SEK-Bulletin 2/2010 - Evangelisch-Reformierte Kirche des Kantons ...
SEK-Bulletin 2/2010 - Evangelisch-Reformierte Kirche des Kantons ...
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Nr. 2/ <strong>2010</strong><br />
bulletin<br />
Das Magazin <strong>des</strong> Schweizerischen <strong>Evangelisch</strong>en <strong>Kirche</strong>nbun<strong>des</strong><br />
sek · feps<br />
Wie die <strong>Reformierte</strong>n wahrgenommen werden<br />
4<br />
DAS GESPRÄCH<br />
Interview zum Image der<br />
Schweizer <strong>Reformierte</strong>n<br />
8<br />
NEUE STUDIEN<br />
Wann und wie Journalisten<br />
über Religion berichten<br />
15<br />
KIRCHE AUF DEM MARKT<br />
Was es für die <strong>Kirche</strong> bedeutet,<br />
im Wettbewerb zu stehen<br />
21<br />
ZUM BEKENNTNIS BEKENNEN<br />
Die Suche nach dem<br />
verbindlichen Rahmen<br />
25<br />
GLOBAL REFOMIERT<br />
Zur Gründung der Weltgemeinschaft<br />
<strong>Reformierte</strong>r <strong>Kirche</strong>n<br />
28<br />
PORTRÄT<br />
Der Schriftsteller Peter Bichsel<br />
ist ein trotziger Gläubiger
2 bulletin Nr. 2 / <strong>2010</strong><br />
EDITORIAL<br />
Was ist die Geschichte?<br />
Liebe Leserinnen, liebe Leser,<br />
IMPRESSUM<br />
©<br />
Schweizerischer <strong>Evangelisch</strong>er<br />
<strong>Kirche</strong>nbund <strong>SEK</strong><br />
Postfach<br />
CH-3000 Bern 23<br />
Telefon 031 370 25 25<br />
Fax 031 370 25 80<br />
info@sek.ch, www.sek.ch<br />
Erscheinungsweise:<br />
3-mal jährlich<br />
Auflage:<br />
6000 deutsch, 1000 französisch<br />
Leiter Kommunikation:<br />
Simon Weber<br />
Administration:<br />
Nicole Freimüller-Hoffmann<br />
Redaktion:<br />
Maja Peter<br />
Gestaltung/Layout:<br />
Meier Media<strong>des</strong>ign<br />
Silvan Meier<br />
Übersetzung:<br />
Aus dem Französischen: Elisabeth Mainberger-Ruh<br />
Korrektorat:<br />
Elisabeth Ehrensperger<br />
Nicole Freimüller-Hoffmann<br />
Druck:<br />
Schläfli & Maurer AG, Interlaken<br />
Titelbild:<br />
KEYSTONE/Alessandro Della Bella<br />
«Was ist die Geschichte», wurde ich in meiner journalistischen<br />
Laufbahn an jeder Redaktionskonferenz gefragt, wenn ich ein Thema für<br />
einen Artikel vorschlug. Gelang es mir nicht, eine Geschichte zu erzählen<br />
und die Kolleginnen und Kollegen so von der Relevanz oder dem<br />
Unterhaltungswert <strong>des</strong> Themas zu überzeugen, konnte ich den Artikel<br />
nicht schreiben.<br />
Geschichten erzählen, bedeutet unter anderem, an kollektiven<br />
Erfahrungen anzuknüpfen, Beziehungen zwischen Menschen, Lebenswelten<br />
und Zeiten zu schaffen, Gefühle zu wecken. Die reformierte<br />
<strong>Kirche</strong> ist nicht nur mit der Bibel, sondern darüber hinaus reich an<br />
Geschichten. Alle Menschen, die je getauft wurden, sich konfirmieren<br />
liessen, vielleicht sogar in der <strong>Kirche</strong> heirateten oder an einer Beerdigung<br />
teilnahmen, sind mit Pfarrpersonen, der Gemeinschaft und der Institution<br />
<strong>Kirche</strong> über eine Geschichte verbunden.<br />
Ein Beispiel: Als ich die Kolleginnen und Kollegen der Geschäftsstelle<br />
<strong>SEK</strong> anfragte, ob sie fürs vorliegende bulletin ein Foto ihrer<br />
Konfirmation besteuern könnten, bekam ich die nächsten Tage nicht nur<br />
ein paar Bilder, sondern unzählige Geschichten. Sie füllten ganze<br />
Kaffeepausen.<br />
Natürlich sind solche Geschichten höchstens Lokalradios und<br />
-zeitungen einen Artikel wert. Aber sie sind ein Schatz, wenn es darum<br />
geht, Beziehungen zu den Mitgliedern der <strong>Kirche</strong> und den Ausgetretenen<br />
zu pflegen. Die <strong>Kirche</strong> hat das grosse Privileg, die Menschen in emotionalsten<br />
Momenten zu erleben und mit ihnen Geschichten zu schreiben.<br />
Deshalb sollte es für die <strong>Reformierte</strong>n nicht allzu schwer sein, einige<br />
der Vorschläge der Theologen und Kommunikationsexperten im Heft<br />
zu beherzigen und das zu tun, worin sie reiche Erfahrung haben: zu<br />
erzählen.<br />
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre<br />
Maja Peter<br />
Redaktorin
Inhalt<br />
3<br />
4<br />
12<br />
18<br />
25<br />
DAS GESPRÄCH<br />
«Das Mitwirken in der<br />
<strong>Kirche</strong> wird viel zu<br />
selten als lustvolles<br />
Ereignis angesehen.»<br />
Maja Peter im Gespräch mit<br />
Professor Thomas Schlag<br />
EINE FRAGE, ZWEI ANTWORTEN<br />
Sollen sich die<br />
reformierten <strong>Kirche</strong>n<br />
aktiv um Mitglieder<br />
bemühen?<br />
Von Frank Worbs und<br />
Heinz Fäh<br />
15<br />
AUGENBLICK<br />
Noahs Geschichte<br />
als Comic.<br />
Von Robert Crumb<br />
WELTGEMEINSCHAFT<br />
REFORMIERTER KIRCHEN<br />
Global reformiert.<br />
Von Serge Fornerod<br />
28<br />
8<br />
21<br />
PORTRÄT<br />
«Erzählen ist<br />
der Weg in die Stille.»<br />
Stephanie Riedi über den<br />
Schriftsteller Peter Bichsel<br />
EKKLESIOLOGIE<br />
<strong>Kirche</strong> auf dem Markt.<br />
Von Albrecht Grözinger<br />
31<br />
KOMMUNIKATION<br />
Wie Medien Religion<br />
inszenieren.<br />
Von Vinzenz Wyss<br />
VERNEHMLASSUNG <strong>SEK</strong><br />
Zu Bekenntnissen<br />
bekennen.<br />
Von Félix Moser<br />
SCHLUSSPUNKT<br />
Der Standpunkt und<br />
seineVerwandten:<br />
Credo, Bekenntnis,<br />
Status confessionis.<br />
Von Silvia Pfeiffer
4 bulletin Nr. 2 / <strong>2010</strong><br />
– Das Gespräch<br />
«Das Mitwirken in der <strong>Kirche</strong><br />
wird viel zu selten als lustvolles<br />
Ereignis angesehen»<br />
Als bemüht und schwer bezeichnet Thomas Schlag das Image<br />
der reformierten <strong>Kirche</strong>. Der Professor, Mitbegründer und Leiter <strong>des</strong><br />
neuen Zentrums für <strong>Kirche</strong>nentwicklung (ZKE) der Universität Zürich<br />
plädiert für weniger Biederkeit und mehr Mut zum Experiment.<br />
VON MAJA PETER *<br />
Herr Schlag, wie würden Sie das Image<br />
der <strong>Reformierte</strong>n umschreiben?<br />
Es gibt unterschiedliche Images der reformierten<br />
<strong>Kirche</strong>, die stark davon abhängen,<br />
wie nah oder wie fern jemand der <strong>Kirche</strong> ist.<br />
Wie ist das Image bei kirchenfernen Menschen?<br />
Da gibt es viele Annahmen, die eher negativ sind:<br />
die reformierte <strong>Kirche</strong> sei langweilig, nicht am Puls<br />
der Zeit, bieder, stark reglementierend, verknöchert.<br />
Wenn man als kirchennahe Pfarrperson eine Sprache<br />
spricht, die verständlich und zeitgemäss ist oder Humor<br />
zeigt, sind diese Leute überrascht. <strong>Kirche</strong> wird<br />
immer noch mit dem 19. Jahrhundert verbunden.<br />
Diese Vorurteile können sich aber schnell ändern,<br />
wenn <strong>Kirche</strong>ndistanzierte Kontakt zu Pfarrpersonen<br />
haben, die am Puls der Zeit sind.<br />
Was ist das Image bei kirchennahen Menschen?<br />
Die <strong>Kirche</strong> ist im doppelten Sinn bemüht. Sie bemüht<br />
sich darum, Reformprozesse anzustossen und<br />
Menschen in ihren Gemeinden anzusprechen. Das<br />
wird aber nicht selten von den Beteiligten selbst als<br />
mühevoll empfunden. Das Mitwirken in der <strong>Kirche</strong><br />
wird viel zu selten als lustvolles Ereignis angesehen.<br />
Vieles ist ein bisschen sehr schwer.<br />
Soll <strong>Kirche</strong> lustvoll sein?<br />
Ich hoffe doch. <strong>Kirche</strong> sollte ein Ort sein, von<br />
dem Menschen sagen, dass sie sich gerne dort aufhalten,<br />
weil eine bestimmte Atmosphäre herrscht: Gesellig<br />
im guten Sinn, durchaus intellektuell, aber auch<br />
fröhlich und feiernd. <strong>Kirche</strong> müsste als etwas Lebensdienliches<br />
erscheinen, im ernsten und im leichten<br />
Sinn. Das erleben viele nicht so.<br />
Wie sehen Sie persönlich die reformierte <strong>Kirche</strong>?<br />
Sie steht in einer Marktsituation mit ernst zu nehmender<br />
Konkurrenz. Sie hat den Vorteil, dass sie auf<br />
eine lange Tradition zurückgreifen kann. Fragt sich<br />
allerdings, ob die Tradition noch immer für sie spricht<br />
oder nurmehr Vergangenheit darstellt. Ich sehe viele<br />
ernsthafte Versuche von Pfarrerinnen und Pfarrern,<br />
neue Wege zu gehen, um die Menschen zu erreichen −<br />
zum Beispiel, in der Konfirmationsarbeit. Ich sehe<br />
aber auch Überforderung, weil sich die Zielgruppen<br />
ausdifferenzieren und die Milieus auseinanderdriften.<br />
Das ist von einer einzigen Person oder von einem kleinen<br />
Team nicht zu leisten. Ich sehe Grenzen in den<br />
bisherigen kirchlichen Strukturen.<br />
Auch finanzielle?<br />
Geld ist noch vergleichsweise viel da − insbesondere<br />
im Vergleich zum Ausland. Ich war eben in den<br />
USA. Dort sind die <strong>Kirche</strong>n zum Teil in ihrer Existenz<br />
bedroht. Sie betrachten das als Notwendigkeit zum<br />
Aufbruch. Und doch wird weniger gejammert als hier.<br />
Wie sieht dieser Aufbruch aus?<br />
Die sagen sich und den <strong>Kirche</strong>nmitgliedern,
Das Gespräch 5<br />
wenn wir nicht aktiv werden, dann verschwinden wir<br />
vom Markt. Man fühlt sich für die lokale Kirchgemeinde<br />
verantwortlich, weil es keine Superstruktur<br />
gibt mit <strong>Kirche</strong>nsteuern oder sonstigen Zuwendungen.<br />
Die Frage ist, ob dieses Szenario mit Verzögerung<br />
nicht auch den hiesigen reformierten <strong>Kirche</strong>n droht.<br />
Die Menschen sind heute nicht weniger religiös als<br />
früher, das belegen Studien. Warum schafft es die<br />
reformierte <strong>Kirche</strong> nicht, das Bedürfnis nach<br />
Spiritualität zu befriedigen?<br />
Die <strong>Kirche</strong> hat mehr Verbindlichkeitscharakter<br />
als dies<br />
für alternative Spiritualitätsformen<br />
gilt. Denn das Individuum<br />
ist theologisch gesprochen eingebunden<br />
in eine Idee von Gemeinschaft,<br />
auf die man sich einlassen<br />
muss. Für <strong>Kirche</strong>n ist der<br />
Einzelne immer Teil <strong>des</strong> grösseren,<br />
von Gott her bestimmten Ganzen. Das bedeutet,<br />
dass ich mich an bestimmten Standards orientieren<br />
muss, wenn ich teilnehme.<br />
«Die <strong>Kirche</strong> ist bemüht.<br />
Das meine ich im doppelten<br />
Sinne.»<br />
Zum Beispiel?<br />
Etwa mich auf eine Liturgie oder schlicht auf eine<br />
Predigt einlassen zu müssen. Viele Leute wollen sich<br />
heute von einer Institution oder ihren Repräsentanten<br />
nichts mehr sagen lassen. Ein klassischer Fall: Eine Familie<br />
will ein Kind taufen lassen, möchte aber, dass der<br />
Gottesdienst an einem Samstagnachmittag unter Ausschluss<br />
der Öffentlichkeit stattfindet. Auf den ersten<br />
Blick ist das völlig verständlich, handelt es sich doch um<br />
ein Familienfest. Doch Taufe bedeutet auch, hinein getauft<br />
werden in eine Gemeinschaft. Mit dieser Zugehörigkeit<br />
über die eigenen privaten<br />
Wünsche hinaus tun sich<br />
viele Menschen schwer.<br />
Wie soll die <strong>Kirche</strong> damit<br />
umgehen?<br />
Man muss Menschen, die<br />
ihre eigene Spiritualität suchen,<br />
so viel Raum geben, dass<br />
sie ihre eigene Form innerhalb der <strong>Kirche</strong> leben können.<br />
Aus meiner Sicht kann heute Dogmatik nur noch<br />
heissen, Theologie ins Gespräch zu bringen. Sie soll<br />
SUSI BODMER/AARGAUER ZEITUNG<br />
Thomas Schlag regt an, den<br />
Kontakt mit den <strong>Kirche</strong>nmitgliedern<br />
besser zu pflegen.<br />
Er selbst wurde vom Pfarrer<br />
seiner Kirchgemeinde bis<br />
heute nie kontaktiert.
