06.11.2013 Aufrufe

Notwendigkeit einer Konsenskultutr - Gopal Kripalani

Notwendigkeit einer Konsenskultutr - Gopal Kripalani

Notwendigkeit einer Konsenskultutr - Gopal Kripalani

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

F O R U M<br />

<strong>Gopal</strong> <strong>Kripalani</strong> (Braunschweig)<br />

Die <strong>Notwendigkeit</strong> <strong>einer</strong> Konsenskultur 1<br />

Einführung<br />

Was C.P. Snow 2 1959 in Cambridge in<br />

seinem Vortrag „Zwei Kulturen“, die Kultur<br />

der Literaten und Geisteswissenschaftlern<br />

<strong>einer</strong>seits und die der Natur- und Ingenieurwissenschaftlern<br />

andererseits, beklagte,<br />

möchte ich in meinen Worten wie folgt<br />

formulieren: „Jede dieser beiden Gruppen<br />

benimmt sich wie die edlen Brahmanen<br />

und schaut auf die andere als Parias herab“.<br />

Snow war selbst ein Naturwissenschaftler.<br />

Später betätigte er sich als Schriftsteller.<br />

Seine wichtigsten Aussagen in Kürze<br />

lauten: Die Vertreter der Literatur und Geisteswissenschaften<br />

und die der Naturwissenschaften<br />

und Technik können sich gegenseitig<br />

nicht leiden und machen oft abfällige<br />

Witze übereinander. Es herrsche eine Kluft<br />

der wechselseitigen Ignoranz, gar Feindschaft<br />

zwischen ihnen. Literaten und Geisteswissenschaftler<br />

betrachten sich als „die<br />

alleinigen Intellektuellen“ und behaupten<br />

von Naturwissenschaftlern und Ingenieuren,<br />

sie seien selbstherrlich und überheblich.<br />

Umgekehrt werfen die Naturwissenschaftler<br />

und Techniker den andern vor,<br />

sie ließen sich in ihren sozialen Vorstellungen<br />

von einem ihnen eigenen seichten<br />

Optimismus leiten. Zitat Snow: Die Literatur<br />

wandelt und korrigiert sich langsamer<br />

als die Wissenschaft und schleppt<br />

ihre Irrwege länger mit sich. Snow stellte<br />

in seinem Vortrag auch fest, dass die<br />

Mehrheit der Naturwissenschaftler und<br />

Techniker a-religiös und politisch links orientiert<br />

sei und aus bescheidenen Verhältnissen<br />

komme. Snow weiter: „Wenn sich Akademiker<br />

abends zu <strong>einer</strong> gehobenen Unterhaltung<br />

treffen, dann wird im Wesentlichen<br />

über Themen aus dem klassischen<br />

Bildungsbereich gesprochen, und jeder Naturwissenschaftler<br />

bemüht sich zu demonstrieren,<br />

dass er kein Banause ist, sondern<br />

sich in Geschichte und Literatur gut auskennt<br />

– von Shakespeare bis zurück zu Homer.<br />

Hingegen habe ich noch keinen Geisteswissenschaftler<br />

getroffen, der versucht,<br />

den Naturwissenschaftlern zu zeigen, dass<br />

er etwas mit dem Begriff des Elektrons<br />

oder der Entropie anfangen kann – kurz,<br />

dass er naturwissenschaftliche Bildung besitzt.<br />

Hier herrscht eine offensichtliche<br />

Asymmetrie, die bis zum heutigen Tage<br />

andauert.“<br />

Und so müssen sich Geisteswissenschaftler<br />

zu Recht den Vorwurf der Naturwissenschaftler<br />

gefallen lassen, sie hätten beispielsweise<br />

keine Ahnung vom Singularitätstheorem<br />

der Allgemeinen Relativitätstheorie.<br />

Gleichermaßen wird es dem Naturwissenschaftler<br />

ergehen, wird er von Literaten<br />

mit Sokrates, Shakespeare und<br />

Goethe herausgefordert. Dass aber bei der<br />

heutigen hochgradigen Differenzierung<br />

wissenschaftlicher Fächer ein gebildeter<br />

Mensch, wie intellektuell auch immer, nicht<br />

alles wissen kann, ist wohl nachzuvollziehen.<br />

Im Jahr 2009, also 50 Jahre später, prangerte<br />

Ferdinand Knauß, der Feuilleton-Chef<br />

des Handelsblattes 3 , den „hartnäckigen<br />

Aufklärung und Kritik 4/2011 109


Snobismus“ vieler Geisteswissenschaftler<br />

gegenüber den Naturwissenschaften<br />

an, kritisierte aber gleichermaßen scharf<br />

„die teils erschreckend naiven Allmachtsansprüche“<br />

mancher Naturwissenschaftler.<br />

Hierzu sei ein arbiträr gewähltes Beispiel<br />

genannt: Der Biologe Ulrich Kutschera<br />

vertritt die Auffassung, dass sich letztendlich<br />

unser gesamter verlässlicher, technologisch<br />

verwertbarer Wissensschatz auf<br />

die Erkenntnisse der Natur- und Ingenieurwissenschaftler<br />

stützt 4 . Seinen Kritikern<br />

entgegnete er: Das Denken sei „ein biologischer<br />

Vorgang und das Verständnis s<strong>einer</strong><br />

Produkte deswegen Sache der Biologie“.<br />

5 Die Geisteswissenschaft wird von<br />

Kutschera als Verbalwissenschaft bezeichnet.<br />

Diese mit Arroganz gepaarte Gegnerschaft<br />

rührt nicht zuletzt daher, dass die jeweiligen<br />

Vertreter, anstatt miteinander zu reden,<br />

es vorziehen, übereinander zu reden.<br />

Mann könnte meinen, dass die Zeit seit<br />

dem Vortrag von Snow stehen geblieben<br />

ist. Um das Schisma zu erklären, muss<br />

man grundsätzlich werden.<br />

Der Nimbus der Wissenschaften des<br />

Geistes<br />

Zwar sind der Mensch und sein Geist<br />

(griech.: pneuma, nous, psyche) aus der<br />

Natur hervorgegangen, dennoch betrachten<br />

sie sich schon lange nicht mehr als ein<br />

Ganzes. Der intellektuelle Veredlungsprozess<br />

des Geistes hat im Zuge der Evolution<br />

einige Millionen von Jahren in Anspruch<br />

genommen. Abgeschlossen scheint er noch<br />

nicht zu sein. Das Gehirn ist die Plattform,<br />

auf welcher der Geist im Verbund mit dem<br />

Bewusstsein seine diesseitigen kognitiven<br />

Aufgaben und Pflichten für das Selbst tagtäglich<br />

erfüllen muss. Die Diesseitigkeit allein<br />

reicht aber dem „Ich“ nicht. Der Geist<br />

110<br />

befasst sich darüber hinaus mit der Transzendenz,<br />

