Von Gaia umfangen - Kulturkreativ.net
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F O C U S : N A T U R N E U V E R S T E H E N<br />
radox konzentriert, das aus der Annahme<br />
folgt, innerhalb der physischen Welt sei Bewusstsein<br />
ein ausschließlich menschliches<br />
Attribut. Existierte die Welt allein auf der<br />
Grundlage mechanischer Gesetze von Zufall<br />
und Determination, worin läge der Sinn<br />
des Zusammentreffens einer solchen Welt<br />
mit dem menschlichen Bewusstsein? Anders<br />
gefragt, was ist Wahrnehmung? Ich habe<br />
vorgetragen, dass die äußere Welt faktisch<br />
nicht leer von Bewusstsein sein kann – dass<br />
sie vielmehr aus zahlreichen subjektiven Erfahrungen,<br />
die über diejenigen unserer eigenen<br />
Spezies hinausgehen, besteht – und<br />
dass diese Unzahl biotischer, menschlicher<br />
und nichtmenschlicher Erfahrungs- oder<br />
Lebensformen ein kohärentes globales Erfahrungsganzes<br />
– oder Leben – begründet,<br />
das nicht ohne eigene Kreativität und eigenes<br />
Empfindungsvermögen ist.<br />
Wenn die Dinge so liegen – und die Beweise<br />
für <strong>Gaia</strong> zeigen dies –, ist Wahrnehmung<br />
nicht länger ein Paradox. Die bisher<br />
angenommene absolute Trennung von „innerer“<br />
und „äußerer“ Welt löst sich auf. So<br />
wie die äußere Welt mathematisch gemessen<br />
und analysiert wird, ist auch die innere Welt<br />
ähnlichen Forschungsmethoden ausgesetzt,<br />
wie der boomende Bereich der Neurobiologie<br />
belegt. Das Gegenteil ist aber ebenso<br />
richtig: So wie die innere Welt unserer psychologischen<br />
Erfahrungen viele mehrdeutige<br />
und nicht genau festzulegende Qualitäten<br />
hat, entblößt die äußere Welt jetzt ihre<br />
eigene Unschärfe und Subjektivität – gewissermaßen<br />
ihre eigene Innerlichkeit. Wahrnehmung<br />
ist dann schlicht die Kommunion<br />
und tiefe Kommunikation zwischen unserer<br />
eigenen organischen Intelligenz und der<br />
Kreativität, die uns umgibt.<br />
S U S A N N E F I N D L I N G<br />
Die Anerkennung des Effekts der <strong>Gaia</strong>-<br />
Hypothese auf die Wahrnehmung stellt, wie<br />
ich meine, eine notwendige Voraussetzung<br />
für ihre ernsthafte Beurteilung dar. Ohne ein<br />
Bewusstsein für <strong>Gaia</strong> als genau diese unsere<br />
Welt, auf die wir uns nicht nur mit wissenschaftlichen<br />
Instrumenten, sondern mit<br />
Augen, Ohren, Nasen, unserer Haut einlassen<br />
– ohne die subjektive Entdeckung <strong>Gaia</strong>s<br />
als sinnliche, wahrnehmbare und psychologische<br />
Kraft –, könnten wir Lovelocks Entdeckung<br />
allzu leicht nur in rein biochemischen<br />
Begriffen verstehen; sie wäre bloß<br />
eine weitere wissenschaftliche Abstraktion,<br />
die für unsere Zwecke manipulierbar und<br />
technisch instrumentalisierbar ist. <strong>Gaia</strong> von<br />
innen heraus als psychologische Präsenz<br />
anzuerkennen, beschränkt in hohem Maß<br />
den Grad, bis zu dem wir das Leben dieses<br />
Pla<strong>net</strong>en absichtsvoll für unsere Ziele verändern<br />
und uns seiner bedienen dürfen.<br />
Der theoretische Diskurs unserer Zeit hat<br />