6 bulletin Nr. 2 / <strong>2010</strong><br />
offen sein für Interpretationen. Zu meinen, man könne<br />
in exlusiv-eindeutiger Weise vom Glauben oder<br />
von biblischen Traditionen reden, ist eine Illusion.<br />
Sie sagen «ins Gespräch bringen». In einem<br />
Gottesdienst findet aber kein Gespräch statt.<br />
Nein, aber eine Predigt kann, nein, muss offen<br />
sein für unterschiedliches Hören und Verstehen. Zudem<br />
gibt es verschiedene Formen der Partizipation,<br />
etwa Nachgespräche oder das gemeinsame Vorbereiten<br />
einer Predigt. Das ist aufwändig, aber die klassische<br />
Form mit einem, der vorne sagt, wie es wirklich<br />
ist, ist nicht mehr zeitgemäss. Immer mehr Pfarrpersonen<br />
machen das auch nicht mehr so.<br />
Wenn jemand, der sonst nicht in die <strong>Kirche</strong> geht,<br />
an einer Taufe oder an einer Hochzeit teilnimmt,<br />
und das Pech hat, auf einen Prediger alter Schule<br />
zu treffen, ist er für Jahre verloren für die <strong>Kirche</strong>.<br />
Kasualien sind spannungsreiche und riskante Momente.<br />
Im guten Sinne riskant.<br />
Der Pfarrer hat die Chance, Leute<br />
zu überzeugen, die sonst nicht<br />
in der <strong>Kirche</strong> sind. Aber es besteht<br />
auch das Risiko, Leute in<br />
ihren Vorurteilen zu bestätigen.<br />
Ein Kippmoment.<br />
Ein klassischer Fall ist auch die Abdankung. Angehörige<br />
sagen beispielsweise einer Pfarrerin im Vorgespräch,<br />
das Lieblingslied <strong>des</strong> Verstorbenen sei «I<br />
can’t get no satisfaction» von den Rolling Stones gewesen.<br />
Dem möchten sie Rechnung getragen wissen. Soll<br />
das gespielt werden in der <strong>Kirche</strong>, oder nicht? Wichtig<br />
ist, dass sich die Pfarrerin auf die Frage einlässt. Wenn<br />
sie abblockt, kann nichts mehr stattfinden, kein Seelsorgegespräch,<br />
nichts. Die Situation ist eine riesige<br />
Chance für die <strong>Kirche</strong>, denn der Wunsch der Angehörigen<br />
zeigt, dass sie die Abdankung wichtig finden und<br />
ernst nehmen.<br />
Wie kann die reformierte <strong>Kirche</strong> den Mitgliederkreis<br />
erweitern?<br />
Pfarrerinnen und Pfarrer müssen intensiver als<br />
bisher mit den Menschen in der Gemeinde Kontakt<br />
aufnehmen, deren Milieu nicht kirchennah ist: Zum<br />
Beispiel Künstlerinnen, Musikerinnen, aber auch Unternehmerinnen<br />
und Journalisten, ganz zu schweigen<br />
von den politisch Verantwortlichen einer Gemeinde,<br />
aber auch ganz einfache Menschen, die auf den ersten<br />
Blick kaum etwas einzubringen haben. Und zwar, um<br />
mit ihnen ins Gespräch über Glaubensfragen zu kommen<br />
und um über Möglichkeiten zu sprechen, wie sie<br />
«Ohne Lebensbezug<br />
bleibt Theologie<br />
eine Geheimsprache.»<br />
ihre Fachkompetenzen in die <strong>Kirche</strong> einbringen könnten.<br />
In Chicago gibt es eine Kirchgemeinde mit einer<br />
gebildeten, gutbürgerlichen Oberschicht, die grosse<br />
Probleme hatte. Da hat die Pfarrerin einen Kreis von<br />
Künstlern gebildet, die sich gemeinsam mit Glaubensfragen<br />
auseinandersetzen.<br />
Was können Pfarrer und Pfarrerinnen von<br />
Kulturschaffenden lernen?<br />
Die Pfarrer kleben noch immer am reformierten<br />
Wort. Von Künstlerinnen können sie die Ausweitung<br />
der Ausdrucksformen lernen. Die Theologie muss<br />
Mut zum Experimentieren haben. Das muss nicht am<br />
Sonntag sein, nicht im <strong>Kirche</strong>nraum. Den eigenen<br />
Geist durchwehen zu lassen und eine gewisse Biederkeit<br />
der Sprache abzulegen, wäre wichtig. Viele Pfarrer<br />
können nicht erzählen – vielleicht weil sie sich zu wenig<br />
für die vielfältigen Sprach- und Ausdrucksstile der<br />
Gegenwart interessieren. Die Theologie ist angewiesen<br />
auf den guten Umgang mit dem Wort, auf die Fähigkeit,<br />
Dinge literarisch auf den<br />
Punkt zu bringen.<br />
Und wie ist es mit Bildern<br />
bei den <strong>Reformierte</strong>n?<br />
Zwingli ging es mit dem<br />
Verbannen von Bildern aus den<br />
<strong>Kirche</strong>n nicht darum, die Menschen<br />
zu lustlosen Asketen zu machen. Mir gefällt die<br />
Deutung, die besagt, der Zürcher Reformator habe<br />
leere Wände haben wollen, damit die Menschen sie<br />
neu beschreiben können mit dem, was sie persönlich<br />
angeht. Zwingli hatte etwas gegen den goldenen<br />
Schmuck der Mächtigen, der den Kirchgängern aufgezwungen<br />
wurde. Es entspricht sehr wohl reformierter<br />
Tradition, eigene Vorstellungen und Bilder, eigene Lebendigkeit<br />
in die <strong>Kirche</strong> zu bringen. Ohne Lebensbezug<br />
bleibt Theologie eine Geheimsprache.<br />
In einer grossen Stadt ist es schwierig, Leute aus<br />
kirchenfernen Kreisen ausfindig zu machen.<br />
Pfarrerinnen und Pfarrer müssen wahrnehmen,<br />
was um die <strong>Kirche</strong> herum stattfindet. Vieles ergibt<br />
sich, wenn man die Sinne schärft. Im Konfirmandenunterricht<br />
habe ich zum Beispiel einmal erfahren, dass<br />
der Vater eines meiner Konfirmanden Illustrator für<br />
Kinderbücher ist. Ich sprach ihn bei Gelegenheit an.<br />
In den USA werden die Pfarrer geschult darin, zu beobachten,<br />
was in ihrer Gemeinde, in ihrem Sozialraum<br />
geschieht. Sie sagen, «There is a difference between<br />
congregation and community», also zwischen<br />
Kirchgemeinde und sozialer Gemeinschaft. Sie trennen<br />
das aber nicht nach europäischem Vorbild in eine
Das Gespräch 7<br />
weltliche und göttliche Sphäre, sondern sprechen von<br />
einem gemeinsamen, spirituell und politisch zu bearbeitenden<br />
Sozialraum.<br />
In einem Sozialraum leben die verschiedensten<br />
Menschen. Da sitzt die Arbeiterin neben der<br />
Intellektuellen im Gottesdienst, die auf verschiedene<br />
Weise angesprochen werden müssten. Ein<br />
unlösbares Problem?<br />
Natürlich bringen die Menschen verschiedene<br />
Reflexionsniveaus mit in die <strong>Kirche</strong>. Der mittlere Angestellte<br />
will etwas anderes vom Pfarrer als die global<br />
mobile Akademikerin, sie hört aber auch anderes.<br />
Eine Pfarrerin kann innerhalb eines Gottesdienstes<br />
nicht alles abdecken. Es braucht daneben zielgruppenorientierte<br />
Ereignisse. Eine Relativierung sozialer und<br />
intellektueller Unterschiede kann aber dann geschehen,<br />
wenn es um menschliche Grundfragen geht, etwa<br />
um Lebenssinn, ums Sterben. Man muss elementar<br />
und existentiell bedeutsam sprechen.<br />
Auch so können Sie nicht<br />
verhindern, dass sich Leute<br />
ausgeschlossen fühlen.<br />
Ein Gottesdienst ist ein extrem<br />
anspruchsvolles Format,<br />
vermutlich die schwierigste<br />
Form der öffentlichen Rede. Ein<br />
Gemeindepräsident ist nicht darauf angewiesen, dass<br />
die Leute das nächste Mal wieder zu seiner Rede kommen,<br />
eine Pfarrperson aber schon. Zum Glück besteht<br />
ein Gottesdienst aus verschiedenen Teilen. Jemanden<br />
spricht an einem Tag vielleicht die Predigt an, den anderen<br />
die Fürbitte oder ein Lied.<br />
Wir sprechen jetzt nur vom kleinen Kreis derer, die<br />
in die <strong>Kirche</strong> gehen. Wie sollen Menschen angesprochen<br />
werden, die ausgetreten sind?<br />
Man sollte sich darauf konzentrieren, zu verhindern,<br />
dass die Menschen austreten. Viele sind durch<br />
eine einzelne Begegnung abgeschreckt worden. Oder<br />
sie wurden gar nie willkommen geheissen. Ich bin<br />
zum Beispiel vor einem Jahr in Zürich in ein anderes<br />
Quartier gezogen. Der Pfarrer meiner Kirchgemeinde,<br />
der keine 300 Meter entfernt wohnt, ist bis jetzt nicht<br />
auf den Gedanken gekommen, mit mir Kontakt aufzunehmen.<br />
Man muss die Mitglieder pflegen.<br />
«Die Volkskirche als Versorgungskirche<br />
funktioniert<br />
in Zukunft nicht mehr.»<br />
immer für Aha-Effekte gesorgt hatte, waren Geburtstagsbriefe.<br />
Nicht nur an die 88jährigen, sondern an<br />
den, der volljährig wird, an den Dreissigjährigen und<br />
so weiter. So signalisiert man: Ich nehme Dich wahr.<br />
Ein <strong>Kirche</strong>npflegemitglied wird Ihnen entgegnen,<br />
dass die Ressourcen dafür nicht vorhanden sind.<br />
Ich sehe nicht im Einzelnen, wie hier die Gelder<br />
innerhalb von Kirchgemeinden verteilt werden. Von<br />
deutschen Lan<strong>des</strong>kirchen weiss ich, dass relativ viel<br />
Geld in Bau- und Erhaltungsmassnahmen fliesst. Ob<br />
das so sein muss, wäre eine Überprüfung wert. Hier wie<br />
dort erlebe ich eine völlig ausufernde Sitzungskultur innerkirchlicher<br />
Gremien. Ich frage mich, ob die Zeit, die<br />
dort verbracht wird, nicht sinnvoller in Feldbegehungen<br />
investiert wäre. Ich plädiere für eine Verschlankung<br />
der Gremien und für eine andere Prioritätensetzung.<br />
Und dann kommt noch eine weitere Möglichkeit hinzu:<br />
In den USA arbeiten in Kirchgemeinden ganz viele<br />
Freiwillige. Man könnte also einen literarischen Profi<br />
der Gemeinde fragen, ob er einen<br />
solchen Geburtstagsbrief<br />
entwerfen könnte.<br />
Wir haben keine vergleichbare<br />
Freiwilligen-Kultur.<br />
Da braucht es einen Mentalitätswechsel.<br />
Die Volkskirche<br />
als Versorgungskirche funktioniert in Zukunft nicht<br />
mehr. Wenn die Zahl der <strong>Reformierte</strong>n so abnimmt<br />
wie in den letzten fünfzehn Jahren, dann werden wir<br />
nicht nur zur Minderheitenkirche, sondern die bisherigen<br />
Strukturen trocknen aus. Das sehen wir ansatzweise<br />
bei den kaum steigenden Studierendenzahlen,<br />
bei der Mitgliederentwicklung, an manch grossen<br />
Kirchgebäuden, die kaum noch regelmässig für Gottesdienste<br />
genutzt werden. <strong>Kirche</strong> kann nur weiter<br />
existieren, wenn die Menschen sich verantwortlich<br />
fühlen für sie und mitmachen. Das ist auch biblisch:<br />
<strong>Kirche</strong> wird auf allen Schultern getragen, nicht nur<br />
von Funktionären und Angestellten – und dies hoffentlich<br />
aus innerem Antrieb. So finde ich es problematisch,<br />
wenn etwa das Vertragen <strong>des</strong> Gemeindebriefes<br />
oder ehrenamtliche Arbeit überhaupt mit Lohn<br />
bezahlt wird. <<br />
Wie?<br />
Zum Beispiel mit einem Besuchsdienst. Wenn jemand<br />
frisch zuzieht, soll er einen Brief bekommen, in<br />
dem ein Anruf angekündigt wird, der einem Besuch<br />
vorausgehen kann. Oder was in meinen Gemeinden<br />
* DR. THOMAS SCHLAG ist Professor für Praktische Theologie,<br />
Mitbegründer und Leiter <strong>des</strong> neuen Zentrums für<br />
<strong>Kirche</strong>n en twicklung (ZKE) an der Universität Zürich.<br />
MAJA PETER ist Redaktorin <strong>des</strong> bulletins.
