07.11.2013 Aufrufe

Andrzej Stasiuk - Polish Book Institute

Andrzej Stasiuk - Polish Book Institute

Andrzej Stasiuk - Polish Book Institute

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Joanna Rudniańska Brygidas Kätzchen<br />

40<br />

Helena<br />

wachte mitten in der Nacht<br />

auf. Sie bekam keine Luft,<br />

und ihr war schlecht. Sie hörte<br />

ein fürchterliches Tröten. Dann erinnerte sie sich, dass sie im<br />

Bunker war. Und das Tröten war das Schnarchen von Oma<br />

Istman, die sich nie hinlegte, sondern die Nächte in dem alten<br />

Sessel, der in einer Kellerecke stand, verbrachte. Es war absolut<br />

finster. Helena streckte die Hand aus. Neben ihr hätte auf<br />

dem Strohsack Stańcia liegen müssen. Aber Stańcia war weg.<br />

Helena krabbelte auf allen vieren über Stańcias Strohsack<br />

und gelangte, ohne aufzustehen, zur Tür. Im Dunkeln kam<br />

man wie ein Hund oder eine Katze besser voran, auf Händen<br />

und Füßen, fast wie auf vier Pfoten. Man kann nicht stolpern<br />

und hinfallen, und mit dem Kopf spürt man die Hindernisse<br />

besser. Helena stand erst bei der Tür auf. Langsam drückte sie<br />

die Klinke herunter und verließ den Bunker. Erst dann hörte<br />

sie die Flugzeuge. Das dumpfe Röhren kam näher, entfernte<br />

sich wieder. Hier war es auch dunkel. Helena ließ sich wieder<br />

auf ihre vier Pfoten fallen und kletterte nach oben, zu dem<br />

kleinen Flur, von dem aus man auf den Hof hinauskam. Sie<br />

schloss die Tür fest und trat ins Freie.<br />

Der Morgen musste bald grauen, denn der Himmel war<br />

viel heller als die Finsternis unten. Kein einziges Licht brannte.<br />

Der Mond, der sich hinter die Wolken schob, tauchte<br />

alles in einen fahlen Glanz. Helenas Haus und das Mietshaus<br />

nebenan waren schwarze Felsen. Helena ging zu ihrem<br />

Maulbeerbaum. Auf ihn konnte sie mit geschlossenen Augen<br />

klettern. Und das tat sie auch.. Sie öffnete die Augen erst, als<br />

sie weit oben war. Sie hörte Flugzeuge. Sie flogen von der<br />

Weichselseite heran, vier große, schwere Vögel. Sie warfen<br />

Bomben. Vor den vom Mond durchstrahlten Wolken konnte<br />

man deutlich kleine Päckchen aus den Flugzeugbäuchen<br />

fallen sehen. Helena bekam Angst, dass so ein Päckchen auf<br />

sie oder ihr Haus fallen könnte. Trotzdem sah sie hin. Und<br />

die Flugzeuge kamen immer näher. Irgendwo weit weg, vielleicht<br />

sogar in der Altstadt, war roter Feuerschein zu sehen.<br />

Das waren Brandbomben, hoffentlich fallen sie nur nicht auf<br />

mein Haus, dachte Helena.<br />

„Geht weg! Geht weg!“, schrie sie laut.<br />

Aber vier Flugzeuge kamen langsam genau hierher, zu Helenas<br />

Hof, immer größer und fürchterlicher. Helena sah von<br />

oben auf ihr Haus. Es schien ihr so klein neben dem hohen<br />

Mietshaus. Und plötzlich sah sie jemanden auf dem Dach.<br />

Und die Flugzeuge waren schon ganz nah. Dann lief die Gestalt<br />

auf dem Dach zwei Schritte. Es war Stańcia, Helena<br />

erkannte sie. Stańcia hatte einen Besen in der Hand. Auf das<br />

Dach fiel eine Bombe. Stańcia holte aus und fegte die Bombe<br />

mit einem Ruck vom Dach. Dann fiel eine zweite, und<br />

Stańcia fegte sie wieder runter, auf den Hof. Noch eine Bombe<br />

fiel auf das schräge Dach des Mietshauses und kullerte direkt<br />

auf das Dach von Helenas Haus. Die fegte Stańcia auch<br />

runter. Drei Bomben lagen rotglühend im Hof. Die Flugzeuge<br />

flogen weg. Auf dem Hof erschien Stańcia, schaufelte<br />

Sand aus der Truhe, die bei der Brauerei stand, und bedeckte<br />

die Bomben damit. Sie blickte in den Himmel und ging ins<br />

Haus. Helena kam vom Baum runter. Der Hof war leer. Es<br />

war schon fast völlig hell. Helena sah Vater und Herrn Kamil.<br />

Sie standen auf dem Fabrikdach. Herr Kamil rauchte<br />

eine Zigarette. Sie sprachen, stützten sich auf die Stöcke, die<br />

sie in den Händen hielten. Helena lief ins Haus. Ganz leise<br />

ging sie in den ersten Stock, in ihr Zimmer, in ihr Bett. Das<br />

war sehr angenehm – den Kopf an sein Kissen schmiegen<br />

und sich in die eigene Decke kuscheln. Mama hatte Recht,<br />

dass sie nachts nicht in den Bunker ging. Ich würde das auch<br />

gern tun, dachte Helena. Sie schlief sofort ein.<br />

Es war morgen. Helena betrat genau in dem Augenblick<br />

die Küche, als Stańcia die Milch warm machte. Stańcia<br />

schaute angespannt in den Topf, die Milch konnte jeden Augenblick<br />

überkochen.<br />

„Du warst heute nacht auf dem Dach. Ich habe dich gesehen.<br />

Beim nächsten Mal komme ich mit aufs Dach und<br />

werde Bomben wegfegen“, sagte Helena.<br />

Stańcia drehte sich zu Helena um. Und genau da kochte<br />

die Milch über. Zischend lief sie über die heißen Herdringe,<br />

und die Küche durchdrang ein unangenehmer Gestank.<br />

„Jessesmaria!“, schrie Stańcia und schob den Topf zur Seite.<br />

„Das hast du geträumt. Ich auf dem Dach? Was du dir so<br />

ausdenkst.“<br />

Wie war das also, dachte Helena. Habe ich das geträumt<br />

oder nicht? Wie war es wirklich? [...]<br />

zurück zum Inhaltsverzeichnis

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!