschlitze warfen, in sich zusammengesunken, mit starrem Blick, selbst zu<br />
Maschinen geworden, zu Geldvernichtungsmaschinen. Von meinen schlaflosen Wanderungen<br />
in unserem Hotel wusste ich, dass die Automaten Tag und Nacht besetzt waren, und fast<br />
beneidete ich diese Narren um ihre naive, besessene Trance, mit der sie sich vom Glücksspiel<br />
verschlingen ließen. Auf dem Rückweg vom Klo fiel mein Blick auf eine Reklame, welche für eine<br />
Show in diesem Hotel warb. Sie zeigte eine Szene aus Star Trek; Klingonen, Borg und Captain<br />
Jean Luc Picard tummelten sich darauf und versprachen eine Show „You won‘t forget“ mit dem<br />
Namen „Borg Invasion“. Ich wurde neugierig, und, angesteckt von der omnipräsenten Gier nach<br />
Ablenkung und Unterhaltung, befahl ich mir, mich von der Unterhaltungsmaschinerie verführen<br />
zu lassen und folgte den Schildern. Sie führten in einen abgedunkelten Komplex, der dem<br />
Raumschiff Enterprise verblüffend ähnlich war. Am Kassenschalter standen Angestellte in<br />
Raumschiffuniformen mit spitzen Vulkanierohren; eine mittelalterliche Dame mit einem schlaffen<br />
Doppelkinn wie aus Hühnerhaut knöpfte mir 30 Dollar ab und verabschiedete mich grinsend mit<br />
dem Vulkaniergruß, der gespaltenen V-förmigen Handfläche. Ich grüßte etwas verlegen zurück.<br />
Von der Begeisterung der anderen Besucher angesteckt amüsierte ich mich bereits, als ich durch<br />
die schmalen Gänge mit allem nur erdenklichen Star-Trek-Klimbim – Waffen, Kommunikatoren,<br />
Gewänder, Uniformen – zur eigentlichen Show schlenderte. Realistisch kostümierte Klingonen<br />
und Borg gingen im Bereich auf und ab und starrten einen arttypisch an – die Besucher kreischten<br />
vor Vergnügen und machten sich zum Trottel, indem sie für Photos vor ihnen posierten. Wie<br />
resignierte Tiere in einem Streichelzoo ließen die Kostümierten die Begeisterung der Besucher<br />
über sich ergehen. Schließlich gelangte ich an das Ende einer kurzen Warteschlange, und nach<br />
wenigen Minuten wurden wir in einen kleinen Raum gebeten. Ein weißblonder Uniformierter, der<br />
sich als Lieutenant Ford vorstellte, begrüßte uns witzig und überschwänglich, fragte nach<br />
eventuellen Schwangerschaften und Herzleiden; da von den fünfzehn teilnehmenden Personen<br />
keine Reaktion kam, konnte die Show beginnen. Ich blickte mich um; wir befanden uns in einem<br />
hellgrauen Kobel, der einem Aufzug nachgebildet war. Der Aufzug plapperte Raumschiff-Nonsense,<br />
während ich die Leute gespannt taxierte. Das schwedische Pärchen und ich waren augenscheinlich<br />
Vegas, Baby<br />
13
die einzigen Europäer, der amerikanische Rest – mit Ausnahme zweier ca. 12-jähriger Buben<br />
ausschließlich Erwachsene – lärmte ausgelassen und voll Vorfreude, wie kleine Kinder. Eine<br />
monströse Frau um die 40 machte einen nervösen Eindruck, sie biss auf ihrer Unterlippe herum<br />
und ihre Finger vollführten rasende Krabbelbewegungen. Ihre Nervosität sprang auf mich über<br />
und mein Gehirn war plötzlich überflutet mit Nachrichtenmeldungen über Brände in<br />
Vergnügungszentren, verkohlte Leichen unschuldiger Besucher, die nicht rechtzeitig realisiert<br />
hatten, dass die sprühenden Funken todernst und die Panik auf den Gesichtern der Crew nicht<br />
nur gut gespielt waren. Mit Gewalt versuchte ich, die Bilder aus meinem Kopf zu verbannen, als<br />
schlagartig das Licht ausging und unter lautem Krachen die Erde bebte. Mit entsetzlich<br />
überschlagener Stimme rief der Lieutenant:<br />
„Bleiben Sie ganz ruhig, es kann sich nur um einen Meteoritenschauer handeln! Die Notbeleuchtung<br />
wird sich gleich aktivieren!“<br />
Ich sehnte mich nach Clemens und seinem belustigenden, aber sehr beruhigenden Händedruck,<br />
den er immer dann spendete, wenn ich im Gegensatz zu ihm blind in die Fallen der<br />
Unterhaltungsindustrie tappte, unfähig, den technischen Sicherheitssystemen zu vertrauen. Ein<br />
schwaches rötliches Licht ging an und ich sah mich schnell um. Die Hälfte der Leute schien<br />
belustigt, einigen aber war der gelungene Effekt anzusehen, sie sahen etwas blasser als der Rest<br />
aus, und ihr Lächeln war zu bemüht. Die Buben grinsten breit. Ich versuchte ihnen zuliebe, mich<br />
von den Feiglingen abzuheben und lächelte der dicken Frau siegessicher zu; sie lächelte nicht<br />
zurück sondern drehte den Kopf schnell weg, die Lippen zusammenpressend. Spontan fühlte<br />
ich ihr gegenüber eine unglaubliche Verbundenheit, entschloss mich aber trotzig, mich überlegen<br />
zu fühlen.<br />
„Computer. Bericht“, befahl Lieutenant Ford fachmännisch.<br />
„Fremde Lebensformen an Bord“, schepperte die Aufzugsstimme, „Aktivitäten von Borg registriert.<br />
Der Captain ordnet an, die Besucher in der nächsten Raumfähre evakuieren.“<br />
Ich lächelte siegessicher. Mit solchen Evakuierungen konnte ich leben. Meine Angst vor wenigen<br />
Minuten war mir mit einem Male unendlich peinlich.<br />
Lieutenant Ford blickte ernst in die Runde.<br />
„Sie haben gehört was der Bordcomputer gesagt hat. Bitte folgen Sie mir ruhig, aber schnell.<br />
Wir haben keine Zeit zu verlieren.“<br />
Der Aufzug öffnete seine Türen. Wir gingen einen dunklen Gang entlang, der nur durch rot<br />
pulsierende Lampen beleuchtet wurde, die in mir Assoziationen mit innerkörperlichen Aufnahmen<br />
von Embryonen wach werden ließen. Bevor ich mich über diese Querverbindung wundern konnte,<br />
ließen mich mehrere spitze, überraschte Aufschreie zusammenzucken. Zwei Borg kamen um<br />
die Ecke, einer von vorne, einer von hinten, mit langsamem maschinellem Gang, jeweils ein Auge<br />
ein rotes Glühen inmitten eines verdrahteten schwarzen Gebildes, das ihre halbe Gesichtshälfte<br />
bedeckte. Ihre Haut war weiß geschminkt, Gesicht und haarloser grausiger Skalp glänzten<br />
schleimig, die transparente Haut unterminiert von blauen Adern, die totes, faules Blut zu<br />
transportieren schienen. Ich fürchtete mich ehrlich und drängte mich in die Mitte der Gruppe,<br />
die dicht zusammenstrebte, nun auch die Tapfersten gefangen von dem scheußlichen Anblick.<br />
„Nicht schnell bewegen! Borg reagieren nicht auf Ihre Bewegungen, wenn sie gleichmäßig und<br />
langsam sind. Hier hinein“, ordnete Lieutenant Ford an und deutete auf eine Türe, die sich aus<br />
dem Nichts geöffnet hatte. Erleichtert strömten wir in den schmalen, niedrigen ebenfalls rot<br />
beleuchteten Raum, der mit Sitzreihen versehen war. Hinter uns schloss sich die Türe mit leisem<br />
Zischen.<br />
„Setzen Sie sich und schnallen Sie sich an. Taschen bitte in dem Raum unter Ihrem Sitz verstauen.<br />
Wir werden mit der Raumfähre zurück zur Erde fliegen. Sollten Ihnen während des Fluges übel<br />
werden oder Sie sich unwohl fühlen, teilen Sie es bitte der Crew mit. Wir werden einen Weg<br />
finden, Ihnen zu helfen.“ Inmitten der realistischen Simulation schien dieser Hinweis lächerlich;<br />
Vegas, Baby<br />
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die Gruppe lachte. Auch ich lachte; die ekligen Borg waren ausgesperrt, die Ansage erinnerte<br />
an einen ganz normalen Flug in der Economyklasse. Ich quetschte meinen Rucksack ins<br />
Gepäcksfach und schnallte mich an. Neben mir saß die dicke ängstliche Frau, nun deutlich<br />
nervöser als zuvor im Lift. Zu Lippenbeißen und Fingerkrabbeln hatte sich eine Art Nicken gesellt,<br />
das mich sofort an eine Körner aufpickende Taube erinnerte. Mit Grauen wandte ich mich ab;<br />
allein vom Zusehen wurde ich kribbelig und bekam Juckreiz.<br />
Das Licht verdunkelte sich um eine Nuance, das Rot wurde kälter und pulsierte jetzt schneller.<br />
Lieutenant Ford hatte sich jetzt auch angeschnallt. „Computer. Koordinaten. Kurs auf die Erde.“<br />
Ein Triebwerke imitierendes Dröhnen hob an, gefolgt von einem ruckartigen meterhohen Anheben<br />
der Raumfähre im hinteren Bereich der Sitzreihen. Die wuchtige Mobilität des Raumes ließ mich<br />
stutzen. Am Bildschirm vor uns erschien ein diffuser Sternennebel, dessen Perspektive sich<br />
synchron mit dem Schwanken der Raumfähre bewegte. Plötzlich sauste ein großer orangefärbiger<br />
Planet auf uns zu, das Raumschiff wich mittels scharfer Rechtskurve aus. Ich verkrallte mich in<br />
den Handgriffen meines Sitzes, versuchte, die emporschwappende Übelkeit hinunterzuschlucken.<br />
Das zähe Zwiebel-Thunfisch-Gemisch in meinem Magen folgte dem fatalen Parcours mit leichter<br />
Verzögerung. Ich schloss die Augen, um die optische Verstärkung des Effekts auszuschalten.<br />
Aber so machte das Gerüttel der bestialischen Apparatur unter meinem Hintern überhaupt keinen<br />
Sinn mehr; jede Ablenkung war ausgeschaltet. Zentrifugalkräfte, Trägheitsmoment, Beschleunigung,<br />
Schwerkraft: Alle physikalischen Größen schienen es auf meinen Mageninhalt abgesehen zu<br />
haben, brachen wie apokalyptische Reiter über meinen Gleichgewichtssinn herein, boxten in<br />
meinen Bauch und zerrten von allen Seiten an meinen Eingeweiden. Stöhnend öffnete ich die<br />
Augen und probierte etwas Neues aus, blickte auf meine Sitznachbarin, versuchte mich am<br />
geteilten Leid mit meiner Verbündeten aufzurichten, bis ich sah, dass sie den Mund geistesabwesend<br />
leicht geöffnet hatte, die Mundwinkel schief, aber doch, nach oben verzerrt; ihr Körper war leicht<br />
zurückgelehnt, ihre Hände umklammerten starr, aber ruhig die Griffe: Es bestand kein Zweifel –<br />
sie amüsierte sich, auch wenn es abstoßend und debil aussah. Ich wandte den Kopf leidend<br />
ab, vollkommen alleine mit meinem Schmerz, und überlegte krampfhaft, wie ich dieser kläglichen<br />
Situation entrinnen konnte, während der gezwiebelte Thunfisch merklich nach oben gewandert<br />
war, drängend und bereit, sich um jeden Preis den Weg aus meinem Körper zu bahnen. Ich<br />
begann, tief und laut ein- und auszuatmen und im Augenwinkel sah ich die dicke Frau zu mir<br />
hersehen.<br />
„Wir treten jetzt in einen Meteoritenhagel – halten Sie durch!“, schrie Lieutenant Ford durch den<br />
Lärm. Ich erstarrte. Das war zuviel – wenn es noch schlimmer wurde, konnte ich den Thunfisch<br />
nicht mehr kontrollieren. Es gab nur einen Weg.<br />
„Stopp!“, schrie ich. „Ich will hier raus!“<br />
Alle Köpfe wandten sich um und die Leute starrten mich an, als plötzlich das Schwanken und<br />
der Lärm aufhörten und das Licht anging. Das Gefühl tiefer Scham traf mich mit aller Wucht.<br />
Unter der Last der demütigenden und anklagenden Blicke bückte ich mich, um meinen Rucksack<br />
unter meinem Sitz vorzuholen. Ich fühlte mich ausgestoßen, verhöhnt und schuldig. „Es tut mir<br />
Leid, mir ist schlecht“, setzte ich kleinlaut nach, als ich wieder hochkam. Lieutenant Ford war<br />
gut geschult; man merkte, dass er schon gewohnt war, mit schlimmeren Situationen<br />
zurechtzukommen.<br />
„Kein Grund sich zu schämen“, sagte er schleimig lächelnd, „das passiert den besten Piloten.“<br />
Seine Augen verrieten, dass meine Schwäche ihn anwiderte. Während die Hydraulik die Sitzreihen<br />
sanft zu Boden brachte, sprach er mit fester Stimme in sein Mikrofon. „Krankenstation. Wir haben<br />
hier einen verletzten Piloten. Bitte kommen.“ Niemand lachte. Ich öffnete meinen Gurt, schnappte<br />
meinen Rucksack, quetschte mich mit gesenktem Kopf an der dicken Frau und den anderen<br />
Passagieren vorbei und ging zur Türe. Lieutenant Ford eilte mir entgegen, griff mir väterlich auf<br />
Vegas, Baby<br />
15
die Schulter und geleitete mich zur Schiebetüre. „Es wird gleich besser. Ein Crewmitglied wird<br />
Sie in Kürze hier abholen. Ich muss hier weitermachen, bitte warten Sie so lange vor der Türe.<br />
Ich kann Sie doch alleine lassen? Das Ganze braucht Ihnen nicht peinlich zu sein“, redete er leise<br />
auf mich ein und drückte einen Knopf. Die Türe öffnete sich.<br />
„Mir war nur etwas schlecht. Es geht schon wieder besser“, flüsterte ich, nickte ihm zu und war<br />
erleichtert, endlich aus dieser verrückten Kammer verschwinden zu können und endlich nicht<br />
mehr den bohrenden Blicken im Rücken ausgeliefert zu sein. Bevor ich durch die Türe trat, drehte<br />
ich mich kurz um und sagte „Sorry.“ Das letzte, was ich sah, bevor die Türe sich schloss, war<br />
der verwunderte Blick der dicken Frau, die mir mit weit geöffnetem Mund nachsah; fast unmerklich<br />
hatte ihr Vogelnicken wieder begonnen.<br />
Der Gang war hell erleuchtet und jetzt, da keine Borg mehr herumliefen und die Lautsprecher<br />
schwiegen, gar nicht mehr effektvoll. Die Verschalung der Wand sah billig aus. Ich griff sie an;<br />
es fühlte sich an wie aus Plastik. Aus dem Raum hinter mir kamen wieder dröhnende und<br />
polternde Geräusche; ich fragte mich, ob sie das Programm nur unterbrochen hatten oder gleich<br />
wieder von vorne starteten. Dann hörte ich nahende, sehr laute Schritte; ich erschrak, als eine<br />
hünenhafte Klingonin um die Ecke kam. „Nancy, Ich hab sie“, polterte sie mit dunkler Stimme<br />
in ihr Headset. „Ich bring sie jetzt rauf.“ Der deutsche Akzent fiel mir sofort auf; er lauerte hinter<br />
jedem Wort und demaskierte ihre bemüht amerikanische Aussprache. Sie blieb vor mir stehen<br />
und sah mich von oben streng und lehrerhaft an. Ich war schon sehr, sehr lange nicht mehr so<br />
angesehen worden. Das letzte Mal vielleicht von einem Polizisten? Ich wusste es nicht mehr.<br />
„Hallo“, versuchte ich es auf Deutsch.<br />
„Na, da haben wir ja unser deutsches Sorgenkind“, sagte die Klingonin verächtlich. Sie war ca.<br />
1,90 groß, ihr Gesicht schwer erkennbar mit all den aufgeklebten Wülsten, die sich horizontal<br />
der hohen Stirn entlanglaufend zu einem fleischigen Gebirgskamm aufwölbten. Die mächtigen<br />
Augenbrauen wuchsen aus der Nasenwurzel schräg nach oben zu den Schläfen, ein dichtes,<br />
wirres Gesichtsfell, das die Frau unendlich wütend aussehen ließ. Die wilde verfilzte, braune<br />
Haarpracht ließ sie um noch 10 cm größer aussehen. Sie jagte mir Furcht ein. „Österreicherin“,<br />
protestierte ich kleinlaut.<br />
„Na, dann wollen wir den kranken Piloten mal zur Station hinauf bringen“, sagte sie höhnisch<br />
und wandte sich zum Gehen. Ich fragte mich, ob sie nun jeden Satz mit „na“ beginnen würde<br />
und ging neben ihr her, sie verstohlen beobachtend. Sie trug eine Art bodenlanges tief dekolletiertes<br />
Mantelkleid mit breiten Metallplatten wie überdimensionale Schulterpolster. Eine obszöne, lange<br />
Brustfalte ließ einen eng zusammengeschnürten Riesenbusen vermuten. „Willste mal greifen?<br />
Die sind nicht echt“, unterbrach die Klingonin mein Starren. Sie grinste mich an, eine gelbe<br />
hervorstehende barbarische Zahnreihe entblößend. „Die sind auch nicht echt“, fügte sie hinzu<br />
und klopfte mit dem Zeigefinger darauf. „Angeklebt wie ein verdammtes falsches Gebiss.“<br />
„Es ist mir so peinlich“, brach es aus mir hervor. „Das sollte es auch!“, antwortete sie, laut<br />
auflachend. Ich begann mich zu ärgern und blieb stehen. „Hätte ich alles voll kotzen sollen? Wäre<br />
das mutiger gewesen?“ Sie legte mir ihre behandschuhte Pranke auf die Schulter und lachte<br />
wieder laut und polternd, den Kopf wild zurückwerfend. Offensichtlich hatte sie ihre Rolle zu gut<br />
eintrainiert. „Neee, so war‘s nicht gemeint. Friedensangebot. Ich lad‘ dich auf eine Cola ein. Mein<br />
Dienst hört jetzt sowieso auf. Abgemacht?“, sie blinzelte mir zu. „Wir werden sehen“, murmelte<br />
ich. „Wie heißt du überhaupt?“ „Ich bin Lursa, die ältere der beiden Duras-Schwestern vom<br />
Planeten Kronos …“, hob sie an. Ich winkte ab. „Bitte nicht den ganzen Scheiß mit Klingonen,<br />
Romulanern und so. Ich bin krank, schon vergessen?“ Sie lächelte zum ersten Mal menschlich<br />
und trotz oder gerade wegen dem ganzen animalischen Aufzug fand ich sie sympathisch, und<br />
überraschenderweise auch sehr erotisch. In ihrer Gegenwart fühlte ich mich nicht wie eine Idiotin,<br />
die ein ganzes Unterhaltungsprogramm unterbrochen hatte, nur wegen eines ungenügend<br />
Vegas, Baby<br />
16
verdauten Thunfischsandwichs; sondern wie eine bedeutende menschliche Protagonistin in einer<br />
Star-Trek-Folge, die maßgeblich an der Rettung eines ganzen Planetensystems beteiligt war. Wir<br />
gelangten in den Eingangsbereich, am Schalter musste ich vor der hühnerhälsigen Vulkanierin<br />
beteuern, dass ich keine medizinische Hilfe brauchte und eine Art Revers unterschreiben, während<br />
Lursa geduldig und schweigsam neben mir wartete. Ich schüttelte ärgerlich den Kopf. „Ihr Amis<br />
und euer Rechtssystem“, sagte ich. Sie nickte. „Wäre nicht das erste Mal, dass das Hotel wegen<br />
so einem Scheiß verklagt wird. Außerdem bin ich keine Amerikanerin sondern Klingonin …“<br />
Weiter kam sie nicht. Ein pickeliger pubertierender Bursche kam auf sie zu gerannt. „Man! That’s<br />
Lursa! Please, daddy, quick, take a picture of her!“, schrie er total überdreht, drängte sich an sie<br />
und vergaß fast in die Kamera zu sehen, weil er von ihrem Dekolletee so hingerissen war. Der<br />
apathische Vater knipste mit seiner Digitalkamera, Lursa starrte böse und klingonisch in die Linse.<br />
„Schnell weg von hier, bevor noch so ein jugendlicher Wichser daherkommt. Das sind die<br />
schlimmsten.“ Ich sah sie ungläubig an. „In diesem Aufzug gehst du auf die Straße?“, fragte ich<br />
sie. „Das ist Vegas, Baby. Außerdem ...“, sie sah prüfend an mir herunter, „… isses auch nicht<br />
schlimmer als mit einem Nachthemd ohne BH, oder?“ Ich errötete. Dass sie mich Baby nannte,<br />
machte die Sache nicht besser. Warum nannten mich hier alle Baby oder Honey? Ist es ein<br />
Kompliment, eine erwachsene Frau als hilflosen Säugling zu bezeichnen? Wir verließen das Hilton<br />
durch die klingelnde und blinkende Spielhalle und traten auf die Straße, geohrfeigt von der brutalen<br />
Mittagshitze. Lursa tat mir Leid in ihrem heißen Kostüm, aber sie schien es stoisch hinzunehmen.<br />
„Ich würde ja gerne mit dir in ein Café gehen, aber so etwas haben wir hier nicht“, sagte sie<br />
achselzuckend. Auf der Straße, dem Strip, sahen uns die Leute verwundert an, aber nicht alle.<br />
Viele gingen vorbei, ohne von der mächtigen Klingonin und ihrer menschlichen Gefährtin mit dem<br />
Nachthemd und den schaukelnden Brüsten Notiz zu nehmen. Nach wenigen Minuten deutete<br />
sie mit einem Kopfnicken auf eine Rolltreppe, die in einen McDonald‘s führte. Ich nickte und wir<br />
fuhren hinauf und betraten das Lokal. Drinnen war es eiskalt und roch nach altem, überhitztem<br />
Fett. Ein paar Leute sahen müde auf, unappetitlich tropfende Burger in sich hineinstopfend oder<br />
scheinbar mittels Trinkhalm fix am Trinkbecher montiert. Strohhalme sind wie zusätzliche, obligate<br />
Mundwerkzeuge an den Mündern der Amerikaner; am dritten Tag in den Staaten begann ich<br />
daran zu zweifeln, dass sie normal aus Gläsern trinken konnten. „Setz dich, ich bring dir eine<br />
Cola“, wies sie mich an. Ich nahm gehorsam Platz auf einem der typisch amerikanischen, die<br />
Wände flankierenden Sitzbänken mit roten Kunstlederbezügen und faltete die Hände. Was tat<br />
ich hier eigentlich? Warum war ich nicht bei Clemens, sondern wartete in diesem kalten,<br />
ungemütlichen Lokal auf eine Klingonin mit vermutlich eiskaltem Coca Cola, das ich normalerweise<br />
gar nicht trank? Außerdem fror ich. Gänsehaut legte sich um meine Schultern wie ein schwerer<br />
Mantel. Lursa kam mit zwei riesigen Pappbechern voll Cola und Eis und stellte einen vor mich<br />
hin. Ich nickte dankend, stützte mich auf die Ellenbogen und sog am Strohhalm. Sie tat das<br />
Gleiche, stöhnte genüsslich nach dem ersten Schluck, lehnte sich zurück und verschränkte die<br />
Arme. „Na, nun zu dir. Was machst du allein in Vegas mit einem Nachthemd in einer Show, die<br />
eine Hausnummer zu groß für dich ist?“<br />
Ich lehnte mich zurück. Etwas an der Frage, und überhaupt an ihrem gesamten bisherigen Verhalten<br />
mir gegenüber ließ mich stutzen, und schließlich schoss mir ein, was es war: sie stellte mir Fragen wie<br />
ein Mann. Sie briet mich an. Ich war etwas verschreckt, beschloss aber, mitzuspielen und mir nichts<br />
anmerken zu lassen. „Ich hab mit meinem Freund gestritten, und es im Hotel nicht mehr ausgehalten“,<br />
sagte ich gedehnt. Sie nickte und ihre Haare wippten mit. „Dachte mir schon so was.“<br />
„Wie heißt du eigentlich wirklich?“, fragte ich. Sie seufzte. „Katharina Manners. Ich bin aus Kiel. Vor<br />
eineinhalb Jahren in die Staaten. Und wie du siehst ...“, sie schüttelte kokett ihre gepanzerten Schultern<br />
und ihren Plastikbusen, „ganz groß rausgekommen.“ Ich blieb ernst. „Wieso bist du weg aus Deutschland?“<br />
Sie zog die Brauen hoch und seufzte. „Meine Schwester war hier und hatte Probleme. Sie ist übrigens<br />
die zweite Duras-Schwester, B‘etor, die jüngere Klingonin. Ist das nicht witzig?“ Sie lächelte kurz.<br />
Vegas, Baby<br />
17
„Ich hab in einer Molkerei gearbeitet, Qualitätssicherung und so. Dann hat sie angerufen und<br />
gesagt, sie bringt sich um, Vegas ist die Hölle und so. Da bin ich hergefahren. Und hab den Job<br />
sofort gekriegt. Iss‘n guter Job. Montag bis Donnerstag wechseln wir uns ab, ich vormittags,<br />
sie nachmittags. Freitag bis Sonntag müssen wir gemeinsam hin, da kommen die meisten Jungs.<br />
Da müssen wir zu zweit auftreten, damit die Jungs was zu sehen bekommen.“ Sie rollte die<br />
Augen. „Die sind ganz wild auf uns. Besonders wenn wir zu zweit sind. Das macht sie ganz geil.<br />
Jedenfalls, ich mag die Hitze und die Amis sind o.k.“ Ich nickte. „Und deine Schwester?“ „Hmm.“<br />
Sie stützte das Kinn in die Handfläche. „Macht mit so‘nem Borg vom Hotel rum. Er ist verheiratet<br />
und vögelt sie im Umkleideraum. Ein echter Widerling. Aber ich geb‘ auf sie Acht.“<br />
Ich nickte und fragte mich, wann sie sich nach meinem Namen erkundigen würde. Stille machte<br />
sich breit. Wir zuzelten beide lustlos an unserem Cola herum. Meine Zähne peinigten mich bei<br />
jedem Zug an dem braunen Eismeer in meinem Becher. Ich habe nie verstanden, was man an<br />
eiskalten Getränken finden kann. Trotzdem trank ich weiter.<br />
„Und du?“, fragte sie. „Bist glücklich mit deinem Mann?“<br />
„Ich weiß es ehrlich gestanden nicht“, antwortete ich und rührte im Eis. „Viele Machkämpfe. Wir<br />
haben momentan keine gute Zeit. Wir sind erst ein halbes Jahr zusammen.“<br />
Sie nickte wissend. „Vielleicht solltest du es mal mit einer Frau probieren?“, sie zwinkerte mir zu.<br />
Ich grinste verlegen und zuckte mit den Schultern. „Ja, vielleicht.“<br />
Völlig unvermutet erhob sie sich plötzlich, beugte sich vor, griff nach meinem Hinterkopf und zog<br />
mich zu sich. Dann gab sie mir einen zarten, trockenen Kuss auf die Lippen. Ich wehrte mich<br />
nicht und hielt still. Sie roch gut, nach Wachs und Haarspray und ein bisschen nach Rauch,<br />
aufregend und wild. Mein Herz trommelte in der Brust, ich spürte das lebendige, rasende Blut<br />
in meinem Hals und in meinen Schläfen; auf meiner bereits vorhandenen Gänsehaut bildete sich<br />
eine zweite. Meine Haut schien mir zu klein geworden zu sein. Wir verharrten wenige Sekunden<br />
bewegungslos. Dann küsste sie mich richtig. Sie schmeckte kalt und etwas bitter, aber wunderbar.<br />
Ihre falschen Haare kitzelten mich auf der Schulter. Ich war völlig gebannt, passiv, erstarrt wie<br />
ein kleines, unter einer riesigen Pranke gefangenes Tier. Schließlich lockerte sie den Griff, ließ<br />
los und sank langsam zurück in den Sitz. Sie sah mich mit schmalen Augen an. Ich saß noch<br />
immer verdattert da, nach vorne gebeugt, wie sie mich zurückgelassen hatte. Ich war vollkommen<br />
leer und leicht.<br />
„Das war gut, was?“, fragte sie mich, den Kopf leicht geneigt. Ich schloss die Augen und nickte.<br />
„Na dann“, sagte sie und erhob sich. „Machs gut, Baby.“ Sie nickte mir noch einmal zu, drehte<br />
sich um und ging. Ich sah ihre riesige Gestalt nach und bevor ich irgendetwas von mir geben<br />
konnte, war sie schon aus dem Lokal verschwunden.<br />
Erst jetzt fiel mir auf, dass mich zwei junge Männer einige Tische weiter anstarrten. Als ich den<br />
Blick erwiderte, sahen sie schnell weg und stocherten in ihren Pommes frites herum. Ich ließ<br />
mein Cola stehen, stand hektisch auf und lief hinaus, zurück in die wohltuende Hitze. Draußen<br />
angekommen ging ich langsam den Strip hinab, bis ich zum Teich mit dem Wasserballett kam.<br />
Ich stützte mich auf die Balustrade, starrte ins stille, künstliche Türkis und versuchte vergebens,<br />
meine Gedanken zu ordnen. Alles woran ich denken konnte, war, dass sie nicht einmal nach<br />
meinem Namen gefragt hatte.<br />
Ich blickte auf. Neben mir hatte sich ein verrückt aussehender kleiner Mann hingestellt, der eine<br />