– Kommunikation<br />
Wie Medien<br />
Religion<br />
inszenieren<br />
Obwohl Margot Kässmann<br />
im Februar <strong>2010</strong> als Rats–<br />
vorsitzende der <strong>Evangelisch</strong>en<br />
<strong>Kirche</strong> Deutschlands zurück–<br />
getreten ist, schickt eine<br />
amerikanische Fotoagentur<br />
ihr Bild vom Ökumenischen<br />
<strong>Kirche</strong>ntag von Mai <strong>2010</strong><br />
um die Welt. Eine Bischöfin,<br />
die alkoholisiert Auto fährt,<br />
interessiert die Medien mehr<br />
als die Ökumene selbst.<br />
KEYSTONE<br />
MIGUEL VILLAGRAN/GETTY IMAGES
Kommunikation 9<br />
Wenn es um die Präsenz in den Schweizer Medien geht, rennen der<br />
Katholizismus und der Islam dem Protestantismus den Rang ab.<br />
Dies belegen neue Studien zur Religionsberichterstattung. Aus den<br />
Erkenntnissen lassen sich Schlussfolgerungen für die Kommunikationsstrategie<br />
der <strong>Reformierte</strong>n ableiten.<br />
VON VINZENZ WYSS *<br />
Der 26-jährige Schweizer Gibril Muhammad<br />
Zwicker ist vor zwei Jahren zum Islam<br />
konvertiert und will Hauptmann der<br />
Schweizer Armee werden. Mit diesem Anliegen<br />
ist dem gelernten Thurgauer Maschinenbaukonstrukteur<br />
die Aufmerksamkeit der Journalistinnen und<br />
Journalisten sicher. Das Thema hat Nachrichtenwert,<br />
weil mit dem Vorhaben <strong>des</strong> streng Gläubigen Irritationen<br />
ausgelöst werden und Irritationen das Geschäft der<br />
journalistischen Aufmerksamkeitsproduktion sind.<br />
Journalistische Medien thematisieren Ereignisse<br />
und Handlungen vor allem dann, wenn diese erwartete<br />
soziale Ordnungen real oder potenziell stören oder<br />
bedrohen. Eine solche Irritation kann auch im Fall <strong>des</strong><br />
Offizieranwärters konstruiert werden. Etwa, indem<br />
dem Mann mit Vollbart in Interviews ein Gewissenskonflikt<br />
unterstellt wird, wenn er gefragt wird, wie er<br />
sich bei einem Terroranschlag von Islamisten als<br />
Hauptmann verhalten würde. Die Medien inszenieren<br />
den möglichen Konflikt zwischen einer Sicherheit garantierenden<br />
Armee und einem muslimischen Offizier,<br />
der öffentlich bekennt, bedingungslos Allah dienen<br />
zu wollen und noch dazu Mitglied ist beim<br />
umstrittenen Islamischen Zentralrat Schweiz.<br />
Typisch an dieser Geschichte ist auch, wie sie Religion<br />
als Thema anklingen lässt. So erfahren wir etwa,<br />
worin für Gibril Muhammad Zwicker der Sinn <strong>des</strong> Lebens<br />
besteht oder dass er die fünf täglichen Pflichtgebete<br />
nicht in einem einzigen zusammenzufassen<br />
möchte, wie dies ein Armeemerkblatt für den Umgang<br />
mit nichtchristlichen Rekruten vorsieht. Religiosität,<br />
bzw. religiöse Praktiken bilden auch hier nicht das<br />
Hauptthema, im Mittelpunkt steht vielmehr der Konflikt<br />
zwischen (bedrohter) Sicherheit und (bedrohendem)<br />
Fundamentalismus.<br />
Religion als Thema schafft es kaum aus sich heraus<br />
in die Medien. Zu diesem Schluss kommen zwei<br />
neue Schweizer Studien zur Religionsberichterstattung<br />
und zu journalistischen Inszenierungsstrategien.<br />
Sie wurden an der Zürcher Hochschule für Angewandte<br />
Wissenschaften realisiert und vom Schweizerischen<br />
Nationalfonds finanziert. Die Medienwissenschafterin<br />
Carmen Koch hat über ein Jahr hinweg<br />
Artikel und Beiträge zu religiösen Themen aus Schweizer<br />
Tageszeitungen und Nachrichtensendungen inhaltsanalytisch<br />
untersucht. Ergänzend dazu habe ich<br />
mit dem Dozenten Guido Keel 35 Schweizer Journalisten<br />
und Journalistinnen derselben Medien zu ihrem<br />
Umgang mit Religionsberichterstattung interviewt.<br />
Katholizismus und Islam dominieren<br />
Die Studien zeigen auf, dass die mediale Berichterstattung<br />
über Religionsgemeinschaften und religiöse<br />
Themen vom Katholizismus und vom Islam dominiert<br />
wird. Der Anteil der Beiträge, die sich mit dem<br />
Protestantismus beschäftigen, ist im Verhältnis ver-
10 bulletin Nr. 2 / <strong>2010</strong><br />
schwindend klein. Möglicherweise fehle «dem Protestantismus<br />
eine interessante Führungsperson, wie die<br />
Katholiken sie mit dem Papst haben», folgert Koch.<br />
Sie stellt zudem fest, dass der Protestantismus kaum<br />
im Zusammenhang mit «Skandalen, Konflikten oder<br />
extremen Positionen» thematisiert werde. Tatsächlich<br />
ist die Dominanz der katholischen <strong>Kirche</strong> in der Berichterstattung<br />
auch mit Skandalen und Konflikten zu<br />
erklären. Viele Berichte beziehen sich zum Beispiel auf<br />
die Aufdeckung von Fällen pädophiler Priester. Solche<br />
Vorkommnisse rufen auf klassische Weise die Aufmerksamkeit<br />
der Medienschaffenden hervor, die reflexartig<br />
reagieren, wenn Geistliche jene Moral verletzen,<br />
die sie selbst propagieren.<br />
Religion allein hat keinen Nachrichtenwert<br />
Insgesamt stellt die Inhaltsanalyse fest, dass religiöse<br />
Aspekte primär dann von den Medien thematisiert<br />
werden, wenn sie mit politischen Themen gekoppelt<br />
sind. Neben dem Buddhismus gilt dies stark für den Islam,<br />
wobei hier vor allem die vom Auslandjournalismus<br />
thematisierten Konflikte, Krisen und Kriege, bzw.<br />
die darin involvierten religiösen Gruppen, ins Gewicht<br />
fallen. Religion an sich, das heisst religiöse Inhalte, sind<br />
selten Thema der aktuellen Berichterstattung.<br />
Dieser Befund von Carmen Koch wird in der<br />
qualitativen Studie von Wyss/Keel weitgehend bestätigt.<br />
Die befragten Journalisten und Journalistinnen<br />
haben in der Regel nur vage Vorstellungen von dem,<br />
was sie mit dem Begriff «Religion» assoziieren sollen.<br />
Es dominiert ein Verständnis von Religion, das auf die<br />
religiösen Institutionen fokussiert: «Religion ist alles,<br />
was mit <strong>Kirche</strong> zu tun hat, so genannte verfasste Religion»,<br />
sagt etwa ein Redaktor. Wenn aber Religion mit<br />
Transzendenz in einen Zusammenhang<br />
gebracht wird, betonen<br />
die Journalisten sofort, dass solche<br />
Aspekte kaum einen Aktualitätsbezug<br />
hätten und journalistisch<br />
eher nicht kommunizierbar<br />
seien. So geben denn auch in einer<br />
aktuellen, repräsentativen<br />
Journalistenumfrage nur 4 Prozent,<br />
bzw. 11 Prozent der Schweizer<br />
Journalisten an, dass sie sehr<br />
oft, bzw. häufig mit dem Thema Religion konfrontiert<br />
seien. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch<br />
die Religionszugehörigkeit der Medienschaffenden: 32<br />
Prozent von ihnen sind evangelisch, 31 Prozent katholisch.<br />
Die grösste Gruppe bilden mit 34 Prozent die<br />
Konfessionslosen.<br />
Die befragten Journalisten sind der Ansicht, dass<br />
Religion aus sich selbst heraus kaum über genügend<br />
Ein Befragter stellt fest,<br />
dass Religion dann<br />
spannend sei, «wenn die<br />
Religion mit Standards<br />
kollidiert.»<br />
Nachrichtenwert verfügt. «Das Thema ist ein ‹Gähn›»,<br />
sagt etwa ein Redaktor eines kommerziellen Fernsehsenders<br />
oder der Chefredaktor einer Gratiszeitung<br />
meint, dass Religion nicht «sexy» sei. Die Gespräche<br />
verdeutlichen, dass religiöse Themen für Medienschaffende<br />
an Bedeutung gewinnen, wenn sie in Verbindung<br />
gebracht werden können mit politischen,<br />
wirtschaftlichen, rechtlichen, künstlerischen, sportlichen,<br />
erzieherischen oder wissenschaftlichen Themen.<br />
Ein Redaktor bringt dies so auf den Punkt: «Am besten<br />
ist Religion gekoppelt mit Sex, Gewalt, Erziehung,<br />
Schule oder Staat. Rein religiöse Fragen sind weniger<br />
interessant.» Dies drückt genau das aus, was wir in der<br />
Journalismusforschung «Mehrsystemrelevanz» nennen.<br />
Es entspricht der Logik <strong>des</strong> Journalismus, Themen<br />
bevorzugt dann zu bearbeiten, wenn sie in mehr<br />
als einem gesellschaftlichen Bereich als relevant erscheinen<br />
und Resonanz oder Anschlusskommunikation<br />
auslösen.<br />
Eine Geschichte muss es sein<br />
Die Koppelung religiöser Aspekte mit anderen<br />
Themen erfolgt aber nicht additiv. Weil Journalistinnen<br />
und Journalisten ihre Themen in eine Erzählstruktur<br />
giessen, müssen die verschiedenen Aspekte<br />
(etwa Religion und Gewalt) einander konflikthaft oder<br />
zumin<strong>des</strong>t irritierend gegenüber stehen, damit sie für<br />
Medienschaffende interessant sind. Die Geschichte<br />
<strong>des</strong> zum Islam konvertierten Schweizers, der Hauptmann<br />
werden will, ist dafür ein Musterbeispiel.<br />
Die journalistische Inszenierung von Realität ist<br />
geprägt vom Zwang, Komplexität zu reduzieren. Dies<br />
gelingt dem Journalismus am besten, wenn er Ereignisse<br />
und Handlungen im Rahmen von Geschichten<br />
erzählt. Die Narrationsforschung<br />
hat dazu Erkenntnisse vorgelegt,<br />
die auch für die journalistische Berichterstattung<br />
über religiöse Themen<br />
gelten und in den oben genannten<br />
Studien bestätigt wurden.<br />
Gemäss den Aussagen der befragten<br />
Journalisten und Journalistinnen<br />
steigt die Wahrscheinlichkeit,<br />
dass religiös motivierte Handlungen<br />
zum Medienthema gemacht<br />
werden, wenn sie einem narrativen Muster folgen. Das<br />
heisst, wenn die darzustellende Handlung in einen<br />
zeitlichen Ablauf (mit Anfang und möglichem Ende)<br />
gegossen werden kann, die (archetypischen) Rollenträger<br />
der Geschichte klar identifizierbar sind und die<br />
aktuelle Handlung auf eine generelle Bedeutungsebene<br />
verweist. In der Inhaltsanalyse konnte beispielsweise<br />
festgestellt werden, dass Buddhisten und Juden
Kommunikation 11<br />
meistens als Opfer in negativ konnotierten Handlungen<br />
dargestellt werden. Muslime generell und Schiiten<br />
im Speziellen werden hingegen eher als Auslöser oder<br />
Mitschuldige identifiziert. Die Möglichkeit zur Personalisierung<br />
spielt im einzelnen Beitrag eine ganz zentrale<br />
Rolle. Dies formuliert ein Redaktor so: «Es braucht<br />
entweder eine sehr bekannte Figur wie den Dalai<br />
Lama, den Papst, einen Schweizer Kardinal oder halt<br />
eine sehr überzeugende Figur wie zum Beispiel die<br />
unbekannte Baptistin von Fribourg, die irgendwie<br />
überraschend ist.»<br />
Köpfe, Köpfe, Köpfe<br />
Religiöse Themen interessieren dann, wenn sie<br />
eine erwartete politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche<br />
oder auch eine natürliche Ordnung irritieren<br />
oder umgekehrt. «Wenn bei einem Lawinenunglück<br />
von Schweizer Rekruten der Bun<strong>des</strong>rat im<br />
Berner Münster predigt, ist Religion sehr gefragt.»<br />
Neben pädophilen oder liierten katholischen Priestern<br />
nennen die Journalisten auch das Spannungsfeld<br />
zwischen säkularer Gesellschaft und Religion als Dauerbrenner.<br />
So stellt ein Befragter fest, dass Religion<br />
dann spannend sei, «wenn die Religion mit Standards<br />
kollidiert.» Das Verbot von <strong>Kirche</strong>nbauten oder von<br />
umstrittenen religiösen Ritualen, staatliche Kleidervorschriften<br />
oder ein gestörtes Verhältnis zwischen<br />
<strong>Kirche</strong> und Staat oder zwischen einer Kirchgemeinde<br />
und ihrem Bischof werden als weitere Beispiele genannt.<br />
Strategien für die <strong>Reformierte</strong>n<br />
Was kann nun also – zusammenfassend – aus all<br />
dem für die Kommunikationsstrategie einer Religionsgemeinschaft<br />
und insbesondere der <strong>Reformierte</strong>n<br />
gelernt werden? Die Verantwortlichen der <strong>Reformierte</strong>n<br />
haben dann eine Chance, ihre Themen in den Medien<br />
zu platzieren, wenn sie in ihren Stellungnahmen<br />
religiöse Aspekte und Glaubensfragen koppeln mit<br />
anderen irritierenden gesellschaftlichen Perspektiven.<br />
So können Moral- und Ethikperspektiven bestimmter<br />
Religionsvertreter journalistische Geschichten etwa<br />
zu Managerlöhnen, zum Bankgeheimnis, zum Sonntagsverkauf,<br />
zum Klimawandel, zum Burkaverbot<br />
oder zu Migrationsfragen gut ergänzen. Wichtig ist<br />
dabei, dass die religiöse Perspektive in ihrem Kern benannt<br />
wird und wertbezogen (Menschenwürde, Solidarität,<br />
Toleranz etc.) kommuniziert wird. Zudem<br />
muss die narrative Struktur der tragenden Geschichte<br />
augenfällig sein.<br />
Die Kommunikationsspezialisten müssen <strong>des</strong>halb<br />
lernen, in ihrer Arbeit die narrativen Strukturen<br />
journalistischer Geschichten zu berücksichtigen und<br />
Relevanz hat am Fernsehen nicht erste Priorität. Das exotische<br />
Bild einer vollverschleierten Schweizerin genügt dem Medium,<br />
um einer extremen Minderheit eine Plattform zu bieten.<br />
ihre (archetypische) Rolle als Religionsvertreter im<br />
Rahmen der dominanten Erzählung einzunehmen –<br />
und diese möglichst positiv zu gestalten. Schliesslich<br />
sind auch hier Köpfe gefragt. Argumente müssen personalisiert<br />
werden, auch wenn es da die katholische<br />
<strong>Kirche</strong> leichter hat. Der Schweizerische <strong>Evangelisch</strong>e<br />
<strong>Kirche</strong>nbund hat aber mit ihrem Präsidenten Pfarrer<br />
Thomas Wipf eine gute Ausgangslage. <<br />
Mehr Informationen dazu:<br />
Vinzenz Wyss & Guido Keel: Religion surft mit.<br />
Journalistische Inszenierungsstrategien zu<br />
religiösen Themen.<br />
Carmen Koch: Das Politische dominiert. Wie<br />
Schweizer Medien über Religionen berichten.<br />
Beide Artikel sind erschienen in der Zeitschrift<br />
«Communicatio Socialis», Heft 4, 2009.<br />
* DR. VINZENZ WYSS ist Professor für Journalismus<br />
und Medienforschung am Institut für Angewandte<br />
Medienwissenschaft der Zürcher Hochschule für<br />
Angewandte Wissenschaften in Winterthur.