uns weitgehend der Welt unserer alltäglichen<br />
Sinne entfremdet. Stattdessen plaudern<br />
wir locker über abseitigste Realitäten.<br />
Andere Galaxien, schwarze Löcher, die Geburt<br />
des Universums und der Ursprung von<br />
Raum und Zeit scheinen völlig einleuchtende<br />
Tatsachen zu sein. <strong>Gaia</strong> jedoch – als Realität,<br />
die uns umfasst, als Phänomen, in und<br />
aus dem wir unmittelbar existieren – weist<br />
uns auf die Inkonsistenzen solcher Reißbrettspiele<br />
hin. <strong>Gaia</strong> ist keine Formel – sie<br />
ist unser eigener Körper, unser Fleisch und<br />
Blut, sie ist der Wind, der uns in die Ohren<br />
bläst, und der Habicht, der über uns kreist.<br />
Wird <strong>Gaia</strong> so mit den Sinnen verstanden, ist<br />
sie bei weitem größer, weitaus geheimnisvoller<br />
und der Ewigkeit näher als alles, was<br />
wir je zu ergründen hoffen dürfen.<br />
Wie gesagt, dürfte der radikalste Ansatz<br />
der <strong>Gaia</strong>-Hypothese ihr Augenmerk auf die<br />
Luft sein. Es geht um das Bewusstsein, dass<br />
die Atmosphäre selbst ein stoffliches, geheimnisvolles<br />
Phänomen ist, zwar unsichtbar,<br />
doch von großem Einfluss. In der Kosmologie<br />
der amerikanischen Ureinwohner<br />
ist die Luft oder der Wind die heiligste aller<br />
Mächte. Sie ist das unsichtbare Prinzip,<br />
das sowohl in uns als auch um uns herum<br />
zirkuliert, das die Gedanken aller atmenden<br />
Dinge anregt, während es die schwankenden<br />
Bäume und die Wolken bewegt. Tatsächlich<br />
wurden die Wörter für Geist oder<br />
Psyche in zahllosen Sprachen vom gleichen<br />
Stamm abgeleitet wie die Wörter für Wind<br />
und Atem. So sind im Englischen die Wörter<br />
„Geist“ (spirit) und „Atmung“ (respiration)<br />
durch ihre gemeinsame Abstammung vom<br />
lateinischen spiritus verwandt, das „Atem“<br />
bedeutet. Genauso hat unser Wort „Psyche“<br />
mit all seinen neueren Abwandlungen seinen<br />
Ursprung im altgriechischen psychein,<br />
was soviel wie atmen oder wehen (wie der<br />
Wind) bedeutet. Sollten wir je einen fiktiven<br />
zukünftigen Menschen nach der wahren<br />
Bedeutung des Wortes „Geist“ fragen, so<br />
könnte er oder sie antworten: „Wie dir jede<br />
post-industrielle Seele sagen wird, ist Geist<br />
nur ein anderes Wort für die Luft, den Wind<br />
oder den Atem. Die Atmosphäre ist der<br />
Geist, das subtile Bewusstsein dieses Pla<strong>net</strong>en.<br />
Wir wohnen alle im Geist der Erde, und<br />
dieser Geist kreist in uns. Unsere individuellen<br />
Psychen und unsere jeweilige Subjektivität<br />
sind nichts anderes als der innere Ausdruck<br />
dieses unsichtbaren Bewusstseins, der<br />
Luft, der Psyche dieser Welt. Und unsere gesamte<br />
Wahrnehmung, die unmerkliche Arbeit<br />
unserer Augen, unserer Nasenflügel,<br />
unserer Ohren und unserer Haut, ist nichts<br />
anderes als unsere unausgesetzte Kommunikation<br />
und Kommunion mit dem Leben<br />
des Ganzen. Wie wir mit unserem Atem<br />
zum fortwährenden Leben der Atmosphäre<br />
beitragen, so nehmen wir auch an der<br />
Entwicklung der uns umgebenden lebendigen<br />