Kappe trug, auf der ein smaragdfarbener Leguan saß, der lange, gelb-schwarz gestreifte Schwanz<br />
hing über die Schulter des Mannes und reichte fast bis zu dessen Hosenansatz. Das Reptil<br />
schien dem Kerl aus dem Kopf zu wachsen. Er sah mich durch seine fettigen violetten Sonnenbrillen<br />
an und grinste mir breit zu, eine Zahnlücke offenbarend. „That‘s Vegas, Baby“, sagte er. Das<br />
Reptil zwinkerte.<br />
Dann ging das Wasserballett wieder los.<br />
Vegas, Baby<br />
18
Lises Freitag<br />
Matthias Blaickner<br />
Der Tag, an dem Lise zum zweiten Mal geheiratet hatte, war ein Freitag gewesen, ein Werktag<br />
natürlich. Denn die Standesämter waren hierzulande nur an Werktagen geöffnet, ein Umstand,<br />
der Beamten als ganz selbstverständlich erscheinen musste, arbeiteten sie doch 5 lange Tage<br />
hintereinander, plagten sich ab, der Bevölkerung, die ja keine Ahnung hatte, wie der ganze<br />
Staatsapparat am Laufen gehalten wurde, quasi das Geschenk zu machen, sich um die höchste<br />
aller Aufgaben, den Dienst an der Öffentlichkeit, zu kümmern. 5 Tage, oder etwas konkreter<br />
4 1/2 da ja die meisten Ämter am Freitag Nachmittag nicht mehr geöffnet waren, saßen sie<br />
hinter ihren Schreibtischen und sorgten dafür, dass die Welt sich weiter drehte. 2 Tage lang<br />
aber, respektive 2 1/2, wenn man es auf Haarspaltereien anlegte, blieb der Planet stehen. In<br />
dem Land, in dem Lise gerade lebte, war es immerhin ein Drittel der Bevölkerung, für das am<br />
Freitag der Planet, der sonst seine Bewohner mit rund 1670 km/h an der Oberfläche um seine<br />
Achse fegte, plötzlich ächzend zur Ruhe kam und sich erst am Montag Morgen wieder langsam<br />
in Bewegung setzte.<br />
Lise dachte an den Standesbeamten. Der hatte seine Arbeitswoche heute Morgen damit<br />
abgeschlossen, in seinem grauen Anzug mit der beigen Krawatte einem jungen Pärchen die<br />
Standardlitanei vorzutragen, das heißt, ihnen alles Gute zu wünschen, die Wichtigkeit und<br />
Einzigartigkeit der Ehe herauszustreichen und die unterschriebene Heiratsurkunde zu archivieren.<br />
Danach hatte er wahrscheinlich einen gemütlichen Unterhaltungsfreitagabend nach einer braven<br />
Arbeitswoche vor sich. Möglicherweise hatten seine Frau und er beschlossen, einen Cocktail<br />
in einem Lokal zu trinken, das in irgendeiner Zeitschrift unter die Top 20 in der Kategorie<br />
Innenausstattung gewählt worden war. Sie würden sich an einen Tisch setzen und vielleicht<br />
hätten die beiden gerade dieses Lokal ausgewählt, und Lise, die heute Morgen von jenem<br />
Mann noch in die Ehe vereidigt worden war, würde ihnen die Speisekarte bringen. Lise stellte<br />
sich oft vor, wie Leute den Freitag Abend verbrachten. Meistens nahm sie die, die ins „Baja<br />
California“ kamen. Während sie ihnen die Karte reichte oder die Bestellung notierte, stellte sie<br />
sich vor, wie diese heute ihre Arbeit beim Nachhausekommen abgeworfen hatten, so wie<br />
Schulkinder ihre Taschen nach der Schule abwarfen, um unbeschwert ins Wochenende zu<br />
gehen. Wie sie sich zu zweit oder in einer größeren Gruppe zusammengerufen hatten, um den<br />
Abend in vollen Zügen zu genießen, da ja der Samstag mit keinen Verpflichtungen aufwartete.<br />
Nun saßen sie im „Baja California“, dem Lokal, wo Lise von Donnerstag bis Sonntag arbeitete,<br />
und schlürften Margaritas, steckten sich gegenseitig Tortilla Chips mit Guacamole in den Mund<br />
und wippten mit den Füßen zur lateinamerikanischen Musik. Das „Baja California“ war als<br />
junges, stilvolles mexikanisches Restaurant bekannt. Ein Ort, wo die Farben der Wände und<br />
der Dekorationen mit denen des Essens übereinstimmten, ein Ort, wo sich auch ein von Natur<br />
aus schlecht gelaunter Mensch von Anfang an wohl fühlen musste. Ob es wohl irgendwen<br />
wirklich störte, dass, das Essen und die Innenarchitektur ausgenommen, das Lokal überhaupt<br />
nichts mit Mexiko zu tun hatte? Der Besitzer, Neven, kam so wenig aus Lateinamerika wie sein<br />
Koch, der eigentlich Ungar war, aber Enchiladas und Fajitas so gut zubereiten konnte, dass<br />
wahrscheinlich nicht einmal eine mexikanische Auswahl an rundlichen Mamas den Unterschied<br />
merken würde. Neven war sein ganzes Leben Restaurantbesitzer gewesen, auch in seinem<br />
eigenen Land, demselben, woher auch Lise stammte. Er hätte innerhalb von 2 Wochen ein<br />
Sushirestaurant in der russischen Taiga auf die Beine stellen können, wohin dann sämtliche<br />
Holzfäller und Pelzhändler der Region in der Hoffnung auf den Geschmack der großen weiten<br />
Welt gepilgert wären, hätte er dies nur tun wollen. Er hatte ein Gespür für Restaurants, und<br />
dieses Gespür ließ ihn erfolgreich ein Restaurant in einem fremden Land führen, mit Personal<br />
Lises Freitag<br />
19
aus wieder anderen Ländern, und mit Essen, das auf eine Art und Weise zubereitet war, wie<br />
es eigentlich in einem ganz anderen Land, weit weg hinter einem Ozean üblich war, das er nie<br />
betreten hatte und dessen er nicht einen einzigen Bewohner kannte. Lise hatte den Job in<br />
seinem Lokal wohl bekommen, weil sie eine Landsmännin war, eine Art Solidarität unter<br />
Emigranten, denn sie hatte weder sehr viel Erfahrung im Gastgewerbe, noch war sie besonders<br />
gut aussehend, und viele arbeitslose, braun gebrannte Mädchen mit langen Beinen und<br />
niedrigem Ausbildungsgrad warteten auf einen Job in einem Restaurant mit gutem Trinkgeld.<br />
Das war vor 1 1/2 Jahren gewesen. Seitdem hatte sie die meisten Abende ihrer Wochenenden<br />
damit verbracht, das Wochenende von Nevens Kundschaft angenehmer zu gestalten. Neven<br />
war eigentlich ein fairer Arbeitgeber und was freie Tage oder Urlaub betraf, so ließ er offen und<br />
ruhig mit sich reden. Tatsache aber war, dass Lise ganz einfach keinen längeren Urlaub machen<br />
konnte, weil es bedeuten würde, Geld auszugeben, dass sie in dieser Zeit ja gar nicht verdiente,<br />
und somit eine doppelte Belastung wäre. Offiziell angestellt war sie weder im „Baja California“<br />
noch im „Cult“, der Mischung aus Café und Eisdiele, wo sie dienstags und mittwochs arbeitete.<br />
Das Geld kam jede Woche bar auf die Hand, aber bezahlter Urlaub war so ungewöhnlich für<br />
eine ausländische Arbeitskraft in ihrer Position und in dieser Branche wie eine Stechuhr für<br />
den Manager eines Konzerns. Ihr blieben gerade 40 Prozent ihres Monatseinkommens für das,<br />
was allgemein als Leben bezeichnet wurde. Die absolute Summe entsprach in ihrem eigenen<br />
Land einem Durchschnittslohn, hier aber war es weniger als das, was die meisten Studenten<br />
zur Verfügung hatten.<br />
Lise hatte also mit 6 Tagen Arbeit, vom späten Nachmittag bis in die Nacht, immer noch<br />
weniger Geld als der Durchschnittsstudent, der in der Zeit, die sie damit verbrachte, die<br />
finanziellen Grundlagen für ihr Studium zusammenzuhalten, Vorlesungen besuchen, lernen<br />
oder das Studentenleben erforschen konnte. Das Voranschreiten ihres Studiums war durch<br />
die Arbeit in den letzten 1 1/2 Jahren ziemlich beeinträchtigt worden. Anfangs hatte sie noch<br />
jede Vorlesung und jedes Seminar besucht, sofern es die Arbeitszeiten zuließen, auch die am<br />
frühen Morgen. Doch wurde es immer schwieriger, um 8 Uhr aufzustehen, nachdem sie um<br />
1 Uhr in ihr Bett gestiegen und nach 15 Minuten einer Detektivserie aus dem vorletzten<br />
Jahrzehnt eingeschlafen war. Sie nahm sich vor, die Skripten und Bücher daheim zu studieren,<br />
wann immer sie Zeit und Motivation fände. Aber so sehr sie sich auch bemühte, die Lücken<br />
zwischen Schlafen und Getränke tragen sinnvoll zu nutzen, sie wurden immer kürzer und<br />
kürzer, als ob die Arbeit dem Schlaf hinterherjagte und umgekehrt, und wenn beide einmal<br />
schnell genug wären, dann wäre der Kreislauf perfekt, und Lise könnte gleich beim Tresen<br />
aufwachen und einschlafen.<br />
Auch den heutigen Nachmittag hatte sie nichts gelernt, war nicht auf der Uni gewesen und<br />
hatte kein wichtiges Buch zu lesen angefangen. Nach ihrer Hochzeit war sie mit ihrem zweiten<br />
Ehemann und den Trauzeugen, bestehend aus ihrer Studienfreundin und seinem<br />
Basketballkollegen, in einem italienischen Restaurant essen gewesen, und die Zeit danach<br />
hatte sie mit einem ziellosen Dahinschlendern durch die Stadt verbracht, um ihre Gedanken<br />
zu zerstreuen, die sie nicht mehr ordnen konnte. Besonders ein Gedanke klebte in ihrem<br />
Gehirn, und er war Auslöser eines Gefühls der Furcht und des Unwohlseins, dessen Lise sich<br />
nicht erinnern konnte, es schon einmal gehabt zu haben. Es war der Gedanke, heute Nacht<br />
mit ihrem neuen Gemahl in ein Bett zu steigen.<br />
Lise hatte noch nie engere Bekanntschaft mit einem Klienten geschlossen, obwohl sie sich<br />
ein- oder zweimal fast darauf eingelassen hätte. Noch nie aber hatte sie so darauf gehofft wie<br />
heute Abend. Sie benahm sich die ganze Zeit auf eine Art und Weise, die entgegengesetzt<br />
zu dem stand, wie sie sonst ihre Arbeit erledigte. Lächelnd, wie auf einem Wahlplakat und mit<br />
witzigen Kommentaren zwischendurch, erhoffte sie, irgendeinem halbwegs ansprechenden<br />
Lises Freitag<br />
20
männlichen Klienten so aufzufallen, dass dieser den Mut fände, sie zu fragen, wann sie heute<br />
hier Schluss habe und ob sie noch irgendwohin was trinken gehen wolle. In Wirklichkeit ging<br />
es Lise in dieser Nacht gar nicht darum, ihre neue Ehe ad absurdum zu führen, sondern einfach<br />
nur einen Grund zu haben, nicht nach Hause zu gehen und sich dem Unvermeidlichen zu<br />
stellen. Wenn es sein müsste, verbrächte sie die Nacht mit Vergnügen damit, spendierte<br />
Cocktails in verschiedenen Bars und Discos zu trinken und einem überheblichen<br />
Werbeagenturangestellten zuzuhören, wie dieser seine lang entwickelte, natürlich vollkommen<br />
geheim gehaltene Marketingstrategie für die staatliche Eisenbahn präsentierte und gleichzeitig<br />
versuchte, eine pikante Anekdote für seine Kollegen beim Kaffee am Montag zu sichern. Sie<br />
hätte das alles in Kauf genommen, nur um in dieser Nacht den Schlüssel in der Wohnungstür<br />
so spät wie nur möglich umzudrehen. Den Gedanken, tatsächlich die Nacht bei einem<br />
Unbekannten zu verbringen, zog sie eigentlich nicht in Erwägung, dazu war sie nicht der Typ<br />
und würde es nie sein. Ihr erster fester Freund war auch ihr erster fester Liebhaber und ihr<br />
erster Ehemann geworden. Als sie Drago kennen gelernt hatte, war sie gerade erst 18 und<br />
bezüglich Jungen in ihrem Alter eher schüchtern wenn nicht sogar gleichgültig gewesen. Der<br />
Altersunterschied, immerhin 11 Jahre, beziehungsweise sein überaus charmantes und<br />
weltmännisches Auftreten, hatten sie buchstäblich weggefegt, als sie zum ersten Mal mit ihm<br />
sprach. Er war für sie die Erfüllung eines jeden kleinbürgerlichen Mädchentraumes, der starke,<br />
erfahrene Mann, der sie mit ins gelobte Land nähme, wo sie studieren und er viel Geld verdienen<br />
würde. Sie heirateten nicht einmal acht Monate später, und in dieser Zeit manifestierte sich<br />
in Lises Unterbewusstsein das Postulat, dass Sex mit diesem Mann die wunderschönste Sache<br />
der Welt sei, und dass die Ehe nur mehr die offizielle Besiegelung für das sei, was sie ohnehin<br />
schon mit Sicherheit wusste, nämlich, dass sie ihr Leben lang keinen anderen Mann für<br />
irgendetwas brauche. Jetzt hatte sie Angst, ein kleines, naives Mädchen zu sein, verglichen<br />
mit ihren Altersgenossinnen. Oft ertappte sie sich bei diesem Gedanken und wurde wütend<br />
über sich selbst. Gerade das Wissen über die Unbegründbarkeit des Gefühls ließ es umso<br />
stärker werden. Wieso fühlte sie sich unerfahren, verglichen mit anderen Frauen ihres Alters?<br />
Schließlich hatte sie ihre Heimat noch als Teenager verlassen, eine fremde Sprache fließend<br />
gelernt, sich in einer fremden Umgebung zurechtgefunden, ein Studium angefangen und<br />
gearbeitet. Und zu guter Letzt verfügte sie über eine Erfahrung, die die meisten der Frauen in<br />
den modernen Industrieländern in ihrem Alter noch nicht hatten. Sie war Mutter geworden.<br />
Milan wurde einen Monat nach dem Jahrestag ihrer Emigration geboren. Obwohl die Verwandten<br />
am Telefon klagten, dass sie die gesamte Zeit der Schwangerschaft sowie natürlich die Geburt<br />
und die Phase des Kleinkindes verpassten, waren Drago und Lise froh, dass ihr Erstgeborener<br />
hier zur Welt gekommen war, in der Fremde. Sie sahen es als eine Art Zeichen, dass ihre<br />
Zukunft hier in sicheren Händen lag und sie dem fremden Land gewachsen waren. Und die<br />
Dinge sahen damals tatsächlich gut aus. Drago hatte dank seiner Ausbildung und Reputation<br />
gleich als Trainer in einem Fitnessclub anfangen können und war inzwischen der Fitnessbetreuer<br />
mehrerer Privatkunden, darunter auch viel versprechende junge Talente des Nachwuchssports.<br />
Die Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis hatte er als Besitzer einer Doppelstaatsbürgerschaft<br />
automatisch, und somit war auch für seine junge Frau der legale Aufenthalt kein Problem. Zwar<br />
musste Lise ihr Studium durch Milan 1 1/2 Jahre völlig unterbrechen, aber die tief aus dem<br />
Inneren kommende Freude über ihr Familienglück ließ sie fest daran glauben, dass sie noch<br />
alles erreichen könne. Außerdem hatte sie fest vor, ihr Studium abzuschließen, komme was<br />
wolle. Sie war es nicht nur sich selber schuldig sondern auch ihren Verwandten, die bei jedem<br />
Telefonat am anderen Ende der Leitung sich fast darum balgten, wer mit ihr sprechen dürfe,<br />
und in deren Stimmen solcher Stolz mitschwang, dass Lise ein paar Mal schon wässrige Augen<br />
beim Telefonieren bekommen hatte. Trotz der anfänglichen Skepsis, vor allem betreffend der<br />
Studienrichtung, hatten sie alle, wo sie nur konnten, unterstützt. Anfänglich haderten sie<br />
Lises Freitag<br />
21
furchtbar mit ihrer Entscheidung, Kunstgeschichte zu studieren. Ob es wohl ein noch brotloseres<br />
Gebiet gäbe, ob sie nicht doch Wirtschaft studieren oder Lehrerin werden wolle? Aber Lise<br />
war hart geblieben und ihre größten Kritiker wurden zu ihren größten Helfern.<br />
Trotz ihrer Aufenthaltserlaubnis musste sie die gleichen Bedingungen für die Studienzulassung<br />
erfüllen wie andere Studenten aus ihrem Land. Konkret hieß das, dass sie einen bestimmten<br />
Betrag vorweisen musste, damit ihre neue Heimat sich im Voraus vergewissern konnte, es<br />
handelte sich um jemanden, der die Mittel zum Studium mitbringe und nicht irgendwie versuchte,<br />
sie hier erst zu erwerben. Die Summe hätte fast ihre Hoffnungen begraben, handelte es sich<br />
doch um das 14fache eines durchschnittlichen Monatsgehalts in ihrer alten Heimat. Doch<br />
gerade das schien ihre Verwandtschaft umso mehr anzuspornen, jeder trieb irgendwie irgendwo<br />
irgendetwas auf und schlussendlich hatten sie genug beisammen, um den Stolz der Familie<br />
ins Ausland zu schicken. Lise bereute keine Sekunde der 1 1/2Jahre, die sie zu Hause geblieben<br />
war, um Milan zu umsorgen. Nachdem sie eine vertrauenswürdige Bekannte gefunden hatten,<br />
die sich halbtags um den Sprössling für ein kleines Entgelt kümmern sollte, war sie bereit<br />
gewesen, sich mit vollem Elan wieder auf ihr Studium zu stürzen. Doch genau das wollte nicht<br />
funktionieren. Wie die Tür, die plötzlich klemmte, obwohl sie vor einer Sekunde noch reibungslos<br />
über den Boden geglitten war. Plötzlich funktionierte ihr Leben nicht mehr, als ob Sand mit<br />
purer, böser Absicht in das Getriebe geschüttet worden wäre. Die Spannungen zwischen ihr<br />
und Drago hatten mit der Regelung der Kinderbetreuung angefangen. Er war nicht wirklich<br />
zufrieden damit gewesen, und zu Lises Unbehagen entpuppte sich Drago nicht ganz als der<br />
moderne Mann, für den sie ihn gehalten und für den er sich ausgegeben hatte. Da er nie eine<br />
klare Antwort darauf gegeben hatte, wann sie seiner Meinung nach ihr Studium wieder<br />
aufnehmen könne, wurde ihre Vermutung mehr und mehr zur Überzeugung, nämlich, dass ihr<br />
Ehemann nichts anderes wollte, als dass sie daheim blieb, und das eigentlich für immer. Diese<br />
seine Einstellung, in der es als gegeben galt, dass er ihre Rolle im Leben bestimmte, spiegelte<br />
die Arroganz und Eitelkeit wider, die für Lise nun voll auszubrechen schien. Am meisten verletzte<br />
es sie, wenn er ihr die Predigten über Sport und Fitness hielt. Sie solle endlich regelmäßig<br />
Sport treiben und überhaupt sei es eine Schande, wie sie ihren Körper vernachlässige. Sogar<br />
wenn Lise nicht das zarte Mädchen gewesen wäre, dessen Körper nicht einmal von der Geburt<br />
ihres Kindes signifikant verändert worden, sondern so gertenschlank wie immer, fast ein<br />
bisschen zu dünn, geblieben war, so hätte sie es trotzdem als Kränkung empfunden, von ihrem<br />
eigenen Mann so behandelt zu werden, als wäre sie ein übergewichtiges Kind im Sommercamp.<br />
Als wäre es nicht schon genug, seine Frau spüren zu lassen, man finde ihren Körper nicht<br />
ganz so attraktiv, pries Drago immer mehr seinen eigenen. Lise glaubte in einer der peinlichen<br />
Seifenopern ihrer Heimat zu sein, wenn sie ihn immer öfter vor dem Spiegel posieren sah und<br />
er ihr erzählte, wie viel er für seinen Körper jeden Tag tat. Einmal ließ sie eine spöttische, aber<br />
nicht boshaft gemeinte Bemerkung fallen, wenn ihm sein Körper doch so sehr gefalle, vielleicht<br />
sollte sie gleich im Kinderzimmer bei Milan ein Bett für sich aufstellen, damit er im Schlafzimmer<br />
ungestört sei. Drago aber hatte mit einer Empörung reagiert, als hätte sie seine Männlichkeit<br />
in Frage gestellt, und sie mehrere Tage lang nur mit den nötigsten Worten bedacht. Beide<br />
setzten gemeinsam den Schlusspunkt, beschlossen aber, wegen Milan und auch wegen des<br />
Praktischen weiterhin Tisch und Bett zu teilen. Lise wusste irgendwie, dass keine Gefahr eines<br />
Rückfalls von einem von beiden bestand, und tatsächlich gab es nach der offiziellen Beerdigung<br />
der Beziehung auch nicht nur einmal eine überflüssige Berührung zwischen ihnen. Ihr selbst<br />
gebautes Kartenhäuschen war nicht nur eingestürzt, sondern sie hatten zusammen auch die<br />
Karten fein säuberlich zusammengeräumt, in die Schachtel getan und die Schachtel irgendwohin<br />
geräumt, wo sie sie nie wieder finden würden. Warum auch, keiner von ihnen wollte sie je<br />
wieder benützen.<br />
Das Nebeneinanderherleben funktionierte in einer Routine, die akzeptabel war. Nicht wunderbar,<br />
Lises Freitag<br />
22
aber akzeptabel. Drago unterstützte sie weiterhin finanziell ein bisschen und Lise ging einer<br />
geringfügigen Beschäftigung in einer Buchhandlung nach, wo sie Bücher einsortierte und<br />
Kunden Tipps für die Lektüre von Kunstbänden gab, eine Arbeit, die ihr eigentlich recht Spaß<br />
machte. In gewissem Sinne musste es auf Milan wie die perfekte Harmonie einer Familie gewirkt<br />
haben. Mama und Papa waren fast immer für ihn da und stritten sich nie. Keiner von ihnen<br />
spielte in dieser Zeit mit dem Gedanken an eine neue Beziehung, und so hatten beide eine<br />
Verschnaufpause vor dem Besuch bei ihren Familien, denen sie klar machen mussten, dass<br />
sie die letzten neun Monate in wilder Scheidung zusammengelebt hatten.<br />
Sie fuhren mit dem Auto denselben Weg zurück, den sie vor fast vier Jahren als die Straße<br />
zur Prosperität und zum Glück betrachtet hatten. Damals waren sie ein junges, verliebtes Paar<br />
gewesen, das alles vom Leben erwartet hatte. Beim zweiten Befahren der Strecke hatten sie<br />
im Auto nur eine der Erwartungen bei sich, nämlich Milan, und sogar diese würden sie in<br />
Zukunft nicht gemeinsam teilen. Bei der ersten Kurve, die ihre Blicke auf das Meer und die<br />
zerklüftete Küste lenkte, kam sich Lise fremd vor. Als ob das Meer selbst sie nicht mehr kannte<br />
und ihr kraft seiner Faszination, die es auf die Menschen hier ausübte, einfach die<br />
Staatsbürgerschaft entzogen hatte. Das Meer hatte sie aus ihrer alten Heimat verstoßen und<br />
die neue Heimat konnte sie noch nicht als solche bezeichnen. Die Reaktionen ihrer Familien<br />
waren die vorausgeahnten. Tränen und Gejammer wie bei der Beerdigung des ältesten Sohnes<br />
eines sizilianischen Clans in ihrer Familie und Gesichter aus Stein wie beim Schuldspruch einer<br />
Ehebrecherin in einem puritanischen Dorf aus dem 17. Jahrhundert in seiner. Die anfänglichen<br />
Bemühungen vieler, sie wieder zusammenzubringen, mit Argumenten wie der Verantwortung<br />
gegenüber dem Kind, der Liebe und des heiligen Sakramentes verliefen im Sand, als Drago<br />
eröffnete, nach der Rückkehr eine Wohnung für Lise allein finden zu wollen. Obwohl sie dieses<br />
Thema unter sich bisher nicht angeschnitten hatten, war es für Lise keine Überraschung. Das<br />
Wohnungsteilen hatte zwar ganz gut funktioniert, war aber auf längere Sicht nicht tragbar.<br />
Die Frage, was mit Milan geschehen sollte, wurde nach einigem Diskutieren mit einer Bestimmtheit<br />
und Autorität beantwortet, gegen die sich aufzulehnen Lise nicht wagte, und sich bis heute<br />
dafür hasste. Dragos Familie wusste, was das Beste für das Kind war. Ein Leben zwischen<br />
zwei Elternteilen würde ihm nur schaden, noch dazu in einem fremden Land, wo der Vater viel<br />
arbeiten musste und die Mutter wohl in Zukunft sich kaum über Wasser halten könnte, denn<br />
schließlich hätte sie ab jetzt selbst für sich zu sorgen. Bis geklärt sei, ob, wie und wann Drago<br />
und Lise endgültig zurückkehrten, wäre es nur das Natürlichste, Milan wachse bei seinen<br />
Großeltern, Dragos Eltern, auf. Lise fiel einfach nicht ein, was sie dagegen vorbringen sollte.<br />
Wenn hierzulande die Familie des Vaters eine Entscheidung das Kind betreffend gefällt hatte,<br />
so wurde diese einfach nicht angefochten, schon gar nicht von einer mittellosen Mutter. Für<br />
Drago schien es ganz in Ordnung zu sein, er konnte nun ungestört seiner Karriere nachgehen,<br />
um dann als gemachter Mann zurückzukehren und seinen fertig erzogenen Sohn in Empfang<br />
zu nehmen. Bei ihr war die Selbstüberzeugung nicht so leicht. Sie schaffte es, indem sie sich<br />
einredete, sie würde so schnell wie möglich ihr Studium beenden und dann nach Hause<br />
zurückkehren, möglichst, bevor Drago es tat. Außerdem nahm sie sich vor, ihren Sohn so oft<br />
wie möglich zu besuchen, mindestens fünfmal im Jahr, wenn nicht öfter.<br />
Ihr Plan, sich einen netten Kunden für diese Nacht anzulachen, hatte keine Chance auf Erfüllung.<br />
Wenn es heute Abend überhaupt einen geeigneten Kandidaten gegeben hatte, dann war keine<br />
Zeit gewesen, ihn anzulächeln oder ihm zuzublinzeln, denn an solchen Abenden war man beim<br />
Einstecken des Trinkgeldes schon auf dem Weg zum nächsten Tisch. Sie half Sandra, der<br />
anderen Kellnerin, die Stühle auf die Tische zu stellen. Der Rest des Lokals war schon sauber<br />
zusammengeräumt, also gönnten sich beide einen Drink, während sie warteten, bis am letzten<br />
Tisch der letzte Tropfen in den Hals geleert wurde. Sandra wusste, was heute Vormittag<br />
Lises Freitag<br />
23
geschehen war, hatte sie bis jetzt aber nur einmal grinsend mit Ehefrau angesprochen. Nun<br />
fragte sie sie, wie die Hochzeitsnacht wohl werden würde, aber ganz beiläufig, so, als ob sie<br />
wissen wolle, welchen Film sie gestern im Kino gesehen hatte. Lise hoffte, ihre Kollegin würde<br />
ihr Zusammenzucken nicht bemerken und antwortete mit einem nichtssagenden Lächeln.<br />
Sandra kannte nicht alle Umstände. Lise hatte sie nur in so viel eingeweiht, wie es für die<br />
Vermeidung von weiteren, tiefer gehenden Fragen erforderlich war. Wie hätte sie ihre Angst<br />
verständlich machen können, nicht nur ihr, sondern irgendeinem Menschen? Ihr frisch gebackener<br />
Ehemann, der jetzt in ihrer gemeinsamen Wohnung, hoffentlich schon schlafend, in ihrem Bett<br />
lag, war ja geradezu der Inbegriff eines einfühlsamen, sympathischen Jungen, der in seiner<br />
ruhigen Art den Eindruck machte, er könne nicht einmal im Streit ein böses Wort gegen<br />
jemanden aussprechen. Michael, von allen nur Mike genannt, und sie hatten sich von Anfang<br />
an gut verstanden und er war sich der Details der Abmachung immer bewusst gewesen.<br />
Kennen gelernt hatten sie sich im Buchladen, wo sie in der Zeit zwischen dem Scheitern ihrer<br />
ersten Ehe und der Reise zu ihren Familien gearbeitet hatte. Er hatte dem Besitzer dort die<br />
komplette EDV-Einrichtung installiert und war in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen<br />