12 bulletin Nr. 2 / <strong>2010</strong><br />
– Eine Frage, zwei Antworten<br />
Sollen sich die reformierten Kir<br />
bemühen oder genügt es, die Tü<br />
Frank Worbs *<br />
Wenn die reformierten <strong>Kirche</strong>n doch<br />
nur schon die Türen ihrer <strong>Kirche</strong>n offen<br />
halten würden!<br />
Abgeschlossene<br />
<strong>Kirche</strong>ntüren sind nur ein<br />
Beispiel dafür, wie die reformierten<br />
<strong>Kirche</strong>n mitunter an den Wünschen<br />
und Bedürfnissen ihrer Mitglieder<br />
vorbei denken und handeln.<br />
Wenn sie weiterhin Volkskirche<br />
und nicht nur Bekenntniskirche<br />
sein wollen, das heisst, auch Tradition,<br />
Offenheit, Solidarität oder andere Werthaltungen<br />
als Beweggründe zur Mitgliedschaft akzeptieren, müssen<br />
sie von den Erkenntnissen <strong>des</strong> Marketings noch einiges<br />
lernen. Vieles haben die reformierten <strong>Kirche</strong>n<br />
und Gemeinden in den letzten zehn Jahren zwar bereits<br />
gelernt: Sorgfältige Medienarbeit, Einsatz verschiedener<br />
Kommunikationsmittel, Ausrichtung auf klar definierte<br />
Zielgruppen oder öffentlichkeitswirksame Kampagnen.<br />
Das einzelne Mitglied,<br />
speziell das wenig verbundene,<br />
verdient mehr Aufmerksamkeit.<br />
Aber die Entwicklung muss weiter gehen. Es genügt<br />
nicht, das mediale Bild von <strong>Kirche</strong> positiv zu beeinflussen<br />
oder ein neues Glaubensbekenntnis als «Referenztext»<br />
auszuarbeiten, um wahrgenommen zu werden.<br />
<strong>Kirche</strong>naustritte können so nicht verhindert werden.<br />
Lernen vom Autohändler<br />
Das einzelne Mitglied, speziell das wenig verbundene,<br />
das keine Leistungen bezieht und nicht am kirchlichen<br />
Leben teilnimmt, verdient mehr Aufmerksamkeit.<br />
So könnten zum Beispiel seine Geschichte mit der<br />
<strong>Kirche</strong>, seine persönlichen Eindrücke und Erinnerungen<br />
an die <strong>Kirche</strong> viel bewusster und sorgfältiger im<br />
Mitgliedermarketing aufgenommen werden. Eigentlich<br />
liegt da unsere Stärke: Wir kommen den Menschen in<br />
einer von virtuellen Netzwerken zunehmend durchdrungenen<br />
Welt noch ganz persönlich nah: Bei Besuchen,<br />
Taufen, Konfirmationen, Trauungen zum Beispiel.<br />
Aber aus den Augen aus dem Sinn.<br />
Da können die <strong>Kirche</strong>n viel von der Kundenpflege<br />
eines guten Autohauses lernen. Während das Autohaus<br />
sich nach einem Jahr beim Kunden meldet oder ihn zum<br />
Service einlädt, nach fünf Jahren ein neues Auto anbietet<br />
und dies alles genau abgestimmt auf<br />
das Leben <strong>des</strong> Kunden, melden sich<br />
die Kirchgemeinden selten persönlich<br />
bei den Mitgliedern, um an positiven,<br />
gemeinsamen Erlebnissen<br />
anzuknüpfen. Gute Gelegenheiten<br />
wären zwanzig Jahre nach der Konfirmation<br />
oder zehn Jahre nach der<br />
Hochzeit. Die Beziehung mit unseren<br />
Mitgliedern pflegen, persönlich<br />
abgestimmt auf ihren Lebenslauf, das ist eine von vielen<br />
Möglichkeiten, welche die <strong>Kirche</strong> noch nicht im Blick<br />
hat. Semper reformanda – das gilt auch für die reformierte<br />
Beziehungspflege. <<br />
* PFARRER FRANK WORBS ist Leiter Kommunikation<br />
der <strong>Reformierte</strong>n Lan<strong>des</strong>kirche Aargau.
13<br />
chen aktiv um Mitglieder<br />
ren offen zu halten?<br />
Vielleicht existiert die Illusion von volkskirchlicher<br />
Selbstverständlichkeit noch in<br />
den Köpfen mancher <strong>Kirche</strong>nleute, die<br />
davon ausgehen, dass sich die Menschen<br />
zur <strong>Kirche</strong> verhalten, wie die Patienten zum Arzt − sie<br />
werden schon kommen, wenn sie etwas brauchen.<br />
Die Saalsorgerinnen und Saalsorger, die leicht resigniert<br />
oder gar betupft fragen, warum die sorgfältig<br />
formulierte Sonntagspredigt nicht mehr Leute interessiere,<br />
haben noch nicht verstanden, dass <strong>Kirche</strong> heute<br />
offensiver, kreativer, dialogischer auf Menschen zugehen<br />
muss, um überhaupt wahrgenommen zu werden.<br />
Es reicht nicht mehr, die Türe offen zu halten. Wir<br />
müssen neu übersetzen, was es in der urbanen Schweiz<br />
<strong>des</strong> 21. Jahrhunderts bedeutet, Menschen an Hecken<br />
und Zäunen oder eben am Strassenrand einzuladen.<br />
Wenn es gelingt, sie auf verschiedenen Kommunikationskanälen<br />
mit der Botschaft <strong>des</strong> immer noch gleichen<br />
Evangeliums anzusprechen, werden neue Menschen<br />
kommen. Vielleicht nicht jene, die wir gerufen<br />
haben. Vielleicht werden sie nach einer anderen Sprache<br />
und neuen Formen <strong>des</strong> <strong>Kirche</strong>seins verlangen. Es<br />
fragt sich, ob die <strong>Kirche</strong>n und Gemeinden bereit sind,<br />
sich entsprechend zu entwickeln.<br />
Missionarische Kampagne<br />
von Greenpeace<br />
Ein gutes Beispiel ist die<br />
Kampagne «Credo» der <strong>Evangelisch</strong>-reformierten<br />
<strong>Kirche</strong> Basel-<br />
Stadt. In einem sinnvollen Dreischritt<br />
fragte sie zunächst<br />
innerkirchlich nach den verbindenden<br />
biblischen Glaubenswurzeln,<br />
dann legte sie der Öffentlichkeit<br />
ein Gebetsbuch vor (es war im Nu ausverkauft)<br />
und liess schliesslich ein buntes <strong>Kirche</strong>ntram durch<br />
die Stadt kurven, das zum Wiedereintritt ermunterte.<br />
Ist das aufdringlich? Mag sein. Aber es ist nicht aufdringlicher,<br />
als das Glockengeläute und nicht missionarischer<br />
als eine Kampagne von Greenpeace.<br />
Wir müssen neu übersetzen,<br />
was es heute bedeutet,<br />
Menschen an Hecken und<br />
Zäunen oder eben am<br />
Strassenrand einzuladen.<br />
Heinz Fäh *<br />
Vielerorts ist es in der reformierten <strong>Kirche</strong> jedoch<br />
immer noch bequemer, den schleichenden Mitgliederschwund<br />
zu beklagen, als<br />
kohärente und glaubwürdige Angebote<br />
zu schaffen und diese<br />
überzeugend zu kommunizieren.<br />
Genau darin aber würde die<br />
Schlüsselkompetenz heutiger <strong>Kirche</strong>nleute<br />
liegen. <<br />
* HEINZ FÄH ist Pfarrer in Rapperswil-Jona<br />
und <strong>Kirche</strong>nrat St. Gallen.
Die reformierten <strong>Kirche</strong>n stehen<br />
im Wettbewerb mit anderen<br />
religiösen Gemeinschaften und<br />
reagieren unter anderem mit<br />
Werbemassnahmen darauf: Oben<br />
links die Kampagne der <strong>Kirche</strong>n<br />
der Nordwestschweiz, rechts ein<br />
Beispiel aus Neuenburg, unten<br />
das Basler Tram.