Gewebe und Farben durch unser Sehen<br />
und Hören, durch wirkliches Berühren und<br />
Schmecken teil und leihen unsere Vorstellungskraft<br />
dem Schmecken und der Gestaltbildung<br />
der Erde. – Übrigens: Die Spinnen<br />
tun dies selbstverständlich genauso …“ 7<br />
Übersetzung von Angela Rohr und Human Touch<br />
Die erste Fassung des Artikels erschien 1985 als „The perceptual<br />
Implications of <strong>Gaia</strong>“ in „The Ecologist“.<br />
Anmerkungen: (1) Lovelock, James E. 1982: Unsere Erde<br />
wird überleben. <strong>Gaia</strong> – eine optimistische Ökologie. Piper<br />
& Co, München. S. 24. (2) Brown und Margulis 1985: Contaminants<br />
and Desiccation Resistance: a Mechanism of<br />
<strong>Gaia</strong>. In: BioSystems. Lovelock und Margulis 1989: <strong>Gaia</strong><br />
and Geognosy. In:. Rambler, Margulis und Foster: Global<br />
Ecology: Towards a Science of the Biosphere. Academic<br />
Press, Boston. (3) Unser Vergessen der Luft dürfte Ursache<br />
des für unsere Kultur typischen Konzepts eines reinen<br />
Geistes oder geistiger Fähigkeiten als Vakuum ohne<br />
physische Attribute sein. (4) Lovelock und Margulis: <strong>Gaia</strong><br />
und Geognosie. S. 2. (5) Titchener, E. B. 1910: Lehrbuch<br />
der Psychologie. Klemm, O. (Übers.), Barth, Leipzig. (6)<br />
Lovelock, James E.: Unsere Erde wird überleben. Außerdem:<br />
Brown und Margulis: Contaminants and Desiccation<br />
Resistance. (7) Lovelock, James E.: Unsere Erde wird überleben.<br />
S. 9. (8) Siehe: Hopkins, Carl D. 1983: Sensory Mechanisms<br />
in Animal Communication in: Haliday und Slater<br />
(Hrsg.): Animal Behavior 2: communication. Freeman and<br />
Co, New York, sowie Artikel von Gerhardt und Wiley im<br />
selben Band. (9) Deutsch erschienen als: Gibson, James J.<br />
1973: Die Wahrnehmung der visuellen Welt. Schumann,<br />
Vera (Übers.), Beltz, Weinheim u.a. Gibson, James J. 1973:<br />
Die Sinne und der Prozess der Wahrnehmung. Kohler, Ivo<br />
und Erika (Übers.) Huber, Bern u.a. Gibson, James J. 1982:<br />
Wahrnehmung und Umwelt: der ökologische Ansatz in der<br />
visuellen Wahrnehmung. Urban & Schwarzenberg, München.<br />
(10) Merleau-Ponty, Maurice 1974: Phänomenologie<br />
der Wahrnehmung. Boehm, Rudolf (Übers.) de Gruyter,<br />
Berlin. (11) Merleau-Ponty, Maurice 1986: Das Sichtbare<br />
und das Unsichtbare. Giuliani, Regula (Übers.) Fink, München.<br />
(12) Für eine weiterführende Auseinandersetzung<br />
mit Merleau-Pontys Philosophie und ihre ökologischen<br />
Auswirkungen, siehe: Abram, David 1988: Merleau-Ponty<br />
and the Voice of the Earth. In: Environmental Ethics,<br />
Vol. 10, No. 2, Sommer 1988.<br />
Dr. phil. David Abram, Ökologe, Anthropologe,<br />
Philosoph; sein Buch „The Spell<br />
of the Sensuous“ wurde mehrfach ausgezeich<strong>net</strong>.<br />
Taschentrickkünstler; lebte bei<br />
eingeborenen Schamanen in Indonesien,<br />
Nepal und Amerika. Internationale Vortragstätigkeit.<br />
Der Utne Reader führt ihn als einen der<br />
hundert Visionäre, die heute die Welt verändern.<br />
N A T U R N E U V E R S T E H E N Hagia Chora 15 | 2003 51