vorbeigekommen, um das System zu warten oder ein Computerproblem, das sämtliche<br />
Mitarbeiter an den Rand eines Nervenzusammenbruchs gebracht hatte, innerhalb von drei<br />
Minuten zu lösen. Er war bei weitem kein Mann der großen Worte, und außerdem schien er<br />
zu keinem von der Belegschaft eine Art persönlichen Kontaktes zu haben. Nachdem Lise ihn<br />
einmal selber etwas bezüglich der Benutzung des elektronischen Archivs gefragt hatte, fingen<br />
sie an, jedes Mal ein paar Worte miteinander zu wechseln. Ihre Konversation ging nicht<br />
wesentlich über den Universitätsklatsch, wie viele Wahlfächer er oder sie belegen und wie<br />
lange man an diesem und jenem Schalter anstehen müsse, hinaus. Sie erfuhr, dass er zwar<br />
Informatik studierte, aber sein Studium nur sporadisch verfolgte und nebenher etliche private<br />
Aufträge hatte, wo er alles machte, was mit Computern zu tun hatte, vom Aufbauen von<br />
Netzwerken über das Erstellen von Homepages bis hin zu Sachen, von denen Lise keine<br />
Ahnung hatte, was sie waren. Wie die meisten Studenten in dieser Stadt stammte er von<br />
außerhalb, aus einem kleinen Ort irgendwo in der Pampas der Getreide- und Weinfelder. Seine<br />
Mutter lebte noch dort, allein, wie es schien, vom Schicksal seines Vaters hatte sie bis zum<br />
heutigen Tag nichts erfahren. Damals im Buchladen war Mike für sie ein sympathischer ruhiger<br />
Kollege, mit dem man über die Uni und Kino schwatzen konnte. Sie waren das Paradebeispiel<br />
für eine flüchtige Bekanntschaft am Arbeitsplatz gewesen, auf alles andere wären nicht einmal<br />
die größten Tratschmäuler gekommen. Zweimal hatte sie gesehen, wie er von einem<br />
unscheinbaren, zierlichen Mädchen abgeholt worden war, aber sie hatte damals nicht einmal<br />
die Neugier gehabt, sich zu fragen, ob es seine Freundin oder seine Schwester war. Mit der<br />
Reise an die Heimatfront musste sie ihren Job im Buchladen kündigen und verlor so auch den<br />
Kontakt zu Mike. Nach ihrer Rückkehr waren so viele Dinge zu erledigen, dass sie es kaum<br />
schaffte, sich mit ihren regelmäßigen Bekanntschaften zu treffen, geschweige denn mit den<br />
unregelmäßigen. Sie zog aus der gemeinsamen Wohnung mit Drago aus und mietete sich eine<br />
billige Ein-Zimmer-Wohnung in den Außenbezirken. Die Freundin einer Bekannten empfahl sie<br />
bei Neven, und seither servierte sie Zitronenscheiben und Tequilas. Später nahm sie auch noch<br />
die Stelle im „Cult“ an, weil sie merkte, dass sie das Geld brauchte. Was sie sich vorgenommen<br />
hatte, wurde von der Arbeit so eingenebelt, dass sie manchmal gar nicht mehr sicher war,<br />
dass sie es überhaupt noch sehen konnte. Das Gläserspülen und Tablettetragen nahmen ihr<br />
die Zeit und die Kraft, ihr Studium mit großem Tempo voranzutreiben. Wenn sie wenigstens<br />
damit so viel Geld verdient hätte, dass sie regelmäßig zu Milan fahren könnte, aber es langte<br />
ja gerade mal für das Leben hier. Anfangs hatte sie noch jeden Tag mit ihm telefoniert, inzwischen<br />
waren es nur mehr zweimal die Woche. Diese Reduktion hatte sehr schleichend eingesetzt<br />
Lises Freitag<br />
24
und war von ihren Schwiegereltern initiiert worden. Ein Mal war es ein mehrtägiger Ausflug,<br />
ein anderes Mal war Milan bei Tanten oder Onkels und konnte deshalb nicht erreicht werden.<br />
Lise wusste nicht, ob es Zufall war oder ob sie gezielt ihre Distanzierung von ihm erreichen<br />
wollten. Manchmal war sie wütend darüber, und manchmal krümmte sie sich in einer Ecke<br />
zusammen, vor Scham und Sehnsucht. Sie wusste nicht mehr, wie oft sie den Plan gefasst<br />
hatte, sich mit dem bisschen Geld, das sie hatte, bis nach Hause durchzuschlagen, egal, was<br />
danach sein würde, Hauptsache, sie könnte ihr Kind wieder sehen. Jedes Mal hatte sie ihn<br />
wieder fallen lassen, jedes Mal hatte die Überzeugung gewonnen, sie müsse erst hier alles ins<br />
Reine bekommen, beenden wofür sie hergekommen war, damit sie mit wehenden Fahnen<br />
heimkehren könnte.<br />
Erst ein Jahr nach ihrer Rückkehr in dieses Land hatte sie die Zeit und Lust gefunden, bei<br />
ihrem alten Arbeitsplatz, dem Buchladen, vorbeizuschauen. Dort hatte sie auch Mike wieder<br />
getroffen, der immer noch ein paar Mal im Monat vorbeischaute, um den Angestellten zu<br />
erklären, wo auf der Tastatur die Löschtaste zu finden sei. Zum ersten Mal machten sie sich<br />
etwas für den Abend aus und gingen zusammen ins Kino. Lise maß dem genauso wenig<br />
Bedeutung bei, wie sie es damals getan hätte und auch bei Mike war nicht die geringste<br />
Absicht zu erkennen. Genauer gesagt, hatten sie sich nicht öfter als zweimal gesehen, als<br />
plötzlich Drago mit der Bombe vor der Tür stand: Er wollte sich scheiden lassen.<br />
Sie hatte ihren Exmann so gut wie gar nicht gesehen, seit sie getrennte Wohnungen hatten.<br />
Beide hatten darin übereingestimmt, dass sie bis auf weiteres verheiratet blieben, um Lise die<br />
Aufenthaltsgenehmigung zu sichern. Nun plötzlich forderte Drago mit solchem Nachdruck das<br />
offizielle Ende ihrer Ehe, dass Lise schon dachte, er war kurz davor, sich wieder zu verheiraten.<br />
Doch das war nicht der Fall, er verneinte ihre Frage und sie zweifelte nicht an seinen Worten.<br />
Er wollte weiter. Er hatte ein Angebot bekommen. In einem noch reicheren Land. Dort sollte<br />
er der Fitnesskoordinator einer Jugendmannschaft eines bekannten Fußballvereins werden.<br />
Seine Heimat war abgehakt, das Land, in das er ursprünglich emigriert war, zusammen mit<br />
seiner jungen Frau, war ebenfalls abgehakt. Lise dachte natürlich auch an die Möglichkeit, die<br />
Unterschrift einfach zu verweigern. Aber es wäre nicht Drago gewesen, hätte er für diesen Fall<br />
nicht schon vorgesorgt. Ein Nichtfolgeleisten ihrerseits wäre der automatische Abbruch des<br />
Kontaktes zu Milan. Wenn sie jetzt nicht ihren Namen auf das Papier setzte, würde seine Familie<br />
beim Klang ihrer Stimme sofort den Hörer auflegen.<br />
Lise unterschrieb mit steinerner Miene. Sie wusste jetzt, dass im Kampf um den gemeinsamen<br />
Sohn jedes Mittel angewandt werden durfte. Tief drinnen schwor sie sich, einen Plan<br />
auszuarbeiten. Sie musste in die Heimat zurückkehren, bevor ihr Exehemann es tat. Bevor er<br />
auf die Idee kam, die Familie solle ihm seinen Sohn bringen. Bevor er die Möglichkeit hatte,<br />
sich dort ein neues Nest aufzubauen und Ansprüche auf seinen Nachwuchs zu stellen. Bevor<br />
das alles geschehen konnte, musste sie schon wieder unten sein, mit einem Diplom in der<br />
Tasche und einer Arbeit in Aussicht, um Milan an sich zu binden, damit niemand jemals eine<br />
Rechtfertigung haben würde, ihn ihr wieder wegzunehmen. Doch dazu musste sie ihr Studium<br />
hier abschließen. Das wiederum verlangte eine gültige Aufenthaltserlaubnis.<br />
Lise fand sich an einem Punkt wieder, an den sie nie gedacht hatte zu gelangen. Sie schob<br />
ihre Schüchternheit und ihre Behutsamkeit einfach beiseite und beschloss, alles zu tun, um<br />
nicht eine von den abgeschobenen Ausländerinnen zu werden. Die Option einer erneuten<br />
Heirat erschien sofort in ihren Gedanken, doch wusste sie nicht, wie genau sie das anstellen<br />
könnte. Wie konnte man einen Einheimischen finden, der einer Zweckhochzeit einfach so<br />
zustimmen würde? Würde er nicht etwas als Gegenleistung verlangen? Irgendeinen Nutzen<br />
musste ja auch ihr zukünftiger Ehemann haben, so aus Spaß heraus versprach man ja nicht<br />
einfach jemandem die ewige Treue, vor allem, wenn das Auge des Staates dies verfolgte.<br />
Lises Freitag<br />
25
Selbstverständlich drängten sich ihr auch die unangenehmen Geschichten auf, die man immer<br />
über Frauen hörte, die das taten, was sie vorhatte. Die totale Abhängigkeit vom Mann konnte<br />
die grausamsten Formen annehmen und diese wurden dann in Boulevardmagazinen im<br />
Fernsehen und in Illustrierten genüsslich breitgetreten, damit jeder sich an der Brutalität der<br />
Welt weiden konnte. Doch ihr Antrieb war so groß, dass sogar dies sie nicht von ihrem<br />
Entschluss abbringen konnte. Ohne groß darüber nachzudenken, erzählte sie Mike davon, als<br />
sie wieder mal zusammen ins Kino gingen.<br />
Was dann geschah, war im Nachhinein nicht mehr nachzuvollziehen. Lise konnte sich nicht<br />
daran erinnern, wirklich Teil davon gewesen zu sein, immer wenn sie daran zurückdachte,<br />
stand sie wie eine Außenstehende daneben und beobachtete sich selber. Sie sah, wie Mike<br />
ganz ruhig den Vorschlag machte, sie sollten heiraten. Dann sah sie sich selber, sah, wie sie<br />
gespannt dasaß mit einer Mischung aus Misstrauen, Hoffnung und Berechnung. Sie sah sich<br />
selber, kühl wie eine Geschäftsfrau, fragen, warum er dies tun würde, schließlich war ja nichts<br />
für ihn drin. Wie in einem spannungsgeladenen Dialog im Theater überwachte sie, die sie ja<br />
als unbeteiligte Person in ihrer Erinnerung die Möglichkeit hatte, die Szene von allen verschieden<br />
Positionen aus zu betrachten, dann ganz genau Mikes Mimik, als er die Antwort gab, dass<br />
er ihr, einer Freundin helfen wolle und für ihn die Ehe sowieso nichts bedeute. Jedes Mal, wenn<br />
sie sich daran erinnerte, versuchte sie eine noch günstigere Position einzunehmen, um<br />
irgendetwas aus Mikes Gesichtszügen herauszulesen. Irgendeine Absicht, eine Regung, die<br />
ihr mehr über diesen undurchsichtigen, netten Kerl sagen könnte und darüber, warum er so<br />
was tat. Aber so sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte nicht hinter die Fassade blicken,<br />
stattdessen sah sie sich selber in ihrer Erinnerung, wie sie den Vorschlag annahm, ohne eine<br />
Weile darüber nachzudenken oder mit jemandem darüber zu diskutieren, einfach ja und aus.<br />
Weiters sah sie, wie sie die Vorbereitungen trafen, sie sah sich die Papiere aus ihrer Heimat<br />
anfordern, sie sah sich ihre Sachen in ihrer Wohnung zusammenpacken, um zu Mike zu ziehen.<br />
Sie hatten beide gedacht, dass dies unabdinglich sei für die nächsten paar Jahre, da zwei<br />
verschiedene Adressen sehr auffällig wären. Außerdem kam es für sie um einiges billiger, würde<br />
sie eine Wohnung mit ihm teilen.<br />
Die Letzten waren endlich gegangen. Neven konnte das Lokal zusperren und seine Bedienungen<br />
entlassen. Draußen ging trotz des in der Luft liegenden Sommers ein kühler Wind und Lise<br />
war froh, dass sie ihre Jacke mitgenommen hatte. Normalerweise ging sie immer bis zu einem<br />
Busknoten und setzte sich dann in den Nachtbus, aber heute beschloss sie, den ganzen Weg<br />
zu Fuß zu gehen. Ein weiterer Versuch, Zeit zu gewinnen. Die Straßen waren leer, obwohl<br />
Freitag war. Ironischerweise war die heutige Nacht, ihre Hochzeitsnacht, die erste Nacht, in<br />
der sie beide in der Wohnung schliefen. Lise war vor zwei Wochen eingezogen, aber Mike war<br />
noch am selben Tag raus zu seiner Mutter gefahren, wo er eine Woche bleiben wollte. Es<br />
wurden 10 Tage daraus und in seiner verschlossenen Art ließ er auch nicht erkennen wieso.<br />
Vorvorgestern war er zurückgekommen, hatte dann die ganze Nacht auf einer Party verbracht<br />
und war erst schlafen gegangen, als Lise schon auf dem Weg ins „Cult“ gewesen war. Von<br />
vorgestern bis heute war er mit seinen Freunden auf einem Festival gewesen und erst heute<br />
zurückgekommen, kurz bevor sie aufs Standesamt gegangen waren. Er hatte ihre Hochzeit<br />
zwischen einem Rockkonzert und einem beruflichen Termin am Nachmittag eingeschoben.<br />
Lise bog in die Straße ein, wo sie zusammen wohnten. Bei jedem Schritt, der sie der Haustür<br />
näher brachte, starrte sie auf die Häuserfassade, um zu erkennen, ob noch Licht aus ihrer<br />
Wohnung schien. Sie strengte sich an, aber der Winkel war noch zu spitz, um es zu erkennen.<br />
Erst als sie schon direkt vor dem Hauseingang stand, sah sie, dass es dunkel war. Vielleicht<br />
schlief er schon.<br />
Lises Freitag<br />
26
Ihre Zielstrebigkeit, eine legale Bewohnerin dieses Landes zu bleiben, hatte sie etwas Wichtiges<br />
vollkommen übersehen lassen. Mikes Wohnung bestand, das Badezimmer nicht mitgerechnet,<br />
aus nur 2 Zimmern. Wohnzimmer und Küche bildeten eine Einheit, das Schlafzimmer war<br />
gerade so groß, dass ein Doppelbett, ein Schrank und ein Nachtkästchen hineinpassten. Wie<br />
zum Teufel hatte sie es übersehen können, die vollkommen verständliche Frage zu stellen?<br />
Ihre Entschlossenheit, nicht aus dem Land geworfen zu werden, hatte sie überschminkt,<br />
obwohl sie wie ein riesiger Makel in Lises Plan zu sehen war. Wo sollte sie schlafen? Auf der<br />
Couch? Jahrelang? Ein zusätzliches Bett hatte nirgendwo Platz.<br />
Das war das erste Zeichen gewesen. Er hätte es von Anfang an wissen müssen, er hätte es<br />
ihr doch verdammt noch mal sagen müssen. Wie konnte er nur einfach annehmen, es wäre<br />
ganz normal, wenn sie dasselbe Bett teilen würden, auch wenn es groß genug war? Jedem<br />
vernünftigen Menschen, der eine Abmachung wie die ihre getroffen hatte, musste dieses<br />
Problem doch sofort ins Auge springen. Es fiel wohl nicht unter die Gewohnheiten von<br />
Wohnungsgenossen, im selben Bett zu schlafen, nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt.<br />
Das tat man doch nicht, außer man erhoffte sich etwas davon. Als sie es gemerkt hatte, waren<br />
ihre Kartons schon im Vorzimmer gestanden und als sie ihn danach fragte, meinte er so ruhig<br />
wie immer, sie müssten wohl beide im Bett schlafen. Er hatte es so gesagt, als ob er ihr eröffnet<br />
hätte, dass sie leider die gleiche Bratpfanne benutzen müssten. Wie konnte er das nur so<br />
gelassen sehen?<br />
Lise öffnete die Tür, drückte auf den kleinen roten Punkt und das Stiegenhaus war erleuchtet.<br />
Sie wohnten im zweiten Stock, es gab keinen Aufzug. Leise drehte sie den Schlüssel in der<br />
Wohnungstür um, betrat ganz langsam den dunklen Raum und achtete darauf, dass die Tür<br />
beim Zumachen nicht quietschte. Sie blieb für eine Sekunde ganz still stehen und lauschte.<br />
Der Kühlschrank surrte, sonst war nichts zu hören. Im Dunkeln stellte sie ihre Tasche ab und<br />
zog ihre Schuhe aus. Sie stellte sie ganz sachte auf den Boden und schlich auf Zehenspitzen<br />
durch das Vorzimmer. Man hätte meinen können, sie wäre eine Einbrecherin und keine<br />
Bewohnerin. Sie machte kein Licht, durchquerte das Wohnzimmer mit der Kochnische aber<br />
ohne Probleme. Langsam ging sie um den Tisch herum und befand sich nun direkt gegenüber<br />
der Tür zum Schlafzimmer. Sie zögerte. Aber nur kurz. Sie legte die Hand auf die Klinke und<br />
drückte sie nieder.<br />
Das zweite Zeichen könnte man als Missverständnis interpretieren. Am Tag, als Mike von seiner<br />
Mutter zurückgekehrt war, war sie gerade im Bad gestanden und hatte sich nach einer Dusche<br />
abgetrocknet. Er war zur Wohnungstür hineingekommen, hatte die Tür zum Badezimmer<br />
geöffnet und war direkt reingegangen. Lise hatte gerade ihr Gesicht getrocknet und das lange<br />
Badetuch war vor ihr bis auf den Boden hinuntergehangen und hatte so jede Sicht versperrt,<br />
aber das war ein glücklicher Zufall gewesen. Sicher, sie hätte die Tür absperren können, aber<br />
wieso war er einfach so hereingekommen? Er hätte sich doch ausrechnen können, dass sie<br />
im Bad war, wenn die Tür nicht offen stand. Und man ging ja wohl nicht einfach ins Bad, wenn<br />
man wusste, dass jemand anderen Geschlechts drin stand. Außer man wollte die Chance<br />
nutzen und einen Blick auf etwas werfen. Gut, er hatte sofort kehrtgemacht und hatte sich<br />
danach sofort entschuldigt, trotzdem aber kam es Lise vor, als ob das kein Einzelfall bleiben<br />
würde.<br />
Sie öffnete die Tür und trat ins Schlafzimmer. Sie lehnte die Türe nur leicht an und ging vor<br />
zum Schrank. Als sie das glatte Holz mit ihrer Hand zu fassen bekam, hielt sie inne und lauschte.<br />
Da, ganz leise, fast nicht wahrnehmbar, hörte sie Mikes Atemzüge. Ruhig und regelmäßig. Der<br />
Schrank hatte eine Schiebetür, die ziemlich schwer war. Lise wusste, dass das Geräusch der<br />
Haftreibung unvermeidlich war, wenn sie sie öffnete. Als sie es tat, erschrak sie fast, so laut<br />
war es. Erschrocken hielt sie inne und wartete auf eine Reaktion. Aber es geschah nichts. Lise<br />
tastete nach ihrem Pyjama, ließ die Schranktür offen und verließ das Zimmer. Sie ging ins Bad<br />
Lises Freitag<br />
27
und schaltete das Licht ein. Diesmal sperrte sie sich ein, das letzte Erlebnis hatte sie vorsichtiger<br />
gemacht. Während sie ihre Kleider ablegte und den Pyjama anzog, während sie die Zähne<br />
putzte und ihr Gesicht wusch, dachte sie daran, dass das dritte Zeichen nicht mehr als<br />
Missverständnis gedeutet werden konnte. Während Mike auf irgendeiner Wiese einer unbekannten<br />
Band zugehört und einen Joint geraucht hatte, war sie in der Wohnung auf der Suche nach<br />
einem Taschentuch gewesen und hatte das Nachtkästchen geöffnet. Dort hatte sie sie gesehen.<br />
Kondome. Ganz neu gekauft, sogar das Preisschild war noch drauf. War das ein weiterer<br />
Zufall? Hatten nicht alle Männer irgendwo immer Kondome auf Lager? Aber wieso sahen sie<br />
so neu gekauft aus? Verschloss sie nicht die Augen vor der offensichtlichen Tatsache, dass<br />
Mike ganz genau wusste, warum er sie geheiratet hatte? Weil er sie damit erpressen konnte?<br />
Lise fröstelte. Sie könnte auch auf der Couch schlafen, zumindest diese Nacht. Aber das wäre<br />
nur der Aufschub für etwas gewesen, was aufgeklärt werden musste. Sie nahm ihre Kleider,<br />
löschte das Licht im Bad und betrat das Schlafzimmer. Nachdem sie die Kleider lautlos im<br />
Schrank verstaut hatte, ging sie vorsichtig auf ihre Seite des Bettes. Sie warf die Decke zurück,<br />
so langsam wie nur möglich. Sie setzte sich auf die Bettkante, schwang ihre Beine langsam<br />
auf das Bett und steckte sie unter die Decke. Dann legte sie ihren Kopf auf das Kissen und<br />
wartete. Nichts geschah. Er schlief, dachte sie.<br />
„Lise“, hörte sie dann seine Stimme durch das dunkle Zimmer dringen. Jetzt war es soweit,<br />
jetzt würde sie für ihre Naivität bezahlen, so wie sie es in der Vergangenheit schon öfter getan<br />
und sich immer wieder dafür verabscheut hatte. Sie antwortete nicht sofort und er sagte wieder<br />
ihren Namen. „Lise, schläfst du schon?“ Ein trockenes Nein kam ihr über die Lippen. Jeden<br />
Moment konnte es passieren. Vielleicht würde er es direkt aussprechen, sie vielleicht zu etwas<br />
Bestimmten auffordern, sie einfach nur unter der Decke berühren oder sich gleich zu ihr hin<br />
rollen.<br />
„Ich dachte nur, ich sollte dir Bescheid sagen. Ich werde in Zukunft nicht sehr häufig hier<br />
schlafen. Wahrscheinlich ist dir das sogar lieber.“ In Lise verwandelte sich die Spannung in<br />
Etwas, das sie noch nicht definieren konnte.<br />
„Es ist so: Ich habe da jemanden kennen gelernt und wir verstehen uns ziemlich gut. Ich werde<br />
sehr oft bei ihr übernachten. Ich war auch letzte Woche bei ihr, nachdem ich meine Mutter<br />
besucht hatte. Nicht auch zuletzt, weil sie nicht gerade begeistert ist, dass ich ein Bett mit<br />
einer Frau teile. Morgen sehen wir uns auch. Wir gehen ins Schwimmbad.“<br />
Lise drückte ihr Verständnis dafür aus und es klang, als ob ein Roboter die gewünschte Antwort<br />
liefern würde. Sie wünschten sich noch beide eine gute Nacht und dann hörte sie außer seinen<br />
Atemzügen nichts mehr von ihm.<br />
Das wirklich Seltsame daran war, dass Lise keine Erleichterung empfand. Sie spürte Enttäuschung.<br />
Wollte sie plötzlich doch, dass er Hintergedanken hatte? War sie gekränkt, weil er die Kondome<br />
nicht für sie sondern für jemand anders gekauft hatte? Wieso war sie nicht glücklich darüber,<br />
in Zukunft die Wohnung für sich alleine zu haben? Wieso fühlte sie sich plötzlich einsam? War<br />
es nicht das, was sie gewollt hatte? Dann überfiel sie ein Gefühl von Lächerlichkeit und sie fing<br />
an, sich wieder zu schämen, dafür, dass sie sich so etwas eingebildet hatte. Das kleine Mädchen<br />
hatte Angst gehabt. Armes, kleines Mädchen.<br />
Lise lag in ihrer Hälfte des Bettes und kämpfte mit sich selber. Es war wie ein inneres Kribbeln,<br />
eine Art von Wut und Ärger, der in ihr aufstieg und es unmöglich machte, an irgendwas anderes<br />
zu denken. Warum in Gottes Namen kämpfte sie nicht gegen ihre Ohnmacht an? Warum stand<br />
sie jeden Tag auf und tat etwas, was sie nicht wollte? Warum war es so schwer, das, was sie<br />
mit solchem Enthusiasmus angefangen hatte, zu Ende zu führen? Wenn sie ihren Sohn jeden<br />
Tag so vermisste, warum schmiss sie dann hier nicht alles hin und kehrte zurück? Irgendeinen<br />
Job würde sie da unten schon machen können und im Notfall könnte sie auch von ihrer<br />
Lises Freitag<br />
28
Verwandtschaft leben und im Gegenzug deren Häuser putzen und Essen kochen. Wäre das<br />
nicht ein kleiner Preis dafür, dass sie jeden Tag Milan selbst zum Kindergarten bringen könnte?<br />
Und überhaupt, wenn ihr wirklich so daran gelegen war, ihr Studium abzuschließen oder<br />
wenigstens öfters nach Hause fahren zu können, warum suchte sie sich nicht irgendeine Arbeit,<br />
die sie nicht derart mental verkrüppelte und jegliche Konzentration auf etwas anderes unmöglich<br />
machte? Sie war schließlich mit einem Einheimischen verheiratet, genoss alle Rechte und war<br />
nicht dumm. Es war ja nicht so, dass sie sich prostituieren hätte müssen wie viele andere<br />
Immigrantinnen. Obwohl eigentlich auch das akzeptabel wäre, so wie alles akzeptabel wäre,<br />
diente es nur einem guten, höheren Zweck, oder? Sie schlug die Decke zurück und stand auf.<br />
Mike war glücklicherweise schon eingeschlafen und schien sehr schwer aufzuwecken zu sein.<br />
Das Letzte, was Lise jetzt gewollt hätte, wäre, erklären zu müssen, was sie so spät in der<br />
Nacht nach so einem langen Tag noch vorhabe. Sie verließ das Schlafzimmer, machte leise<br />
die Tür zu und ging in die Küche. In dem Altpapierstapel kramte sie nach irgendeiner Zeitung<br />
von heute, auch eine gestrige würde es tun. Sie setzte sich damit an den Küchentisch und<br />
schlug die Stellenanzeigen auf. Irgendwo musste sie ja anfangen.<br />
Eine Tasse Tee und 40 Minuten später brachen die Linien, die die Anzeigen einrahmten, auf,<br />
verbanden sich mit anderen, blähten sich auf oder verschwanden ganz im Wald der Buchstaben.<br />
Die drei Anzeigen, die jetzt rot eingerahmt waren, blieben ihr im Augenwinkel noch sichtbar,<br />
so wie eidetische Abbildungen einer Taschenlampe im Dunkeln. Sie legte ihren Kopf auf ihre<br />
Unterarme und schloss die Augen. Fünf Minuten, länger wollte sie nicht rasten, denn sie hatte<br />
sich fest vorgenommen, noch die gesamte Zeitung durchzuackern. Schon drei Minuten später<br />
sollte sie tief schlafen, mit dem Kopf am Küchentisch, und das Letzte, was sie noch in vollem<br />
Bewusstsein denken sollte, war, dass morgen Samstag wäre. Was hieß hier morgen, heute<br />
war Samstag. Es war Wochenende. Heute, während Mike einen unbeschwerten Tag mit seiner<br />
neuen Freundin erleben, mit ihr im Wasser albern und Eis auf der Liegewiese essen würde,<br />
während Drago nach einer Woche Arbeit mit zukünftigen Werbeträgern für Sportschuhe eine<br />
naive junge Frau auf einem Fitness-Event beeindrucken würde, und während Milan von seiner<br />
Großmutter auf einer Landkarte gezeigt bekommen würde, wo sein Vater sei, würde es für<br />
Lise ein ganz normaler Werktag sein. Sie würde am Vormittag versuchen, ein bisschen zu<br />
lernen, und am Nachmittag ins „Baja California“ gehen. Danach würde sie todmüde heimkommen<br />
und ins Bett fallen. Und kurz vor dem Einschlafen würden sich noch ein paar Fragen in ihr<br />
Gehirn schleichen, die sie als letzte Bilder des Wachzustandes in den Tiefschlaf begleiten<br />
würden, genauso wie jetzt. Zum Beispiel, was Milan heute wohl den ganzen Tag getan hatte.<br />
Oder ob sie mit ihrem Abschluss eine Arbeit finden würde. Und welche Temperatur das Meer<br />
daheim jetzt hatte.<br />
Lises Freitag<br />
29
siebenuhrdreißig ff<br />
Yvonne Giedenbacher<br />
manchmal frag ich mich aber schon, was das soll.<br />
und was soll das wieder heißen.<br />
derartiges weckt für gewöhnlich das allgemeine interesse. drei rufzeichen am ende eines satzes,<br />
am schluss die stimme ein klein wenig in die höhe, und schon haben wir den salat – eben drei<br />
rufzeichen und ein fragezeichen. die beliebte variante einer satzzeichenkaskade, die einem in<br />
emails die einzelnen fäden aus dem nervenkostüm – besonders fein gesponnen an manchen<br />
tagen (abgabetermin projektpräsentation redaktionsschluss) – ziehen kann. fast so schlimm<br />