– Ekklesiologie<br />
15<br />
<strong>Kirche</strong> auf dem<br />
Markt<br />
Die <strong>Kirche</strong> kann sich ihren Ort nicht aussuchen. Sie ist Teil einer<br />
pluralistischen Gesellschaft, die Religionen und Weltanschauungen auf<br />
den Marktplatz verweist. Die <strong>Kirche</strong>n können ihren Platz darauf nur<br />
dann weiterhin behaupten, wenn sie sich an den Bedürfnissen ihrer<br />
Kunden orientieren.<br />
VON ALBRECHT GRÖZINGER *<br />
Der Markt und das Marketing haben bei<br />
Theologinnen und Theologen keine gute<br />
Presse. «Markt» klingt in vielen Ohren<br />
nach Raubtierkapitalismus, nach schamloser<br />
Bereicherung durch Boni, nach sich immer weiter<br />
auftuender Kluft zwischen Armen und Reichen.<br />
Wer wollte sich an einem solchen Ort schon wohl fühlen?<br />
Und «Marketing» klingt nach Anbiederung und<br />
Anpassung an die Gesetze eben dieses unwohnlichen<br />
Ortes. Dieses Vorurteil wird aber weder dem gerecht,<br />
was der Markt ist, noch den reflektierten Theorien eines<br />
Marketings. Gleichwohl gibt es Tücken und Fallstricke,<br />
wenn sich <strong>Kirche</strong> und Theologie auf den Markt<br />
begeben, und wenn sie sich in ihrem Handeln am<br />
Marketing orientieren möchten. Im Zwischenraum<br />
von vorurteilsbehafteter Ablehnung und unreflektierter<br />
Anpassung sehe ich den einzigen Weg, sich den<br />
Herausforderungen zu stellen, die von Markt und<br />
Marketing ausgehen.<br />
In den Gottesdienst oder ins Fitnesscenter?<br />
Zunächst: <strong>Kirche</strong> steht schon auf dem Markt. Sie<br />
kann sich ihren Ort nicht aussuchen. Wir leben nun<br />
einmal in einer Gesellschaft <strong>des</strong> weltanschaulichen<br />
und religiösen Pluralismus. Dieser Pluralismus wird<br />
auf dem Markt verhandelt, ob uns das nun sympathisch<br />
ist oder nicht. In den Regalen der Buchhandlungen<br />
stehen theologisch reflektierte Bücher neben<br />
seriösen und unseriösen New-Age-Ratgebern. In denselben<br />
Regalen gibt es nicht die eine Religion Christentum,<br />
sondern auch Islam und fernöstliche Religionen,<br />
wobei der Bücherbestand an fernöstlichen<br />
Religionen nicht selten der grösste ist − was etwas<br />
über ihren Marktwert aussagt. Unsere Gottesdienste<br />
konkurrieren mit den Öffnungszeiten der Museen, der<br />
Fitnesscenter und zunehmend auch der Einkaufspassagen.<br />
Die Freiheit, unbevormundet zu glauben<br />
Wer die Augen aufmacht, sieht, der Markt ist da.<br />
Und er sieht auch, dass die <strong>Kirche</strong>n auf diesem Markt<br />
agieren, wie gross der Vorbehalt dagegen auch sein<br />
mag. Die <strong>Kirche</strong>n haben sich auf dem Markt genauso<br />
eingerichtet wie die Kritiker der Marktwirtschaft. Diese<br />
handeln mit ihrer Kritik meistens recht geschickt,<br />
bringen sie also marktkonform an.<br />
Nun bedeutet diese Beschreibung nicht, dass ich<br />
den Markt glorifizieren möchte. Mir geht es um eine<br />
nüchterne Wahrnehmung und Beschreibung der Tatsache,<br />
dass sich <strong>Kirche</strong> und Theologie seit eh und je<br />
auf dem Markt der Religionen und Weltanschauungen<br />
befinden. Auch die grössten Marktkritiker möchten<br />
wohl nicht hinter diesen religiösen und weltanschaulichen<br />
Pluralismus zurücktreten. Denn er bedeutet<br />
nichts anderes als Freiheit – die Freiheit, religiöse und<br />
weltanschauliche Loyalitäten unbevormundet einzu-
16 bulletin Nr. 2 / <strong>2010</strong><br />
gehen. Ein Zurückdrehen dieses Pluralismus hätte einen<br />
hohen Preis − den Preis der Freiheit selbst. Deshalb<br />
schützen unsere demokratischen Verfassungen<br />
diesen Pluralismus und seine Regelungsmechanismen,<br />
zu denen der Markt gehört. Eine bessere Möglichkeit,<br />
den religiösen und weltanschaulichen Pluralismus<br />
anders als über den Markt zu regeln, müsste<br />
erst erfunden werden.<br />
Verrät die <strong>Kirche</strong> ihren Auftrag?<br />
Nun gibt es einen gewichtigen Einwand gegen<br />
<strong>Kirche</strong> und Theologie auf dem Markt: Bedeutet eine<br />
Orientierung an den Gesetzen <strong>des</strong> Marktes nicht, dass<br />
die <strong>Kirche</strong> ihren Auftrag verrät? Eine Frage, die es<br />
ernst zu nehmen gilt. Dass man sie mit «nein» beantworten<br />
kann und muss, lehrt uns ausgerechnet das<br />
Marketing. Als die reformierte und katholische <strong>Kirche</strong>n<br />
in Basel vor einiger Zeit dem Lehrstuhl für Marketing<br />
und dem Lehrstuhl für Praktische Theologie an<br />
der Universität Basel den Auftrag gaben, eine <strong>Kirche</strong>nstudie<br />
zu erstellen, war dies für alle Beteiligten ein interessanter<br />
Lernprozess. In den ersten Gesprächen<br />
waren es vor allem die Vertreter <strong>des</strong> Lehrstuhls Marketing,<br />
die immer wieder danach fragten, was denn<br />
die <strong>Kirche</strong>n erreichen wollen, was ihre Ziele und Themen<br />
seien. Auf dem Markt – das haben wir damals<br />
vom Marketing gelernt – kann nur bestehen, wer ein<br />
originäres Angebot hat. Nicht wer auf den Markt<br />
schielt, reagiert marktangemessen, sondern wer sein<br />
Angebot dort erkennbar macht. Nur wer etwas zu bieten<br />
hat, kann auf dem Markt bestehen.<br />
Allerdings ist dieses Bestehen auf dem Markt eine<br />
schwierige Angelegenheit. Es bedeutet im Grunde ein<br />
Wechsel der Perspektiven. Die <strong>Kirche</strong>n können nicht<br />
mehr als Monopolisten in Sachen Religion agieren,<br />
sondern müssen sich an der Kundenresonanz ihres<br />
Angebotes orientieren. Das heisst: Nicht die <strong>Kirche</strong>nleute<br />
und die theologischen Fachpersonen definieren<br />
die Bedeutung kirchlichen Handelns, sondern die<br />
Menschen, die dieses Handeln in Anspruch nehmen,<br />
sei es passiv, sei es mit aktiver Mitbeteiligung oder<br />
eine Mischung aus beidem. Doch ist das dem Selbstverständnis<br />
protestantischer <strong>Kirche</strong>n so fremd? Eigentlich<br />
nicht. Dass die Definitionshoheit nicht in den<br />
Händen <strong>des</strong> Priesterstan<strong>des</strong> liegt, sondern dass das<br />
«allgemeine Priestertum der Gläubigen in Geltung<br />
steht», um eine bekannte Formulierung aus dem Traditionsbestand<br />
<strong>des</strong> Protestantismus aufzunehmen, ist<br />
Protestanten vertraut.<br />
Dieser Perspektivenwechsel kann der <strong>Kirche</strong> nur<br />
gut tun. Es gibt nicht wenige empirische Untersuchungen<br />
im deutschsprachigen Raum, in denen die Menschen<br />
nach ihren Erwartungen an die <strong>Kirche</strong>n befragt<br />
wurden. Die Antworten darauf sind erstaunlich einheitlich.<br />
Von der <strong>Kirche</strong> wird erwartet, dass in ihr Gottesdienste<br />
gefeiert werden, dass die christliche Tradition<br />
in der Generationenfolge weitergegeben wird, und dass<br />
bedürftigen Menschen geholfen wird. Nicht selten hat<br />
man den Eindruck, dass die Menschen «draussen»<br />
oft sehr viel genauer wissen, was <strong>Kirche</strong> ist, als mancher<br />
Profi innerhalb der <strong>Kirche</strong>. Auch in dieser Hinsicht<br />
müssen <strong>Kirche</strong> und Theologie den Markt nicht<br />
fürchten.<br />
Der Kunde bestimmt das Angebot<br />
Wer sich auf den Perspektivenwechsel vom Anbieter<br />
hin zum Kunden einlässt, muss ein fundamentales<br />
Interesse am Kunden haben. Denn es sind die<br />
Kunden, die entscheiden, welches Angebot zum Zug<br />
kommt. Auch hier sind Umfragen aufschlussreich. Die<br />
Menschen haben offensichtlich ein sensibles Gespür<br />
dafür, was auf dem Markt der Religionen ein seriöses<br />
Angebot ist. Sonst stünden sonntags die <strong>Kirche</strong>n leer,<br />
es gäbe keine kirchlich begleiteten Hochzeiten, keine<br />
Beerdigungen mehr. Die kirchlichen Angebote geniessen<br />
also nach wie vor grosses Vertrauen, die <strong>Kirche</strong><br />
als Institution vielleicht etwas weniger. Der <strong>Kirche</strong><br />
wird attestiert, dass das, was sie religiös tut, reflektiert<br />
und bewährt ist.<br />
Die <strong>Kirche</strong> wird also nur dann auf dem Markt bestehen,<br />
wenn sie das über Jahrhunderte hinweg gepflegte<br />
Erfahrungswissen bewahrt. An der Qualität<br />
ihres Handelns wird sich entscheiden, ob sie auch in<br />
Zukunft Bestand haben wird. Wer diesen Zusammenhang<br />
sieht, braucht theologisch den Markt gewiss<br />
nicht zu fürchten. Gerade oberflächliche Angebote,<br />
Gags und Albernheiten, die es immer wieder gibt und<br />
wohl auch geben wird, sind nicht das Resultat von Religionsmarketing,<br />
sondern das Gegenteil. Durch religiösen<br />
Kitsch und Schund, durch Schielen auf den<br />
vordergründigen Gag kann die <strong>Kirche</strong> auf dem Markt<br />
nicht bestehen. Bestehen wird sie durch qualifizierte<br />
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und durch die Qualität<br />
ihrer Angebote. Gerade das Marketing weist die<br />
<strong>Kirche</strong> zurück an ihren Auftrag: Das Evangelium in<br />
den verschiedensten Kontexten so zu gestalten, dass<br />
Menschen es als lebensdienlich erfahren. <<br />
* PROF. DR. THEOL. ALBRECHT GRÖZINGER<br />
ist Ordinarius für praktische Theologie, Dekan<br />
und Studiendekan an der Universität Basel.
17<br />
Der Schweizerische <strong>Evangelisch</strong>e<br />
<strong>Kirche</strong>nbund: 2,4 Millionen<br />
Protestantinnen und Protestanten<br />
unter einem Dach.<br />
Der Schweizerische <strong>Evangelisch</strong>e <strong>Kirche</strong>nbund <strong>SEK</strong> ist<br />
der Zusammenschluss der 24 reformierten Kantonalkirchen,<br />
der <strong>Evangelisch</strong>- methodis tischen <strong>Kirche</strong> und<br />
der Église évangélique libre de Genève in der Schweiz.<br />
Damit repräsentiert der <strong>SEK</strong> rund 2,4 Millionen Protestantinnen<br />
und Protestanten. Er nimmt Stellung zu Politik,<br />
Wirtschaft und Glaubensfragen und ist unter anderem<br />
Ansprechpartner <strong>des</strong> Bun<strong>des</strong>rates.<br />
Der Schweizerische <strong>Evangelisch</strong>e <strong>Kirche</strong>nbund<br />
<strong>SEK</strong> nimmt die gemeinsamen Interessen seiner Mitgliedkirchen<br />
wahr und vertritt sie auf nationaler und<br />
internationaler Ebene. Politisch ist der <strong>SEK</strong> als Vertreter<br />
<strong>des</strong> Schweizer Protestantismus unter anderem Gesprächspartner<br />
der Bun<strong>des</strong>behörden. Auf religiöser<br />
Ebene vertritt er seine Mitglieder in der Weltgemeinschaft<br />
<strong>Reformierte</strong>r <strong>Kirche</strong>n (WRK), in der Gemeinschaft<br />
<strong>Evangelisch</strong>er <strong>Kirche</strong>n in Europa (GEKE), in der Konferenz<br />
Europäischer <strong>Kirche</strong>n (KEK) und im Ökumenischen<br />
Rat der <strong>Kirche</strong>n (ÖRK). Der <strong>SEK</strong> pflegt Beziehungen zu<br />
den Partnerkirchen im In- und Ausland, zur jüdischen<br />
und islamischen Gemeinschaft, zur Bischofskonferenz<br />
sowie zu den Hilfswerken und Missionsorganisationen.<br />
Eine gesellschaftliche Kraft<br />
Der <strong>SEK</strong> nimmt politisch Stellung und äussert sich<br />
in eigenen Publikationen zu theologischen und ethischen<br />
Gegenwartsfragen. Aktuelle Publikationen gibt<br />
es zu den Themen Abendmahl, Taufe, Globalisierung,<br />
Forschung am Menschen, Sterbehilfe, Menschenrechte,<br />
Migrationskirchen. Sie können heruntergeladen<br />
und bestellt werden auf www.sek.ch.<br />
Ihre Meinung interessiert uns! Haben<br />
Sie Anregungen, Kritik oder einen<br />
Wunsch? Schreiben Sie uns Ihre Meinung<br />
an info@sek.ch<br />
Das bulletin in Ihrem<br />
Briefkasten<br />
Wir schicken Ihnen das bulletin gerne kostenlos zu, damit Sie keine<br />
Ausgabe verpassen. Bestellen Sie das Magazin <strong>des</strong> Schweizerischen<br />
<strong>Evangelisch</strong>en <strong>Kirche</strong>nbun<strong>des</strong> <strong>SEK</strong> mit Porträt, Hintergrundgeschichten,<br />
Interviews und Diskussionsbeiträgen aus den Mitgliedkirchen,<br />
Universitäten und dem <strong>SEK</strong>.<br />
Senden Sie eine E-Mail mit Ihrer Adresse und dem Vermerk «bulletin<br />
bestellen» an: info@sek.ch oder rufen Sie uns an: Telefon 031 370 25 25<br />
bulletin<br />
Das Magazin <strong>des</strong> Schweizerischen <strong>Evangelisch</strong>en <strong>Kirche</strong>nbun<strong>des</strong>
– Augenblick<br />
Noahs Geschichte<br />
Der amerikanische Illustrator und Undergroundkünstler<br />
Robert Crumb erzählt das Buch Genesis lustvoll, detaillliert<br />
und räumt den Frauen viel Platz ein. Auf Deutsch<br />
ist das 228seitige Werk bei Carlsen erschienen.<br />
Es kostet Fr. 50.90.