was als spirituelle Sehnsucht der<br />

Menschen bezeichnet wird. Das Menschenego<br />

gibt sich damit nicht zufrieden, dass<br />

der Tod s<strong>einer</strong> so bedeutenden und lieb<br />

gewonnenen Existenz ein Ende setzt. Ein<br />

Weiterleben in der Jenseitigkeit ist das Ziel.<br />

Der Geist ist der Erzeuger dieser Imagination<br />

von einem Wohlfühlgefühl im Schoße<br />

des Jenseits. Um sich auch diesseits wohlfühlen<br />

zu können, schafft sich der Mensch<br />

des Geistes Kunst, Dichtung, Musik etc.,<br />

was von s<strong>einer</strong> großen Schöpfungskraft<br />

zeugt. Die industrielle Revolution und ihre<br />

Folgen, wie seelenlose Maschinisierung,<br />

Luftverschmutzung, Gewässerverunreinigung,<br />

Landflucht und Urbanisierung, verbunden<br />

mit dem Verlust des Heimatgefühls<br />

für den Menschen, brachte zwar mehr Wohlstand<br />

und einen höheren Lebensstandard,<br />

zerstörte aber die geistige Idylle. Den von<br />

Erdbeben und Tsunami verursachten atomaren<br />

Super-Gau in Japan im März 2011<br />

müssen nach Ansicht mancher Geistesund<br />

Sozialwissenschaftler die Physiker<br />

und Techniker verantworten. Nach Einschätzung<br />

des Wiener Philosophie-Professors<br />

Lissmann fehlen den Natur- und Ingenieurwissenschaften<br />

grundsätzlich soziale,<br />

ethische, ästhetische sowie normative<br />

Elemente. 6<br />

Fest zu halten ist, dass beide Gruppen darauf<br />

bestehen, Wissenschaft zu betreiben.<br />

Wissenschaft bedeutet: Neues Wissen gewinnen,<br />

es vermehren, an Interessierte weitergeben<br />

und für künftige Generationen geordnet<br />

konservieren. Ist Wissenschaft stets<br />

eine Annährung an Wirklichkeit bzw. Wahrheit?<br />

Zugegebenermaßen sind die Begriffe<br />

Wirklichkeit und Wahrheit semantisch<br />

hoch ambivalent. Die Wahrheitsdefinition<br />

der Scholastischen Philosophie scheint mir<br />

sehr trefflich: Thomas von Aquin definierte<br />

Aufklärung und Kritik 4/2011


Wahrheit als „Entsprechung zwischen Verstehen<br />

und Wirklichkeit“. 7 Wenn unser<br />

Verstand einen Gegenstand oder Tatbestand<br />

so widerspiegelt, wie der in sich<br />

selber ist, dann haben wir einen kleinen<br />

Ausschnitt der Wahrheit, wenn auch nicht<br />

ihre ganze Größe, erblickt.<br />

Begriffsdifferenzierung<br />

Der Begriff Wissenschaft ist bekanntlich<br />

eine Wortschöpfung der Neuzeit. 1849<br />

übersetzte Jacob Schiels den angelsächsischen<br />

Begriff „moral sciences“ von John<br />

Stuart Mills mit „Geisteswissenschaft“ 8 ,<br />

der 1883 von Wilhelm Dilthey in seinem<br />

Werk Einleitung in die Geisteswissenschaften<br />

geprägt und postuliert wurde 9 . Dilthey<br />

fasste darunter all die Disziplinen zusammen,<br />

die mit der Forschung des menschlichen<br />

Geistes und Psyche zu tun haben.<br />

Somit unterschied er diese von solchen<br />

Fächern, deren Forschungsgegenstand die<br />

reine Natur ist. Die Aufgabe der Geisteswissenschaft<br />

soll es sein, die geschichtlich-gesellschaftliche<br />

Wirklichkeit nachzuerleben,<br />

zu begreifen 10 , zu verstehen 11 , um<br />

damit Zweck-, Wertbeurteilungs- und Sinnfragen<br />

zu verbinden. 12 Und der Gegenstand<br />

der Geisteswissenschaften ist der<br />

Mensch, nicht als natürliches, sondern als<br />

geistiges Wesen; „Geist“ als denkende, handelnde<br />

und wertende anthropologische<br />

Grundgegebenheit und die von ihm hervorgebrachte<br />

„Kultur“, also das, was Dilthey<br />

„Objektivationen des Geistes“ genannt<br />

hat oder Jürgen Mittelstraß „die kulturelle<br />

Form der Welt“. 13 Sie tragen dazu<br />

bei, das eigene Menschsein zu verstehen,<br />

zu entfalten und zu gestalten, wobei ihre<br />

Objektwelt nie zu einem Ende kommen<br />

kann. In seinem Vortrag „Kultur- und Naturwissenschaft“<br />

ersetzte Heinrich Rickert<br />

1899 den Begriff „Geisteswissenschaft“<br />

mit „Kulturwissenschaft“, weil er darunter<br />

im Allgemeinen eine höhere Akzeptanz<br />

voraussetzte. 14<br />

Wissenschaft haben auch Griechen und<br />

Inder in der Antike betrieben. Sie gewannen<br />

neue Erkenntnisse z.B. in Mathematik,<br />

Medizin, Recht und Technik und machten<br />

sie jedem interessierten Bürger zugänglich.<br />

Ihr enorm großer Vorteil war ihr jeweils<br />

ausgefeiltes und durchdachtes Schriftsystem,<br />

was sie zum abstrakten Denken befähigte.<br />

Hinzu kamen intellektuelle, kulturelle<br />

und technische Kompetenzen. Von<br />

Ethik und Ästhetik geleitet, zielte ihr wissenschaftliches<br />

Bestreben auf das Erlangen<br />

von neuem Wissen. Eine Trennung<br />

der Forschungsgebiete schien ihnen überflüssig.<br />

15<br />

„Das Wissen unbeschadet seines inneren<br />

Reichtums ist immer eins, auch wenn<br />

gegenstandsbezogene Wissenschaften viele<br />

sind …Die Konfrontation von Naturund<br />

Geisteswissenschaften ist weder metaphysischer<br />

Herkunft noch auch nur metaphysik-analog<br />

geprägt.“ schreibt Prof.<br />

Scheier. 16<br />

Fest steht: Da der menschliche Geist stets<br />

der Träger allen Wissens ist, könnten wir<br />

alle Wissenschaften Geisteswissenschaften<br />

nennen. Betrachtet man die Wissenschaft<br />

aus der Perspektive des Forschungsgegenstandes,<br />

der stets die Natur ist, denn<br />

selbst Geistesphänomene der Psyche und<br />

des Intellekts beruhen auf der Natur, sind<br />

alle Wissenschaften Naturwissenschaften.<br />

Es wird deutlich, die Begriffsbildung Geistes-<br />

und Naturwissenschaft ist nicht willkürlich,<br />

sie ist konvergierend. 17<br />

Trennende Barriere<br />

Schon im 17. Jh. zu Lebzeiten von Galilei<br />