wie wortteile, wörter oder ganze sätze, die dir in großbuchstaben entgegenschreiben, dass<br />
da jemand will, fordert, befiehlt, anschafft und dich im schlimmsten fall auch noch dafür bezahlt<br />
– wenn auch nur ganz selten aus der eigenen tasche – das zu tun, was du aus vernunft,<br />
vorauseilendem gehorsam, firmeninteresse oder sachzwang vielleicht sowieso getan hättest<br />
aber so, d. h. in großbuchstaben, noch viel besser weil lauter lesen kannst als in den<br />
emailgewöhnlichen sklavisch kleinen oder in der retro kombination aus groß und klein. vom<br />
pluralis majestatis brauchen wir da gleich gar nicht reden. aber schluss damit. kein thema für<br />
siebendreißig und einen nüchternen magen.<br />
worum es hier eigentlich geht: nicht email, sondern ubahn. die stimme der frau auf dem platz<br />
vor dir oder die luft zwischen dir und der frau auf dem platz vor dir das medium. insgesamt<br />
gesehen also alles nicht so schlimm. halb so wild. hauptsächlich deshalb, weil es einen, um<br />
ehrlich zu sein, nicht wirklich betrifft. schlimmer noch: weil es einen ganz genau genommen<br />
überhaupt nichts angeht und, nur am rande mitgehört mitgekriegt, dazu herausfordert, doch<br />
ein wenig genauer hinzuhören, um halb gelangweilt halb entzückt – ziemlich fifty fifty vielleicht<br />
achtundvierzig zu zweiundfünfzig (max.) – am leben ganz privat der mitfahrgäste teilzuhaben.<br />
jetzt aber zu meiner und ihrer aller verteidigung: das ganze war einfach nicht zu überhören.<br />
selbst wenn man gewollt hätte.<br />
machmal frag ich mich aber schon, wer sich um siebendreißig aus der ubahn durch ein handy<br />
mit drei ruf- und einem fragezeichen anreden lässt. und so fiebere ich gleich ein wenig mit,<br />
ganz ohne die notwendige distanz zu den von mir erfundenen figuren. sie auf dem platz vor<br />
mir unterwegs ins büro. er am anderen ende der leitung in der ubahn auf dem weg in die<br />
andere richtung. für beide gilt: zwanzig bis dreißig emails pro tag – jeweils in und out box<br />
selbstverständlich, präsentation in powerpoint, zwischen zwei und drei besprechungen,<br />
dazwischen die überschriften in den onlinezeitungen überflogen, sieben bis acht telefonate,<br />
darunter maximal ein privates (wechselnde aufgabenstellung mit hoher eigenverantwortung,<br />
kreatives projektbezogenes arbeiten in einem jungen unternehmen, regelmäßige weiterbildung,<br />
interessantes entlohnungsmodell, kommunikation mit einem globalen einkaufsteam)<br />
an dieser stelle der dramatische höhepunkt. denn genau hier teilten sich gestern abend die<br />
parallelen geschehen. sie: heim und nichts als raus aus den verdammten schuhen, zweihundert<br />
euro das paar. er: after work clubbing mit den zwei kollegen aus dem einkauf. von unterwegs<br />
noch die frau auf dem platz vor mir, seine freundin also, angerufen. und als diese einiges wissen<br />
will, z. b. ob er am abend ein wenig vorbeischaue, kontert er entsprechend (siehe weiter oben<br />
ad after work clubbing). unter der woche? durchaus ein bisschen lauter als sonst, obwohl<br />
auch sonst nicht gerade leise – immerhin muss sie am anderen ende des besprechungstisches<br />
siebenuhrdreißig ff<br />
30
auch noch verstanden werden – brüllt sie ihm also praktisch ins ohr. und dann, wie das amen<br />
im gebet, kommt das volle programm: erstens das schweigen in der leitung, und zweitens das<br />
du musst ja selbst wissen, was du tust. darauf die eine antwort (was du immer hast), die andere<br />
(wann denn sonst als unter der woche) von ihm gerade noch zurückgehalten, aufgelegt.<br />
achtzigtausend meilen unter das meer abgetaucht, wieder aufgetaucht und sich abgeschüttelt<br />
wie ein nasser hund. stimmt’s?<br />
wenn nicht, zumindest gut erfunden. aber jetzt zurück ins hier und jetzt. und was soll das<br />
wieder heißen. die antwort darauf ist er schon einige zeit schuldig, wobei im moment etwas<br />
ganz anderes erstaunt: selbst im zustand milder wut bewegt sich kein einziges haar aus ihrer<br />
frisur, für die sie sich auch in einem shampoomitconditionerspot nicht verstecken bräuchte.<br />
ganz ehrlich: nicht ein einziges haar verlässt die militärisch samtig weiche ordnung. inzwischen<br />
ist die zeit natürlich nicht stehen geblieben, und sie hat sich und ihn anscheinend schon genug<br />
gefragt. die sache mit dem after work clubbing ohne sie ist auch geklärt – wobei für alle<br />
anderen, unter uns gesagt, offen geblieben ist, wer die beiden aus dem globalen einkaufsteam<br />
waren und was denn eigentlich after work genau passiert ist. unser neid gilt in diesem fall den<br />
fahrgästen in die andere richtung.<br />
ein handy ist siebeneinunddreißig schnell zugeklappt, wenn man wütend ist. ohne den<br />
abschiedsgruß – z. b. okay [pause], dann machs gut – fast noch ein wenig schneller. und nicht<br />
nur schnell, sondern auch überaus dezent und wenig theatralisch, weil das geräusch des auf<br />
die gabel geschmissenen hörers – man kennt es aus alten filmen – von einem kleinen eleganten<br />
klick oder klapp abgelöst wurde. nicht einmal ein genervtes du ich muss jetzt aufhören, nur<br />
für den fall, dass die wut am nachmittag schon etwas verraucht ist und man mit dem gestus<br />
informierter versöhnung irgendetwas mit abgebrochener verbindung, ungenügender<br />
netzabdeckung, ich denke schon länger daran den anbieter zu wechseln in ein email oder eine<br />
ecard schreiben möchte. während wir alle wissen, was wirklich los ist, denn jetzt starrt sie aus<br />
dem fenster und blickt durch sich selbst, also ihre spiegelung, hindurch an die vorbeifahrenden<br />
tunnelwände. als das handy zirpt, wird in erwartung des wiederkommenden erstens kollektiv<br />
die luft angehalten und zweitens die erwartungen ebenso kollektiv enttäuscht. nur ein blick auf<br />
das display und dann gleich ab in die mailbox.<br />
siebenzweiunddreißig: tür auf, mind the gap, raus aus der bahn, und rein ins getümmel – immer<br />
nur den anderen nach. zug fährt ab, und wir ruckzuck an ihr vorbei. kein haar bewegt sich.<br />
alles was jetzt noch kommt, der traurige rest nämlich, ist frei erfunden: exzellente perspektiven<br />
in einem sicheren wachstumsmarkt. auf einer der rolltreppen nach oben und mit der nächsten<br />
raus aus der station, direkt ins gleißende licht. flieg.<br />
siebenuhrdreißig ff<br />
31
Etwas von Paul<br />
Hans-Ulrich Gössel<br />
Paul öffnet die Augen und wir sehen ihn an. So stellt Paul sich das vor. Es geht hier um Liebe<br />
und jetzt fangen wir an davon zu erzählen, weil etwas passiert ist, was soll man schon sagen,<br />
wir sind hier nicht in Paris oder Afrika, aber manchmal ergeben sich Dinge und wir sind jetzt<br />
plötzlich zu dritt. Der schöne Mensch kniet vor dem Coder auf dem Fußboden und der Coder<br />
schlägt mit einer Peitsche auf ihn ein, tack und tack, wie ein Uhrwerk, das auf der nackten<br />
Haut des schönen Menschen tickt. Paul steht an der Theke neben der Barfrau, die sehr große<br />
Brüste besitzt. Im abgedunkelten Licht sind die Konturen ihres Gesichtes sehr weich geworden,<br />
die Haare sehr dunkel, die Haut sehr blass. Paul streichelt zärtlich über ihre großen Brüste und<br />
sie flüstert ihm zu, dass sie es einfach großartig findet, was hier passiert.<br />
„Tut es weh?“, fragt der Coder den schönen Menschen, während er ihn peitscht.<br />
„Ein bisschen.“<br />
„Willst du, dass ich weitermache.“<br />
„Ja, sehr.“<br />
Im abgedunkelten Licht des Lokals sind wir die letzten Gäste. Die Barfrau hat die Eingangstür<br />
schon vor Stunden geschlossen. Draußen vor der Eingangstür liegt der langhaarige Barkeeper,<br />
er blutet ein bisschen. Vielleicht schläft er, vielleicht ist er schon tot. Draußen wird es bald hell<br />
werden. Drinnen riecht es nach abgestandenem Rauch. Wir alle finden es großartig. Wir sehen<br />
Paul. Wir sehen uns an.<br />
„Wie heißt du?“, fragen wir.<br />
„Ich bin Paul“, sagt Paul.<br />
Und wir anderen? Wer sind wir?<br />
„Paul, wir gehören zusammen. Wir gehören zu dir.“<br />
Im abgedunkelten Licht des Lokals ist die Zeit nicht vergangen, ist es noch wie Stunden zuvor.<br />
Abends nach der Arbeit war Paul in dieses Lokal gekommen, um etwas zu trinken, um ein,<br />
zwei Zigaretten zu rauchen. Er hatte sich an einen der hinteren Tische gesetzt, sich eine<br />
Zigarette angezündet und, was soll man schon sagen, Paul schloss die Augen einen Moment<br />
und wir warteten ab, was weiter passiert.<br />
„Paul?“<br />
Der schöne Mensch stöhnt. Die Barfrau seufzt leise.<br />
„Es ist jetzt genug.“<br />
Paul drückt seine Zigarette aus und der Coder legt die Peitsche zur Seite. Dann ist es einen<br />
Augenblick still. Der Coder umarmt den schönen Menschen lautlos, streicht ihm durch die<br />
Haare, über die glatt rasierte Brust, ganz vorsichtig, ganz zart. Dann blicken sie sich wieder<br />
in die Augen. Sie küssen sich und die Barfrau seufzt nochmals leise. Das alles ist einfach<br />
unglaublich romantisch. So stellt Paul sich das vor.<br />
Es geht hier um Liebe und jetzt haben wir einen Anfang gemacht, wir hier und dort, überall<br />
und gleichzeitig, die Dinge ergeben sich, es geht so dahin und wenn wir wollen, können wir<br />
versuchen, darin eine Ordnung zu finden. Wir sehen Paul an und jetzt also kommt das, was<br />
am Anfang passiert:<br />
Der Wecker klingelt, es ist kurz vor sieben Uhr, Paul öffnet die Augen und betrachtet die Welt.<br />
Er liegt in seinem Bett und die Barfrau liegt irgendwo anders, wir wissen nicht wo. Er wird sie<br />
erst am Abend kennen lernen und vielleicht schläft sie jetzt noch oder vielleicht auch läuft sie<br />
an ihm vorüber, wenn er aus dem Haus geht und in einen Autobus steigt. Der Bus hält an und<br />
fährt ab. Menschen steigen ein und aus und man kann sich ja denken, die Wege und Menschen<br />
verzweigen sich, sie kreuzten sich und queren, die Menschen laufen aneinander vorüber und<br />
Etwas von Paul<br />
32
nur die Autobusse fahren immer im Kreis. Paul ist auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz. Dort<br />
setzt er sich vor seinen Computer, acht bis fünf Uhr, programmiert einen Code und beginnt<br />
ein Rädchen in einem größeren Rädchen zu sein, das ein Teil von einem Rad ist, das ein großes<br />
Rad dreht, tack und tack. Über seinem Schreibtisch hängt eine leise tickende Uhr.<br />
Wir sehen Paul an und jetzt kommt das, was passiert.<br />
Der Wecker klingelt, es ist kurz vor sieben Uhr und in der Welt, die rund um Paul herum existiert,<br />
geschehen Dinge gleichzeitig und überall, was soll man schon sagen, wir sind hier nicht in<br />
Afghanistan oder Tokio, aber vieles ist möglich und wir wissen nicht, was sonst noch alles<br />
passiert. In der Wüste Gobi verdurstet in diesem Augenblick ein chinesisches Pferd, in Panama<br />
fällt ein Tautropfen von einem Blumenblatt, das sich in die Sonne dreht, hier oder dort, irgendwo<br />
im selben Augenblick auf dem großen Ozean schwimmt ein kleines Boot, darin stechen sich<br />
zwei Feinde gegenseitig Messer ins Herz und fallen sich sterbend um den Hals, hier oder dort,<br />
irgendwo im selben Augenblick weint ein allein gelassenes Kind und ein alter, fast schon<br />
erblindeter Mann am anderen Ende der Welt hört ein leises Geräusch. Er setzt sich seine Brille<br />
auf und sieht, wie die Welt vor seinen Augen verschwimmt.<br />
Paul öffnet die Augen und betrachtet die Welt.<br />
Es ist ein Tag wie andere auch, acht bis fünf, die Uhr tickt leise, er sitzt an seinem Arbeitsplatz<br />
programmiert einen Code, alles hier, alles überall und die Welt, in der wir Paul sehen, ist nur<br />
ein Teil von einem Rad, das ein großes Rad dreht. Vor seinem Computer sitzend kann Paul<br />
uns nicht sehen, aber er weiß, dass es uns gibt. Erst später, gegen fünf Uhr, erst wenn er<br />
aufsteht, wenn er wieder in den Bus steigt und der Abend beginnt, werden wir uns treffen, erst<br />
wenn er in das nächstgelegene Lokal geht, um etwas zu trinken, ein Bier vielleicht, um etwas<br />
rauchen, ein, zwei Zigaretten vielleicht. Jetzt ist es fast schon so weit. Wir warten nur noch<br />
auf ihn.<br />
Paul weiß, dass es uns gibt.<br />
Später in dem Lokal setzt er sich an einen der hinteren Tische. Noch ist nichts passiert. Wir<br />
sind seine Freunde, wir gehören zu Paul, aber noch sieht er uns nicht. Er blickt durch das<br />
Lokal und sieht einige Tischgruppen und eine Theke, hinter der eine Barfrau und ein langhaariger<br />
Barkeeper stehen, einige Gäste, fünf oder sechs, die herumsitzen und etwas tun. Leise Musik<br />
rinnt aus den Musikboxen über die Wände, tropft auf den Fußboden, füllt dessen Ritzen,<br />
verschwimmt. Er spürt die Müdigkeit, tack und tack, aber alles kann sich ändern, von einem<br />
Tag, einem Moment auf den anderen, jeden Tag, jeden Moment. Wir wissen, bald ist es soweit.<br />
Paul bläst den Rauch seiner Zigarette langsam zwischen den Lippen hervor. Er legt den Kopf<br />
in den Nacken und sieht zu wie der Zigarettenrauch höher steigt. Er macht die Augen einen<br />
Moment zu und man kann sich vorstellen, was sonst noch alles passiert. Ein kanadischer<br />
Braunbär kratzt sich hinter dem Ohr, irgendwo, hier oder dort, ein Flusskrokodil öffnet gelangweilt<br />
das Maul, irgendwo hoch in den Bergen fällt ein einzelner Regentropfen steil aus dem Himmel<br />
herab und zwinkert ein kreisender Adler seiner Beute von weitem schon zu. Dann geht alles<br />
sehr schnell. Plötzlich steht die Barfrau vor Paul an seinem Tisch.<br />
„Willst du bestellen?“<br />
Wörter und Stimmen, greifen, die Barfrau, vermischen, die Bar, Gedanken, sieht er, ist es,<br />
sehen wir, alles wie, zwischen uns, und Gestrüpp. Paul sieht sie an. Wir spüren, dass in seiner<br />
Welt etwas passiert.<br />
„Paul?“<br />
Etwas.<br />
„Paul?“<br />
Passiert.<br />
„Hörst du uns zu?“<br />
Stimmen und Wörter greifen ineinander, vermischen Gedanken, sieht er die Barfrau, sehen wir<br />
Etwas von Paul<br />
33
die Bar und ist alles zwischen uns wie Gestrüpp. Jetzt ist etwas passiert. Der Coder ist da und<br />
der schöne Mensch ist da, von einem Augenblick auf den anderen, Paul ist da. Plötzlich sind<br />
wir zu dritt.<br />
„Wollt ihr bestellen?“<br />
Die Barfrau steht vor ihm und Paul öffnet den Mund. Der Mund der Barfrau ist groß, die Lippen<br />
geschwungen, die Augen dunkel, ihre Brauen schmal. Was trägt sie für ein Kleid? Wonach<br />
riecht ihr Parfüm? Mag sie Blumen? Ist sie vorbestraft? Verheiratet? Jungfräulich? Was singt<br />
sie für Lieder, wenn sie nachts allein unter der Dusche steht? Paul spürt, dass sich in seinem<br />
Bauch etwas bewegt. Dann will er davonlaufen. Dann will er sie küssen. Er bringt alles<br />
durcheinander, Welt innen und außen, tack und tack. Der Mund der Barfrau atmet aus, Pauls<br />
Mund atmet ein und was soll man schon sagen, wir sind hier nicht im Märchen oder im<br />
Hollywoodfilm, aber Dinge passieren und wir stellen uns jetzt Folgendes vor:<br />
Die Barfrau verliebt sich in Paul, Paul verliebt sich in die Barfrau, es ist fast wie im Fernsehen,<br />
es gibt viele Programme, Dinge gleichzeitig und überall, aber wir wollen nicht weiterzappen,<br />
denken nur noch an das, was vor uns passiert. Wenn man liebt, ist man fürs Heiraten, spaziert<br />
man im Park herum und macht sich romantische Gedanken. Der Mann kauft der Frau ein Kleid<br />
und was sie sonst alles mag. Dann macht die Frau Frühstück mit Kaffee und Butter, der Mann<br />
geht in die Arbeit. Dann klingelt er und sagt: Ich bin wieder da. Die Frau nimmt ihn in die Arme<br />
und schon sind sie glücklich. Sie sagen sich, ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich, ich<br />
liebe dich so sehr, so sehr, so sehr, sehr, sehr, liebe ich, ich, ich, liebe, liebe, so, so, so und<br />
so dich. Im Fernsehen ist die Geschichte dann aus.<br />
„Willst du bestellen?“<br />
Paul sieht die Barfrau an und plötzlich sind wir zu dritt. Er stellt sich vor, was jetzt weiter passiert.<br />
„Wir möchten eine Flasche Whiskey, drei leere Gläser, drei Flaschen Cola, drei Flaschen Bier.“<br />
Die Barfrau sieht uns an und zögert ein bisschen. Sie ist noch sehr schüchtern. Paul und sie,<br />
sie haben sich gerade erst kennen gelernt und wir werden ihr jetzt erst einmal sagen, wer wir<br />
eigentlich sind.<br />
„Wir sind Freunde und gehören zusammen“, sagen wir gleichzeitig, „es geht hier um Liebe<br />
und wir möchten, dass du weißt, wer wir sind.“<br />
Dann stellen wir uns ihr vor. Der eine von uns ist der Coder, er ist ein Mensch mit geordnetem<br />
Chaos, ein abstrakter Freidenker, ein noch unbekanntes Genie. Er arbeitet zusammen mit Paul,<br />
während die Uhr am Arbeitsplatz leise tickt, so haben wir uns kennen gelernt, aber der Coder<br />
nicht als ein Rädchen im Rad, sondern als einer, der nicht programmierte, sondern selbst<br />
Programm war. Der Coder ist einer, der im Programm lebt, der an das Bell’sche Theorem<br />
denkt, an Fraktale und Chaos, während die Uhr leise tickt. Einer, der in die Welt blickt und die<br />
Schönheit von Julia-Mengen beschreibt, Phasendiagramme nachzeichnet und das Gödel’sche<br />
Theorem widerlegt, Schönheit durch Ordnung durch Chaos, Autopoiese. Er ist ein Genie, von<br />
dem noch niemand weiß.<br />
„Verstehst du?“, sagen wir gleichzeitig, „er ist einer wie wir.“<br />
Dann fahren wir fort. Der andere ist nämlich der schöne Mensch, ein Mann mit Weltbezug und<br />
einem Körper wie Werbung, das kann man ja sehen, aber nicht hohl, ein Mensch mit Leidenschaft<br />
und grundsätzlichen Fragen im Kopf. Er ist weit gereist und auch in Gedanken ohne Ort oder<br />
Zeit, so haben auch wir uns kennen gelernt, weil auch Paul sich für weite Reisen, grundsätzliche<br />
Fragen und schöne Gedanken interessiert, während er an seinem Arbeitsplatz sitzt. Der schöne<br />
Mensch ist ein Kosmopolit und Philanthrop mit vielen fremdartigen Sprachen in seinem Mund.<br />
Er ist Zuhörer, Beobachter und Liebhaber der Frauen, er hat Elefanten beritten, Löwen gezähmt<br />
und fast auch schon Drachen erschlagen. Der Coder, der schöne Mensch und Paul, wir sind<br />
zu dritt und Freunde seit langem, der eine anders als der andere, aber jetzt sind wir wieder<br />
Etwas von Paul<br />
34
zusammen, was soll man schon sagen, wie Blutsbrüder, Paul ist einer von uns. Er ist einer wie<br />
wir.<br />
„Ja?“, fragt die Barfrau.<br />
„Ja“, sagt Paul, „genauso ist das.“<br />
Jetzt weiß die Barfrau es auch. Dann bringt sie uns Whiskey, Gläser, Cola und Bier an unseren<br />
Tisch, weil wir ein Fest feiern: Es ist etwas mit Liebe passiert, wir haben uns wieder getroffen,<br />
wir Blutsbrüder, und die Barfrau weiß jetzt, wer wir sind. Das sind einige Gründe. Paul stellt<br />
es sich vor. Draußen wird es langsam dunkel, die Straßen werden ruhiger und die Busse fahren<br />
irgendwann leer durch die Stadt. Unser Lokal aber ist jetzt voller Leben, Menschen kommen<br />
und gehen und die Musik wird lauter, mischt sich mit ihren Stimmen, rinnt durch ihre Gesichter,<br />
tropft in ihre Gläser, während ein Gesicht mit dem anderen spricht. Wir trinken Whiskey mit<br />
Cola, nehmen dazwischen einen Schluck Bier. Der Abend hat gerade erst begonnen und wir<br />
wissen noch nicht, was sonst noch alles passiert. Die Barfrau steht hinter der Theke. Manchmal<br />
lächelt sie, manchmal blickt sie zu uns herüber. Wir sehen Paul und er sieht nur sie. Sie weiß,<br />
wer wir sind.<br />
„Wir werden jetzt etwas erleben“, sagt der schöne Mensch.<br />
Der Coder sagt: „Wir werden ein bisschen Schönheit und Chaos verbreiten.“<br />
Dann hält der schöne Mensch dem Coder die Whiskeyflasche über den Mund und denkt der<br />
Coder an Prädikatenlogik und die nichteuklidische Geometrie, während er trinkt. Er fühlt sich<br />
der Weltformel sehr nahe und der Rest der Whiskeyflasche entleert sich in einem Zug. Dann<br />
beginnt der schöne Mensch zu sprechen und findet passende Wörter, um die Freundschaft<br />
der Liebe, die Liebe der Freundschaft zu beschreiben. Wir sehen Paul und Paul sieht die<br />
Barfrau. Sie findet es wunderbar, was hier passiert. Es ist unglaublich romantisch. Wir bestellen<br />
noch Whiskey und Bier.<br />
„Ja“, sagt Paul, „genauso ist das.“<br />
Er ist jetzt betrunken und glücklich, trinkt sein Glas aus, steigt auf seinen Sessel, dann auf<br />
unseren Tisch. In der Welt, in der wir Paul sehen, passieren Dinge gleichzeitig und überall,<br />
irgendwo, hier und dort, aber wir betrachten nur noch Paul und die Barfrau und sehen nichts<br />
weiter, die Wüste Gobi, Panama, der große Ozean, ein Flusskrokodil und ein weinendes Kind,<br />
was soll man schon sagen, ein alter, fast schon erblindeter Mann am anderen Ende der Welt<br />
setzt sich seine Brille auf und sieht, wie die Welt vor seinen Augen verschwimmt.<br />
„Das sind meine Freunde“, sagt Paul auf dem Tisch stehend, „wir sind wie Blutsbrüder, wir<br />
feiern ein Fest.“<br />
Wir prosten Paul zu und er beginnt, vor uns zu singen. Die Menschen an den anderen Tischen<br />
drehen die Köpfe, sie lachen und sehen Paul an. Auf dem Tisch stehend, mit ausgebreiteten<br />
Armen singt er von den Augen der Barfrau, der Schönheit ihrer Wangen, ihrer Lippen, dem<br />
Duft ihrer Haut. Er sieht die Barfrau und die Barfrau sieht ihn. Jetzt weiß sie, dass er sie liebt.<br />
Es fehlt nur noch ein Chor, der mit einstimmt, weshalb der Coder sein Bier austrinkt, durch<br />
die Tischgruppen geht und die Arme wie Paul hebt, damit die Menschen mit ihm zu singen<br />
beginnen, in mehreren Chören, in Variationen, in Männer- und Frauenstimmen geteilt und alle<br />
verstehen, wie sehr die Liebe dem Wesen der Barfrau entspricht. Der Coder steht zwischen<br />
den Menschen, dirigiert nach einem mathematisch-musikalischen Takt und die Menschen sind<br />
glücklich. Wir bestellen bei der Barfrau noch mehr Whiskey und Bier. Als sie an den Tisch<br />
kommt, streckt Paul eine Hand nach ihr aus. Er berührt ihre Finger, zieht sie zu sich hinauf.<br />
Dann steht sie vor ihm. Sie atmet ein und atmet aus. Er spürt sie ganz nah.<br />
Das alles passiert jetzt.<br />
„Ja?“, fragt die Barfrau.<br />
Wir sehen Paul. So ist das. Wir sehen uns an.<br />
„Ja“, sagt Paul, „genauso ist das.“<br />
Etwas von Paul<br />
35
Die Barfrau findet es großartig, und wir blicken um uns und versuchen festzuhalten, was weiter<br />
passiert.<br />
Die Menschen heben die Arme, sie rufen Paul zu, er schüttet Bier in die Menge, wir alle gehören<br />
zusammen, das Blut fließt durch unsere Adern, wir sind glücklich, weil wir Blutsbrüder sind.<br />
Es ist ein Fest für uns alle, die anderen Menschen und Paul, die Barfrau und uns. Nur der<br />
langhaarige Barkeeper kann das Glück nicht begreifen. Er versteht nichts von Liebe und kommt<br />
an unseren Tisch. Dann beginnt er mit uns zu singen, aber es ist kein Singen, er schreit. Der<br />
schöne Mensch versucht eine Antwort in Form einer Verszeile mit anmutig klingenden Worten,<br />
der Coder skizziert eine Antwort in Form von mathematischen Formeln, es geht hin und her,<br />
Barkeeper, Coder, schöner Mensch, Coder, Barkeeper, aber er will nicht verstehen, er kann<br />
nicht begreifen, dass wir von Liebe reden und unsere Blutsbrüderschaft der Schönheit des<br />
Augenblicks dient. Wir alle gehören zusammen, sagen wir zu ihm, aber der Barkeeper schüttelt<br />
den Kopf, wir zeigen ihm Schnitte und Narben an unseren Händen, an den Pulsadern, wo<br />
unser Blut sich vereint, aber der Barkeeper will sich nicht freiwillig bekehren zu einem Verständnis<br />
der Dinge, die passieren, wenn Paul sich verliebt.<br />
„Hast du noch nie jemand ritzen gesehen?“ fragt der schöne Mensch, ohne noch weiter zu<br />
zaudern.<br />
Der langhaarige Barkeeper sieht uns verständnislos an. Also zieht der schöne Mensch eine<br />
Rasierklinge aus seiner Hose und die Schnitte sind kurz und fast ohne Schmerzen, das Ganze<br />
geht so: Wir halten den Barkeeper fest, drücken die Hände aneinander, der Barkeeper wehrt<br />
sich ein bisschen, das ist so üblich, dann wird er geritzt. Er blutet und es sieht aus, als ob er<br />
lacht. Vielleicht weint er. Dann wird er leiser und müde. Das alles geht schnell. Wir tragen ihn<br />
durch die singenden Menschen hindurch vor die Eingangstür und legen ihn hin. Er ist nicht<br />
sehr schwer. Wir bleiben nicht lange. Wir sind bald wieder zurück.<br />
Der schöne Mensch sagt: „Jetzt wird er verstehen.“<br />
Die Liebe ist ein einzigartiges Fest.<br />
Die Menschen tanzen. Einige schreien. Manche lachen und weinen. Sie berühren ihre Gesichter<br />
und Körper, greifen nach ihren Getränken, Haare streichen an Wangen, Hände fingern nach<br />
Händen, Augen fallen in Augen, fallen in Münder, Zungen berühren, ertasten, drehen sich im<br />
Takt der Musik. Die Barfrau und Paul sehen sich an. Dann lächeln sie. Dann sagt er etwas,<br />