20 bulletin Nr. 2 / <strong>2010</strong><br />
Konfirmation 1897: Bonstetten ZH<br />
Konfirmation 1961: Methodisten Luzern
21<br />
– Vernehmlassung <strong>SEK</strong><br />
Zu Bekenntnissen<br />
bekennen<br />
Die Schweizer <strong>Reformierte</strong>n wünschen sich eine Verständigung<br />
über Glaubensbekenntnisse. Was heute verschieden gehandhabt wird,<br />
soll künftig in einem verbindlichen Rahmen mit verbindlichen<br />
Texten stattfinden. Zum Beispiel während der Konfirmation. Nun<br />
geht das Projekt «Werkbuch Bekenntnis» in Vernehmlassung.<br />
VON FÉLIX MOSER *<br />
Mit dem «Werkbuch Bekenntnis» sollen<br />
Gläubige in die Lage versetzt werden,<br />
jene Sprache zu finden, die ihren Grund<br />
zu leben und zu hoffen so angemessen<br />
wie möglich ausdrückt. Wer lieber elektronisch sucht,<br />
findet die Textsammlung auch auf der zugehörigen<br />
Website unter www.ref-credo.ch. Darüber hinaus soll<br />
das «Werkbuch Bekenntnis» Anlass geben, anstehende<br />
Fragen <strong>des</strong> christlichen Glaubens zu diskutieren und<br />
über Sinn und Relevanz kirchlichen Lebens in unserer<br />
Gesellschaft zu reflektieren. Als Hinführung zur Publikation,<br />
die nun für ein Jahr in Vernehmlassung geht,<br />
möchte ich kurz darauf eingehen, in welchem Geiste die<br />
Redaktorinnen und Redaktoren tätig waren.<br />
1.<br />
Niemand soll und darf dazu gezwungen<br />
werden, seinen Glauben zu bekennen. Die<br />
Geschichte aber lehrt uns, dass wir, als Personen<br />
und als <strong>Kirche</strong>n, eine Grundsatzreflexion zu<br />
folgenden Fragen wieder aufnehmen müssen: Mit<br />
Blick auf was und auf wen erklären wir, wir seien<br />
Christen? Was ist uns Anlass, unseren Glauben hier<br />
und jetzt zu bekennen? Angesichts der zum Teil<br />
grundsätzlichen Einwände von Kritikern sei an eine<br />
von den Nachreformatoren zum Motto erhobene hilfreiche<br />
Unterscheidung erinnert: Sie unterschieden<br />
zwischen fi<strong>des</strong> qua creditur und fi<strong>des</strong> quae creditur,<br />
also zwischen dem Elan <strong>des</strong> Grundvertrauens je<strong>des</strong><br />
Gläubigen, und seinem Interesse am Glaubensinhalt.<br />
2.<br />
Beim Aufschlagen <strong>des</strong> Werkbuchs fallen die<br />
breiten Ränder auf. Diese Gestaltung wiederspiegelt<br />
die Haltung der Autorinnen und<br />
Autoren: Ihnen sind Text und Ränder wichtig. Der<br />
Text, weil ein Glaubensbekenntnis nicht aus dem<br />
Nichts geschaffen wird, sondern sich in die Geschichte<br />
einschreibt und darin verwurzelt ist. Die Initiativgruppe<br />
hat mit leidenschaftlichem Interesse, aber auch<br />
mit kritischem Blick diese im Laufe der oft stürmischen<br />
Geschichte unserer <strong>Kirche</strong>n erarbeiteten Neuformulierungen<br />
geprüft. Aus den Kommentaren geht<br />
hervor, aus welchen Gründen dieses oder jenes Glau-
22 bulletin Nr. 2 / <strong>2010</strong><br />
Konfirmation 1970: Biel BE<br />
bensbekenntnis schriftlich fixiert worden ist. Die an<br />
die Kommentare anschliessenden Fragen wollen bei<br />
den Lesenden Reaktionen auslösen und zu Auseinandersetzungen<br />
und Neuformulierungen einladen. Und<br />
hier nun kommen die breiten Ränder ins Spiel: Sie bieten<br />
Raum für Notizen und Reaktionen auf den konsultierten<br />
Text. Die Ortskirchen sollen in einen gemeinsamen<br />
Prozess <strong>des</strong> Neuschreibens eintreten.<br />
Ein Glaubensbekenntnis ist immer kontextuell,<br />
es ist Spiegel einer gegebenen soziopolitischen und religiösen<br />
Situation. Darüber hinaus ist ein Bekenntnistext<br />
oder eine Glaubenserklärung Ausdruck jener<br />
existenziellen Fragen, die sich Gemeinschaften stellen,<br />
wenn sie über ihren Glauben und ihr Engagement in<br />
der Gesellschaft nachdenken.<br />
3.<br />
Mit der Arbeit <strong>des</strong> Neuschreibens stellt sich<br />
die Frage nach der Verknüpfung von Überlieferung<br />
und Innovation. Überlieferung ist<br />
unerlässlich, ist sie doch der Ort, wo sich unsere persönlichen<br />
und lokalen Geschichten in eine längere<br />
und umfassendere Geschichte einschreiben. Zudem<br />
weckt sie unser Bewusstsein für die oikuménè. Innovation<br />
ist unerlässlich, ist doch die Sprache, in der wir<br />
das Christentum sagen, schwer und missverständlich<br />
geworden. Sprachgeschichtlich ist diese Sprache inzwischen<br />
negativ besetzt. Die Arbeit der Neuinterpretation<br />
beinhaltet mithin eine hermeneutische Dimension:<br />
Es geht darum, das Christentum zu sagen, ohne<br />
es zu reduzieren oder seiner Substanz zu berauben. Es<br />
geht darum, das Evangelium neu zu sagen, ohne <strong>des</strong>sen<br />
provokativen Charakter auszumerzen.<br />
4.<br />
Je<strong>des</strong> Glaubensbekenntnis liest sich als Ergebnis<br />
schwierigen Aushandelns. Die Einigung<br />
um das, was das Wesentliche <strong>des</strong><br />
christlichen Glaubens ist, spielt sich stets im Modus<br />
von Konsens und Dissens ab. Die literarische Gattung<br />
der Glaubensbekenntnisse sowie deren Inhalt sind<br />
das Ergebnis eines langwierigen Diskussionsprozesses.<br />
An dieser Stelle sei an die beiden Legenden erinnert,<br />
die sich um die Entstehung <strong>des</strong> Apostolischen
Vernehmlassung <strong>SEK</strong> 23<br />
Konfirmation 1983: Bonstetten ZH<br />
Glaubensbekenntnisses ranken. Nach einer ersten Legende<br />
konnte jeder der zwölf Apostel den ihm wichtigsten<br />
Satz beitragen; so gerät das Glaubensbekenntnis<br />
zum Ausdruck <strong>des</strong> Zusammentragens der Neigung<br />
je<strong>des</strong> Einzelnen. Nach der zweiten Legende ist das<br />
Apostolische Bekenntnis ein langer und komplexer<br />
Text, weil sich die Beteiligten nicht darüber haben einigen<br />
können, was wesentlich ist. Dieser Ansatz wirft<br />
eine für das Leben sämtlicher <strong>Kirche</strong>n entscheidende<br />
Frage auf: Worauf beruht, aus der Sicht der Sprache<br />
und der mit ihr beförderten Vorstellungen, unsere gegenseitige<br />
Verbindlichkeit? Diese Frage der Zugehörigkeit<br />
und der ihr beizumessenden Bedeutsamkeit<br />
entpuppt sich als wichtiger Schauplatz der ökumenischen<br />
Debatte.<br />
5.<br />
Die Formulierung <strong>des</strong> Glaubensbekenntnisses<br />
in der Sprache der Liturgie verweist<br />
auf den Gebrauch der Personalpronomen,<br />
insbesondere derjenigen der ersten Person Singular<br />
(ich) und Plural (wir). Das Zugehörigkeitsvokabular<br />
stellt die Frage nach der Zustimmung zu den von einem<br />
Glaubensbekenntnis beförderten Vorstellungen.<br />
In der Tat, je<strong>des</strong> Glaubensbekenntnis enthält eine persönliche<br />
Dimension und verweist zugleich auf eine<br />
kollektive Dimension. Es hängt nicht bloss von individuellen<br />
Gefühlen und Seelenzuständen ab, sondern<br />
beruft sich auf einen gemeinschaftlichen Akt, der anzeigt,<br />
was jeder glauben kann.<br />
Die Formulierung der Glaubensbekenntnisse in<br />
der Liturgie macht uns deutlich, dass der hermeneutische<br />
Zirkel von Glauben und Verstehen allzu eingrenzend<br />
ist. Das Glaubensbekenntnis wirkt in der Liturgie<br />
und in diesem Rahmen soll es in uns seine Wirkung<br />
entfalten, so wie ein Kunstwerk unabhängig von dem,<br />
was wir von ihm rational erfassen, sich in unser Leben<br />
einnistet. Die Sprache <strong>des</strong> Glaubensbekenntnisses<br />
kann keine völlig objektivierte Sprache sein. Deshalb<br />
schlagen die Initianten <strong>des</strong> Projektes vor, den liturgischen<br />
Aspekt der Glaubensbekenntnisse nicht zu vernachlässigen.<br />
Ästhetik und Kürze eines Bekenntnisses<br />
sind <strong>des</strong>halb zu berücksichtigen.
24 bulletin Nr. 2 / <strong>2010</strong><br />
Konfirmation 2009: Malans GR<br />
6.<br />
Das Glaubensbekenntnis enthält eine in<br />
erster Linie persönliche, aber auch eine gemeinschaftliche<br />
ethische Dimension. Was<br />
bin ich so zu verteidigen bereit, dass mein Leben davon<br />
abhängt? In wessen Namen sind wir bereit, uns zu<br />
verpflichten, nötigenfalls auch in Absetzung von herrschenden<br />
Ideologien?<br />
Die kritische Lektüre der Glaubensbekenntnisse<br />
der Vergangenheit, verbunden mit der Befragung<br />
von Texten, die inzwischen Patina angesetzt haben<br />
und sich unter schwierigen Umständen bewährt<br />
haben, lassen unseren Mut und den heute so dringend<br />
nötigen Durchhaltewillen wieder aufleben. Nur so<br />
können wir vollkommen in unserer Gesellschaft verbleiben<br />
im gläubigen Wissen, dass wir auch vollkommen<br />
mit Gott leben. <<br />
* FÉLIX MOSER ist Professor für Praktische Theologie<br />
an der Universität Neuchâtel und Mitglied der<br />
Initiativgruppe von www.ref-credo.ch und <strong>des</strong><br />
Werkbuches Bekenntnis.
25<br />
– Weltgemeinschaft <strong>Reformierte</strong>r <strong>Kirche</strong>n<br />
Global reformiert<br />
Ende Juni <strong>2010</strong> wurde in Michigan USA die Weltgemeinschaft <strong>Reformierte</strong>r<br />
<strong>Kirche</strong>n WRK gegründet. Darin schliessen sich zwei Zweige reformierter <strong>Kirche</strong>n<br />
zusammen, um die weltweit grösste Organisation reformierter <strong>Kirche</strong>n zu bilden.<br />
Ein Meilenstein in der Geschichte der Ökumene: Mit ihrer ekklesiologischen<br />
Identität wird die neue Weltgemeinschaft eine wichtigere Rolle im globalen<br />
ökumenischen Dialog übernehmen und sich in der globalisierten Weltwirtschaft<br />
geeint für Gerechtigkeit einsetzen.<br />
VON SERGE FORNEROD *<br />
Die Gründung der Weltgemeinschaft<br />
<strong>Reformierte</strong>r<br />
<strong>Kirche</strong>n WRK ist für die<br />
Einheit der reformatorischen<br />
<strong>Kirche</strong>n ein erfreuliches Zeichen<br />
und ein wichtiges Signal für die Ökumene.<br />
Denn die Geschichte der reformatorischen<br />
<strong>Kirche</strong>n ist geprägt von einer nicht<br />
abreissenden Kette von Spaltungen. Aufhorchen<br />
lässt aber nicht nur das Ziel der<br />
neuen weltweit grössten Organisation reformierter<br />
<strong>Kirche</strong>n, sondern auch das<br />
Vorgehen: Auf der Suche nach Einheit<br />
geht nicht einfach der Kleine im Grossen<br />
auf, sondern es wird eine neue Organisation<br />
geschaffen, die sich ein neues, gemeinsames<br />
rechtliches und theologisches<br />
Fundament gibt. Die Umwandlung eines<br />
«Bun<strong>des</strong>» und eines «Rates» in eine «<strong>Kirche</strong>ngemeinschaft»<br />
ist ein qualitativer<br />
Fortschritt (siehe Box).<br />
In der WRK-Verfassung wird die<br />
Bekräftigung der Gemeinschaft in mehreren<br />
Elementen manifest:<br />
– Als Erstes ruft die Präambel die<br />
Verwurzelung in der einen <strong>Kirche</strong><br />
Christi in Erinnerung: « Die <strong>Kirche</strong>n<br />
der Weltgemeinschaft <strong>Reformierte</strong>r<br />
<strong>Kirche</strong>n sind zur Gemeinsamkeit<br />
berufen im Namen <strong>des</strong> einen Gottes,<br />
<strong>des</strong> Vaters, <strong>des</strong> Sohnes und <strong>des</strong><br />
Heiligen Geistes. Unter dem souveränen<br />
Gott gehören die Mitglieder der<br />
Gemeinschaft, die Anteil an derselben<br />
Taufe haben, gemeinsam mit den<br />
Nachfolgern Christi in aller Welt zu<br />
der einen, heiligen, katholischen und<br />
apostolischen <strong>Kirche</strong>. »<br />
– Artikel II präzisiert: « Die Weltgemeinschaft<br />