und Kepler, begannen sich die Wissenschaften<br />

des Geistes und der Natur allmäh-<br />

Aufklärung und Kritik 4/2011 111


lich und zunächst unmerklich zu differenzieren.<br />

Eine Dichotomie gab es aber noch<br />

nicht. 1884 schrieb Dilthey in einem Brief<br />

an den Grafen Yorck, dass die Zeit „naturwissenschaftstrunken“<br />

sei und es gelte,<br />

die „naturwissenschaftliche Radikalisierung“<br />

der Philosophie zu verhüten und das<br />

Selbstbewusstsein der Geisteswissenschaften<br />

zu stärken. Hierzu schreibt der Soziologe<br />

Wolf Lepenies, dass Dilthey zwar den<br />

Geisteswissenschaften eine selbstständige<br />

Seinshaftigkeit verleihen wollte, nicht aber<br />

eine trennende Barriere im Sinn hatte. 18<br />

Eine methodologische Abgrenzung führte<br />

der Physiker Hermann von Helmholtz<br />

ein. Er betonte die Eigenständigkeit der Geisteswissenschaften<br />

damit, dass sie allein<br />

den Zugang zu den Erscheinungen von<br />

Religion, Recht, Staat, Sprache, Kunst<br />

und Geschichte haben. 19 Dies veranlasste<br />

die Geisteswissenschaften, zu behaupten,<br />

dass sie allein für das Verständnis der conditio<br />

humana qualifiziert seien. Aus <strong>einer</strong><br />

Haltung der humanistischen Überlegenheit<br />

heraus wurde den Natur- und Ingenieurwissenschaftlern<br />

die Missachtung der Innerlichkeit<br />

des Menschen vorgeworfen.<br />

Entsprechende Ressentiments waren vorprogrammiert.<br />

Diese kurze Schilderung<br />

soll lediglich Meilensteine, nicht die ganze<br />

Geschichte der Trennung beschreiben.<br />

112<br />

Das Verhältnis Geist – Natur<br />

Die etablierten Definitionen sind uns geläufig.<br />

Was nicht Menschenwerk ist, ist<br />

Natur, während Kultur von Menschen produziert<br />

wird. Kultur ist nicht eine Ergänzung<br />

zur, sondern ein Gegenbegriff von<br />

Natur geworden. Die Scholastik kannte die<br />

Begriffe natura naturans für die ‚ewig<br />

schaffende’ Natur und natura naturata<br />

für die ‚endlich erschaffene’ Natur. Nach<br />

der Aufklärung wurde Natur zum Nutzgegenstand<br />

für Menschen. Diese Nutzbarmachung<br />

der Natur, die anfangs sinnvolle<br />

Formen hatte, pervertierte im Industriezeitalter<br />

zu <strong>einer</strong> erheblichen Ausbeutung.<br />

Heute stellen wir fest, dass die Fähigkeit<br />

zur Regeneration geschädigter Naturteile<br />

in zuverlässig messbaren Zeiträumen zweifelhaft<br />

geworden ist. Soweit zur Natur.<br />

Die Semantik des Begriffes „Geist“ ist im<br />

Laufe der Evolution komplexer und wirkmächtiger<br />

geworden. Ob der Geist edler geworden<br />

ist, bleibt unbeantwortet. Unter<br />

Geist verstehen wir die gesamte Kognitionsfähigkeit<br />

des Menschen im Diesseits<br />

und seine transzendenten Hoffnungen und<br />

Erwartungen an das Jenseits. Zweifelfrei<br />

ist der Mensch aus der Natur hervorgegangen.<br />

Somit ist er ein Kind der Natur. Mit<br />

der Zeit erwuchs ihm das Ich-Bewusstsein.<br />

Er fühlte sich erwachsen. Als sein<br />

Ich-Bewusstsein sich weiter verfestigte<br />

und stärker wurde, verließ der Mensch das<br />

„Elternhaus der Natur“, aber blieb der<br />

„Mutter“ Natur noch verbunden. Die Aufklärung<br />

machte den Menschen autark und<br />

selbstgefällig. Er kündigte die Allianz mit<br />

der Natur und wuchs zum „Rebell des<br />

Seins“, zum Wesen, das aus der Ordnung<br />

ausbrach. Die Naturferne nahm mit der<br />

Zeit gar unvernünftige Formen an. Die<br />

Trennung transformierte sich peu à peu in<br />

Entfremdung. Die einzelnen Etagen dieser<br />

schleichenden Krise lassen sich in Kürze<br />

wie folgt aufzählen.<br />

Die sog. Naturvölker lebten noch in Harmonie<br />

mit der Natur.<br />

In der Antike betrachtete sich der selbstbewusst<br />

gewordene Mensch als das höchste<br />

Wesen auf Erden.<br />

In der Romantik glaubte man noch, die<br />

Natur hätte eine Würde und ein eigenes<br />

Recht zu existieren.<br />

Aufklärung und Kritik 4/2011


Nach der Industriellen Revolution und<br />

insbesondere im letzten Drittel des 20.<br />

Jahrhunderts wurden wir Zeugen massiver<br />

Umweltzerstörungen.<br />

Nach dem zweiten Weltkrieg wuchs der<br />

Einfluss der Technik in der Bevölkerung<br />

enorm, während die Bedeutung der Geisteswissenschaft<br />

abnahm. Große Messen,<br />

Ausstellungen, Shows etc. befassen sich bis<br />

heute mehr und mehr mit Naturwissenschaft<br />

und Technik, schreibt die Wiener<br />

Philosophin Hazel Rosenstrauch. 20 Unbegrenzter<br />

Fortschritt, Gewinnoptimierung<br />

des Kapitals und Erwirtschaftung hoher<br />

Rendite wurden zu neuen Maximen erhoben,<br />

wogegen grundsätzlich nichts einzuwenden<br />

ist, denn sie decken die Kosten<br />

für weiteren Fortschritt und wachsende<br />

Sozialleistungen. Gleichzeitig aber wurde<br />

eine rigorose Unterwerfung der Natur zum<br />

Zwecke des materiellen Überflusses billigend<br />

in Kauf genommen. Seit Beginn des<br />

Industriezeitalters hegen Generationen die<br />

Hoffnung und den Glauben, dass, leben<br />

erst alle in Reichtum und Komfort, jedermann<br />

schrankenlos glücklich sein wird.<br />

„Diese Trias von unbegrenzter Produktion,<br />

absoluter Freiheit und uneingeschränktem<br />

Glück bildete den Kern der neuen<br />

Fortschrittsreligion.“ schrieb Erich Fromm<br />

in der Einführung seines Buches „Haben<br />

oder Sein“. 21 Diese Verheißung musste fehlschlagen,<br />

fügte Fromm hinzu. Als Ursachen<br />

nannte er nebst Fehlkonstruktionen des<br />

Wirtschaftssystems insbesondere zwei Irrtümer,<br />

zum einen die Annahme, dass die<br />