sagt sie etwas, fragt er etwas, fragt sie etwas. Der Rest ergibt sich. Sie berührt sein Gesicht,<br />
streicht ihm über die Schultern, nimmt seine Hand. An die Müdigkeit des Barkeepers wird nicht<br />
mehr weiter gedacht.<br />
In der Musik sind die Körper der Menschen bald zu einem einzigen Körper zusammengewachsen,<br />
wie ein großes Tier mit unzähligen Gliedmaßen, das sich nach allen Richtungen streckt. Jemand<br />
trägt eine Peitsche bei sich, schlägt auf uns ein, wir spielen, zerren uns an den Haaren, wir<br />
küssen und schlagen uns gegenseitig, dann auf einzelne Teile des Tieres, das wir nun sind.<br />
Wir schließen die Augen und sind glücklich. Das ist jetzt alles. Was wir sehen, ist die Welt und<br />
was wir sehen, sind wir.<br />
„Tut es weh?“, fragt der Coder den schönen Menschen, während er ihn peitscht.<br />
„Ein bisschen.“<br />
„Willst du, dass ich weitermache.“<br />
„Ja, sehr.“<br />
Die Dinge greifen ineinander, überlappen, verknoten, fangen wiederum an. Später im<br />
abgedunkelten Licht des Lokals sind wir die letzten Gäste, es ist fast keine Zeit vergangen,<br />
aber außer uns bleibt nichts mehr zurück. Der schöne Mensch kniet vor dem Coder und das<br />
Uhrwerk des peitschenden Coders tickt auf seiner Haut. Dann küssen sie sich. Dann seufzt<br />
die Barfrau. Paul ist verliebt und hat nur Augen für sie. Wir kennen das ja. Drinnen riecht es<br />
nach abgestandenem Rauch und draußen vor der Tür liegt der langhaarige Barkeeper. Er blutet<br />
Etwas von Paul<br />
36
ein bisschen, vielleicht ist er schon tot. Die Augen weiß und groß sieht er uns an. So schön<br />
ist die Liebe. Paul stellt es sich vor.<br />
Jetzt sind die Dinge passiert und haben eine Ordnung ergeben. Jetzt haben wir etwas erzählt,<br />
ist alles voll Liebe und sind wir von den Zuständen der Dinge erschöpft. Paul bläst den Rauch<br />
seiner Zigarette zwischen den Lippen hervor. Er öffnet die Augen. Er betrachtet die Welt und<br />
es sind auch andere Möglichkeiten der Ordnung der Dinge erlaubt. Wenn er darüber nachdenkt,<br />
ist nicht alles genau so, wie es ihm scheint.<br />
Der langhaarige Barkeeper liegt nicht vor der Eingangstür. Paul ist sich sicher, dass er nicht<br />
stirbt. Der Barkeeper blutet nicht einmal, wir haben ihn gar nie geritzt. Paul hat es sich<br />
ausgedacht, um der Barfrau zu imponieren. Es war eine Lüge, wir geben es zu. Paul will<br />
niemanden töten. Er hat es aus Liebe getan. Die Barfrau versteht es. Sie gibt ihm einen Kuss<br />
und niemand weiß, niemand sieht, hört und riecht, was in diesem Augenblick auf dem Gipfel<br />
des Kilimandscharo, am Fuße der chinesischen Mauer, inmitten des Amazonas passiert. Pauls<br />
Herz aber explodiert. Jetzt ist es gleichzeitig und überall. Wir können nicht mit Worten<br />
beschreiben, was weiter passiert.<br />
Als Paul am nächsten Morgen auf dem Fußboden der Bar aufwacht, liegen wir neben ihm und<br />
reisen und programmieren, leben und lieben, schlafend am Fußboden der Bar, der Coder mit<br />
gekrümmtem Rücken, die Hände zwischen die Beine gepresst und der schöne Mensch Arme<br />
und Beine weit von sich gestreckt. Außer uns ist niemand in dem Lokal. Die Barfrau ist<br />
verschwunden. Es ist sieben Uhr. Paul steht auf, um zur Arbeit zu gehen. Er öffnet die Eingangstür<br />
und es ist still. Der Barkeeper liegt nicht vor der Tür, es gibt keine Menschen und keine<br />
Geräusche. Es fahren keine Busse im Kreis. Pauls Kopf schmerzt und er erkennt nichts wieder.<br />
Die Häuser sind fremd, die Straßen sind keine Straßen und die Stadt, in die Paul blickt, ist<br />
nicht die Stadt, die Paul kennt. Es dauert einen Moment, bis er begreift, dass er sich an einem<br />
Ort befindet, von dem wir nicht wissen, ob es ihn gibt.<br />
Paul dreht sich um und blickt zu uns zurück. Wir schlafen auf dem Fußboden der Bar und in<br />
unserem Traum stellen wir uns vor, dass es Paul gar nicht gibt. Wir sehen Paul an und Paul<br />
ist gar nicht da. Wir sind nur zu zweit in der Bar. In unserem Traum trinken wir ein Glas Bier<br />
und der langhaarige Barkeeper steht hinter der Theke und lächelt uns zu. Paul und die Barfrau<br />
hat es gar nie gegeben. In unserem Traum waren er und die Barfrau nur eine Idee. Wir haben<br />
sie uns ausgedacht, um die Schönheit des Augenblicks zu feiern. Paul wird uns verzeihen. Wir<br />
haben es aus Liebe getan. Paul stellt sich das vor. Dann lächeln wir im Schlaf und Paul sieht,<br />
wie die Welt vor seinen Augen verschwimmt.<br />
„Willst du bestellen?“<br />
Die Barfrau steht vor Paul. Der Mund der Barfrau ist groß, die Lippen geschwungen, die Augen<br />
dunkel, ihre Brauen schmal. Sie sieht Paul an und wir können uns nicht erklären, was in diesem<br />
Moment in Pauls eigener Welt alles passiert. Pauls Herz ist gleichzeitig und überall und plötzlich<br />
sind wir zu dritt, Paul und wir beide, der Coder und schöne Mensch, auch wenn wir in<br />
Wirklichkeit gar nicht da sind, wir beide, der Coder und schöne Mensch, nur für Paul existieren,<br />
wir drei zusammen als seine Idee. Paul hat sich uns nur ausgedacht, um der Barfrau zu<br />
imponieren. Sie selbst aber weiß gar nichts davon. Sie sieht Paul an und sieht nichts davon,<br />
Pauls Herz explodiert, es schlägt gleichzeitig und überall, aber in den Augen der Barfrau ist<br />
nichts passiert. Es ist ein Tag wie andere auch. Paul raucht eine Zigarette, der Rauch steigt<br />
hoch, und er schließt einen Moment lang die Augen. Irgendwann drückt er seine Zigarette<br />
dann aus und sind wir nur noch als Spuren vorhanden, als Gedanken, die sich Paul vorstellen,<br />
der sich vorstellt, dass es uns gibt. Das ist alles, was hier passiert. Es ist etwas mit Liebe, aber<br />
was soll man schon sagen, wir oder Paul, wir haben das alles erfunden, um etwas zu erzählen,<br />
Etwas von Paul<br />
37
aber die Welt, die wir sehen, streift nur die Oberfläche der Möglichkeiten, die wir sind. Paul<br />
sagt nur:<br />
„Ich hätte gerne ein Glas Bier.“<br />
Seine Hand greift in die Jackentasche, fingert wieder nach der Zigarettenpackung, während<br />
sein Mund schon die Lippen spitzt, die Hand schiebt die Packung auf, der Finger tastet hinein,<br />
eine neue Zigarette kommt raus, Feuerzeug auch, Nikotin füllt Lungen und das alles eins nach<br />
dem anderen, schon hängt der Rauch blaugelb in der Luft. Die Barfrau steht mit dem Bierglas<br />
wieder vor Paul, sie sehen sich an und die Dinge passieren in einer Einigkeit, von der Paul<br />
manchmal nur träumen kann. Er sieht wie die Welt vor seinen Augen wieder Konturen gewinnt.<br />
Dann ist das Leben einen Augenblick lang ganz einfach nur schön. Der Mund der Barfrau ist<br />
groß, die Lippen geschwungen, die Augen dunkel, ihre Brauen schmal. Sie stellt ihm das Bier<br />
auf den Tisch, lächelt und er lächelt zurück. Der Zigarettenrauch steigt an die Decke, zerbricht<br />
oder zerschmilzt. Paul schließt die Augen und als er sie wieder öffnet, ist vom Rauch nichts<br />
mehr zu sehen, hängt nur noch der Geruch in der Luft. Die Barfrau geht zurück hinter die<br />
Theke. Paul sitzt an einem der hinteren Tische. Er sieht die Barfrau und die Welt ist schön und<br />
groß und Pauls Herz schlägt mitten in sie hinein, was soll man schon sagen, wir sind hier nicht<br />
in Graz oder Usbekistan, aber Dinge passieren und Paul hat sich nun in die Barfrau verliebt.<br />
Er ist ein Teil dieser Welt und heute haben wir etwas davon erzählt. Morgen ist wieder ein<br />
anderer Tag. Morgen vielleicht wird Paul wieder etwas Großartiges erleben. Dann werden wir<br />
auch davon erzählen und das ist jetzt alles. Es ist eine Geschichte. Etwas von Paul. Er hat sie<br />
sich, uns sich ausgedacht. Und wir warten ab, was weiter passiert.<br />
Etwas von Paul<br />
38
Familienglück<br />
Nora Holländer<br />
Nachts träumt Tamara von Karsten. Dann sitzen sie zusammen an einem schönen Strand in<br />
der Abendsonne. Karsten schreibt Gedichte und Lieder, Tamara macht Skizzen, sie malt<br />
Karsten, wie er so dasitzt und schreibt. Sie streicht ihm die blonden Strähnen aus dem Gesicht,<br />
sie lehnt ihre Stirn an seine Schulter und wenn sie ihm sanft einen Kuss in den Nacken drückt,<br />
weil sie ihn nicht stören will, schmeckt die Haut nach Salz; wie das eben so ist am Meer.<br />
Oder sie fahren Rennrad in der Schweiz und in ihrem Traum ist Tamara viel schneller als Karsten<br />
und er ist stolz auf sie. Und dann essen sie Hüttenkäse auf einer Alpe.<br />
Manchmal träumt sie auch, wie es wäre, wenn Karsten zurückkäme, jetzt nachdem alles<br />
passiert ist. Wie es wäre, wenn sie eine Familie wären, wie es wäre, wenn Karsten jetzt plötzlich<br />
an der Tür klingeln würde.<br />
Im Traum findet Tamara es gar nicht so schrecklich, wie es ihr sonst vorkommt, dann ist es<br />
sogar richtig schön, mit Karsten und Timon zusammenzuleben und sie träumt, dass sie zu<br />
dritt in der kleinen Wohnung einen Kuchen backen zu Timons erstem Geburtstag. Einen<br />
Kirschkuchen, und Karsten hat die Augenbrauen voller Kuchenteig. Sie spucken die Kirschkerne<br />
um die Wette aus dem Dachfenster und Tamara ist auch ganz voller Kuchenteig, aber trotzdem<br />
sieht sie sehr schön aus, weil ihre Augen leuchten. Ihr Haar glänzt, sie ist ein bisschen rundlich<br />
um die Hüften, ihre Fingernägel sind nicht abgekaut und sie ist glücklich.<br />
Dann wacht Tamara auf. Da, wo früher Karsten gelegen hat, liegt jetzt ein riesiger Haufen<br />
ungebügelter Wäsche. Alles in Ordnung, sagt sich Tamara. Kein Kirschkuchen und niemand<br />
vor der Tür. Ein ganz normaler Tag. Ein Dienstag, man kann in die Stadt gehen und Besorgungen<br />
machen. Tamara seufzt. Ihre Arme, die unter ihrem Kopf lagen, sind eingeschlafen und taub.<br />
Tamara weckt die Arme, lieblos, mit spitzen kleinen Kniffen und schlägt die Bettdecke zurück.<br />
Vor ihr liegen ihre kleinen haarlosen Beine, zerbrechlich sehen sie aus, wie Streichhölzer und<br />
mittlerweile so dünn, dass sie jeden einzelnen Knorpel ihrer Kniegelenke erkennen kann. Tamara<br />
bewegt ein Bein und sieht zu, wie die Sehnen springen.<br />
Dann lacht sie es aus, das kleine, lächerlich dünne Streichholzbein, das immer noch ein<br />
bisschen braun ist vom Sommer; von einem Sommer mit Karsten, der zum Glück nicht vor<br />
der Tür steht.<br />
Wenig später schreit Timon und Tamara schwingt die Beine aus dem Bett, sie vergisst Karsten,<br />
das Meer, die Kirschkerne und Käse-Alpe, der Tag beginnt und die Beine müssen laufen.<br />
Mittags, wenn Timon schläft, sitzt Tamara auf der Balkonbrüstung und raucht. Manchmal<br />
kommt es dann, dieses Gefühl von innen heraus, ein Schwindel, dieses Gefühl wie tote Katze,<br />
das Gefühl, keine Kraft mehr zu haben und Tamara muss sich zum Weiteratmen zwingen. Alles<br />
ist so schwer. Sie sieht ihre Arme an, aus denen die Adern hervortreten, mit empirischem Blick,<br />
und sie fühlt sich so lebendig, wie ein aufgepiekster Schmetterling. Dann fragt sich Tamara,<br />
wie lange sie noch weitermachen können wird wie bisher und sie weiß, dass etwas passieren<br />
muss. Aber was?<br />
Nach ein paar Minuten erholt Tamara sich wieder. Sie geht in die Küche und trinkt Kaffee mit<br />
Süßstoff. Das Telefon klingelt und es ist Silke, Tamaras Freundin, die wissen will, wie es Tamara<br />
geht. Tamara geht es gut. Noch kann sie weiter boxen und solange sie kann, wird sie wollen;<br />
sie wird sogar noch wollen, wenn sie nicht mehr kann. Und wenn sie nicht mehr kann, wird<br />
sie einfach mit einem Schlag alles fallen lassen und abtreten.<br />
Familienglück<br />
39
Neulich Abend war Tamara bei Mikesch, den sie eigentlich gar nicht richtig kennt, nur so vom<br />
Sehen. Mikesch ist Maler und gerade dabei auszuwandern. Deshalb hat er Tamara eine ganze<br />
Menge brauchbarer Sachen vermacht, die auf dem Boden seines bereits halbleeren Zimmers<br />
lagen: Malblöcke, Pinsel, einige hölzerne Kisten mit Farben, eine alte Kaffeemühle, die Tamara<br />
ihrer Chefin schenken wird und mehrere Selbstporträts. Danke Mikesch.<br />
Als Tamara dann kam, um alles abzuholen, hatte sie ihm eine Flasche Rotwein mitgebracht,<br />
den sie zusammen tranken.<br />
Zwar ist auch Mikesch potentiell ein Mann, und Tamara hat sich vorgenommen, sich bis auf<br />
weiteres von solchen fernzuhalten, aber eben einer, der spätestens in circa drei Tagen<br />
auswandern wird; deswegen hat Tamara eine Ausnahme gemacht. Außerdem war es gut, mal<br />
wieder mit jemandem zu reden, stellte Tamara fest und der Wein machte sie richtig gesprächig.<br />
Trotzdem war sie wohl etwas unsicher. Misslicherweise hat sie die Angewohnheit, in einem<br />
solchen Fall, in nicht unbedingt sinnvoller Reihenfolge eine Serie verschiedener Gesprächsthemen<br />
anzuschneiden, zwischen denen sie nach Belieben hin- und herspringen kann; nur damit keine<br />
Lücken im Redefluss entstehen, die eventuell peinlich sein könnten oder zu ungewollten<br />
Interaktionen verleiten.<br />
Leider ist Mikesch nicht nur Maler, sondern auch Hobby-Psychologe. Deswegen unterbrach<br />
er Tamara mitten im Satz und attestierte ihr ADS. Nachdem er ihr ausführlich erklärt hatte, was<br />
ADS ist und, dass er selbst darunter leide, aber doch sehr gut damit zurechtkomme, schilderte<br />
er Tamara diverse Symptome des ADS: Hyperaktivität, Schlaflosigkeit, das namengebende<br />
Konzentrations- und Aufmerksamkeitsdefizit, bis hin zu manischen und depressiven Phasen.<br />
Das sind nicht unbedingt Dinge, die Tamara fremd wären. Trotzdem wollte sie kein ADS haben,<br />
ganz im Gegenteil, Tamara hat sich auch ohne ADS immer schon verrückt genug gefühlt. Sie<br />
wollte lieber nach Hause. Auch wenn Mikesch sich ihr gerade ganz besonders seelenverwandt<br />
fühlte, oder gerade deswegen, hielt Tamara es für vernünftiger, sich bald zu verabschieden<br />
und Timon bei Silke abzuholen. Mit ihm im Arm fühlte sie sich gleich ein bisschen weniger<br />
aufmerksamkeitsgestört.<br />
Jetzt wartet sie darauf, dass der rein platonische, aber trotzdem übergriffige Mikesch seinen<br />
Krempel zusammenrafft und damit auf einen anderen Kontinent verschwindet.<br />
Herr P. sitzt in seinem Büro; er sieht nach der Uhr. Es sind noch zehn Minuten bis zur<br />
Mittagspause. Er blickt weiter auf die nach außen hin verspiegelte Fensterfront, die sich vor<br />
seinem Schreibtisch erstreckt. Herrn P.s Büro liegt im 12. Stock eines Bankenkomplexes in<br />
der Innenstadt. Seit zwei Monaten hat Herr P. den Sessel vor dem Schreibtisch von seinem<br />
Vater übernommen. Jetzt ist er ein Bankenboss. Seit zwei Monaten sieht Herr P. gegen die<br />
Fensterfront.<br />
Wenn er so tagein tagaus gegen das Glas sieht, kommen ihm so allerhand unliebsame<br />
Gedanken. Aber das ist nur die Langeweile. Herr P. gehört nicht zu den Menschen, die ihre<br />
Einsamkeit betäuben oder kompensieren müssen; er sieht ihr offen ins Gesicht. Er trägt sie<br />
in sich, wie andere ein benutztes Taschentuch in der Hosentasche tragen. Er hat Routine.<br />
Kaum jemand kommt zu ihm herauf, nur manchmal die Sekretärin mit Unterlagen, die er<br />
signieren muss. Er ist es gewöhnt, sich überflüssig zu fühlen.<br />
Der Reihe nach geht er alle Themen durch, über die es sich nachzudenken lohnt. Welche diese<br />
Themen sind, steht in Journalen, die man auf dem Klo liest. Welche die Journale sind, erfährt<br />
man in den Werbepausen der Privatsender. Man kann allerdings auch nur fernsehen.<br />
Seit er als Zwölfjähriger aufgehört hat Briefmarken zu sammeln, hat Herr P. keine eigenen<br />
Interessen mehr, aber die Briefmarken hat er immer noch. Dann hat er gewartet, gewartet um<br />
auf diesen Sessel zu kommen. Gewartet, um gegen die Scheibe zu starren.<br />
Familienglück<br />
40
Also denkt er nach über Frauen, Autos und den Finanzmarkt, aber der interessiert ihn nicht.<br />
Er kann ihnen nichts abgewinnen, den Säulendiagrammen, den purzelnden und steigenden<br />
Aktienkursen. Urlaub. Urlaub findet Herr P. auch nicht sonderlich verlockend, da bekommt er<br />
nur schmerzhafte Verstopfung, alles ist ihm fremd und meistens versteht man kein Wort. Sport:<br />
Sport bleibt besser unerwähnt. Das Thema Sport endet in einer leidvollen, aber kurzen<br />
Auseinandersetzung zwischen seinem schwachen Geist und seinem noch schwächeren Fleisch.<br />
Autos: Autos imponieren Frauen. Was finden sie daran und warum hat dann er nicht mindestens<br />
so viele Frauen wie Autos?<br />
Herr P. hat niemals schmutzige Phantasien von Frauen und deshalb hat er nicht sonderlich<br />
viel übrig für Autos.<br />
Herr P. ist ein sehr ängstlicher kleiner Mann, der noch nie in einem Puff war. Es ist auch fraglich,<br />
ob das etwas ändern würde.<br />
Frauen sind für ihn engelsgleich, so schön, so zerbrechlich und mindestens genauso weit<br />
entfernt. Herr P. träumt nicht von nymphomanischen Orgien, er wünscht sich, mütterlich an<br />
einen warmen Busen gedrückt werden, er möchte Blumen verschenken und am Nachmittag<br />
spazieren gehen, zusammen essen gehen oder ins Kino, Karten spielen, ihre Hand halten,<br />
ihren Duft einatmen, die Luft einatmen, die sie ausgeatmet hat. Aber er kann sie nicht finden,<br />
er kann sie nicht einmal suchen.<br />
Draußen kann Herr P. die Maisonne sehen, die warm auf die kleinen Menschen, die dort unten<br />
die Kreuzungen überqueren, herunterscheint. Bei ihm herrschen konstante 21 Grad, sommers<br />
wie winters.<br />
Unten auf der Straße bleibt tatsächlich eine junge Frau stehen. Sie sieht nach oben und winkt.<br />
Herr P. ist sich ganz sicher, sie sieht nach oben, sieht ihn an und winkt. Unwillkürlich winkt Herr<br />
P. zurück. Aber da ist ja die verspiegelte Fensterscheibe; sie kann ihn also gar nicht sehen,<br />
bemerkt Herr P. und eigentlich ist er froh. Wenn sie ihn so sehen würde, wie er so dasitzt, klein<br />
und untersetzt, ein bisschen dicklich, darüber kann auch der dunkle Anzug nicht hinwegtäuschen,<br />
mit Schweißfüßen in den Prada-Schnürstiefeln. Das wäre ihm sehr peinlich und ihr wahrscheinlich<br />
noch mehr.<br />
Die junge Frau geht weiter und Herr P. öffnet den Privat-Safe seines Designer-Schreibtisches.<br />
Da drin bewahrt er Pralinen von Mama auf, schön in glänzendes Goldpapier eingewickelt.<br />
Gerade will er eine davon zwischen den schmalen Lippen verschwinden lassen, da denkt er<br />
wieder an die junge Frau und wurstelt das Toffee beschämt mit den ungeschickten Fingern<br />
wieder in das Papier ein.<br />
Während er den Safe sorgfältig wieder verschließt, fährt der Kran einer Fensterputzkolonne<br />
vom darunter liegenden Stockwerk zu ihm herauf. In dem Käfig steht ein junger Mann, ausgerüstet<br />
mit einem langstieligen Putzschwamm und einem Scheibenabzieher mit Gummilamellen.<br />
Er trägt eine rote Latzhose.<br />
Es ist Karsten, der dringend Geld für Gras und Schallplatten braucht, um Tamara zu vergessen.<br />
Deswegen hat er einen Job als Fensterputzer angenommen.<br />
Da steht er, die Haare hängen ihm ins Gesicht, er hat Sonnenbrand und keinen Bock. Karsten fühlt<br />
sich viel zu intellektuell für diese Scheiße. Er klatscht den Schwamm gegen Herrn P.s Scheibe, weil<br />
er ja keine Ahnung hat, dass Herr P. da drinnen sitzt und ihm mit offenem Mund zusieht.<br />
Der aber starrt ihn wie gebannt an. Ausgerechnet in diesem Moment bohrt Karsten ausgiebig<br />
in der Nase. Fette Geldsäcke, Finanz-Arschgesichter, denkt er, schmiert den Popel an die<br />
Scheibe und wischt sorgsam darum herum.<br />
Proleten-Gesindel, denkt da Herr P. und haut empört mit der fleischigen Hand auf den Tisch.<br />
Da guckt Karstens Chef nach oben, was Karsten da so treibt und der wischt den Popel besser<br />
schnell wieder weg.<br />
Familienglück<br />
41
Herr P. beruhigt sich wieder und beobachtet weiter wie Karstens Oberkörper im Takt seines<br />
etwas unkoordinierten Wischens vor der Scheibe auf und ab geht. Nicht eigentlich aus<br />
besonderem Interesse, sondern, weil er nicht anders kann, schließlich steht Karsten vor seiner<br />
Fensterscheibe.<br />
Fälschlicherweise führt Herr P. Karstens ausladende Schultern auf dessen jahrelange Tätigkeit<br />
als Fensterputzer zurück, denn er weiß nicht, dass Karsten einfach nur ein gut aussehendes<br />
dummes Arschloch ist, das heute zum ersten Mal in seinem Leben Fenster putzt und eigentlich<br />
BWL studiert. Nein, in Herrn P.s Augen wird Karsten plötzlich sogar zum russischen Einwanderer<br />
stilisiert, zum tapferen Verfechter längst vergangener marxistischer Ideale, der sauer das Brot<br />
für seine junge Familie zusammenschuften muss.<br />
Und mit einem Mal fühlt sich Herr P. so unglaublich unwohl in seinem Chefsessel. Es ist, als<br />
würde der andere durch das verspiegelte Glas zu ihm hineinsehen. Er fühlt sich ertappt und<br />
beobachtet, ja durch diesen Blick tief gedemütigt. Dieser Blick auf seinen Schreibtisch, in sein<br />
Büro, in sein Leben. Herrn P. jagt ein Schauer über den Rücken. Trotzdem kann er sich nicht<br />
entziehen, er ist wie gebannt. Angesichts dieses athletischen, sich schindenden Körpers treten<br />
ihm Tränen in die Augen, aus Mitleid und Bewunderung zugleich.<br />
Die Welt ist so ungerecht, denkt Herr P. Und er schämt sich, auf seinem dicken Hintern zu<br />
sitzen und aus Langeweile Pralinen aus dem Papier zu pulen, um sie anschließend wieder<br />
einzupacken.<br />
Aber ist die Welt nicht ebenso ungerecht gegen ihn?, fragt sich Herr P., ist nicht er der<br />
Unglückliche? Herr P. ist dafür, dass Pränataldiagnostik und therapeutisches Klonen erlaubt<br />
werden, zumindest für Leute wie ihn. Er wäre dankbar gewesen, wenn ihm seine Eltern<br />
wenigstens die Plattfüße und den Hang zur Fettleibigkeit erspart hätten.<br />
Der Russe kann abends nach Hause gehen, zu seiner hübschen Frau, zu seiner Familie. Er<br />
kann müde vom Tagwerk ins Bett fallen, keine Schlafstörungen, kein Bettnässen, ein hartes,<br />
männliches Leben. Herr P. schnäuzt sich. Er sieht sich abends durch das sich automatisch<br />
öffnende Hoftor seines Penthouses fahren. Einsam, das McDonald‘s-Menü auf dem Beifahrersitz,<br />
während draußen die Nacht zu leben beginnt, Menschen sich fröhlich unterhalten, bis sie<br />
betrunken sind und ins Bett gehen. Wo vertrauliche Gespräche geführt werden, wo getanzt<br />
wird, gelacht, geschwitzt, gekotzt, gehurt und so weiter. Und irgendwo da draußen sitzt die<br />
junge russische Vorzeigefamilie friedlich beim Abendessen.<br />
Während Herr P. seine Burger verschlingt, träumt er von Boretsch. Für seine Ernährung hat<br />
er noch nie sonderlich viel Geld ausgegeben. Wenigstens eine Schande hat er sich nicht zu<br />
Schulden kommen lassen – er ist kein Gourmet. Aber trotzdem findet er sein Leben zum<br />
Kotzen.<br />
Karsten findet die Welt genauso ungerecht. Er wäre viel lieber in so einem Banken-Gebäude,<br />
als da draußen an der Scheibe. Karsten träumt vom Geld. Wenn er da draußen steht und<br />
schwitzt und auch nachts. Das liegt eigentlich nicht an ihm, das hat ihm nur die Gesellschaft<br />
aufgezwungen. Früher wollte er alternativ sein, aber das ist ihm längst vergangen, heute weiß<br />
er, dass man das Geld braucht, wegen dem Generationenvertrag und so weiter. Geld gegen<br />
den Hunger, vor allem gegen den emotionalen, Geld statt arbeiten, Geld um morgens Dinge<br />
zu kaufen, die man abends wieder wegwirft. Früher wollte Karsten Musiker werden, weil er<br />
dachte, dass er Talent hätte; aber das hat nicht geklappt. Jetzt will er gar nichts mehr, aber<br />
auch das ist nicht seine Schuld, das ist das Existenz- Dilemma seiner Generation.<br />
Wenn er abends nach Hause kommt, steckt er das Telefon aus, aber meistens ruft sowieso keiner<br />
an. Am Anfang war Karsten das nicht gewöhnt, diese Stille. Aber inzwischen hat auch er Routine.<br />
Er setzt sich vor den Fernseher, raucht ein paar Tüten und isst Ravioli aus der Dose.<br />
Familienglück<br />
42
Am Anfang war auch das sehr schwierig, denn Karsten kann sehr gut kochen. Er hat eine<br />
Menge gelesen, aber egal, denkt Karsten, jetzt bin ich Fensterputzer und esse Dosen-Ravioli.<br />
Im Fernseher sieht Karsten Max Herre, der sich von Weibern umtanzen lässt, eine fette Goldkette<br />
trägt und ein Muskelshirt. Es sieht aus, als hätte sich jemand einen Spaß daraus gemacht,<br />
Usher den Kopf von Max Herre aufzusetzen und Karsten wartet darauf, dass ein Schriftzug<br />
eingeblendet wird, der darauf hinweist, dass alles nur Verarsche ist; aber der kommt nicht.<br />
Dann könnte er heulen. Früher sind Idole jung gestorben, heute sind alle ewig jung.<br />
Nein, Karsten kann es nicht vertreten, ein Kind in eine Welt gesetzt zu haben, in der Max Herre<br />
ein Soloalbum herausbringt, weil keiner mehr mit ihm Musik machen will und Lenny Kravitz als<br />