<strong>Reformierte</strong>r <strong>Kirche</strong>n fühlt sich<br />
einer reformierten Identität verpflichtet,<br />
wie sie in den historischen <strong>Reformierte</strong>n<br />
Bekenntnisschriften und den<br />
Ökumenischen Glaubensbekenntnissen<br />
der frühen <strong>Kirche</strong> zum Ausdruck<br />
kommt und ihre Kontinuität im Leben<br />
und Zeugnis der reformierten Gemeinschaft<br />
erweist. » So bekräftigt sie<br />
das Band mit der universellen <strong>Kirche</strong><br />
und insbesondere der vorreformatorischen<br />
<strong>Kirche</strong>.<br />
– Schliesslich definiert die WRK in<br />
Artikel III ihr Verständnis von<br />
Gemeinschaft: « Die Weltgemeinschaft<br />
<strong>Reformierte</strong>r <strong>Kirche</strong>n [ist] eine<br />
Gemeinschaft (communion) von<br />
<strong>Kirche</strong>n, indem sie […] die Gaben<br />
der Einheit in Christus durch die<br />
gegenseitige Anerkennung der Taufe,<br />
Mitgliedschaft, Kanzel- und Altargemeinschaft,<br />
<strong>des</strong> geistlichen Amtes<br />
und <strong>des</strong> Zeugnisses bekennt […]. »<br />
Theologische Basis geschaffen<br />
Noch nie in der Geschichte der reformierten<br />
<strong>Kirche</strong>n ist so genau formuliert<br />
worden, was die Einheit der <strong>Kirche</strong><br />
ausmacht. In der Praxis haben die Mitgliedkirchen<br />
<strong>des</strong> RWB diese Einheit zwar<br />
pragmatisch gelebt, doch eine formell deklarierte<br />
gegenseitige Anerkennung hat<br />
es bislang nicht. Die neue Weltgemein-
26 bulletin Nr. 2 / <strong>2010</strong><br />
80 MILLIONEN REFORMIERTE WELTWEIT<br />
Wer sich zusammenschliesst<br />
schaft erleichtert es den reformierten<br />
<strong>Kirche</strong>n, <strong>Kirche</strong>ngemeinschaft zu leben,<br />
denn der Austausch untereinander und<br />
allfällige Partnerschaften miteinander<br />
werden formell einfacher. Zudem stärkt<br />
sie den ökumenischen Dialog. Dies dank<br />
der theologischen Basis, die allen in RWB<br />
und REC versammelten Traditionen gemeinsam<br />
ist und so formuliert ist, dass<br />
sie mit der Fassung der Leuenberger<br />
Konkordie vereinbar ist.<br />
Im ökumenischen Dialog <strong>des</strong> RWB<br />
mit dem Lutherischen Weltbund LWB,<br />
aber auch mit der römisch-katholischen<br />
<strong>Kirche</strong> gibt es ein Hindernis: In den offiziellen<br />
Dokumenten <strong>des</strong> RWB fehlen der<br />
klare Bezug auf die kirchliche Überlieferung<br />
und die Definition <strong>des</strong>sen, was –<br />
jenseits <strong>des</strong> Bezugs auf die Trinität, auf<br />
Jesus Christus als Retter und auf die Bibel<br />
als lebendiges Wort Gottes – all diesen<br />
<strong>Kirche</strong>n auf ekklesiologischer Ebene gemeinsam<br />
ist. In Zukunft müsste die WRK<br />
besser gewappnet sein, die Diskussionen<br />
und Verhandlungen im Hinblick auf die<br />
Einheit der <strong>Kirche</strong>n fortzusetzen, dies<br />
insbesondere mit der lutherischen Überlieferung.<br />
Der Zusammenschluss von <strong>Reformierte</strong>m<br />
Weltbund RWB und <strong>Reformierte</strong>m<br />
Ökumenischem Rat REC ist in<br />
Grand Rapids im US-Staat Michigan<br />
symbolhaft und feierlich begangen worden.<br />
Was jetzt folgt, ist weniger festlich,<br />
Der <strong>Reformierte</strong> Weltbund RWB wurde 1970<br />
gegründet. Damals schlossen sich zwei Organisationen<br />
zusammen: ein 1895/1875 gegründeter<br />
Bund presbyterianischer <strong>Kirche</strong>n<br />
und ein 1891 gegründeter Rat vornehmlich<br />
kongregationalistischer <strong>Kirche</strong>n. Im RWB<br />
vertreten sind weitere reformatorisch geprägte<br />
<strong>Kirche</strong>nströmungen wie die unierten, die<br />
hussitischen und die Waldenserkirchen – insgesamt<br />
214 <strong>Kirche</strong>n mit rund 75 Millionen<br />
Mitgliedern in 107 Ländern. Der <strong>Reformierte</strong><br />
Ökumenische Rat REC wiederum wurde<br />
1946 (unter der Bezeichnung <strong>Reformierte</strong><br />
Ökumenische Synode) gegründet, und zwar<br />
als Reaktion auf den als zu liberal beurteilten<br />
Ökumenischen Rat der <strong>Kirche</strong>n. Er umfasst<br />
in erster Linie die aus der zweiten Reformation<br />
in den Niederlanden hervorgegangenen<br />
reformierten <strong>Kirche</strong>n. Zwei Drittel dieser <strong>Kirche</strong>n<br />
sind auch Mitglied <strong>des</strong> RWB. Im REC<br />
zusammengeschlossen sind heute rund 41<br />
<strong>Kirche</strong>n mit 5 Millionen Mitgliedern in 25<br />
Ländern.<br />
2007 haben die beiden Organisationen<br />
beschlossen, zu fusionieren und so die weltweit<br />
bedeutendste Organisation reformatorischer<br />
<strong>Kirche</strong>n zu gründen. Eine starke Mehrheit<br />
bilden in beiden Organisationen die<br />
Mitgliedkirchen aus den Ländern <strong>des</strong> Südens.<br />
Weltweit gibt es neben der neuen Weltgemeinschaft<br />
eine Vielzahl weiterer reformierter<br />
<strong>Kirche</strong>n, die zum Teil der eher konservativ<br />
und fundamentalistisch geprägten Weltweiten<br />
<strong>Evangelisch</strong>en Allianz WEA angehören.<br />
aber umso wichtiger: Die Umsetzung der<br />
Einheit im Alltag. Die in den oben zitierten<br />
Verfassungsartikeln enthaltene Bekräftigung<br />
ist in erster Linie ein Programm,<br />
eine Grundsatzerklärung. Die<br />
Verfassung <strong>des</strong> WRK bekundet die Willensäusserung,<br />
im Zeichen dieser Definition<br />
zu leben. Doch was noch aussteht,<br />
sind die zwischenkirchlichen Diskussionen<br />
um das Verständnis von Amt und<br />
Wort, um konkrete Auswirkungen, etwa<br />
auf den Wortlaut der Verfassungen der<br />
Mitgliedkirchen.<br />
Was der <strong>SEK</strong> zur Gründung <strong>des</strong><br />
WRK beigetragen hat<br />
Die Delegation <strong>des</strong> Schweizerischen<br />
<strong>Evangelisch</strong>en <strong>Kirche</strong>nbun<strong>des</strong> <strong>SEK</strong> freut<br />
sich über den Zusammenschluss von<br />
RWB und REC. Der <strong>SEK</strong> war intensiv an<br />
der Ausarbeitung der Verfassung der<br />
neuen Weltgemeinschaft beteiligt und<br />
hat gemeinsam mit den reformierten<br />
<strong>Kirche</strong>n Europas darauf hingewirkt, dass<br />
darin der Fokus auf dem Übergang von<br />
Grundsatzerklärung hin zur gelebten<br />
Gemeinschaft liegt.<br />
Treibende Kraft bei dieser Initiative<br />
war die Erfahrung mit der Leuenberger<br />
Gemeinschaft. Auch über die Mitarbeit<br />
im RWB seit der Versammlung von Accra<br />
2004 zieht der <strong>SEK</strong> eine positive Bilanz.<br />
So hat sich der Vertreter <strong>des</strong> <strong>SEK</strong> im<br />
Präsidium <strong>des</strong> RWB, der <strong>des</strong>ignierte<br />
<strong>SEK</strong>-Ratspräsident Gottfried W. Locher,<br />
stark dafür eingesetzt, dass in der lutherisch-reformierten<br />
Dialogkommission<br />
<strong>des</strong> RWB in der Frage der episcopē die<br />
bestmögliche Lösung erzielt wurde.<br />
Auch bezüglich sozialer und wirtschaftlicher<br />
Gerechtigkeit haben der <strong>SEK</strong><br />
und seine Mitgliedkirchen wichtige Bei-
Weltgemeinschaft <strong>Reformierte</strong>r <strong>Kirche</strong>n 27<br />
träge zur Umsetzung der Accra-Erklärung<br />
geleistet.<br />
Für die Generalsversammlung in<br />
Grand Rapids hat der <strong>SEK</strong> eine erste Version<br />
seines Papiers «Fair play in the global<br />
arena» vorbereitet. Zudem hat er die<br />
Verbreitung der von den <strong>Kirche</strong>n der<br />
Schweiz und Brasiliens gemeinsam unterzeichneten<br />
«Ökumenischen Wassererklärung»<br />
tatkräftig unterstützt. Mit dem<br />
Projekt «calvin09» schliesslich stellt der<br />
<strong>SEK</strong> der reformierten Familie mit verschiedenen<br />
Unterlagen und Publikationen,<br />
aber auch mit dem Internetportal<br />
Instrumente zur Verfügung, um das<br />
Denken <strong>des</strong> Reformators in der heutigen<br />
Zeit neu zu bewerten.<br />
Die Delegation <strong>des</strong> <strong>SEK</strong> und<br />
der Mitgliedkirchen<br />
Und noch etwas freut den <strong>SEK</strong>: Die<br />
vereinigende Generalversammlung <strong>des</strong><br />
WRK von 18–27. Juni <strong>2010</strong> in Michigan<br />
ist auf grosses Interesse gestossen. Erstmals<br />
haben die <strong>Kirche</strong>n der Schweiz für<br />
die Versammlung drei Stewards gestellt.<br />
Drei Theologinnen haben am Theologieseminar<br />
teilgenommen, das der RWB am<br />
Rande der Versammlung organisiert hat.<br />
Der von Ratspräsident Thomas Wipf angeführten<br />
Delegation haben neben Serge<br />
Fornerod, Leiter Abteilung <strong>Kirche</strong>nbeziehungen<br />
beim <strong>SEK</strong>, drei Synodalratspräsidentinnen<br />
oder -mitglieder aus unseren<br />
Mitgliedkirchen angehört (Verena<br />
Enzler, Solothurn, Lini Sutter, Graubünden,<br />
Jean-Michel Sordet, Waadt), sowie<br />
der Pfarrer der Chiesa Evangelica di Lingua<br />
italiana/Waldenser in Zürich, Matthias<br />
Rüesch und eine junge Theologiestudentin<br />
aus Bern, Silvianne Bürki.<br />
Zudem hat – auch das ist eine Premiere –<br />
ein Vertreter der Migrationskirchen in<br />
der Schweiz teilgenommen, nämlich<br />
Joseph Mudimba Kabongo, Präsident der<br />
Conférence <strong>des</strong> Églises Africaines de<br />
Suisse.<<br />
* PFARRER SERGE FORNEROD ist Leiter<br />
der Abteilung <strong>Kirche</strong>nbeziehungen <strong>des</strong><br />
<strong>SEK</strong> und Mitglied der <strong>SEK</strong>-Delegation<br />
in Grand Rapids.<br />
GRAND RAPIDS<br />
Erste Resultate<br />
An der Generalversammlung der Weltgemeinschaft<br />
<strong>Reformierte</strong>r <strong>Kirche</strong>n wurde<br />
Folgen<strong>des</strong> beschlossen:<br />
– Der Südafrikaner Dr. Jerry Pillay wurde<br />
zum ersten Präsidenten der WKR<br />
gewählt. Er ist Pfarrer und Generalsekretär<br />
der Uniting Presbyterian Church in<br />
Südafrika.<br />
– Als Vizepräsidenten wurden gewählt:<br />
Frau Lu Yueh Wen, Taiwan; Pfarrer Dr.<br />
Yvette Noble Bloomfield, Jamaica und<br />
Cayman Islands; Herr Helis Barraza Diaz,<br />
Kolumbien sowie Dr. Bas Plaisir,<br />
Niederlande.<br />
– Der Berner Synodalrat und <strong>des</strong>ignierte<br />
<strong>SEK</strong>-Präsident, Pfarrer Dr. Gottfried<br />
Locher, wurde zum Schatzmeister<br />
ernannt.<br />
– Zwei weitere europäische Mitglieder<br />
sitzen im Exekutivausschuss: Pfarrerin<br />
Cheryl Meban von der Presbyterian<br />
Church of Ireland und Dr. Peter Bukowski,<br />
Moderator <strong>des</strong> <strong>Reformierte</strong>n Bun<strong>des</strong><br />
in Deutschland.<br />
– Die Versammlung hat den <strong>Kirche</strong>n der<br />
WRK empfohlen, die «Ökumenische<br />
Erklärung zum Wasser als Menschenrecht<br />
und als öffentliches Gut» der<br />
evangelischen und katholischen <strong>Kirche</strong>n<br />
aus Brasilien und der Schweiz anzuerkennen.<br />
Mit der Erklärung sollen die<br />
Regierungen weltweit dazu bewegt<br />
werden, den allgemeinen und freien<br />
Zugang zu Wasser als Menschenrecht<br />
und lebensnotwendige Grundvoraussetzung<br />
gesetzlich anzuerkennen.
KEYSTONE/GAETAN BALLY<br />
– Porträt<br />
«Erzählen ist der Weg<br />
in die Stille»<br />
Peter Bichsel wird reihum als intellektueller Erzähler gefeiert.<br />
Doch im Herzen ist er ein zutiefst gläubiger Mensch. Jetzt liegen seine<br />
gesammelten Texte «Über Gott und die Welt» vor.