Befriedigung aller Wünsche zum dauerhaften<br />

Glück führte, zum anderen die Ansicht,<br />

dass unser auf der Selbstverwirklichung<br />

basierendes Konkurrenzsystem in<br />

Harmonie und Frieden münde.<br />

Wollte der Mensch im 19. und 20. Jh. Gott<br />

gleich sein, prahlen heute einige Gentechnologen<br />

und Vertreter der synthetischen<br />

Biologie: „Wir sind besser als Gott“. Natur-<br />

und Ingenieurwissenschaften werden<br />

als „die Epoche machenden Determinanten<br />

der Moderne“ bezeichnet. 22 Kein Wunder,<br />

dass durch diesen sich allein am materiellen<br />

Nutzen orientierenden Trend die<br />

Geisteswissenschaften als „brotlose Kultur“<br />

bezeichnet werden. Sie verlieren an<br />

Bedeutung an Universitäten ebenso wie im<br />

beruflichen Alltag. Ihnen fehlen „die Unmittelbarkeit<br />

des Nutzens“ und die „Verwertbarkeit“<br />

im Markt. Es entsteht eine besorgniserregende<br />

Arbeitslosigkeit der kulturwissenschaftlichen<br />

Akademiker. 23 Angesichts<br />

stets knapper werdender Zuschüsse<br />

sind ganze Fakultäten, insbesondere<br />

philosophische Fakultäten, von der Schließung<br />

bedroht.<br />

Im Vergleich zu geisteswissenschaftlichen<br />

Bereichen wird heute weltweit mehr in Forschung<br />

und Entwicklung der Natur- und<br />

Ingenieurwissenschaften investiert und<br />

publiziert. Die Kämpfe um knapper werdende<br />

Forschungsmittel gewinnen überwiegend<br />

die Bereiche Physik, Chemie und<br />

Technik. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft<br />

widmet knapp 15% ihrer bewilligten<br />

Mittel (ca. 1,5 Milliarden Euro) den<br />

Geistes- und Sozialwissenschaften, Wirtschafts-,<br />

Rechts- und Religionswissenschaften<br />

mit eingeschlossen. Jahr für Jahr<br />

fließt der Löwenanteil der Gelder in die<br />

Technologieforschung, denn: Geisteswissenschaften<br />

heilen keine Krankheiten, verlängern<br />

kein Leben und bringen keine profitablen<br />

Patente hervor.<br />

Zurück zum Verhältnis zur Natur. Von den<br />

in den letzten ca. 50 Jahren erzielten immensen<br />

Fortschritten in der Naturwissenschaft<br />

und Technik leitet der Mensch den<br />

Aufklärung und Kritik 4/2011 113


Anspruch auf totale Verfügbarkeit und<br />

Manipulierbarkeit der Natur ab, indem er<br />

sich ihr weit überlegen fühlt. Im Rausch<br />

des durch die Technik ermöglichten materiellen<br />

Wohlstands vernachlässigt er die<br />

Tatsache, dass gerade die Natur seine Biound<br />

Ökosphäre darstellt. Ihr, der Natur,<br />

verdankt er Klima-, Boden-, Wasser-,<br />

Wärme-, Strahlungs- und Stoffhaushalt<br />

der Erde, schlicht das Gedeihen seines<br />

Lebens. Schon aus egoistisch motivierten<br />

Beweggründen müsste er sein Handeln<br />

rasch ändern. „Geistige Vernunft“<br />

muss ihn leiten, wie Heraklit es nennen<br />

würde. Darunter verstand Heraklit die Verwandtschaft<br />

der menschlichen Vernunft<br />

mit der Weltvernunft.<br />

114<br />

Wir brauchen einen Neuanfang<br />

Wir brauchen einen neuen Anfang, wenn<br />

nicht gar eine Metanoia 24 , d.h. ein radikales<br />

Umdenken. Zwar hat der technische<br />

Fortschritt uns bisher unvorstellbare Ressourcen<br />

an Nahrungsmitteln, Energie und<br />

Rohstoffen erschlossen, Seuchen besiegt<br />

und unsere Lebenserwatung gesteigert.<br />

Aber die zusehends komplexer werdende<br />

vernetzte globalisierte Welt konfrontiert<br />

uns mit zahlreichen, bisher ungekannten<br />

Herausforderungen und Unwägbarkeiten<br />

wie Klimawandel, Artenschwund, Krankheiten<br />

wie HIV und Aids, Krebs, Alzheimer<br />

und Parkinson, religiösen Konflikten, Finanz-<br />

und Wirtschaftskrisen, Risiken der<br />

Nahrungs-, Wasser- und Energieknappheit<br />

angesichts der wachsenden Weltbevölkerung<br />

etc. Diese Geschehnisse bergen die<br />

Tücke, nicht linear zu laufen.<br />

Die Lösung dieser Probleme wird nicht innerhalb<br />

der Grenzen einzelner Disziplinen<br />

zu finden sein, zumal sich die Wissenschaft<br />

durch fortschreitende Spezialisierung<br />

stark vervielfältig hat. So sind ergänzende<br />

Gliederungen mit neuen Themeninhalten<br />

und Aufgaben geschaffen worden,<br />

die sich nicht selten in direkter Konkurrenz<br />

zu benachbarten Disziplinen wähnen.<br />

Jedes dieser Teilgebiete pflegt seine<br />

Tradition, verfolgt eigene Ziele und fühlt<br />

sich womöglich den jeweils anderen Wissenschaftszweigen<br />

überlegen. Dabei ist<br />

nicht die gegenseitige Konkurrenz, sondern<br />

eine interdisziplinäre Kooperation<br />

gefragt. Denn jede Entschlüsselung des<br />

Lebens-Codes stellt uns vor die Herausforderung,<br />

wie verantwortungsvoll wir mit<br />

unserem fortschreitend zunehmenden Wissen<br />

umgehen sollen. Wissenschaften wie<br />

Neuroanthropologie, Evolutionäre Erkenntnistheorie,<br />

Ästhetik etc. bieten Raum und<br />

Potential für Interdisziplinarität. Was zählt,<br />

ist die Rationalität des Wissens. Übrigens<br />

belegt die Wissensgeschichte anhand von<br />

einzelnen renommierten Forschern, die<br />

diese angebliche Barriere zwischen den<br />

„Kulturen“ erfolgreich überwanden, dass<br />

die zwischen den Gruppen geforderte Interdisziplinarität<br />

auch in <strong>einer</strong> Person gelingen<br />

kann. Durch die Vereinigung des<br />

Dialoges in ihrem Bewusstsein sind sie lebendige<br />

Vorbilder: Albert Einstein, Wolfgang<br />

Pauli, Werner Heisenberg, Jean Piaget,<br />

Eric Kandel, Carl Friedrich von Weizsäcker,<br />

sind leuchtende Beispiele.<br />

Die <strong>Notwendigkeit</strong> <strong>einer</strong> dritten Konsenskultur<br />