neuer Jimi Hendrix gefeiert wird, weil er alle seine alten Alben zu einem neuen geremixt hat.<br />
Deswegen musste Karsten gehen, als er erfahren hatte, dass Tamara ein Kind bekommen<br />
würde. Es war ja nicht nur so, dass er sie verlassen hatte. In diesem Moment war es so<br />
gewesen, als hätte er Tamara für immer verloren, als hätte sie sich von ihm losgerissen, um<br />
sich einen Abgrund hinunterzustürzen, in den er ihr nicht einmal folgen konnte. Er hatte den<br />
Gedanken nicht ertragen können, mit anzusehen, wie ihr Körper sich immer mehr deformiert,<br />
von Woche zu Woche, von Tag zu Tag, ihr Bauch sich immer mehr aufbläst, wie sie sich immer<br />
mehr von ihm entfremdet und eintaucht in eine Welt, die nicht seine war und nicht werden<br />
sollte, nicht werden würde. Tamara unter einer Horde fetter Enddreißigerinnen bei der Rückbildung.<br />
Tamara mit Baby-Kotze in den Haaren. Unmöglich. Tamara muss auch wie Tamara aussehen,<br />
damit sie Tamara ist, nicht wie ein ausgeleierter Luftballon, sie muss nach Tamara riechen und<br />
nicht nach Kotze und wenn, dann hat sie nach seiner Kotze zu riechen.<br />
Karsten ist fünfundzwanzig und er kann sich nicht vorstellen, morgens um sechs von einem<br />
schreienden Kind aus seinem Rausch gerissen zu werden, er kann sich nicht vorstellen, dass<br />
die ganze Wohnung nach Kinderpups stinkt, er kann sich nicht vorstellen, dieses Kind in ein<br />
paar Jahren in den Kindergarten zu bringen, er kann sich nicht vorstellen, mit diesem Kind<br />
noch einmal die Pubertät zu durchleben. Er will kein Vater sein, auch kein schlechter und<br />
Tamara muss verstehen, dass er sonntags nie mit seiner Familie zum Grillen gehen können<br />
wird.<br />
Karsten fühlt sich wahnsinnig von Tamara im Stich gelassen. Zugegeben, man kann auch das<br />
Gegenteil behaupten, aber jedes Mal, wenn er kurz davor ist, seine Selbsttäuschung endgültig<br />
zu entlarven, überlegt er es sich wieder anders. Also, fragt sich Karsten, warum hat sie das<br />
gemacht, warum hat sie das Kind bekommen? Tamara würde nicht einmal einen Job als<br />
Babysitter bekommen. Tamara ist viel zu abgedreht, um ein Kind aufzuziehen, findet Karsten,<br />
Tamaras Kind wird ein Junkie.<br />
Manchmal wacht er nachts auf, dann sitzt sie an seinem Bett. Wenn er dreißig Sekunden lang<br />
geschrien hat, verschwindet sie meistens wieder. Dann geht er ins Bad und klatscht sich kaltes<br />
Wasser ins Gesicht. Und jedes Mal fällt ihm der „Lenz“ von Büchner ein. Karsten hat Angst<br />
verrückt zu werden und raucht einen Kopf. Dann schläft er weiter.<br />
Es gab Nächte, da hat Tamara lange gewartet auf Karsten, der nicht nach Hause kam. Heute<br />
weiß sie, dass Karsten ein blöder Wichser ist; heute findet Tamara selbst nicht mehr nach<br />
Hause, geschweige denn zu sich selbst.<br />
Inzwischen sieht Tamara in jedem Mann Karsten. Das ist schlimm und manchmal ungerecht;<br />
aber darauf kann sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Tamara kämpft mit jedem neuen Tag, der<br />
anbricht, sie braucht jetzt keinen Mann, um sich auszutoben. Wenn sie sich jemals wieder mit<br />
einem Mann einlassen sollte, wird er klein, dick und sehr freundlich sein, mit lachenden Augen.<br />
Er wird Tamara lieben, für sie kochen und sie wieder gesund machen. Aber dann wäre da noch<br />
Timon. Timon, mit seinen kleinen blonden Löckchen auf dem Kopf. Timon, der aussieht wie<br />
Familienglück<br />
43
Karsten. Und immer, wenn sie ihn ansehen wird, wird Tamara an Karsten denken. An Sommer<br />
und Weite, an tierische Triebe und salzigen Schweiß. Deswegen ist Tamara kaputt. Mit Karsten<br />
zu sein, war wie fliegen, aber jede Fliege hat eine begrenzte Lebensdauer.<br />
Manchmal hasst Tamara Timon dafür, dass er Karsten so ähnlich sieht. Am meisten Angst hat<br />
sie davor, dass er einmal so werden könnte wie Karsten. Aber dann schaut sie in Timons<br />
unschuldige blaugraue Kinderaugen und es sind Tamaras Augen in Karstens Gesicht. Augen,<br />
die sprudeln.<br />
Jetzt steht Karsten also in 40 Meter Höhe auf einer Hebeplattform und schwitzt. Karsten, der<br />
kein Russe ist, sondern ein Deutscher auf Aushilfsbasis. Karsten hat einen bald einjährigen<br />
Sohn, der Timon heißt und in der gleichen Stadt lebt, den er aber nur von Fotos kennt. Karsten<br />
hatte eine Freundin namens Tamara, die jetzt nicht mehr Karstens Freundin, sondern Timons<br />
Mutter ist.<br />
Tamara arbeitet in einem Restaurant. Die Annahme, dass es widersprüchlich, wenn nicht gar<br />
grotesk sei, in Tamaras Zustand in der Gastronomie zu arbeiten, ist ein Irrglaube. Nicht<br />
Menschen, die gerne essen, arbeiten in Restaurants, im Gegenteil, ein guter Appetit kann da<br />
sehr hinderlich sein. Man arbeitet ja nicht dort um zu essen, sondern um andere essen zu<br />
lassen. Ebenfalls unwahr wäre die Behauptung, dass fremden dicken Menschen, die in<br />
Restaurants gehen, um noch dicker zu werden bei Tamaras Anblick der Appetit vergeht; ganz<br />
und gar nicht – mit einem Zwinkern meinen die Gäste ‚ich ess‘ ein Stück für Sie mit!‘ und<br />
schlingen ungehemmt gegrillte Schweinshaxen mit deftigen Beilagen, mariniertes Fleisch mit<br />
schlüpfrigen Saucen, fettige Beiges und Cremes hinunter. Tamara lächelt und wünscht einen<br />
Guten Appetit. So ist allen geholfen und Tamara bekommt Geld. Sie geht weiter von Tisch zu<br />
Tisch, bis sie sich verliert in einer Welt voller sie bedrängender Gerüche, verlockend und<br />
anwidernd zugleich, voller fremder Stimmen und fremden Lebens.<br />
Tamara ist schon seit langem ein bisschen tot ganz tief innen drin, da wo es keiner so richtig<br />
merkt. Aber Tamara weiß das und malt sich deswegen immer einen besonders roten Mund.<br />
Tamara ist ganz Liebe, wenn sie mit einem Teller Presskopf in der Hand durch die Gänge<br />
schwebt.<br />
Tamaras größter Feind ist die Langeweile. Deswegen ist sie die Königin der Beschäftigungstherapie.<br />
Wenn sie eine freie Minute zwischen Timon, Haushalt und Arbeit hat, malt sie, wenn sie für<br />
Timon kocht, rechnet sie ihren Gehaltszettel durch, sie putzt Schuhe beim Spazierengehen,<br />
sie bügelt mit der Linken, während sie mit der Rechten das Kinderzimmer tapeziert, sie<br />
staubsaugt, während sie telefoniert, sie singt Schlaflieder beim Zähneputzen.<br />
Seit Karsten weg ist, ist die Zappeligkeit noch schlimmer geworden. Inzwischen kann Tamara<br />
gar nicht mehr stillsitzen. Sie ist zur Getriebenen geworden, sie ist auf der Jagd. Auf der Jagd<br />
nach einem Glücksmoment am Ende des Dauerlaufs. Wenn Tamara dann weit nach Mitternacht<br />
in ihr Bett fällt, hofft sie, dass er kommt, der Moment, ganz kurz vor dem Einschlafen. Aber<br />
meistens kommen nur die Träume, Träume von Karsten.<br />
Tamara versucht, ihrem sinnlosen Leben einen Sinn zu geben. Sie sucht ihn in allem, was sie<br />
tut, und sie hat Sehnsucht. Unendliche Sehnsucht nach Ruhe. Nach Ruhe, die von innen<br />
kommt. Ruhe ohne Stille, ohne Einsamkeit. Weil Einsamkeit macht unruhig.<br />
Und Tamara ist auf der Suche nach Zufriedenheit und wird sie niemals finden. Die Wohnung<br />
liegt voller angefangener Bilder und Skizzen, die Tamara beim Aufräumen in eine Ecke kehrt.<br />
In einem Schuhkarton bewahrt sie zerknüllte Bögen mit verworfenen Gedichten und Texten<br />
von Karsten auf. Wie sie so vor diesem Sammelsurium steht, fängt Tamara an zu lachen.<br />
Tamara lacht und Timon schreit. Er will niemals so werden wie seine Eltern.<br />
Wenn Tamara stillsitzt, gibt es eine Katastrophe. Neulich saß Tamara allein im Waschsalon.<br />
Familienglück<br />
44
Nur eine Maschine war gelaufen; die mit ihrer Wäsche drin. Sie hatte die Augen geschlossen<br />
und dem sonoren Klang des Vollwaschganges zugehört.<br />
Mit einem Zischen wurde das Abwasser abgepumpt und gluckernd in den Abfluss geleitet.<br />
Dann setzte der Schleudergang ein und Tamara sah zu, wie Bettlaken, Socken und Strampler<br />
mit zunehmender Geschwindigkeit durch die Zentrifugalkraft an die Innenseite der Trommel<br />
gepresst wurden. Immer schneller und schneller, die Maschine begann zu vibrieren, ebenso<br />
der Boden, auf dem Tamaras Füße standen, kleine Füße in kleinen, abgetragenen Schuhen.<br />
Eine einzelne Socke wurde an das Glasauge geschleudert, da blieb sie kleben, die Maschine<br />
zitterte, der Boden, die Wände und Tamara zitterten, wo war die zweite Socke, fragte sie sich.<br />
Der Gedanke kreiste wie die Wäsche durch ihren Kopf, alles drehte sich. Am liebsten wäre sie<br />
aufgesprungen und schreiend rausgerannt, aber es erschien ihr klüger, sich jetzt nicht zu<br />
bewegen. Wenn nur jemand hereinkommen würde, nur irgendjemand, der dieses Karussell<br />
zum Anhalten bringen könnte, dachte Tamara. Aber niemand kam.<br />
Schließlich verlangsamte sich die Maschine und kam mit ein paar klatschenden Schwüngen<br />
zum Stillstand. Der Raum entzerrte sich und die Wände hörten auf zu beben. Tamara saß<br />
immer noch zitternd auf der Holzbank.<br />
Irgendwann klingelte ihr Handy und Tamara landete wieder in der Wirklichkeit. Sie riss ganz<br />
schnell ihre Wäsche aus der Höllenmaschine und rannte nach Hause. Seitdem wäscht sie von<br />
Hand.<br />
Karsten ist da das Gegenteil von Tamara. Karsten langweilt sein Leben zu Tode. Er hat die<br />
Langeweile als seine ständige Begleiterin akzeptiert, sie internalisiert, er spürt sie gar nicht<br />
mehr. Früher war sie ein Brennen, jetzt ist sie nur noch ein lästiges Jucken, so wie ein Pickel<br />
auf seiner Brust. Im Moment ist Karsten gerade so langweilig, dass er sich auf das Geländer<br />
des Fensterputzkäfiges stellt. Karsten steht auf dem Geländer und sieht hinunter.<br />
Da unten an der Kreuzung steht Tamara. Er erkennt sie sofort. Trotz der Entfernung und obwohl<br />
sie mindestens zehn Kilo Untergewicht haben muss, gibt es keinen Zweifel; sie hat das Kleid<br />
an, das er ihr geschenkt hat. Jetzt sieht es eher aus wie ein Nachthemd und fällt lose über<br />
ihren kleinen, knochigen Körper.<br />
Karsten möchte jetzt gerne schlucken, aber seine Kehle ist wie zugeschnürt. Erst auf den<br />
zweiten Blick bemerkt er auch die Kinderkarre, die neben Tamara an der Ampel steht. Da drin<br />
sitzt ein kleines Kind. Der Kopf mit den Wuschellocken ist zur Seite gefallen, der Kleine schläft<br />
mit seinem Teddy im Arm.<br />
Also nicht nur Karstens ehemalige Freundin Tamara, sondern auch sein neuer Sohn Timon<br />
steht da unten an der Ampel. Sie sehen aus wie eingefroren. Das Kind schläft und bewegt sich<br />
nicht, Tamara steht still, wie festgewachsen, den Blick auf das Ampelmännchen geheftet. Vor<br />
ihnen tost der Verkehr vorbei.<br />
Das ist zuviel für ihn. Plötzlich ist der toughe Karsten zum Waschlappen geworden, steht auf<br />
dem Geländer und bekommt feuchte Augen. Tamara, Timon und der Kinderwagen verschwimmen,<br />
alles verzerrt sich, die Kreuzung, der Himmel, und er dazwischen, Karsten, der das Gleichgewicht<br />
verliert und vierzig Meter in die Tiefe fällt. Das Letzte, das Karsten sieht, ist Tamaras Gesicht<br />
mit den aufgerissenen, entsetzten Kinderaugen, dann wird alles schwarz.<br />
Herr P. ist auf dem Rückweg von der Würstchenbude auf der anderen Straßenseite zurück in<br />
sein Büro. Über dem Russen hatte er ganz seine Mittagspause vergessen. Aber Herr P. ist<br />
auch mit einer Bockwurst zufrieden.<br />
Die Bockwurst dampft, Herr P. wartet an der Ampel. Er ist ganz in Gedanken, der Senf tropft<br />
auf seine Stiefel, er merkt es gar nicht. Plötzlich stürmt die junge Mutter, die neben ihm gestanden<br />
hatte, bei Rot über die Straße, Autos hupen, den Kinderwagen lässt sie auf der Verkehrsinsel<br />
Familienglück<br />
45
in der Mitte der Kreuzung stehen, sie hastet weiter, er weiß nicht wohin.<br />
Ein Menschenauflauf, Karsten mittendrin und Tamara, wie sie vor ihm kniet, Karstens Blut das<br />
über den Bürgersteig läuft und an ihren Beinen klebt, Tamaras Beckenknochen, die in den<br />
blauen Frühjahrshimmel starren.<br />
In der Kinderkarre am Straßenrand sitzt das schreiende Kind, die Frau kann Herr P. in dem<br />
Gedränge nicht mehr finden. Passanten rufen nach der Rettung, irgendetwas ist passiert.<br />
Und jetzt? Herr P. hasst Massenansammlungen, er ist so klein und sieht sowieso nichts, helfen<br />
kann er auch nicht, weil er kommt immer zu spät.<br />
Timon, aus dem Schlaf gerissen, heult verzweifelt gegen den Verkehrslärm an, sein kleines<br />
Mondgesicht ist dunkelrot angelaufen, Tränen tropfen von den Pausbacken, er zappelt mit den<br />
Füßen, doch Tamara kommt nicht zurück.<br />
Herr P. sieht sich hilflos um, er kennt sich nicht aus mit Kindern, die Leute auf der Straße haben<br />
es eilig und gehen mürrisch vorbei. In der Aufregung hat er das Brötchen mit der Bockwurst<br />
in seiner Hand ganz zerdrückt.<br />
Er hält es Timon vor die Nase. Der hält inne und schluchzt. Herr P. beugt sich hinunter und<br />
lächelt. Timon hat noch nie einen kleinen Mann mit so schiefen Zähnen gesehen. Bäh, sagt<br />
er und greift nach der Wurst.<br />
Der Verkehr tost weiter. Timon und Herr P. warten an der Ampel.<br />
Familienglück<br />
46
Immer werktags<br />
Harald Kittler<br />
Immer werktags beschlief er die Kriegswitwe, die nebenan wohnte und deren Mann nicht aus<br />
Russland zurückgekehrt war. Immer werktags um sechs, bevor er zur Arbeit ging, nahm er<br />
sich noch eine Viertelstunde Zeit für die Kriegswitwe nebenan, während seine Frau, die er als<br />
Soldat auf dem Rückmarsch in Slowenien kennen gelernt und nach Wien mitgenommen hatte,<br />
noch im Ehebett schlief. Kurz vor sechs stand die Kriegswitwe auf, öffnete ihre Wohnungstüre<br />
und ließ sie einen Spalt breit offen, damit er eintreten konnte, ohne Lärm zu machen. Stumm<br />
schlüpfte er zu ihr in das warme Bett. Manchmal, wenn es ihr zu laut wurde, ermahnte sie ihn<br />
leiser zu sein, sonst würde er noch das ganze Haus wecken. Immer werktags, außer wenn<br />
er krank war, was sehr selten der Fall war, verließ er um viertel sieben die Wohnung der<br />
Kriegswitwe und ging zur Arbeit.<br />
Wenn er abends nach Hause kam zu seiner Frau und seiner zweijährigen Tochter war er<br />
mürrisch und sprach nicht viel. Er ging früh zu Bett, da er bereits um halb sechs wieder<br />
aufstehen musste, denn um sechs besuchte er vor der Arbeit noch für eine Viertelstunde die<br />
kinderlose Kriegswitwe nebenan. Alle anderen Mieter sprachen darüber, nur seine Frau wusste<br />
lange nichts davon, denn niemand im Haus sprach mit der Frau, die er aus dem Krieg<br />
mitgebracht hatte, mehr als die Höflichkeit gebot. An einem Werktag erhängte sich seine Frau<br />
im Schlafzimmer, während die zweijährige Tochter in der Küche auf dem Fußboden aus Linoleum<br />
spielte. Die Zweijährige stand im Schlafzimmer vor ihrer von der Decke baumelnden toten<br />
Mutter, deren Zunge aus dem Mund quoll, und rief nach ihr. Ein Nachbar schnitt die Frau vom<br />
Lusterhaken ab und brachte das Mädchen zur nebenan wohnenden Kriegswitwe, die ihr Kakao<br />
kochte und sich um sie kümmerte, bis ihr Vater aus der Arbeit kam und sie mitnahm.<br />
Im Jahr darauf wurde die Kriegswitwe seine Frau und er konnte nun werktags eine Viertelstunde<br />
länger schlafen, bevor er in die Arbeit ging. Er ging immer eine Dreiviertelstunde zu Fuß zur<br />
Arbeit, bis er sich eines Tages einen weißen VW Käfer leisten konnte. Seine nun fünfjährige<br />
Tochter, die jetzt zu seiner Frau „Mama“ sagte, durfte sogar mit ihm auf dem Fahrersitz des<br />
neuen Autos sitzen, doch er verbot ihr den glatten Schaltknüppel, den das Mädchen so gerne<br />
berührt hätte, in die Hand zu nehmen. Er hatte den weißen VW Käfer fast zehn Jahre lang und<br />
fuhr damit mehr als hundertfünfzigtausend Kilometer, bevor er ihn durch ein neueres, rotes<br />
Modell ersetzte. Mit dem roten VW Käfer, der eine breitere Heckscheibe hatte als das alte<br />
Modell und mehr PS, fuhren sie nach Italien an den Gardasee, nach Podersdorf an den<br />
Neusiedler See und nach Mariazell, wo die kinderlose Kriegswitwe in der Basilika betete und<br />
eine Kerze anzündete.<br />
Auf der Rückfahrt von Mariazell wurde der Tochter am Rücksitz des roten VW Käfers so<br />
schlecht, dass sie sich übergeben musste. Sie weinte und die kinderlose Kriegswitwe, zu der<br />
sie Mama sagte, sah sie ernst an. Als er erfuhr, dass seine siebzehnjährige Tochter schwanger<br />
war, schlug er sie zweimal ins Gesicht, bis ihre Lippe blutete.<br />
An einem Samstag gebar die Siebzehnjährige einen Sohn, während ihr Vater im neuen<br />
Schwarzweißfernseher das Weltmeisterschaftsendspiel zwischen England und Deutschland<br />
in Wembley sah und seine Frau in der Küche bügelte. Einige Monate vorher heiratete die<br />
siebzehnjährige Schwangere den neunzehnjährigen Tischlerlehrling, Vater ihres Kindes, am<br />
Standesamt in Wien-Margareten. Das Brautpaar wurde vom Vater der Braut mit dem roten<br />
VW Käfer zum Standesamt gebracht und saß auf der Rückbank, während die kinderlose<br />
Kriegswitwe auf dem Beifahrersitz stumm und ängstlich den Verkehr beobachtete. Einmal<br />
musste der rote VW Käfer die Fahrt unterbrechen, da der Schwangeren übel wurde. Sie stieg<br />
aus und übergab sich. Das zähe Erbrochene tropfte über die Kante eines gusseisernen Kanals<br />
Immer werktags<br />
47
mit der Aufschrift Buderus-Vollschluck. Ohne erkennbaren Grund kam diese seltsame Aufschrift<br />
der Schwangeren auch Jahre später immer wieder in den Sinn.<br />
Während die Siebzehnjährige ihren Sohn gebar, ging England im Weltmeisterschaftsfinale<br />
gegen Deutschland in der Verlängerung mit drei zu zwei in Führung, durch ein, wie ihr Vater<br />
immer wieder betonte, geschenktes Tor, durch das die bis dahin besseren Deutschen letztendlich<br />
um den Sieg betrogen wurden. Acht Jahre später wird der Vater gemeinsam mit seinem<br />
Enkelkind im neuen Farbfernseher das Weltmeisterschaftsendspiel zwischen Deutschland und<br />
Holland in München sehen, wobei sein achtjähriges Enkelkind nägelkauend auf dem Schoß<br />
der kinderlosen Kriegswitwe, die es Oma nennt, sitzen wird.<br />
Als die einundzwanzigjährige Tochter ein zweites Mal schwanger wurde, lebte sie mit dem um<br />
zwei Jahre älteren Tischlermeister und ihrem vierjährigen Sohn in der ehemaligen Wohnung<br />
des Vaters, in deren Schlafzimmer sich ihre Mutter vor fast zwanzig Jahren am Lusterhaken<br />
erhängte. Nebenan wohnte ihr Vater mit seiner Frau, der um fünf Jahre älteren Kriegswitwe,<br />
die er vor zwanzig Jahren jeden Morgen um sechs Uhr von Montag bis Freitag im Schlafzimmer<br />
dieser Wohnung bestieg. Der Tischlermeister, der vor kurzem eine eigene Tischlerei eröffnet<br />
hatte, war erleichtert als seine Frau im vierten Monat eine Fehlgeburt hatte. Er betrank sich<br />
daraufhin mit Freunden in einer Tanzbar und kam erst am übernächsten Morgen wieder nach<br />
Hause.<br />
Als Mitte der siebziger Jahre das alte Mietshaus abgerissen werden sollte, bekamen die<br />
dreiundzwanzigjährige Mutter und ihr Mann, der mittlerweile seinen Tischlerberuf aufgegeben<br />
hatte und als Versicherungsvertreter arbeitete, vom zuständigen Wohnungsamt eine Gemeindewohnung<br />
im zehnten Bezirk zugeteilt. Das geschah ein Jahr, bevor sie sich scheiden ließen<br />
und der Sohn der beiden, nachdem er einige Monate allein mit seiner Mutter gelebt hatte, zu<br />
den Großeltern gebracht wurde, die ebenfalls eine Gemeindewohnung im zehnten Bezirk<br />
bezogen hatten. Sein Großvater, der nun einen roten VW Golf fuhr und Zigaretten der Marke<br />
Smart rauchte, stand jeden Werktag um halb sechs Uhr morgens auf und verließ um viertel<br />
sieben die Wohnung, während der zehnjährige Knabe mit der kinderlosen Kriegswitwe im Bett<br />
blieb, bis sie ihn um dreiviertel sieben weckte, um zur Schule zu gehen. Jeden ersten Werktag<br />
im Monat ging der Knabe mit dem Zinsbuch in der Hand, in das ein blauer Tausendschillingschein<br />
eingelegt war, zum Hausmeister, der im Erdgeschoss der Nachbarstiege wohnte und immer<br />
am ersten Werktag im Monat die Miete einkassierte.<br />
Bis zu seinem elften Lebensjahr schlief der Knabe in der Spalte zwischen den beiden Matratzen<br />
des Ehebettes seiner Großeltern und war darauf bedacht, weder seinen Großvater noch die<br />
kinderlose Kriegswitwe zu berühren. Als er elf Jahre alt war, begann er jeden Morgen um sechs,<br />
nachdem sein Großvater aufgestanden war, um in die Arbeit zu gehen, unter der Bettdecke<br />
zu onanieren. Während er in kurzen, regelmäßigen Abständen sein pralles Glied auf seine<br />
gespannte Bauchdecke fallen ließ und er den dabei entstandenen rhythmischen Geräuschen<br />
lauschte, schlief neben ihm die nun bereits über sechzigjährige kinderlose Kriegswitwe, die<br />
sein Großvater vor mehr als fünfundzwanzig Jahren jeden Werktag um diese Zeit gevögelt<br />
hatte. Zwei Wochen nachdem er mit dem Trommelspiel unter der Bettdecke begonnen hatte,<br />
kauften seine Großeltern in einem Einrichtungshaus am Stadtrand ein ausziehbares Sofa, das<br />
sie im Wohnzimmer vor dem Farbfernseher aufstellten.<br />
Einige Wochen vor seinem zwölften Geburtstag saß der Knabe gemeinsam mit seinem Großvater<br />
auf dem neuen Sofa im Wohnzimmer und schaute sich im Fernsehen das Weltmeisterschaftsspiel<br />
zwischen Österreich und Deutschland in Cordoba an. Gemeinsam bejubelten sie das Siegestor<br />
der Österreicher.<br />
Der Zwölfjährige wird bis zu seinem neunzehnten Lebensjahr auf dem ausziehbaren Sofa vor<br />
dem Fernseher schlafen, während sein Großvater, der beim Schlafen nur mit einer schlabberigen,<br />
weißen Unterhose, die von ihm manchmal als Untergatte bezeichnet wird, bekleidet ist, neben<br />
Immer werktags<br />
48
der bereits zahnlosen Kriegswitwe im Ehebett im Schlafzimmer liegt. Die kinderlose Kriegswitwe<br />
wird sich jeden Abend vor dem Einschlafen über die brummenden Fürze des neben ihr liegenden<br />
Großvaters beschweren, die er zu seiner Erleichterung in seine schlabberige, weiße Unterhose<br />
fahren lässt. Sein Großvater, ehemals Mitglied der nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei,<br />
dann Mitglied der österreichischen sozialdemokratischen Partei, dann parteilos, nun Mitglied<br />
der Freiheitlichen Partei Österreichs, wird selbst nach seiner Pensionierung jeden Werktag um<br />
halb sechs Uhr aufstehen und um viertel sieben die Wohnung verlassen, um sich in der Trafik<br />
die Tageszeitung und zwei Schachteln Zigaretten der Marke Smart zu holen. Einmal in der<br />
Woche, meistens freitags, wird er zwei Lottoscheine aufgeben, seinen eigenen und den seiner<br />
Frau, der kinderlosen Kriegswitwe, die seit der Einführung des Lottospiels jede Woche die<br />
Zahlen drei, elf, vierzehn, einundzwanzig, dreißig und vierundvierzig ankreuzt.<br />
Seine mittlerweile vierunddreißigjährige Tochter, die bereits zum dritten Mal verheiratet war,<br />
arbeitete seit geraumer Zeit drei Tage in der Woche, von Donnerstag bis Samstag, in einem<br />
Nachtklub in der Innenstadt, in dem regelmäßig bekannte Schauspieler und andere Künstler<br />
verkehrten. Ihr siebzehnjähriger Sohn, der seit einem Jahr an einer schweren Akne litt und<br />
dessen bleiche Stirn aus diesem Grund nahezu immer mit Pusteln übersät war, hatte im Alter<br />
von fünfzehn Jahren seinen ersten Geschlechtsverkehr mit der Tochter des Hausmeisters, die,<br />
da seine Erektion nicht ausreichte, um in sie einzudringen, seinen Schwanz solange mit der<br />
Hand massierte, bis er ganz steif wurde und ihn dann schnell zwischen ihre Beine steckte,<br />
worauf es ihm zu ihrer beider Enttäuschung sofort kam.<br />
Als er achtzehn Jahre alt geworden war, bewarb er sich, nachdem er eine Autolackiererlehre<br />
abgebrochen hatte, bei der Post und wurde am Postamt Wien-Margareten als Zusteller<br />
eingestellt. Jeden Werktag stand er um fünf Uhr morgens auf, denn bereits um sechs Uhr<br />
begann seine Arbeit am Postamt mit dem Sortieren der Postsendungen. Eine große Masse<br />
an neu eingetroffenen Postsendungen wurde jeden Morgen zuerst nach Zustellgebieten und<br />
dann nach Straßennamen und Hausnummern in die dafür vorgesehenen Fächer aufgeteilt,<br />
anschließend zu kleinen Päckchen verschnürt, die er in der Reihenfolge der Zustellung in seinen<br />
Handwagen schlichtete, den er beim Austragen der Post holpernd, wie eine schwere Last,<br />
hinter sich her zog.<br />
Mit neunzehn Jahren, nachdem er aus der Wohnung seiner Großeltern ausgezogen war, zog<br />
er in den fünften Bezirk zu seiner um fünfzehn Jahre älteren Freundin, die in seinem Zustellgebiet<br />
wohnte und die, seitdem er dort als Zusteller arbeitete, jeden Morgen um acht Uhr in ihrer<br />
Wohnung auf ihn wartete. Jeden Morgen um acht, von Montag bis Freitag, brachte er ihr<br />