29<br />
Der Solothurner Schriftsteller<br />
Peter Bichsel liebt das<br />
Schweigen und das unbeobachtete<br />
Beobachten. Oft sitzt<br />
er im «Kreuz» und macht sich<br />
Gedanken «Über Gott und die<br />
Welt», wie sein jünstes Buch<br />
mit Texten zum Glauben heisst.<br />
VON STEPHANIE RIEDI *<br />
Peter Bichsel ist ein begnadeter Schweiger.<br />
Der preisgekrönte Erzähler weiss die Stille<br />
ebenso zu schätzen wie die Sprache; und er<br />
weiss, dass die beiden sich gegenseitig bedingen.<br />
An diesem Montagmorgen fühlt sich das<br />
Schweigen zunächst zwar etwas frostig an – die nachtblaue<br />
Wolljacke bleibt zugeknöpft, der Blick irrt vom<br />
Irgendwo ins Nirgendwo der Solothurner Genossenschaftsbeiz<br />
«Kreuz». Aber der Kaffee samt Stossseufzer<br />
lässt das Eis schmelzen. Auf die beredte Verschlossenheit<br />
folgt die einladende Stille. Oder wie Bichsel<br />
schreibt: «Erzählen ist eine eigenartige Form von<br />
Schweigen, Erzählen ist der Weg in die Stille.»<br />
Der Satz stammt aus seinem jüngsten Werk<br />
«Über Gott und die Welt», das im Pressegewitter der<br />
vergangenen Wochen zum 75. Geburtstag <strong>des</strong> Dichters<br />
und dem ihm gewidmeten Dokumentarfilm<br />
«Zimmer 202» merkwürdigerweise kaum Beachtung<br />
gefunden hat. Merkwürdig <strong>des</strong>halb, weil das aufwühlende<br />
Buch Geschichten, Kolumnen, Essays, Reden<br />
und Laienpredigten enthält, in denen Bichsel sich teils<br />
zweifelnd, teils zornig, teils zuversichtlich dem Glauben<br />
stellt. Zündstoff also, der die Feuilletonisten und<br />
Literaturkritiker sonst entbrennen lässt. Zumal Bichsel<br />
als Inbild <strong>des</strong> politisch motivierten Intellektuellen<br />
gilt, der sich gar einer Fiche rühmen kann. Doch der<br />
bekennende Sozialist ist eben auch ein bekennender<br />
Christ. Zwar einer, der sich heute schwer tut mit <strong>Kirche</strong><br />
und Frömmigkeit. Aber einer, der erkannt hat,<br />
dass er «Gott nicht braucht, um zu überleben», sondern,<br />
«nur um leben zu können».<br />
Sprache als Medium zur<br />
inneren Einkehr<br />
Das Glaubenseingeständnis erklärt in gewisser<br />
Weise Bichsels Liebe zur Stille. Obwohl – oder gerade<br />
weil – er seit fast fünf Jahrzehnten als «Sprachgenie»<br />
gefeiert wird, als «genuiner Dichter», ja, «als bekanntester<br />
und beliebtester Schriftsteller der Schweiz», gehört<br />
sein Herz der Meditation: Bichsel achtet und<br />
pflegt die Sprache als Medium zur inneren Einkehr.<br />
Das zeigt sich in der Prägnanz und Kürze seiner Texte.<br />
Und das zeigt sich in immer wiederkehrenden Anspielungen:<br />
«Man kann jetzt nicht über irgendetwas sprechen»,<br />
schreibt er etwa in der Weihnachtsgeschichte<br />
«24. Dezember». Bichsel verleiht seinen Protagonisten<br />
Würde, indem er Otto und Peter intuitiv wissen lässt,<br />
wann es geboten ist, die Unzulänglichkeit der Sprache<br />
zu respektieren. Das klingt paradoxerweise selbst dann<br />
edel, wenn die Worte in der Beiz mit einem halben Roten<br />
hinuntergeschluckt statt mit Bigotterie unter dem<br />
Christbaum heraufbeschworen werden.<br />
Gefühlsaufruhr infolge «jahrelanger<br />
religiöser Abstinenz»<br />
In der fiktiven weinseligen Andacht offenbart<br />
sich Bichsels Verhältnis zu Glauben, <strong>Kirche</strong> und Religion.<br />
Auf Bali lernte er eine von Pragmatismus geprägte<br />
Spiritualität kennen, eine Erfahrung, die quasi<br />
einer Initialzündung gleichkam. Ein junger Hotelangestellter<br />
gewährte ihm damals Einblick in den Hinduismus.<br />
Die absolute Gleichberechtigung von Mann<br />
und Frau, die selbst in den Tempeln waltet, hat Bichsel<br />
schwer beeindruckt. Ebenso die Unverkrampftheit<br />
Gott und religiösen Riten gegenüber. Als die beiden<br />
unterwegs waren, und Bichsels Begleiter beten wollte,<br />
half er ihm mit Zigarette und Feuerzeug aus. Die Balinesen<br />
bringen Gott Wasser, Blumen und Rauch dar –<br />
egal, in welcher Form. Also wurde in der Pampa halt<br />
blauer Dunst gen Himmel geschickt. Bichsel war gerührt,<br />
so gerührt, dass er nach vierzehn Tagen überstürzt,<br />
ja, bestürzt abreisen musste. «Ich fürchtete,<br />
Hindu zu werden.»<br />
Der Gefühlsaufruhr hatte nichts mit Romantik<br />
gemein. Er wurzelte, laut Bichsel, «in der jahrelangen<br />
religiösen Abstinenz» respektive den auf Bali plötzlich<br />
PETER BICHSEL<br />
Peter Bichsel wurde 1935 in Luzern geboren, er wuchs in<br />
Olten auf. Nach der Ausbildung zum Primarlehrer schrieb<br />
er sich 1964 mit dem Buch «Eigentlich möchte Frau<br />
Blum den Milchmann kennenlernen» in die Herzen der<br />
Leserinnen und Leser. Die Kürzestgeschichten über den<br />
Kleinbürgeralltag wurden über die Lan<strong>des</strong>grenze hinaus als<br />
poetische Miniaturen gefeiert. Weitere Werke folgten und<br />
mit ihnen zahlreiche Auszeichnungen, unter anderen die<br />
Ehrendoktorwürde der Theologischen Fakultät Basel 2004.<br />
Von 1974 bis 1981 war Bichsel der persönliche Berater und<br />
Redenschreiber von Bun<strong>des</strong>rat Willi Ritschard. Er wohnt<br />
in Bellach bei Solothurn. Bichsel ist Witwer, Vater von zwei<br />
Kindern und Grossvater von drei Enkelkindern.
30 bulletin Nr. 2 / <strong>2010</strong><br />
aufgetretenen «Entzugserscheinungen». «Es meldete<br />
sich sozusagen ein biologisches Bedürfnis an, zum romantischen<br />
etwa im ähnlichen Verhältnis stehend wie<br />
Sexualität zu Erotik.»<br />
Hier und jetzt, in der von unzähligen Erinnerungsstücken<br />
beseelten und vom Rauch patinierten<br />
Schreibstube an der Hauptgasse in Solothurn ist der<br />
Erzähler in seinem Element. Genüsslich steckt er sich<br />
eine Parisienne an und weist nickend zum Bücherregal.<br />
Dort steht die Bibel in zwei Bänden, ein Faksimiledruck<br />
<strong>des</strong> Gutenberg-Originals. Er hege den Verdacht,<br />
verrät er, dass die Buchstaben religiöser Natur<br />
seien. Bichsel, dem die Theologische Fakultät Basel<br />
2004 das Ehrendoktorat verliehen hat, bezeichnet das<br />
Christentum, Judentum und den Islam als «literarische<br />
Religionen» mit unerhört kraftvollen Schriften.<br />
Als Beispiel führt er das Werk von Augustinus an, dem<br />
algerischen Philosophen und Theologen der christlichen<br />
Spätantike. «Die Bekenntnisse haben bis heute<br />
Gültigkeit.»<br />
Bichsel beklagt die Reduktion<br />
<strong>des</strong> Christentums auf Moral und Ethik<br />
Als Kind las Bichsel täglich die Bibellosungen.<br />
Klein Peter hatte missionarische Ambitionen. «Ich<br />
wollte in die Wildnis, nach Afrika. Ich wollte die Wilden<br />
zu Christen machen.» Das war seine Emanzipation.<br />
Im Elternhaus wurde über Religiöses nicht gesprochen,<br />
bei Tisch kein Gebet gesprochen. Vater und<br />
Mutter glaubten an die Anständigkeit und Diskretion.<br />
Der Junge aber war geneigt, «ein zorniger Christ zu<br />
werden». Was ihm allerdings gänzlich misslang. «Im<br />
Grunde genommen war ich ängstlich bis auf die Knochen<br />
und ebenso wie meine Eltern darauf bedacht, als<br />
lieb und nett und anständig zu gelten.» Immerhin:<br />
«Der fromme Bub hat mich zum Schriftsteller gemacht.»<br />
Der Jugendliche Bichsel trat dem Bibellesebund<br />
bei, dem Hoffnungsbund <strong>des</strong> Blauen Kreuzes, er<br />
leitete den Jünglingsbund und später die Sonntagsschule.<br />
Als Protestant liebäugelte er bisweilen damit,<br />
zum Katholizismus zu konvertieren. «Mich faszinierte<br />
die Andacht, das Schweigen, die Stille.» Sonntags besuchte<br />
er jeweils die katholische Messe und trat danach<br />
als Sonntagsschullehrer an.<br />
Das intensive Interesse an Religion und Theologie<br />
forderte schliesslich seinen Preis: Bichsel verabschiedete<br />
sich emotional von der <strong>Kirche</strong> und wandte<br />
sich der Politik zu. «Vielleicht suchte ich in der Sozialdemokratischen<br />
Partei – inzwischen recht oft enttäuscht<br />
– das, was mir die <strong>Kirche</strong> in meiner Jugend<br />
einmal war, das Erlebnis der alternativen Minderheit,<br />
das Erlebnis der Gegenwelt.» Bichsel beklagt die Reduktion<br />
<strong>des</strong> Christentums auf Moral und Ethik, und er<br />
klagt die <strong>Kirche</strong> an, eine «halbstaatliche Anständigkeitsinstitution»<br />
zu sein. Grundsätzlich sei das Christentum<br />
eine revolutionäre Idee und Christus ein Neuerer.<br />
Aber: «Die Rebellion, die Revolution, die<br />
Opposition und die Alternative lassen sich offenbar<br />
nicht institutionalisieren.»<br />
Der tempelreinigende Jesus entspricht da schon<br />
eher dem Geschmack <strong>des</strong> Streitbaren. Bei ihm spürt<br />
Bichsel «Verwandtschaft». Die Bergpredigt bewundert<br />
er als «unmöglich freche Idee», die in ihrer Sozialvorstellung<br />
dem römischen Recht «ins Gesicht schlug».<br />
Auch sieht er in ihr den Versuch, den Teufelskreis der<br />
Welt zu durchbrechen − das Streben nach Sicherheit,<br />
das doch nur zu Ausbeutung, Egoismus, Raub, Diebstahl<br />
und Mord führe. Der Wunsch nach Sicherheit<br />
gründe letztlich in der beängstigenden Unsicherheit<br />
der eigenen Sterblichkeit, sagt Bichsel. «Nur mein eigenes<br />
Schicksal hindert mich daran, das Schicksal der<br />
anderen ernst zu nehmen, und mein eigenes Schicksal<br />
heisst Tod.»<br />
Bichsels Worte hallen in der Stille nach. Lediglich<br />
das Klicken <strong>des</strong> Gasfeuerzeuges ist zu hören. Die Worte<br />
treffen, weil sie uns alle betreffen. Und weil es darüber<br />
hinaus nichts zu sagen gibt, denn: «Erzählen führt<br />
letztlich in das Schweigen.» <<br />
* STEPHANIE RIEDI ist freie Journalistin.<br />
BÜCHERTIPP<br />
Peter Bichsel: Über Gott und<br />
die Welt. Texte zur Religion.<br />
Herausgegeben von Andreas<br />
Mauz.<br />
Suhrkamp Verlag,<br />
231 Seiten, ca. Fr. 16.–,<br />
ISBN 3-518-46154-9
31<br />
VON SILVIA PFEIFFER<br />
<strong>Kirche</strong>nratspräsidentin Schaffhausen<br />
und Mitglied <strong>des</strong> Rates <strong>SEK</strong><br />
– Schlusspunkt<br />
Der Standpunkt und seine<br />
Verwandten: Credo, Bekenntnis,<br />
Status confessionis.<br />
Das hoffnungsgrüne Werkbuch<br />
«<strong>Reformierte</strong> Bekenntnisse»<br />
lädt zum Nachdenken<br />
ein über den<br />
Standpunkt und seine Verwandten Credo,<br />
Bekenntnis, Status confessionis. Das<br />
Werkbuch wurde von einer Initiativgruppe<br />
unter Leitung von Matthias Krieg<br />
im Theologischen Verlag Zürich herausgegeben.<br />
Es leitet die Leserschaft durch<br />
die Bekenntnisgeschichte der Christenheit<br />
und beleuchtet ihre historischen,<br />
kulturellen, ekklesiologischen und theologischen<br />
Hintergründe. Nun soll «das<br />
Grüne» die Mitgliedkirchen <strong>des</strong> <strong>SEK</strong> anregen,<br />
sich in einem breit angelegten<br />
Vernehmlassungsprozess Gedanken zu<br />
machen über ein evangelisches Bekenntnis<br />
<strong>des</strong> schweizerischen Protestantismus<br />
(siehe Seite 21).<br />
Nach dem heutigen Begriffsverständnis<br />
müsste man die meisten Bekenntnisse<br />
der Konzilsgeschichte dem<br />
Begriff «Status confessionis» zuordnen,<br />
weil sie mehrheitlich der Abgrenzung gegen<br />
Häresien und dem hegemonialen<br />
Wahrheitsanspruch der Mächtigen dienten.<br />
Merkmal der ersten Konzilien zu<br />
christologischen und trinitarischen<br />
Streitpunkten und deren Bekenntnisse ist<br />
die historische Überlieferung, wonach<br />
die Diskussionen auch in den Gassen<br />
entbrannten, beim Bäcker und beim<br />
Metzger. Die theologischen Fragen waren<br />
für die Menschen damals existentiell<br />
wichtig und schieden die Geister: «Wer<br />
nicht für mich ist, ist wider mich!» (Lukas<br />
Evangelium)<br />
Bekenntnisse hat es immer gegeben<br />
bis in die heutige Zeit, weil die Menschen<br />
das Bedürfnis haben, ihrem Glauben<br />
Ausdruck zu verleihen, nach innen und<br />
nach aussen, sich selbst und den andern<br />
Zeugnis zu geben. Sie möchten erkennbar<br />
sein, fassbar und ihre innere Zusammengehörigkeit<br />
bezeugen. Dagegen tun<br />
sich die <strong>Reformierte</strong>n in der heutigen<br />
Zeit eher schwer mit einem gemeinsamen<br />
Bekenntnis. Sie bezeichnen sich als<br />
bekenntnisfrei, aber nicht bekenntnislos.<br />
Sie tragen ihre Bekenntnisse nicht auf<br />
den Lippen, sondern kleiden sie in Präambeln<br />
und Leitmotive. «Gott feiern,<br />
Menschen helfen» heisst es beispielsweise<br />
bei der <strong>Evangelisch</strong>-reformierten <strong>Kirche</strong>n<br />
<strong>des</strong> <strong>Kantons</strong> Schaffhausens neben<br />
der Verfassungspräambel.<br />
Nun macht sich also der Schweizerische<br />
Protestantismus auf den Weg zu einem<br />
gemeinsamen Bekenntnis, einem<br />
Credo; begibt sich in einen «processus<br />
confessionis», der fragt und hinterfragt,<br />
was denn nun der gemeinsame Referenztext<br />
sein soll. Möge ein guter Stern und<br />
Gottes Segen diesen Weg begleiten. Credo:<br />
Ich glaube.
In dieser Ausgabe<br />
«Ich erlebe eine völlig ausufernde Sitzungskultur<br />
innerkirchlicher Gremien.» Professor Thomas Schlag SEITE 7<br />
«Am besten ist Religion gekoppelt mit Sex, Gewalt,<br />
Erziehung, Schule oder Staat. Rein religiöse Fragen<br />
sind weniger interessant.» Ein Redaktor SEITE 10<br />
«Wir müssen neu übersetzen, was es in der<br />
urbanen Schweiz <strong>des</strong> 21. Jahrhunderts bedeutet,<br />
Menschen an Hecken und Zäunen oder eben<br />
am Strassenrand einzuladen.» Pfarrer Heinz Fäh SEITE 13<br />
«Es meldete sich sozusagen ein biologisches Bedürfnis<br />
an, zum romantischen etwa im ähnlichen Verhältnis<br />
stehend wie Sexualität zu Erotik.» Schriftsteller Peter Bichsel SEITE 30<br />
sek · feps<br />
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www.sek.ch