Der amerikanische Literaturagent John<br />

Brockmann veröffentlichte 1995 sein Buch<br />

„Die Dritte Kultur“. 25 Darin wurden z.T.<br />

recht provokante Thesen einiger international<br />

bekannter Philosophen, Biologen,<br />

Kognitionsforscher, Kosmologen, Komplexitätsforscher<br />

etc. im recht populärwissenschaftlichen<br />

Schreibstil zusammengefasst<br />

und publiziert und daher für ein brei-<br />

Aufklärung und Kritik 4/2011


tes Publikum lesbar gemacht. Brockmann<br />

bezeichnet seine Herangehensweise, d.h.<br />

die mögliche Gewinnung <strong>einer</strong> größeren<br />

Leserschaft, als die dritte Kultur. Die vom<br />

Autor dieses Aufsatzes geforderte „dritte<br />

Kultur“ ist eine Konsenskultur, die sich<br />

primär an die aktiven Wissenschaftler beider<br />

Kulturen wendet mit der Aufforderung,<br />

dieselbige in die Tat umzusetzen. Diese<br />

Konsenskultur verfolgt unmissverständliche<br />

Ziele und macht aus dem derzeitigen<br />

Gegeneinander ein Miteinander.<br />

Die bisherigen Fehlentwicklungen sind<br />

dem Menschen zuzuschreiben und nicht<br />

seinem Wissensfundus. Angesichts vieler<br />

von Menschen gegen Menschen angezettelter<br />

Stammeskriege, Religionskriege,<br />

Nationalkriege, Bürgerkriege, Erbfolgekriege<br />

und Eroberungskriege vertrat der<br />

Kulturphilosoph Arthur Koestler die feste<br />

Meinung, dass der Mensch ein Irrläufer<br />

der Evolution sei. 26<br />

Das 20 Jh. war kein Ruhmesblatt in der<br />

Geschichtsschreibung, weder für die eine<br />

noch für die andere Kultur. Die Entwicklung<br />

zahlreicher Waffen im Ersten und<br />

Zweiten Weltkrieg und insbesondere die<br />

verheerende Bombardierung der Städte<br />

Hiroschima und Nagasaki werden den Physikern<br />

und im Allgemeinen den Vertretern<br />

der Naturwissenschaften zur Last gelegt.<br />

Das feige Wegschauen und Stillhalten der<br />

Bürger im Dritten Reich, als Millionen Juden<br />

aus ihrer Mitte wie Vieh in Konzentrationslager<br />

verfrachtet wurden, kann als<br />

Versagen der Geisteswissenschaften gesehen<br />

werden. Nur drei Monate nach Hitlers<br />

Ernennung zum Reichskanzler am 30.<br />

Januar 1933 verbrannten am 10. Mai 1933<br />

in mehr als 70 deutschen Städten Bücher,<br />

die als verfemte Literatur angesehen wurden.<br />

Ausgerechnet die künftige geistige<br />

Elite, die Studenten, hatte die Verbrennungen<br />

organisiert, unterstützt durch nicht<br />

wenige Professoren als willige Helfer. 27 Der<br />

Philosoph und Soziologe sowie der Begründer<br />

der geisteswissenschaftlichen Kulturanthropologie<br />

Erich Rothacker, der 1933<br />

als Abteilungsleiter im Propagandaministerium<br />

arbeitete, war der Verbindungsmann<br />

zur studentischen Bücherverbrennung unter<br />

dem Motto „Aktion wider den undeutschen<br />

Geist“. Ethik, Moral und Nächstenliebe<br />

waren heimatlos geworden.<br />

Ist das Böse wirklich banal, wie Hanna<br />

Arendt in ihrem 1963 veröffentlichten berühmten<br />

und starke Kontroversen auslösenden<br />

Buch „Eichmann in Jerusalem –<br />

Banalität des Bösen“ 28 etwas zu salopp<br />

im Bezug auf Eichmann formulierte, weil<br />

sie Adolf Eichmann nicht als grausames<br />

Ungeheuer ansah, sondern als einen seinen<br />

Pflichten nachgehenden Einfaltspinsel,<br />

der Gut und Böse nicht zu unterscheiden<br />

in der Lage war? Dazu schrieb Golo Mann<br />

1986 in seinen „Erinnerungen und Gedanken“<br />

29 zurückblickend: „Die Anführer<br />

und Machthaber, ohne die das alles doch<br />

niemals geschehen wäre, sie besaßen hohe<br />

Intelligenz, weithin ausstrahlende Energie,<br />

Fantasie, Verstellungskunst, Rhetorik –<br />

entschieden ungewöhnliche Menschen also,<br />

die ihre Gaben anfangs und zum Teil<br />

sogar für schöpferische, dann aber, weil<br />

sie so waren, wie sie waren, nur noch für<br />

mörderische, nihilistische Zwecke gebrauchten.<br />

Böse Menschen, das ja; aber banale?<br />

So viel Talent bei so niedriger Gesinnung<br />

– darin gerade lag ihr Ungewöhnliches.“<br />

Nein, das Böse ist mitnichten banal und<br />

bedarf dringend regulierender Schranken,<br />

die nicht die Natur, sondern nur der Geist<br />

liefern kann.<br />

Wissenschaft muss künftig zweidimensional<br />

marschieren. Der technische und der geistige<br />

Fortschritt müssen im Gleichschritt<br />

Aufklärung und Kritik 4/2011 115


leiben. Die Gesellschaft muss sich eingestehen,<br />

dass die Technik zwar höheren Lebenskomfort<br />

und materiellen Wohlstand<br />

mit sich bringt, die Primärquelle moralischer<br />

Maßstäbe und ethischer Normen aber<br />

allein die Geisteswissenschaften sein können.<br />

Laut Odo Marquardt sind alleine die<br />

Geisteswissenschaften imstande, die sog.<br />

Modernisierungsschäden unserer Gesellschaft<br />

zu heilen, indem sie uns die historischen<br />

ethischen Erfahrungen der Rechtskultur<br />

und der Kunst vermitteln, um rechtschaffen<br />

und souverän mit unseren zunehmend<br />

schwierigen Problemen fertig zu werden.<br />

Sinnstiftung war und bleibt nun einmal<br />

die Aufgabe der Geisteswissenschaften. 30<br />

Max Weber vertrat die Ansicht, dass die<br />