persönlich die Post an die Wohnungstür und ging anschließend mit ihr ins Schlafzimmer, wo<br />
er es eine halbe Stunde lang mit ihr trieb. Nachher zog er schnell seine Dienstkleidung wieder<br />
an, denn er musste sich beeilen, damit der bis zum Rand mit Postsendungen gefüllte Handwagen<br />
nicht zu lange im selben Hauseingang stehen blieb.<br />
Nachdem er die restliche Post ausgetragen hatte, traf er sich gegen Mittag mit seinen Kollegen<br />
in einem kleinen Wirtshaus. Sie saßen immer am Stammtisch des Wirtshauses, gleich gegenüber<br />
des an der Wand befestigten Fernsehapparates, der bei Liveübertragungen von Fußballspielen<br />
immer eingeschaltet war. Gemeinsam sahen er und seine Kollegen in diesem Fernseher die<br />
Spiele der Fußballweltmeisterschaft in Mexiko und noch Jahre später wird er sich an das Tor<br />
von Diego Maradona erinnern, das dieser in der einundfünfzigsten Minute im Viertelfinalspiel<br />
gegen England mit der Hand erzielte.<br />
Seitdem er bei seiner um fünfzehn Jahre älteren Freundin eingezogen war, wurde er mit dem<br />
Austragen der Post immer um eine halbe Stunde früher fertig als sonst, da er sich nun nicht<br />
mehr jeden Morgen um acht Uhr eine halbe Stunde lang bei ihr aufhielt, sondern gleich, ohne<br />
Umschweife, mit dem Austragen der Post begann. Vier Jahre nachdem er bei ihr eingezogen<br />
war, wird er seiner um fünfzehn Jahre älteren Freundin mitteilen, dass er seit geraumer Zeit<br />
ein Verhältnis mit einer jüngeren Frau habe, die nun, da sie von ihm schwanger sei, erwarte,<br />
dass er sie heirate.<br />
Mit vierundzwanzig Jahren wird er begleitet von seiner Mutter, seinem Vater, seinem Großvater<br />
Immer werktags<br />
49
und der bald achtzigjährigen kinderlosen Kriegswitwe, die er Oma nennt, am Standesamt<br />
Margareten seine hochschwangere, um ein Jahr jüngere Freundin heiraten. Sein Vater und<br />
seine Mutter, die sich seit Jahren nicht gesehen haben, werden sich über den Umstand<br />
amüsieren, dass die Trauung ihres Sohnes im gleichen Standesamt stattfindet wie ihre eigene.<br />
Seine Mutter wird erzählen, wie sie sich als Schwangere bei der Fahrt zum Standesamt<br />
übergeben musste, und dabei an den gusseisernen Kanal mit der seltsamen Aufschrift denken<br />
müssen, über den sie sich vor mehr als zwanzig Jahren gebeugt hat. Bei dieser Gelegenheit<br />
wird der Großvater erwähnen, dass sie damals den roten VW Käfer besaßen, mit dem sie auch<br />
nach Italien an den Gardasee, nach Podersdorf an den Neusiedler See und nach Mariazell<br />
gefahren sind. Die kinderlose Kriegswitwe wird daran denken, wie sie in der Basilika in Mariazell<br />
betete und für ihren verstorbenen Mann, der nicht aus Russland zurückgekehrt war, eine Kerze<br />
anzündete. Die Hochzeitsgesellschaft wird sich anschließend, begleitet von Arbeitskollegen<br />
des Bräutigams und den engsten Verwandten der Braut, an den Stammtisch im Stammlokal<br />
des Bräutigams begeben, wo im Fernseher gerade die Übertragung eines österreichischen<br />
Meisterschaftsspiels läuft. Als die Bedienung die Bestellungen der eingetroffenen Gäste<br />
entgegennimmt, wird die hochschwangere Braut darauf bestehen, dass der Fernseher abgedreht<br />
wird.<br />
Einige Wochen vor Beginn der Fußballweltmeisterschaft in Italien und kurz vor der Geburt<br />
seines Urenkels starb der Großvater plötzlich und unerwartet und konnte so nicht mehr<br />
miterleben, wie Deutschland zum dritten Mal Fußballweltmeister wurde. Am dritten November<br />
des darauf folgenden Jahres, am Geburtstag ihres ersten Mannes, erlitt die über achtzigjährige<br />
kinderlose Kriegswitwe einen Schlaganfall, von dessen Folgen sie sich bis zu ihrem Tod nicht<br />
mehr erholen wird. Das Enkelkind ihres vor einem Jahr plötzlich und unerwartet verstorbenen<br />
zweiten Mannes, dessen erste Frau sich vor fast fünfzig Jahren am Lusterhaken erhängte, wird<br />
die seit ihrem Schlaganfall auf einer Seite gelähmte kinderlose Kriegswitwe jede Woche einmal,<br />
meistens freitags, besuchen. Sie wird ihm jede Woche von ihrem ersten Mann erzählen, der<br />
am dritten November neunzehnhundertvierzehn geboren wurde und den sie einundzwanzigjährig<br />
in Wien kennen gelernt hatte und der dreißigjährig im Jahr vierundvierzig in Russland gefallen<br />
war. Sie wird ihm sogar alte Bilder von ihrem ersten Mann zeigen, die sie weiß Gott wo<br />
aufbewahrt hatte. Jedes Mal bevor er die kinderlose Kriegswitwe wieder verlässt, wird sie ihn<br />
bitten, für sie einen Lottoschein aufzugeben und die Zahlen drei, elf, vierzehn, einundzwanzig,<br />
dreißig und vierundvierzig anzukreuzen, obwohl sie noch niemals, seit der Einführung des<br />
Lottospiels, einen bedeutenden Gewinn gemacht hatte.<br />
Immer werktags<br />
50
Tango Tangentiale<br />
Elisabeth Koschat<br />
1. Takt: Ansaugen<br />
Wie immer werktags verließ sie auch heute frühmorgens das elterliche Wohnhaus, Eva. Die<br />
Sonne stach bereits vom Horizont. Ein heißer Frühlingstag stand bevor. Sie eilte zu ihrem Auto,<br />
ein alter Golf, von ihrem kleinen Bruder, übertragen. Die Stulpen ihrer Hose schlenkerten um<br />
ihre Knöchel. Dazu trug sie eine sommerlich leichte, langärmelige Bluse, sie wusste, farblich<br />
nicht ganz passend, aber in der Eile hatte sie keine bessere gefunden. Sie strich sich die<br />
dünnen Haare aus dem Gesicht, feuchte Hände, ihre Brille drückte hinter ihren Ohren. Hoffentlich<br />
hatte sie nicht wieder irgendetwas vergessen. Sie schlug mit der Hüfte gegen den Seitenspiegel,<br />
verstellte ihn, das kostete Zeit. Die Luft im Auto war stickig. Schlüssel im Zündschloss, gedreht,<br />
der Motor startete nach kurzem Zögern. Es wurde Tag über Gainfarn. Erster Gang, Handbremse<br />
lösen, einkuppeln, Gas, sie setzte den Wagen in Bewegung. Ihre Chefin war heute wieder da,<br />
erster Tag nach dem Urlaub. Auskuppeln, hoch schalten, einkuppeln, Gas. Sie wollte nicht<br />
zu spät kommen. Sie beschleunigte. Es war Montag. Sie war 20. Sie war erwachsen. Frau.<br />
Gainfarn war Geschichte bis heute Abend, bis die Sonne wieder genauso tief stand wie jetzt,<br />
nur auf der anderen Seite des Horizonts. Bad Vöslau zog sich wie immer. Sie legte eine CD<br />
ein, The Best of Tango. Sie hatte einmal gelesen, dass die Musik des Tangos den Schmerz<br />
nicht mildere, sondern die Wunden aufreiße, ihren Finger hineinlege, um darin zu wühlen. Das<br />
Zwitschern vorne rechts ging wieder los. Eine Welt voll Leidenschaften und tiefer Gefühle, auf<br />
der anderen Seite des Meeres, südlich des Äquators, jenseits des Horizonts. Wie gerne hätte<br />
sie, würde. Nein, natürlich glaubte sie nicht, dass ihre Eltern das Leben gelebt hätten, von<br />
dem sie geträumt hatten, ursprünglich, als sie noch Träume hatten, vor dem Traumhaus<br />
wahrscheinlich. Baden begann täglich mit einer roten Ampel. Bremsen, auskuppeln, Leerlauf,<br />
warten. Ihr Vater nicht, ihre Mutter nicht, nein. Warum sollte es bei ihr anders sein, aber. Erster<br />
Gang, einkuppeln, Gas, auskuppeln, schalten, einkuppeln, Gas. Stolze Männer, schöne Frauen,<br />
Spannung, Liebe, Leidenschaft, Eifersucht, Hass, Dramen tönten, Geschichten, die ans Mark<br />
gingen, Geschichten, die stattfanden. Ihr Kopf wippte im Takt. Die Musik steigerte sich hinein.<br />
Die Fingerkuppen zuckten. Darf ich bitten, wurde sie gefragt. Sie nickte. Vor ihr lag der<br />
Autobahnzubringer. Beschleunigen, Kupplung, schalten, Kupplung, Blinker, Gas, Fahrstreifenwechsel.<br />
Sie war auf der A2. Sie hatte sich eingeklinkt, Haltung, der Tanz konnte beginnen.<br />
2. Takt: Verdichten<br />
Autos um Autos strömten auf das Asphalt-Parkett. Noch ging es voran. Sie wusste, dass es<br />
zu wenig war, genau zu wissen, was man nicht wollte, aber. Knoten Vösendorf, das Tor zur<br />
Hölle. Astor Piazzolla untermalte, streckte seinen Finger aus. Und Buchhaltung war durchaus<br />
etwas Solides. Ein Wall roter Bremslichter. Bremsen, auskuppeln, schalten, einkuppeln. Nur<br />
nicht wieder zu spät kommen. Vorwurfsvolle Blicke, machtlose Entschuldigung. Bremsen,<br />
Blinken, Fahrstreifenwechsel, Gas. Nur keinen Fehler machen. Nicht heute. Nicht einen. Rote<br />
Irrlichter. Bremsen. Die Sonne blendete. Sie hatte nichts vorzuweisen. Außer Buchhaltungsangestellte,<br />
außer. LKW neben LKW. Die Zeit lief davon. Außer weißer Haut, hervorschauender<br />
Rippen und Fett an den Oberschenkeln. Ihr war heiß. Wem gefiel schon so etwas? A2 wurde<br />
zu A23. Sie würde nie verstehen. Die Finger vibrierten, die Hände auf dem Lenkrad. Der linke<br />
Busen juckte. Sie kratzte. Das Zwitschern vorne rechts, stärker. Nicht schon wieder die Dumme<br />
sein. Am Tangentenhorizont zeichnete sich der Kollaps ab. Bremsen, auskuppeln, schalten,<br />
bremsen. Nicht schon wieder versagen. Die rechte Hand wanderte zum Schalthebel, an die<br />
Schläfe, zurück zum Lenkrad, nicht schon wieder gehen müssen, sie biss sich in den Finger,<br />
Tango Tangentiale<br />
51
warum machst du immer nur Probleme, Schalthebel, bremsen, bremsen, Kupplung, schalten,<br />
Hand am Oberschenkel, Takt klopfen, eins, zwei, drei, vier, taram taram tara, nimm dir ein<br />
Beispiel an deinem Bruder, kratzen, Schläfe, im Nacken Schweiß abwischen, die Kolonnen<br />
verdichteten sich, Schalthebel, Lenkrad, Handschuhfach, der Busen juckte, Nase, Haare, Nase,<br />
sie schwitzte immer mehr, Handschuhfach, Oberschenkel, Takt, kratzen, Lenkrad fest<br />
umklammern. Können Sie zur Abwechslung auch einmal etwas richtig machen? Bremsen,<br />
Schalten, erster Gang, Schritttempo, die Sonne kletterte empor, stetig, die Luft trocken, die<br />
Bluse klebte. Sie taugen einfach zu gar nichts. Jede Sehne eine Hochspannungsleitung. Alles<br />
blinkte, Stau, Jucken, sie kratzte, das Zwitschern, Bremsen, Kupplung, Leerlauf, Stillstand.<br />
Nichts ging mehr. Nirgends. Wo war die Zeit, ihre Zeit?<br />
3. Takt: Arbeiten<br />
Das Handschuhfach öffnete sich. Eva zog ein Etui hervor, hielt es an ihre Lippen, schneller<br />
Atem. Das Etui umhüllte ein kleines Klappmesser mit braunem Holzgriff, frisch geschärft. Das<br />
Messer in der Hand. Das Messer aufgeklappt in der Hand. Der linke Ärmel ihrer Bluse krempelte<br />
sich hoch. Die Kühle der Schneide auf ihrer Haut. Gänsehaut. Libertango war die ganze Welt.<br />
Sie setzte an, überlegte, das Parkett, ihr Unterarm, entwarf eine Choreografie, ritzend. Rück,<br />
rück, Wechselschritt, vor, Seite, Schluss. Es war eine Herausforderung, sie musste die Spuren<br />
vorangegangener Tänze umkreisen, nur keine Konfusion, keine Kollision, klare Linien. Weißlich<br />
zeichneten sich die Tanzschritte ab, Kratzer auf zartrosa, sie würde es schaffen, sie war<br />
zuversichtlich, die Aufgabe meistern. Sie bereitete sich vor. Ausgangsposition. Die Schneide<br />
drückte immer tiefer ins Fleisch, noch hielt die Haut. Jetzt, jetzt kam es gleich. Sie durfte den<br />
Einsatz nicht verpassen. Da, das Thema. Sie verstärkte den Druck, zog los, ja, Sieg. Rück,<br />
rück, Wechselschritt, vor, Seite, Schluss. Sie hatte es geschafft, sie war durch, durch die<br />
Barriere, genau mit dem Takt, durch die Haut. Die Spannung wich, sie war gut, glitt dahin,<br />
feine Schnitte, sie klaffte auseinander, jetzt nur nicht nachlassen, nicht die Melodie verlassen.<br />
Rück, rück, Wechselschritt, vor, Seite, Schluss. Blut quoll aus den schmalen Schlitzen. Sie<br />
spürte seine Wärme, wohlig, Lächeln. Ihr Atem bis zum Bauch, der Puls senkte sich. Sie war<br />
ganz bei der Sache. Sie plante voraus. Noch ein Takt bravourös gemeistert. Dann das Pianissimo,<br />
sie hielt inne, begutachtete ihr Werk, rötliche Ziselierungen, es war perfekt, sie war dabei, eine<br />
neue Choreografie zu erschaffen, euphorisch, besser als alle bisher da gewesenen, ein<br />
fulminantes Finale furioso lag vor ihr, sie war wirklich gut, ganz objektiv, so gut wie nie zuvor.<br />
Das Messer ruhte, wartete auf den Einsatz des Bandoneons, ruhig, ganz ruhig und total<br />
entspannt, liebe mich, entfuhr es ihr. Dann eine unerwartete Dissonanz, störte, wieder, und<br />
wieder, was war das, was soll das? Sie kniff die Augen zusammen, Schwindel, kurz, begriff<br />
plötzlich, kam zu sich. Sie im Auto, auf der Tangente, kurz nach der Abfahrt Gürtel, wütendes<br />
Hupen von allen Seiten.<br />
4. Takt: Ausstoßen<br />
Der Verkehr war wieder in Gang gekommen, vor ihr eine Lücke, hinter ihr tobten die Autofahrer,<br />
versuchten sich in die Kolonnen, die links und rechts an ihr vorbeizogen, hinein zu zwängen.<br />
Schnell, schnell, Kupplung, erster Gang, einkuppeln, Gas, alles unkoordiniert, der Motor starb<br />
ab. Ein Autofahrer wies ihr im Vorbeifahren den Vogel, ein anderer beschimpfte sie durch das<br />
offene Fenster auf ihr Kennzeichen anspielend BN wie „bloody neurotic“. Mach schon, Neustart,<br />
sie zitterte, einkuppeln, Gas, sie hüpfte davon, versuchte sich wieder einzureihen, unterzugehen<br />
im Strom der Fahrzeuge. Das Blut wurde zähflüssig. Wieso? Sie biss sich auf die Lippen.<br />
Auskuppeln, schalten, einkuppeln, Gas. Sie hatte es wieder getan. Keine Erklärung. Tränen<br />
liefen vor lauter Wut. Keine Kontrolle, über nichts. Das Blut stockte, der Verkehr rann.<br />
Beschleunigen. Ihre Ausfahrt war die nächste. Spiegel, Blinker, Fahrstreifenwechsel. Es tat<br />
Tango Tangentiale<br />
52
weh. Die Tangente spie sie aus, höhnte, bis zum da capo. Lände Richtung Zentrum, Bremsen,<br />
Radarkontrolle, Schmerzen, keine Musik mehr, nur noch Stille, Konzentration, Konzentration<br />
bitte, reiß dich zusammen. Die nächste Ampel war rot, Zeit zum Verbinden ihres Armes.<br />
Blutflecken auf der Hose. Nasenbluten, würde sie im Büro sagen, alle wussten, dass sie unter<br />
Nasenbluten litt, spontane Anfälle, unvorhersehbar, unberechenbar. Es war spät, zu spät. Sie<br />
rollte in die Tiefgarage. Es war sinnlos, sie war wertlos. Einparken, abstellen, Handbremse,<br />
Schluss, Eva, 20, unauffällig.<br />
Tango Tangentiale<br />
53
Bohinj. Schweigen<br />
Richard Purschwitz<br />
Manchmal kommt es einem so vor, als habe man die Dinge, die man erlebt zu haben sich<br />
gewiss ist, nicht wirklich erlebt, sondern geträumt, ersponnen oder jemandem vorgelogen, und<br />
die Wirklichkeit hat sich an die vermeintliche Wahrheit dieser Dinge gewöhnt. Dann hilft ein<br />
Blick auf Briefe, in Fotoalben, in Mailordner oder auf sonstige Erinnerungsträger, um sich zu<br />
versichern, dass wirklich stattgefunden hat, was man im Rückblick kaum mehr für wahr hält.<br />
So muss ich erneut die Videokassette mit der albernen Aufschrift „Bohinj 2003“ in den Rekorder<br />
drücken, damit ich glauben kann, dass sich jene Juliwoche tatsächlich so ereignet hat, wie es<br />
meine Erinnerung behauptet.<br />
Mit Jozef selbst habe ich die damaligen Ereignisse nicht mehr besprochen; bereits auf der<br />
umständlichen Rückfahrt von Janja, über Belgrad, Budapest und Wien, wo er mich bis vor die<br />
Haustür fuhr, schwiegen wir uns über das aus, was uns auch danach verstummen ließ: kein<br />
Wort mehr über Ejup und Mirjana, Stille zu Srecko, kein Ton zur Tokarev, zur Nacht vom 10.<br />
auf den 11. Juli 2003. Und auch in den spärlichen Mails – zum verabredeten Treffen ist es nicht<br />
mehr gekommen –, die seitdem zwischen Wien und Celje sprangen, sparten wir jene Woche<br />
aus, die sich mir nun, da das Band läuft und in wackeligen Bildern, den See im Hintergrund<br />
und alles immer zu dunkel, Jozef und Berit zufällig auf ihrem Weg zum Wasser zeigen, mit<br />
Nachdruck als Wirklichkeit behauptet.<br />
Eigentlich finde ich es ja albern, Videoaufnahmen vom Urlaub zu machen, und auch damals<br />
folgte ich mehr Kerstins Wunsch. „Nimm doch die Kamera deines Vaters mit, die Erinnerungen<br />
bleiben dann viel lebendiger als nur durch Fotos“, oder so ähnlich argumentierte sie. Im Jahr<br />
zuvor, in Bolivien, waren wir ohne Videokamera unterwegs gewesen. Mir war das recht, sie<br />
maulte im Nachhinein, man hätte eine Chance verpasst. Aber so ist Kerstin: schlau und simpel.<br />
Die Kamera erwies sich jedoch unerwartet als Hilfsmittel, und nun, da ich mir immer wieder<br />
diese ersten Bilder von Jozef und Berit ansehe, Sonntagmittag Hand in Hand, mit Waldbodenballenschritten<br />
zum See staksend, wundere ich mich pausenlos.<br />
Am Abend, ich wusste noch nicht, dass ich ihn zuvor unbeabsichtigt gefilmt hatte, sprachen<br />
wir uns beide fast gleichzeitig an. Jedem war das peinliche Verlassenengesicht des anderen<br />
aufgefallen, die hilflosen Versuche, sich zu betrinken.<br />
Um drei war Kerstin abgereist, sie habe keinen Bock mehr, ich hätte sie schon lange genervt,<br />
der ganze Trip nach Slowenien sei eine Schnapsidee gewesen, morgens Kraxeln, abends<br />
Schnackseln, das funktioniere nicht, wenn die Beziehung schon bröckele, sie wolle Sven wieder<br />
treffen, er habe ihr eine SMS geschickt, außerdem sei der Passat ihr Wagen, ich könne ja mit<br />
dem Zug nach Wien zurück.<br />
„Um vier ist Berit furt“, sagte Jozef in seinem Kärntnerisch, das den slawischen Akzent fast<br />
überdeckte. Per Autostop sei sie über Bled nach Villach, das hatte sie, so Jozef, jedenfalls vor,<br />
dann heim nach Klagenfurt. Ich habe ihn nicht nach Gründen der Trennung befragt, seine<br />
schweigenden, traurigen Augen verboten mir das, ich war zudem selbst torkelnd. Nur was ich<br />
auf dem Videoband sehe, und was mir Jozef auf der Fahrt nach Janja erzählte, weiß ich. Berit:<br />
eine Frau mit Tüchern, in der Frisur, um die Jeans gewickelt, um die Handgelenke. Barfuß,<br />
schwarzes T-Shirt, Nasenpiercing, Narbe an der Stirn. Wie viel Phantasie wird von drei dunklen<br />
Videobandsekunden beflügelt? Ihr Lachen ein Schall, ihr Blick voller Neugier. Es muss eine<br />
lustige Mittagsstunde gewesen sein vor dem nachmittäglichen Streit.<br />
Zwei Verlassene in der Sonntagnacht an der Bar der Campingplatz-Kneipe am Bohiner See<br />
bei Ukanc. Selbst als Klischee zu peinlich. Die schlechte Band mit der bemühten Sängerin gab<br />
Bohinj. Schweigen<br />
54
Jazz- und Blues-Standards, natürlich, wie auf Bestellung, auch „Gloomy Sunday“. And yes,<br />
we were a little bit in a suicidal mood.<br />
Die Frauen hatten wir rasch durch, er sei jedes Jahr hier, meinte Jozef.<br />
„Ich 95 zuletzt“, fügte ich an, „während der Tage der Massenmorde in Srebrenica.“<br />
Auffällig eilig hatte er es jetzt, mir seine Vielvölkerherkunft auszubreiten. Seine Mutter, die früh<br />
an Krebs verstorben war, sei Kärntnerin gewesen, mit teilweise kroatischen Vorfahren, sein<br />
Vater sei Slowene, dessen Großväter jeweils Serben, beide jung in Jasenovac ermordet, ohne<br />
die ungeborene Tochter, den ungeborenen Sohn je gesehen zu haben. Ich musste rechnen<br />
und mir einige Nachhilfeminuten in Geschichte geben lassen, bevor ich ihn fragte, ob und wie<br />
er seinen Urlaub fortzusetzen gedenke.<br />
Montag<br />
Das Video zeigt einen alten, rostigen, überwiegend weißen Ford Fiesta, dem Jozef offenbar<br />
noch vieles zutraute. Kerstin war inzwischen sicher wieder in Regensburg, aber meine<br />
Kurzmitteilungen beantwortete sie nicht. Ich malte mir aus, während Jozef und ich die Zelte,<br />
die Schlafsäcke, die Campingkocher, die schlampig bepackten Rucksäcke, die Isomatten, das<br />
von Berit Zurückgelassene (Kerstin war in dieser Hinsicht gründlicher, hatte sogar einige CDs<br />
von mir mitgenommen) in den Kofferraum und auf die Rückbank luden, und nachdem Jozef<br />
einen sich anbahnenden Streit mit der Campingplatz-Rezeption, die nur einen zu geringen<br />
Bruchteil der Platzgebühr der für die ganze Woche reservierten Zeltplätze erstatten wollte, mit<br />
einer Mischung aus charmanten und drohenden Blicken und Gesten und wohl auch mit den<br />
richtigen Worten abgewendet hatte, ich malte mir also aus, wie sie noch auf der Heimfahrt mit<br />
diesem Sven telefoniert und ihm den endlichen Bruch mit mir triumphierend mitgeteilt hat.<br />
Vielleicht könnte man ja, Urlaub habe sie ja noch, gleich am Montag wieder gemeinsam skaten?<br />
Ein unüberhörbares Loch im Auspuff und ein im gekünstelten Wiener Dialekt mich parodierendes<br />
„Hammer‘s?“ mit sehr hellem „a“ zogen meine Gedanken zurück und vertrieben letzte Zweifel.<br />
Mir war Jozef sehr sympathisch, er mochte mich wohl auch und wir fuhren, ohne etwas<br />
gegessen zu haben, um halb acht los. Großmaßstäbige Straßenatlanten, die das südwestliche<br />
Bosnien nicht unbedingt als Urlaubsland auswiesen, deswegen grob daherkamen und nur die<br />
wichtigsten Verbindungen als blaue Autobahnen, rote Staats-, gelbe Land- und weiße<br />
Gemeindeverbindungsstraßen zu dick und unübersichtlich zeigten, sollten uns bis zum Abend<br />
in das ehemalige Kriegsgebiet führen. Mich trieben das Entsetzen meiner Jugend, die<br />
eingebrannten Bilder blutüberströmter Marktplätze in Sarajevo und feixender, rauchender junger<br />
Serben, die von CNN und vom <strong>ORF</strong> übertragen wurden, und eine merkwürdige Scham dorthin.<br />
Vielleicht gab es noch mehr Motive. Vielleicht konstruiere ich mir das jetzt aber auch nur so,<br />
da ich unscharfe Bilder, die letzten vom See, aus dem Beifahrerfenster heraus aufgenommen<br />
und von den Motoren-, Auspuff- und Lou-Reed-Tönen überlagert, auf dem Fernsehschirm<br />
sehe.<br />
Jozef trug eine Sonnenbrille, obwohl es bewölkt war, fuhr zügig und hatte mit der „New-York“-<br />
Scheibe von Lou Reed meinen Geschmack getroffen. Er war mir wirklich sympathisch und ich<br />
empfand Stolz, weil ich mir sicher war, er mochte mich. Ich bin fast acht Jahre älter als er, aber<br />
die mir sonst eigene Arroganz gegenüber Jüngeren spürte ich bei ihm nicht. Darüber war ich<br />
erleichtert.<br />
Über Bled, Kranj, Ljubljana, Novo Mesto und Metlika kamen wir nach Kroatien. Die zu vielen<br />
Bilder der Fahrt sind eintönig, ich verwende die Schnelllauffunktion des Videorekorders, um<br />
das Dunkelgelb und Graugrün der Felder und verdörrten Wiesen Südsloweniens, aber auch,<br />
in Zwischenschnitten, Jozefs Profil, die zynischen Lippen und die gerade Stirn, zügig zu<br />
passieren.<br />
Die paar Stunden in Kroatien verschlief ich, weil ich zum Frühstück im Auto drei Flaschen<br />
Bohinj. Schweigen<br />
55
slowenisches Bier – die Marke weiß ich nicht mehr – getrunken hatte. Jozef trank nur eines<br />
mit. Als er mich weckte, lief Punkrock in unverständlicher Sprache.<br />
„Wer ist das?“, fragte ich.<br />
„Black Vengeance“, sagte er, „eine Band aus Maribor. Singen englisch.“<br />
Wir hielten in einem Nest namens Maljevac, kurz vor der Grenze nach Bosnien. Jozef hatte<br />
inzwischen, ohne dass ich das mitbekommen hatte, slowenische Tolar in kroatische Kuna<br />
gewechselt und lud mich zum Essen ein. Vor einer armseligen Wirtschaft, deren einzige Gäste<br />
wir waren, saßen wir auf weißen Gartenstühlen und aßen auf der klebrigen Plastiktischdecke<br />
des Rundtisches ein Fleischgericht mit Reis, das uns eine alte, freundliche Frau mit hellen<br />
Augen serviert hatte. Jozef hatte mit ihr auf kroatisch geschäkert, aber souverän zu verhindern<br />
gewusst, dass sie sich zu uns setzte. Wir tranken Bier und Sliwowitz. Es war drei Uhr nachmittags.<br />
Meine Kamera hielt fest: eine tote Katze am Straßenrand gegenüber, eine Gruppe junger<br />
Männer, die laut und gefährlich vor dem Laden nebenan standen oder auf ihren Rollern saßen<br />
(ich war froh, dass sie nicht auf uns aufmerksam wurden), zwei weißgraue UN-Jeeps, die in<br />
Richtung der Grenze fuhren.<br />
Ich solle ihm seinen Pass geben, mich ansonsten ruhig verhalten und im Wagen sitzen bleiben,<br />
meinte Jozef. Er würde das an der Grenze schon regeln. Über die Einreise hatte ich mir keine<br />
Gedanken gemacht, wozu auch. Ich hatte Kerstins bebrilltes Gesicht vor Augen, wie sie mir<br />
24 Stunden zuvor noch die Hand reichte, tschüss sagte und unaufgeregt davonfuhr. Magenschmerzen<br />
zogen auf.<br />
An der Grenze tat ich, wie mir Jozef aufgetragen hatte, obwohl ich ihn gerne gefilmt hätte, als<br />
er in das Grenzhäuschen ging. Er hatte immer noch seine Sonnenbrille auf. Trotz seiner<br />
gewinnenden, charmanten Art, seiner Sprachkenntnisse und seines „balkanesischen“ Habitus,<br />
auf den er scheinbar mühelos von einer eher österreichischen, kärntnerischen Attitüde wechseln<br />
konnte, blieben bei mir Zweifel, ob er uns wirklich dorthin, wohin es uns zog, an Orte des<br />
Verbrechens, bringen konnte und dabei das Vertrauen der Menschen, das eine Voraussetzung<br />
dafür war, auch immer erhielt, denn ein Rest Ironie in seinem Wesen war doch zu spüren. Oder<br />
fiel das nur mir auf? Jedenfalls schien er sowohl die kroatischen und bosnischen Grenzbeamten<br />
als auch die offenbar kanadischen Soldaten in den seitlich abgestellten UN-Jeeps, mit denen<br />
er sich kurz unterhielt, von der Harmlosigkeit unserer Reise überzeugt zu haben.<br />
„Weiter geht’s!“, zwinkerte er mir zu. Er war mir sympathisch und ich glaube, er mochte mich<br />
auch.<br />
In Grahovo, kurz nach der Grenze, hielt Jozef an, entfernte sich wortlos von seinem Auto. Ich<br />
filmte ihm nach, wie er, sich nur mäßig umblickend, in einer Seitengasse verschwand. Nach<br />
etwa 20 Minuten kam er zurück, etwas Längliches in der Hand, das er rasch auf die Rückbank<br />
warf, bevor er schnell weiterfuhr.<br />
„Nummernschilder“, sagte er. „Aus beiden Landesteilen. Die werden uns helfen.“<br />
Wir waren uns einig, nicht nach Tuzla, Srebrenica oder Glavcice zu fahren. Wir wollten in ein<br />
beliebiges kleineres Städtchen nahe an der Drina, um Spuren des Mordens im Irgendwo zu<br />
suchen. Meine Motivation glaubte ich zu kennen. Was Jozef trieb, weiß ich nicht genau.<br />
Auf der Fahrt durch Bosnien blieb die Musik aus, Jozef erzählte von Berit. Ihr Psychologiestudium<br />
in Wien, ihre Unberechenbarkeit, ihre Art zu rauchen, ihre Klugheit. Jozef trank Bier, während<br />
er erzählte und fuhr.<br />
Mit den Nummernschildern und Jozefs Geschick (und vielleicht auch mit Geld) passierten wir<br />
einige Kontrollpunkte und Übergänge zwischen der bosnisch-kroatischen Konföderation und<br />
der Republika Srpska. Hätte ich mir das im Einzelnen durchdacht, ich hätte wohl Abstand<br />
genommen von dieser Reise. Aber mein Vertrauen in Jozef war inzwischen groß geworden,<br />
er würde das schon machen. Außerdem war ich betrunken, müde, hungrig und verliebt. Ich<br />
dachte an Kerstin.<br />
Bohinj. Schweigen<br />
56
Dienstag<br />
In einem äußerlich heruntergekommenen, im Inneren aber schmucken Hotel in Bijeljina hatten<br />
wir übernachtet. An der Rezeption hatte mich Jozef betrunkener geredet als ich war. Ich sei<br />
Serbe aus Novi Sad und mit ihm, seinem slowenischen Kumpel, auf Feierreise unterwegs.<br />
Beide hätten wir erfolgreich Prüfungen abgelegt. Der Glatzkopf an der Hoteltheke hielt uns<br />
sicher nicht für schwul, ihm genügte auch Jozefs Pass. Er verkaufte ihm noch eine Flasche<br />
Schnaps, die wir aber erst zwei Tage später tranken. Da brauchten wir sie.<br />
Ich bemühte mich, beim Filmen nicht beobachtet zu werden, denn für das Gefährlichste<br />
erachteten wir, für Journalisten gehalten zu werden.<br />
Neun Uhr. <strong>Werktags</strong> morgens. Normalerweise sitze ich im Ingenieurbüro meines Vaters und<br />
prüfe Pläne, Kerstin schreibt Trainingsprogramme bei Amazon in Regensburg und es sind nur<br />
noch drei Tage, bis wir uns in Wien oder Regensburg wieder sehen. Normalerweise. Ich sah<br />
mir Bilder von ihr auf meinem Handy an und ein Plan wurde konkreter. Jozef sagte beim<br />
Frühstück, dass er sich nach Berit sehne. Er hatte mich beobachtet und wir sahen uns traurig<br />
an. Er öffnete zwei Flaschen Bier.<br />
Wir gaben uns so unauffällig wie möglich in Bijeljina, es ist Serbengebiet. Auf dem Marktplatz<br />
kaufte sich Jozef eine serbische Zeitung und Zigaretten. Mir war bis dahin nicht aufgefallen,<br />
dass er rauchte, aber zur Aufrechterhaltung der Tarnung war das wohl nötig. Jeder junge<br />
Jugoslawe – als solcher gab er sich – raucht, so scheint es. Ich hielt mich sehr zurück, wollte<br />
nicht unbedingt als Österreicher, der sich für einen Serben ausgab, auffallen, aber auch Jozef<br />
übertrieb es nun nicht mehr mit seiner Dreistigkeit. Mit seinem sicheren Blick für Menschen,<br />
denen man vertrauen konnte, eine Eigenschaft, für die ich ihn bis heute am meisten bewundere,<br />
griff sich Jozef einen jungen Mann, vielleicht etwas älter als er, sicher jünger als ich, und<br />
bedeutete mir, ich solle bleiben, wo ich war, in einem Straßencafé. Ich setzte mir seine Sonnenbrille<br />
auf, nahm mir die Zeitung und tat cool, während er auf den Mann zuging, ihn ansprach und<br />
ihn scheinbar rasch für sich gewann. Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, immer aufs Neue<br />
fasziniert, wie Jozef in kurzer Zeit, mit dosierten Gesten, einer dem Gegenüber individuell<br />
angepassten Mimik, einem einnehmenden Habitus und den offensichtlich richtigen Worten,<br />
fremde Menschen für sich zu gewinnen im Stande ist. Ein Fänger.<br />
Wie sich herausstellte, war der junge Mann, den mir Jozef später als Dejan bekannt machte,<br />
Student aus Zagreb, der serbische Freunde in Bjeljina besuchte. Ein etwas untersetztes<br />
Bürschchen mit langen, dünnen Kotletten und einem stets wachen Gesicht. Mag sein, dass<br />
seine fast permanent hochgezogenen Augenbrauen, die ein Dauerstaunen suggerierten, diesen<br />
Eindruck verstärkten. Jozef hatte ihn nach Kontakten zu muslimischen Familien befragt und<br />
ihm auch den Grund unseres Interesses nicht verschwiegen. Dejan hatte zwar keine große<br />
Lust, sich an unserer Spurensuche zu beteiligen – das musste mir Jozef nicht übersetzen, denn<br />
das erkannte man an seinem Tonfall und seiner Körperhaltung, und Jozef war sich sicher, dass<br />
ich das bemerkte –, und eigentlich hatten wir ihn ja auch darum nicht gebeten, aber er war<br />
hilfsbereit. Er würde seinen serbischen Freund fragen. In drei Stunden, am selben Ort, meinte<br />
er konspirativ. Auch das glaubte ich ohne Jozef zu verstehen.<br />
Als wir beide etwas verloren in diesem Café saßen, nachdem Dejan gegangen war, merkten<br />
wir, dass wir uns nun für einige Zeit aus dem Weg gehen mussten. Jozefs Energie war offenbar<br />
verbraucht. Es schien, als sei Berit in seinen Gedanken so präsent wie Kerstin mir. Ich versuchte,<br />
die sentimentalen Anflüge durch Erinnerungen an das letzte Vögeln mit ihr zu verscheuchen,<br />
als ich zum Hotel zurückging. Sie hatte bei mir in Wien übernachtet, tags zuvor war sie angereist,<br />
nicht aus Regensburg, sondern aus der Nähe von Koblenz, woher sie stammte. Mit meinem<br />
Vater verstand sie sich ausgezeichnet, beide fachsimpelten gerne über Weißweine. Sie war<br />
etwas ärgerlich, als ich sie drängte, endlich schlafen zu gehen. Wir wollten früh um fünf losfahren.<br />
„Dobar dan!“<br />
Bohinj. Schweigen<br />
57
Der Glatzkopf stand hinter dem Rezeptionstresen, eine Zeitung vor sich, eine leere Tasse Kaffee<br />
auf dem Tisch an der Seite, reichte mir den Zimmerschlüssel mit einem riesigen Holzbommel<br />
daran und tat, trotz Zeitung und Kaffee, so beschäftigt, als seien nicht etwa vier oder fünf,<br />
sondern vierzig oder fünfzig Personen zu Gast in dem Hotel.<br />
„Dobar dan!“, gab ich freundlich zurück, doch mein Wiener Akzent musste zu durchdringend<br />
gewesen sein. Der Glatzkopf grinste. Wer weiß, vielleicht hatte ihn Jozef auch inzwischen ins<br />
Bild gesetzt.<br />
Die Videoaufnahmen, die ich vom Zimmerfenster im ersten Stock aus auf den Straßenzug und<br />
den entfernt liegenden Marktplatz machte, erschöpften sich bald. Ich spule vor. Die wichtigeren<br />
Aufnahmen, die unglaublichen, kommen später.<br />
Mittwoch<br />
Schneewittchen und die Fruchtzwerge. Der Leberfleck einen guten Zentimeter über der Warze<br />
links. Jozefs Schnarchen. Ich erwachte und war beschämt. Für ihre Brüste kann sie ja nichts<br />
und der Sex mit ihr war stets o.k., sagte ich mir, verstand aber gleichzeitig nicht, warum ich<br />
mir das betonte. Ich zweifelte kurz, ob es diesen Skater-Sven, den sie beim Inlinern am<br />
Regenufer nördlich von Regensburg kennen gelernt haben will, überhaupt gibt, und, wenn ja,<br />
ob ich ihm vielleicht eine aufs Maul hauen soll.<br />
„Denk nicht so viel nach, mein Freund! Steh auf, wir haben zu tun heute!“ Jozefs Laune war<br />
erstaunlich, gestern Nacht hatte er noch fast geheult, als er mir von Berit und ihren Tangokünsten<br />
erzählt hatte. Er warf mit einem Kronenkorken nach mir.<br />
„Trottel!“, rief ich und furzte laut.<br />
Dejan hatte Jozef die Adresse zweier muslimischer Familien bzw. davon, was von ihnen übrig<br />
geblieben war, gegeben. Er hatte ihm aber geraten, eher nach Janja, einige Kilometer südlich<br />
von Bijeljina, zu fahren. Am Ortsrand, eher etwas außerhalb, gebe es einen Hof, ein altes<br />
muslimisches Ehepaar lebe dort zurückgezogen. Der Alte sei zwar etwas verrückt und verstockt,<br />
aber er müsste vieles wissen, was uns interessierte. Er habe wohl Schlimmes erlebt während<br />
des Krieges, aber Genaueres habe Dejan auch nicht in Erfahrung bringen können. Ejup oder<br />
Elup oder so heiße er.<br />
Als wir in Janja nach ihm forschten, begegnete man uns mit einer Mischung aus Scheu und<br />
Mitleid. Selbst Jozef konnte aus den Serben, die wir nach dem Alten befragten, kaum Sinnvolles<br />
herausbekommen. Wenn wir Glück hätten, würde seine Frau mit uns reden, der alte Ejup<br />
Izamovic spreche ja nicht mehr, giftete eine junge, durchaus hübsche, aber verhärmt blickende<br />
und zahnlückige Verkäuferin in einem Tabakladen. Jozef hatte Mühe, den hiesigen Dialekt zu<br />
verstehen, aber er konnte das Wesentliche, die Wegbeschreibung zu dem Hof, erfassen. „Wir<br />
sollten aufpassen, dass er uns nicht mit seinem Stock verprügelt, wie er es schon mit einem<br />
kroatischen Journalisten vor zwei Jahren gemacht hat“, übersetzte Jozef die bissige Verabschiedung<br />
der Verhärmten.<br />
Pausentaste. Wie jedes Mal, wenn ich, um mich zu vergewissern, dass ich nicht phantasiere,<br />
den Videofilm ansehe, so stoppe ich das Band auch jetzt an dieser Stelle. Und wenn ich Ejup<br />
betrachte, seine trotz allem weich gebliebenen Züge, seine flinken Augen in den tiefen Höhlen,<br />
die unzähligen Furchen in seinem Gesicht, die Irrwegen gleichen, hundertmal niedergetrampelt<br />
auf der Suche nach Mirjana, sein Kinn, das von Unbeugsamkeit zeugt, wenn ich seine Hände<br />
sehe, die scheinbar ruhig und wie auf ewig die Lehnen seines Sessels bedecken, wenn ich<br />
diesen Mann sehe, dann kann auch weiterhin nie ein Anflug von Reue in mir aufkommen.<br />
Wieder wirkte Jozefs Fähigkeit, Menschen zu fangen. Mit Irina Izamovic, die uns zunächst<br />
ruhig, aber bestimmt vom Hof verweisen wollte, kam er in ein, wie der Tonfall schnell verriet,<br />
vertrauliches Gespräch. Nachdem Jozef der alten Frau versichert hatte, dass wir keine Reporter<br />
seien und auch nicht vom Gesundheitsamt – das zu betonen riet uns schon die Verhärmte im<br />
Bohinj. Schweigen<br />
58
Tabakladen –, erlaubte sie, dass ich ihren Mann, die Stube und den Hof filmte. Ich sah mich<br />
draußen um. Ein paar Hühner liefen herum, an jeder Mauer waren Einschusslöcher zu sehen.<br />
Im Hintergrund ragten ausgebrannte, halb fertige Ziegelbauten nahe einem Waldstück hervor.<br />
Mir gruselte. Ich setzte mich in den Fiesta und wartete drei Stunden auf Jozef. Mein Plan,<br />
Kerstin auf spezielle Weise von dieser Unternehmung in Kenntnis zu setzen, reifte.<br />
Jozef kam zurück, ich filmte ihn. Wankend, gebeugt war er. Ich schaltete die Kamera ab. Nach<br />
einer Viertelstunde des Schweigens erzählte er, was Irina berichtet hatte.<br />
Ich blicke auf das Standbild von Ejup und gebe wieder, was mir wiedergegeben wurde.<br />
Jozef sagte, Ejup spräche seit jenem 25. März 1993 nicht mehr, kein Wort. Er wäre verstummt,<br />
als er gesehen hätte, was mit Mirjana, seiner zweijährigen Enkelin, geschehen wäre. Serben<br />
aus dem Nachbardorf, junge, vielleicht siebzehnjährige Burschen in Uniformen einer Polizeieinheit,<br />
hätten damals die muslimischen Familien in Janja überfallen, fast alle Männer erschossen, die<br />
Frauen vergewaltigt. Mirjana hätte am Rand der Straße gespielt, mit ihrer Puppe. Sie hätte<br />
gesessen und wäre trotz der Schüsse nicht davongelaufen. Ein junger Serbe hätte dem Mädchen<br />
dann, wie man vom Fenster aus hätte erkennen können, offensichtlich auf Anweisung des<br />
Kommandeurs der Polizeigruppe, die Puppe weggenommen und ihm eine Handgranate in die<br />
Hand gedrückt, die der junge Serbe noch scharf gemacht hätte, ehe er weggelaufen wäre. Ein<br />
leises „Nein“ wäre das letzte Wort gewesen, was Ejup, der die Tragödie von der Küche aus<br />
gesehen hätte, seither gesagt hätte.<br />
Jozef wartete kurz, senkte seinen Blick und ich sah, wie seine Unterlippe zitterte. Er hatte<br />
zunehmend Mühe mit dem Deutschen, wie er sich in den letzten Stunden seit dem Vortag<br />
überhaupt immer mehr zu einem Jugoslawen, oder was ich dafür hielt, gewandelt hatte. Er<br />
stieß einen Fluch aus, vermutlich auf slowenisch, und schob die CD der Punkrockband in den<br />
Player, der nicht so recht in das schäbige Plastik der Fiesta-Armaturen passen wollte.<br />
Nach einer Weile fuhren wir los.<br />
Donnerstag<br />
Ich suchte verzweifelt die Tom-Waits-CD, aber die hatte ich vermutlich in Kerstins Wagen<br />
gelassen. Die Musik ist nichts für sie, ihr gefallen R.E.M. und Eros Ramazotti, romantische<br />
Komödien und amerikanische Historienromane. Ein Geschmacksprofil, dem ich mich nicht<br />
unterwarf, aber das ich duldete. Jetzt kam mir das ins Bewusstsein und wurde mir peinlich.<br />
Wir kramten unsere Sachen zusammen, Jozef beglich die Hotelrechnung. Ich mochte dem<br />
Glatzkopf nicht mehr in die Augen sehen, zu deutlich erinnerte er mich an einen jener serbischen<br />
Mörder, die zuvor und danach, wie sie suggerierten, keiner Fliege etwas zu Leide tun konnten.<br />
Am Vortag waren wir noch stundenlang herumgefahren, abgebogen in die Feld- und Waldwege<br />
zwischen Janja und Suho Polje, Bijeljina und Dovorovi, Ugljevik und Zabrde. Waren durch die<br />
Wälder gegangen mit Abstand voneinander. Ich sehe einen lichten Birkenwald auf dem Band,<br />
wie es ihn auch bei Celje, bei Koblenz, vor Klagenfurt und vor Wien geben könnte und wir<br />
spürten förmlich die Leichenberge in Massengräbern unter uns.<br />
„Du weißt doch noch mehr?“, hatte ich ihn gefragt. Und er wusste noch mehr. Wusste, dass<br />
Ejups Tochter, Mirjanas Mutter, etwa zur gleichen Zeit, als das Kind zerfetzt wurde, von anderen<br />
siebzehnjährigen serbischen Burschen vergewaltigt wurde. Noch in der gleichen Nacht erhängte<br />
sie sich. Wusste, dass die Serben auch in die Stube der Großeltern eindrangen, auf den am<br />
Boden kauernden Ejup urinierten und Irina verprügelten, aber am Leben ließen, im Gegensatz<br />
zur spärlichen jungen Einwohnerschaft unter den muslimischen Familien in Janja. Wusste, dass<br />
Ejup danach binnen eines halben Jahres fast um einen Kopf kleiner wurde. Wusste, dass er<br />
im Juni 2001, als ein Vertreter der lokalen Gesundheitsbehörde auftauchte, um nach dem<br />
vermeintlich verrückten Stummen zu sehen, diesem mit einem Fausthieb das Jochbein<br />
zerbröselte. Wusste, dass Ejup nur noch tonlos weint, nicht mal schluchzen könne er mehr.<br />
Bohinj. Schweigen<br />
59
Wusste, dass SreckoJankic, der Kommandeur der Polizeigruppe, allein und meist betrunken,<br />
in Glavcice, etwa fünf Kilometer südlich von Janja, lebte, unbehelligt, unauffällig.<br />
„Berit is a Schnalln“, hatte Jozef danach auf wienerisch geendet, bevor wir schlafen gingen.<br />
Er kaufte ein Frühstück ein, das wir im Wagen zu uns nahmen. Weißbrot, Salami und Bier. Ein<br />
Anruf bei Dejan, der noch während des Telefonats zu uns kam: drei Schläge aufs Autodach.<br />
Während ich ihn filmte, zog er die Brauen noch weiter hoch. Dann ein Zusammenkneifen der<br />
Augen, ein Zögern, Jozef, der Fänger, hatte ihn etwas gefragt, die Brauen wanderten nordwärts,<br />
als Jozefs Tonfall vertraulicher, auch fordernder wurde, aber immer freundlich blieb. Schließlich,<br />
die Brauen oben, die Kotletten dünn, der ganze Kerl untersetzt, geht wohl klar.<br />
„Geht klar“, übersetzte Jozef.<br />
Drei Stunden später trafen wir ihn wieder, an einem rostigen Bushäuschen am Ortsausgang.<br />
Auch er hatte seine Sachen gepackt, wollte nicht mehr im Ort sein und Verdacht auf sich<br />
lenken. Kabelbinder hatte Jozef selbst besorgt, die Tokarev TT30 und zwölf Schuss Munition<br />
waren in Küchenrolle eingewickelt. Er erhielt von Jozef wohl mehr Geld als erwartet, seine<br />
Brauen trieben himmelwärts. Ein Handschlag ohne Blickkontakt zum Abschied. Ich wollte ihn<br />
umarmen, spürte aber eine Abwehr. Das mochte er nicht.<br />
Kurz nach elf klingelte ein behandschuhter Finger in der mittleren Klingelsäule unter einem<br />
verfaulenden Vordach eines Wohnblocks am Ostrand von Glavcice. Die Drina ist hier zu riechen.<br />
Srecko Jankic grinste, als er uns sah, er roch, dass wir ähnlich nach Schnaps stanken wir er<br />
selbst, aber unsere Selbstbetäubung diente andere Zwecken. Jozef sagte etwas auf Serbokroatisch<br />
zu ihm, schaute freundlich, fing ihn, er ließ uns ein. Das Videoband springt vom fauligen<br />
Vordach direkt zum gefesselt auf dem modrigen Teppichboden seines Wohn- und offenbar<br />
auch Schlafraums knienden Srecko Jankic. Das Überwältigen ging schnell, ihn bremste, uns<br />
beschleunigte der Alkohol. Er blutete aus der Nase und aus dem rechten Auge. Es war wohl<br />
nur ein kleiner Riss, den ein Fußtritt von mir in sein Gesicht hervorrief, aber ich erschrak. Ich<br />
wundere mich, dass mich gerade jenes Bild schaudern lässt, wenn ich es auf dem Band sehe,<br />
denn Srecko Jankic sah einige Stunden später, das Grinsen war noch nicht vollständig aus<br />
seinem Gesicht verschwunden, durchaus entstellter aus. Immer wieder fragte Jozef nach dem<br />
Warum.<br />
„Zawto, zawto, zawto?“ Wir prügelten ihn mit den Fäusten, mit einem Holzstock, den wir im<br />
Wald bei Janja aufgeklaubt hatten, mit einem losen Kantstück eines massiven Bilderrahmens,<br />
das wir in seiner Wohnung fanden. Er nahm die Schläge mit der Hilflosigkeit eines Betrunkenen<br />
hin. Einmal sahen wir ihn für eine gute Stunde lang nur an, er murmelte etwas von „Jasenovac“,<br />
jedenfalls glaube ich das zu hören, wenn ich mir die Szene oft genug ansehe. Etwa um vier<br />
Uhr früh schoss erst Jozef, aus kurzer Distanz in den Oberschenkel seines rechten Beins, ich<br />
schoss gleich darauf in sein linkes Knie.<br />
Das Bild, auf dem die roten Klumpen an der unteren Körperhälfte von Srecko Jankic zu sehen<br />
waren, nahm ich mit meinem Handy auf, schickte es aber erst, als wir in Ungarn waren, ohne<br />
Kommentar an Kerstin.<br />
Bohinj. Schweigen<br />
60
1. Armin Konnert: Dinge, die man haben kann<br />
Armin Konnert, geb. 1976 in Rumänien. 1987 wandert er mit der<br />
ganzen Familie nach Deutschland aus. Er besucht ein Gymnasium<br />
in Freiburg und Laufen an der Salzach. Anschließend studiert er von<br />
1997 bis 2002 Zahnmedizin in Mainz und Ulm, wo er 2003 promoviert.<br />
Derzeit ist Armin in einer Ordination in Traunstein als Zahnarzt tätig.<br />
Im Winter hängt sein Herz seit Jahren am Telemark-Skifahren, im<br />
Sommer klettert er gern und erkundet mit dem Rucksack fremde<br />
Kulturen. Armin schreibt mehr für wissenschaftliche Publikationen<br />
als nur aus poetischen Gründen. Er ist eher der "untypische" Zahnarzt<br />
und froh, wenn ihm Leute das nicht glauben, weil Zahnärzte leider<br />
ein etwas verstaubtes, angstbeladenes Image hätten. Aber wie er<br />
selbst sagt: "Bei mir tut's nie weh! (Was natürlich alle sagen.)"<br />
2. Tobias Hagleitner: Verkehren, werktags<br />
Tobias Hagleitner, geb. 1981 in Bregenz. Verbringt dort seine Kindheit<br />
mit sechs Geschwistern. Nach dem Gymnasium zieht er den<br />
Zivildienst im Krankenhaus dem Bundesheer vor. Anschließend<br />
studiert er Architektur an der Kunstuni Linz. Währendessen verschiedene<br />
sonstige Erlebnisse, Erfahrungen und Entwicklungsstufen. Er<br />
nützt einen Teil des beschriebenen Zeitraums, um akustische und<br />
elektrische Gitarre spielen zu lernen und die Freude daran gelegentlich<br />
mit anderen zu teilen. Neben dem bisherigen Studium macht er<br />
einige Reisen, etwa nach Mexico, Bangladesh oder Ecuador. Tobias<br />
hat schon ein paar Texte und Gedichte geschrieben, aber bis vor<br />
kurzem nur ganz für sich allein.<br />
3. Gertraud Klemm: Vegas Baby<br />
Gertraud Klemm, geb. 1971 in Wien. Auf eine unspektakuläre Jugend<br />
in Baden folgt ein Studium der Biologie. Seit 1998 ist sie im Institut<br />
für Umweltmedizin der Stadt Wien tätig. Gertraud schreibt seit dem<br />
13. Lebensjahr immer wieder phasenweise, aber seit dem letzten<br />
Jahr sehr intensiv - hauptsächlich Kurzgeschichten und Essays. Sie<br />
ist fest entschlossen, langfristig mit der Schreiberei ihr Geld zu<br />
verdienen, ist aber nicht ungeduldig.<br />
Weitere Preisträger:<br />
Matthias Blaickner: Lises Freitag<br />
Matthias Blaickner, geb. 1977 in Bludenz. Als jüngstes von vier Kindern wächst er in der<br />
Gebirgsgegend Montafon auf. Mit 19 übersiedelt er nach Wien, um an der TU Wien Technische<br />
Physik zu studieren. Während des Studiums verschlägt es ihn des öfters ins Ausland wie die<br />
USA, Spanien oder Südamerika, um dort zu Arbeiten, zu Studieren (unter anderem an der<br />
New York Film Academy) oder einfach zu Reisen. Nach Abschluss des Studiums im Juni 2003<br />
verdingt sich Matthias eine Weile bei einer Filmproduktionsgesellschaft, seit Mai 2004 ist er<br />
im Forschungscenter Seibersdorf angestellt, wo er seine Dissertation schreibt.<br />
Biografien<br />
61
Yvonne Giedenbacher: siebenuhrdreissig ff<br />
Yvonne Giedenbacher, geb. 1976 in Wels. 1994 rauscht sie nach Wien ab. Dort studiert sie<br />
z. B. Publizistik und Sinologie. Keine sieben Jahre später ist sie damit auch schon fertig.<br />
Dazwischen erste Erfahrungen mit der Arbeitswelt, z. B. im Kinobuffet und in einer Onlineredaktion.<br />
Seit 2001 werktags als Sozialwissenschafterin an einem Forschungsinstitut zu finden, an allen<br />
anderen Tagen meist daheim oder sonstwo lesend, sammelnd.<br />
Hans-Ulrich Gössel: Etwas von Paul<br />
Hans-Ulrich Gössel, geb. 1979 in Graz. Aufgewachsen in einem Oststeirischen Dorf, das seine<br />
regionale Bekanntheit für Äpfel und Landwirtschaftlichkeit hat. Er studiert in Wien und London<br />
Kommunikationswissenschaften. Dazwischen ist er ein Jahr in Mailand, um andere Dinge zu<br />
sehen. 2004 zieht er nach Valencia, um etwas Neues zu probieren. Hans-Ulrich spricht in<br />
einem Büro mit lustigen Menschen und arbeitet hart. In seiner Freizeit wäre er trotzdem lieber<br />
eine Schildkröte, aber mit Flügeln wie ein Adler und einem Gebiss wein ein Hai. Manchmal<br />
rauscht auch das Meer in seiner Nähe. Das findet er schön. Von dem, was in der Zukunft<br />
passieren wird, weiß er noch nichts.<br />
Nora Holländer: Familienglück<br />
Nora Holländer, geb.1984 in Konstanz am Bodensee. 2004 macht sie Abitur an einem<br />
humanistischen Gymnasium. Aufgewachsen in einer Malerfamilie, begleitet sie Malerei und<br />
Kunsthandwerk seit ihren Kindertagen. Neben dem Lesen schreibt sie auch selbst gerne,<br />
allerdings gewöhnlich im Stillen. Außerdem hört sie sehr gerne Musik. In den kommenden<br />
Monaten wird sie voraussichtlich ein Praktikum in einer psychiatrischen Klinik auf Malta beginnen.<br />
Harald Kittler: Immer <strong>Werktags</strong><br />
Harald Kittler, geb. 1966 in Wien. Im Jahr darauf erste Worte, dann lange nichts. Vor einem<br />
Jahr wieder begonnen zu schreiben, dazwischen in chronologischer Reihenfolge: Lagerarbeiter,<br />
Briefträger, Portier, Plakateur, Platzanweiser, Kellner, Taxifahrer, Medizinstudent, Krankenpfleger,<br />
schließlich im Gesundheitswesen geblieben. Harald lebt in Niederösterreich.<br />
Elisabeth Koschat: Tango tangentiale<br />
Elisabeth Koschat, geb. 1971 in Wien. Seit Absolvierung von Schule und Studium (Geschichte<br />
und Finno-Ugristik) werkt sie in verschiedenen Schreibtischjobs, derzeit als Assistentin in einem<br />
Consultingbüro in Wien. Nach über 30jähriger Stadtexistenz siedelt sie vor 2003 aufs Land<br />
(nach Deutsch Wagram in Niederösterreich), ohne es bisher zu bereuen. Literatur passiv (Lesen)<br />
betreibt sie seit Jahren regelmäßig, Literatur aktiv (Schreiben) sporadisch und mit jahrelangen<br />
Pausen, bisher gab es eine Veröffentlichung im Rahmen des Siemens-Literaturwettbewerbes<br />
("FAQ im Call Center", in: .txtour 2000).<br />
Richard Purschwitz: Bohinj. Schweigen<br />
Richard Purschwitz, geb. 1970 in Schwandorf. Studiert in Regensburg Deutsch, Soziologie,<br />
Politik und Geschichte. Seitdem Aufbau einer bürgerlicshen Existenz mit Lehrerjob, Frau,<br />
Kindern, Eigenheim. Gleichzeitig der oberpfälzischen Lethargie, Sturheit, Unberechenbarkeit<br />
und Störrigkeit verfallen. Besondere Affinität zeigt er für Afrika und Osteuropa (slawophil?). Die<br />
Töchter Hannah und Amelie und sein Dasein als Lehrer an der Fach- und Berufsoberschule<br />
Schwandorf bestimmen weitgehend seinen Lebensrhythmus, die Nischen zum Lesen, Schreiben<br />
und Spinnen müssen gesucht werden. Er lebt in Nabburg.<br />
Biografien<br />
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