Naturwissenschaften aufgrund ihrer objektivierenden<br />

Methode nicht sagen können<br />

„ob die Welt, die sie beschreiben, wert ist<br />

zu existieren, ob sie einen Sinn hat und<br />

ob es einen Sinn hat, in ihr zu existieren“.<br />

Die Sinnproblematik ist ein genuines Ressort<br />

der Geisteswissenschaften. 1909 sprach<br />

Weber vom „maßlosen Hochmut ..., mit<br />

welchem Vertreter der Naturwissenschaften<br />

auf die Arbeit anderer (historischer) Disziplinen<br />

…zu blicken pflegen“, und fügte<br />

hinzu: „Es kommt keinem Historiker, Nationalökonomen<br />

oder anderen Vertretern<br />

‚kulturwissenschaftlicher‘ Disziplinen heute<br />

die Anmaßung bei, den Chemikern oder<br />

Technologen vorzuschreiben, was für eine<br />

Methode und welche Gesichtspunkte sie<br />

anzuwenden hätten. Dass sich die Vertreter<br />

dieser Disziplinen nachgerade ebenso<br />

zu bescheiden lernen, – dies ist Voraussetzung<br />

fruchtbaren Zusammenarbeitens“. In<br />

die gleiche Richtung zielt Heisenberg, der<br />

sagt, dass es geisteswissenschaftliche Theorien<br />

und Methoden gibt, die ohne die modernen<br />

Naturwissenschaften gar nicht auskommen.<br />

116<br />

Der amerikanische Wertewandelforscher<br />

Ronald Inglehart hatte Ende der 60er-Jahre<br />

eine „silent revolution“ vorhergesagt, in<br />

der sich unsere Werte langsam, aber fundamental<br />

zum Besseren verändern würden.<br />

„Das 21. Jahrhundert werde den Postmaterialisten<br />

gehören, die, statt Luxusgüter<br />

und Statussymbole anzuhäufen, lieber ihre<br />

Persönlichkeit entfalten. Die Natur wird<br />

ihnen wichtiger sein als Aktienkurse.“ Dazu<br />

schieb Max Hofer in DIE WELT am<br />

09.03.2011: „Die Realität war genau umgekehrt.<br />

Das Denken in Kategorien der Rendite,<br />

der Performance und der Leistungsanreize<br />

erreichte in der Finanzkrise einen<br />

traurigen Höhepunkt. Die sog. Postmaterialisten<br />

sind viel materialistischer, als<br />

uns Ronald Inglehart weismachen wollte.<br />

Wir haben eine schnellere und aufregendere<br />

Welt, aber keine bessere.“<br />

Die „Konsenskultur“, die wohl zu wünschen<br />

wäre, sollte transdisziplinär und<br />

keine Einbahnstraße sein. Gegenseitige<br />

Wertschätzung ist eine Mindestforderung.<br />

Weder darf die Naturwissenschaft auf reinen<br />

„Biologismus“ reduziert angesehen<br />

werden, noch dürfen Psychologen, Philosophen<br />

und Soziologen als abgehobene<br />

Theoretiker degradiert werden.<br />

Bernulf Kanitscheider, Philosoph und Mitherausgeber<br />

der Zeitschrift A&K, der sich<br />

der Naturwissenschaft widmet, schrieb in<br />

der letzten Juliausgabe der Zeitschrift<br />

Spektrum der Wissenschaft, „die Natur<br />

des Geistes fällt nicht aus der rationalen,<br />

wissenschaftlichen Analyse heraus, sondern<br />

der menschliche Geist ist ein hochinteressantes<br />

Phänomen, das von beiden<br />

Seiten, von Natur- und Geisteswissenschaften<br />

symmetrisch anzugehen ist – wobei<br />

der Informationsfluss in beiden Richtungen<br />

hoch sein muss.“<br />

Aufklärung und Kritik 4/2011


Die Forschungsergebnisse der Biologie<br />

und der Hirnphysiologie deuten unmissverständlich<br />

darauf hin, dass die Natur<br />

und der Geist eng miteinander verschwistert<br />

sind. 31 Es ist evident, dass die Hirnforschung<br />

das Verhältnis beider Kulturen<br />

maßgeblich verändern wird, denn sie dringt<br />

in die Bereiche der Geisteswissenschaft<br />

ein, in denen traditionell nach sogenannten<br />

höchsten Funktionen gefragt wird –<br />

eine erneute faszinierende Annäherung von<br />

Natur- und Kulturwissenschaften. Auch<br />

schickt sich die Genomforschung an, die<br />

Grundfragen der Existenz nach dem Woher<br />

und Wohin neu zu beantworten. 32<br />

Der Biologe Edward O. Wilson schrieb<br />

in seinem Werk Die Einheit des Wissens<br />

(Berlin, 1998): „Das simple synthetische<br />

Argument, daß die Welt <strong>einer</strong> Ordnung<br />

unterliegt und mit wenigen Naturgesetzen<br />

erklärt werden kann, reicht nicht … Der<br />

Mensch ist dabei, die natürliche Selektion<br />

auszuschalten, die Kraft, die uns geschaffen<br />

hat ... Bald müssen wir tief in uns hinein<br />

sehen und entscheiden, was wir gerne<br />

werden wollen.“<br />

Das heißt: Eine bewusst zu gestaltende<br />

Konsenskultur muss bewirken, dass Technik<br />

nicht bloße Materie, Ware, Wirtschaft<br />

oder Gewinnmaximierung sein darf. Der<br />

Technik muss „Geist eingehaucht“ werden.<br />

Die Konsenskultur soll als Brücke<br />

zwischen Geist und Natur, Geist und Materie<br />

dienen.<br />

Alles hängt mit allem zusammen<br />

Dies pflegen die Buddhisten zu sagen. Wir<br />

stellen fest, dass sich die Konturen von Physik,<br />

Chemie und Biologie überlappen. Die<br />

Schnittmengen zwischen Neurobiologie,<br />

Psychologie, Philosophie und Philologie<br />

werden zusehend größer. Die Genetik und<br />

Epigenetik werden als Geschwister entdeckt.<br />

Durch alle Teilgebiete müssten Logik und<br />

mathematische Symbolik als der rote Faden<br />

des Denkens hindurch laufen. Eine Verschwisterung<br />

beider Kulturen tut Not.<br />

Die Zukunft, zwar nicht 100%ig planbar,<br />

ist dennoch gestaltbar, und zwar durch<br />

aktive Betreibung humanistischer Bildung<br />

und fachlicher Ausbildung unserer Jugend.<br />

Wissen ist zwar nicht ethisch neutral. Dennoch<br />

unterscheiden sich Bildung und Ausbildung<br />

dahingehend, dass die natur- und<br />

ingenieurwissenschaftliche Erziehung eine<br />

primär sachlich-fachliche Ausbildung darstellt<br />

und das Curriculum der Natur- und<br />

Ingenieurwissenschaften nicht zur humanistischen<br />

Bildung mit Orientierung für<br />

Ethik, Moral, Dankbarkeit, Liebe, Mitgefühl<br />

etc. beiträgt. Jürgen Mittelstraß unterscheidet<br />

zwischen Verfügungs- und Orientierungswissen.<br />

„Das erstere befasst sich<br />

mit Ursachen, Wirkungen und Mitteln, das<br />

zweite mit gerechtfertigten Zwecken und<br />

Zielen“. Dies ergänzend schreibt Winfried<br />

Marotzki: „Über Verfügungswissen eignet<br />

sich der Mensch die Dinge der Welt an<br />

und über Orientierungswissen tritt er in ein<br />

reflektiertes Verhältnis zu ihnen.“<br />

„Die Jugend ist die ewige Glückschance<br />

der Menschheit“, sagte der Religionsphilosoph<br />

Martin Buber. Aber das ist nur der<br />

erste Teil des Buber-Wortes, der zweite<br />

wird oft übersehen und der lautet, „die ihr<br />

ewig von neuem dargebotene und von ihr<br />

ewig von neuem vertane Glückschance.“<br />

Im Sinne von Odo Marquard muss die<br />

Jugend essentiell mit den Geisteswissenschaften<br />

konfrontiert werden, weil diese<br />

den gebildeten Menschen zum Ziel haben.<br />

Sie geben dem Menschen ein Selbst-Bewusstsein,<br />

das nicht auf ökonomischem<br />

Erfolg oder Misserfolg begründet ist. Sie<br />

schaffen einen humanen Wert, der etwas<br />

anderes ist als ökonomischer Wert. 33<br />

Aufklärung und Kritik 4/2011 117


Der weltweit bekannte Dramenautor William<br />

Shakespeare ließ in einem s<strong>einer</strong> berühmten<br />

Dramen den dänischen Prinzen<br />

Hamlet klagen: „Die Zeit ist aus den Fugen“.<br />

So desolat oder dissonant ist die<br />

Sachlage in unserem Fall nicht. Dennoch,<br />

mit Kant gesagt: Wir müssen uns aus der<br />

selbstverschuldeten Scheidung zwischen<br />

Natur und Geist befreien. Wie sagt doch<br />

der Philosoph Martin Seel? Geisteswissenschaften,<br />

deren Domäne die Erforschung<br />

des Verstehens ist, sind Handlungswissenschaften.<br />

„Nur durch ihre Teilbarkeit und<br />

Mitteilbarkeit können Verhältnisse von<br />

Kultur, Gesellschaft und Wissenschaft<br />

überhaupt bestehen“. 34 Eine dauerhafte<br />

Beschädigung der Geisteswissenschaften<br />

kann sich keine Kulturnation wünschen.<br />

Epilog<br />

Das Thema „Zwei Kulturen“ lässt die<br />

Gedanken wandern zu den Wörtern apollinisch<br />

und dionysisch, ursprünglich geprägt<br />

von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling<br />

35 , später aufgegriffen von Friedrich<br />

Nietzsche und interpretiert als ein Gegensatz<br />

der Triebe und Eigenschaften der<br />

griechischen Kunstgottheiten Apollon und<br />

Dionysos in seines Erstlingswerk Die Geburt<br />

der Tragödie aus dem Geiste der<br />

Musik. Dadurch wurden die beiden Adjektive<br />

als ein konträres Begriffspaar populär<br />

und nicht selten als Lemma benutzt.<br />

Einige Jahre später gestand Nietzsche,<br />

dass er in s<strong>einer</strong> Interpretation nicht ganz<br />

richtig gelegen habe. Über diese Kontroverse<br />

ist nicht wenig veröffentlicht worden<br />

und soll hier nicht tiefer gehend gehandelt<br />

werden.<br />

Dennoch seien in Zusammenhang mit dem<br />

vorliegenden Thema einige Hinweise erlaubt.<br />

Betrachtet man die beiden Adjektive<br />

als Grunddispositionen der Menschen,<br />

118<br />

so repräsentieren die apollinischen Typen<br />

die Menschen, die sich der Logik analytischer<br />

Vorgehensweise und nüchterner Abwägung<br />

der Beweislage verschreiben, hingegen<br />

neigen die dionysischen stärker zu<br />

intuitivem und synthetischem Denken sowie<br />

zu leidenschaftlicher Selbstentgrenzung.<br />

In der neueren Zeit meint man, diese<br />

Wesenszüge hätten mit der schwerpunktmäßigen<br />

Aktivität der linken und<br />

bzw. rechten Hirnhälfte zu tun. Dann gibt<br />

es allerdings eine dritte Kategorie von<br />

Menschen, die gerne nach interdisziplinären<br />

Zusammenhängen Ausschau halten und<br />

somit die beiden genannten Nietzscheschen<br />

Grundhaltungen überbrücken, die<br />

begeisterten Grenzgänger. Man könnte sie<br />

odysseische Individuen nennen, die Idealmenschen<br />

für die Konsenskultur.<br />

Anmerkungen:<br />

1<br />

Dieser Aufsatz ist eine überarbeitete und erweiterte<br />

Fassung eines Impulsreferates, das der Autor<br />

März 2011 beim Symposium „Zwei Kulturen“ der<br />

Evang. Luther. Akademie Braunschweig in Goslar<br />

hielt.<br />

2<br />

C.P. Snow, Rede Lecture „Two Cultures“, Cambridge,<br />

1959.<br />

3<br />

Carsten Könneker in WissensLog, 04.02.2009<br />

„Klaus Vondung: Keine Kluft zwischen den<br />

„Zwei Kulturen“.<br />

4<br />

Ulrich Kutschera in Laborjournal 15 (2008):<br />

„Nichts in den Geisteswissenschaften ergibt einen<br />

Sinn außer im Lichte der Biologie“.<br />

5<br />

Ulrich Kutschera in <strong>einer</strong> Veröffentlichung des<br />

Humanistischen Pressedienstes Das Reale und Verbale<br />

in den Wissenschaften (http://hpd.de/node/<br />

5253).<br />

6<br />

Konrad Paul Lissmann, „Wissenschaft, Bildung,<br />

Politik, Krise der moderne und Renaissance der<br />

Geisteswissenschaften“.<br />

7<br />

Joseph (Benedikt VI) Ratzinger, Jesus von Nazareth,<br />

Band II: Vom Einzug in Jerusalem bis zur<br />

Auferstehung, Herder 2011.<br />

8<br />

sh. in Jörg-Dieter Gauger, Günther Rüther, „Die<br />

Geisteswissenschaften als selbstverständliches<br />

Element moderner Kultur“.<br />

Aufklärung und Kritik 4/2011


9<br />

Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften. Band<br />

1, Leipzig. 1914.<br />

10<br />

Jörg-Dieter Gauger, Günther Rüther, „Die Geisteswissenschaften<br />

als selbstverständliches Element<br />

moderner Kultur – Zur Einführung in die<br />

aktuelle Debatte“, eine Veröffentlichung der Konrad-Adenauer-Stiftung,<br />

Anm. 8.<br />

11<br />

dito, Anm. 9.<br />

12<br />

Volker Gerhardt, Philosophenkolumne, Merkur<br />

Heft, 2007 (Das Jahr des Geistes).<br />

13<br />

J. Mittelstraß, Geistes- und Sozialwissenschaften<br />

im System der Wissenschaft, in: ders., Leonardo-<br />

Welt (Frankfurt/M. 1992).<br />

14<br />

H. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft,<br />

Vortrag 1899 abgedruckt in: M. Riedel<br />

(Hg.), 19. Jahrhundert. Positivismus, Historismus,<br />

Hermeneutik. Geschichte der Philosophie<br />

Bd. 7, Stuttgart 1994.<br />

15<br />

Volker Gerhardt, Philosophenkolumne, Merkur<br />

Heft, 2007 (Das Jahr des Geistes).<br />

16<br />

C.A. Scheier „Programme und Spuren. Zur<br />

Differenz von Natur- und Geisteswissenschaften“<br />

im Jahrbuch 2005 der BWG, Braunschweig.<br />

17<br />

Volker Gerhardt, Philosophenkolumne, Merkur<br />

Heft, 2007 (Das Jahr des Geistes).<br />

18<br />

Wolf Lepenies, Die Drei Kulturen – Soziologie<br />

zwischen Literatur und Wissenschaft, Fischer,<br />

1985.<br />

19<br />

Herman von Helmholtz, Vorträge und Reden,<br />

Bd. 1, Vieweg, Braunschweig, 1896.<br />

20<br />

Hazel Rosenstrauch, „Gegenworte – Zeitschrift<br />

für den Disput über Wissen“.<br />

21<br />

Erich Fromm, Haben oder Sein. Die seelischen<br />

Grundlagen <strong>einer</strong> neuen Gesellschaft. München:<br />

dtv, 2010, 37. Aufl.<br />

22<br />

W. Wild in R. Gerst (Hrsg.) Rolle und Zukunft<br />

der Geisteswissenschaften.<br />

23<br />

E. Lämmert in Geisteswissenschaften im Industriezeitalter,<br />

Hagen, 1986.<br />

24<br />

Die Griechen verstanden unter METANOIA einen<br />

fundamentalen Wandel oder Wechsel oder im<br />

wörtlicheren Sinne die Transzendenz („meta“ =<br />

„über“ oder „jenseits“ wie in „Metaphysik“) von Sinn<br />

(„noia“ von“ nous“, der Sinn).<br />

25<br />

John Brockmann (Hrsg.), Die Dritte Kultur, Das<br />

Weltbild der modernen Naturwissenschaft, btb,<br />

1996.<br />

26<br />

Arthur Koestler, Der Mensch – Irrläufer der<br />

Evolution. Eine Anatomie der menschlichen Vernunft<br />

und Unvernunft, München, 1981.<br />

27<br />

Braunschweiger Zeitung, 10.05.2008, Der Tag,<br />

an dem die Bücher verbrannten.<br />

28<br />

Hanna Arendt, Eichmann in Jerusalem – Banalität<br />

des Bösen, Piper, 1963.<br />

29<br />

Golo Mann, Erinnerungen und Gedanken. Eine<br />

Jugend in Deutschland. Fischer, Frankfurt/Main<br />

1991.<br />

30<br />

Odo Marquard, Über die Unvermeidlichkeit<br />

der Geisteswissenschaften. Vortrag vor der Westdeutschen<br />

Rektorenkonferenz. In: ders., Apologie<br />

des Zufälligen, 1986.<br />

31<br />

Hazel Rosenstrauch, Der Streit um die zwei Kulturen,<br />

http://www.forum-grenzfragen.de/diskurs/<br />

der-streit-um-die-zwei-kulturen.html#502493952<br />

b135ac18.<br />

32<br />

Grundfragen der Existenz, http://sciencev1.orf.at/<br />

rosenstrauch/4222.html.<br />

33<br />

Odo Marquard (Anm. 30).<br />

34<br />

M. Seel, „Weltverstrickt. Das Verstehen Über<br />

den Sinn der Geisteswissenschaften“, ZEIT vom<br />

22. April 2004 und J. Jessen, „Der Lieblingsfeind.<br />

Macher und Deuter im Streit“, ZEIT vom 25. Januar<br />

2007.<br />

35<br />

In Metzlers Philosophie Lexikon, 1996, S. 33:<br />

Schlegel bezeichnet das Dionysische göttliche Trunkenheit<br />

und das Apollinische leise Besonnenheit, sh.<br />

Über das Studium der griechische Poesie, 1797.<br />

Weiterführende Literatur:<br />

Helmut Kreuzer (Hrg.) Literarische und<br />

naturwissenschaftliche Intelligenz – Dialog<br />

über die „Zwei Kulturen“, Klett, Stuttgart<br />

1969<br />

Thomas Klinkert, Monika Neuhofer (Hrg.),<br />

Literatur, Wissenschaft und Wissen seit<br />

der Epochenschwelle um 1800, De Gruyter,<br />

2008<br />

Dietrich Schwanitz, Bildung: Alles, was<br />

man wissen muss, Eichborn, 1999<br />

Luhmann, Niklas. 1995: Kultur als historischer<br />

Begriff. S. 31-54 in Luhmann,<br />

Niklas (Hg.), Gesellschaftsstruktur und<br />

Semantik. Studien zur Wissenssoziologie<br />

der modernen Gesellschaft, Band 4.<br />

(Frankfurt a.M.: Suhrkamp).<br />

Aufklärung und Kritik 4/2011 119

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!