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OM Deutsch 2010 Internet-Ausgabe.pdf

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und übertrafen in Riga schon die Preise in vielen anderen<br />

europäischen Großstädten. Spekulationsgeschäfte wurden<br />

nicht nur gefördert durch eine geringe Immobiliensteuer,<br />

sondern weil Kapitalgewinne überhaupt nicht besteuert<br />

wurden.<br />

Anstelle des atemberaubenden Wachstums kam es ab<br />

2009 zu einem weiteren Schlag für die Wirtschaft – einem<br />

Absinken des Bruttoinlandsprodukts und Deflation. Viele<br />

Menschen verloren ihre Arbeit und mußten feststellen,<br />

daß sie über ihre Verhältnisse gelebt hatten und nun nicht<br />

imstande waren, die teuren Kredite zurückzuzahlen. Vor<br />

dem drohenden Zusammenbruch der größten privaten<br />

Geschäftsbank in Lettland übernahm der Staat die Bank,<br />

damit ein Zusammenbruch des gesamten Bankensystems<br />

verhindert werden konnte. Um seinen Verpflichtungen weiter<br />

nachzukommen, war der Staat gezwungen, sich um Kredite<br />

bei der Weltbank, dem Internationalen Währungsfond und<br />

der Europäischen Union zu bemühen. Diese waren wiederum<br />

an harte Forderungen nach einer drastischen Senkung der<br />

Staatsausgaben und den Abbau der aufgeblasenen Bürokratie<br />

durch eine Reform der Staatsverwaltung gebunden. Heftige<br />

und wegen der näherrückenden Parlamentswahl im Oktober<br />

<strong>2010</strong> polarisierte politische Debatten entbrannten darüber,<br />

daß Lettland in eine unannehmbare Abhängigkeit von den<br />

ökonomischen Interessen des Westens geraten könnte, über die<br />

Notwendigkeit der Abwertung des lettischen Lat sowie über<br />

unterschiedliche Programme zur Überwindung der Krise. Die<br />

Regierung hielt sich dennoch an die Haushaltsdisziplin und an<br />

den damit verbundenen Kurs der quantitativen Verkleinerung<br />

des staatlichen Arbeitskräftesektors. Trotz des Drucks wurde<br />

der Wechselkurs des lettischen Lat gegenüber dem Euro<br />

stabil gehalten. Die Wirtschaftskrise führte zu einer ganzen<br />

Reihe von negativen Auswirkungen auf die Gesellschaft –<br />

Arbeitslosigkeit, eine wachsende Zahl von Auswanderern,<br />

die zu Erwerbszwecken das Land verließen, sinkende<br />

Geburtenraten. Obwohl <strong>2010</strong> Anzeichen einer langsamen<br />

Erholung erkennbar sind, glaubt niemand, abgesehen von<br />

einigen populistischen Politikern, daß diese deutlich genug<br />

ausfallen wird, um den tiefen Fall von 2009 wettzumachen.<br />

Bei Wiedererlangung der Unabhängigkeit konnte<br />

Lettland zunächst nicht auf viele beachtenswerte politische<br />

Persönlichkeiten zurückgreifen. Das in den Anfangsjahren<br />

von einigen bekannten Politikern Erreichte, mag es noch<br />

so glaubwürdig bewerkstelligt worden sein, wurde bald<br />

überschattet von ihrer Vergangenheit in der Kommunistischen<br />

Partei und im sowjetischen Staatsdienst. Manch andere<br />

büßten ihre Positionen durch Wechsel in der politischen<br />

Konjunktur und in den Labyrinthen der Korruption ein,<br />

obgleich wiederum andere, deren Ehrenhaftigkeit unter<br />

Zweifel steht, ihre politische Tätigkeit fortsetzten, als wäre<br />

nichts geschehen. Wahrscheinlich ist es nur in Lettland<br />

möglich, daß der Verdacht auf politischen Amtsmißbrauch<br />

zur Förderung der eigenen ökonomischen Interessen oder<br />

gar eine Anklage wegen schwerer Wirtschaftsverbrechen<br />

der Popularität eines Politikers nicht schadet.<br />

Der erste Staatspräsident des wiedererrichteten Lettland,<br />

Guntis Ulmanis (geb. 1939) – Enkel des Bruders von<br />

Kārlis Ulmanis –, erfüllte sein Amt ehrenhaft und mit<br />

Würde. Er war in der Verbannung aufgewachsen und später<br />

zum Ökonomen geworden, der Kommunistischen Partei<br />

beigetreten (Austritt 1989) und hatte führende Posten in<br />

mehreren Unternehmen bekleidet. 1999, nach dem Ende<br />

der zweiten und damit letzten Amtszeit von Ulmanis,<br />

wählte die Saeima die 1937 in Lettland geborene und<br />

im Exil aufgewachsene Vaira Vīķe-Freiberga, die sich<br />

eine breite gesellschaftliche und akademische Erfahrung<br />

erworben hatte, zur Staatspräsidentin. Sie wurde in zwei<br />

Amtszeiten zum herausragendsten und bei der Bevölkerung<br />

höchstangesehenen Staatsoberhaupt Lettlands. 2007 folgte<br />

ihr der 1955 geborene Valdis Zatlers im Amt, ein bekannter<br />

Orthopäde und Krankenhausdirektor, dessen erste Amtsjahre<br />

jedoch überschatten waren von der fragwürdigen Art und<br />

Weise seiner Wahl durch politische Absprachen kleiner<br />

politischer Kreise sowie den gegen ihn gerichteten Vorwurf<br />

des unmoralischen Verhaltens, da er inoffiziell Geld für<br />

ärztliche Dienstleistungen angenommen habe. Zatlers gelang<br />

es dennoch allmählich, sich vom Verdacht der politischen<br />

Abhängigkeit zu befreien und das Ansehen des Volkes zu<br />

erwerben.<br />

Und weiter ...<br />

Dieses Kapitel wurde im Sommer <strong>2010</strong> im Vorfeld der<br />

Wahlen zum lettischen Parlament, der Saeima, verfaßt.<br />

Diese stehen im Zeichen der Wirtschaftskrise, und es<br />

mangelt nicht an gegenseitigen Schuldzuweisungen und<br />

Lösungsvorschlägen. Scheinbar hat eine politische<br />

Konsolidierung stattgefunden – viele Parteien bilden<br />

Wahlbündnisse, obwohl auch diese dominiert werden von<br />

altbekannten Gesichtern und denselben alten Programmen.<br />

Gleichzeitig belegen Umfragen, daß das Vertrauen in die<br />

Politik und ihre Macher seinen absoluten Tiefstpunkt seit<br />

der Wiederherstellung der staatlichen Souveränität erreicht<br />

hat. Obwohl in dieser Zeit eine junge, vom schweren Erbe<br />

der Vergangenheit unbelastete Generation herangewachsen<br />

ist, ist sie in der Politik noch nicht in größerer Anzahl zu<br />

bemerken.<br />

Dennoch geben gerade der Unternehmungsgeist und<br />

die Energie der jungen Generation des unabhängigen<br />

Lettland Anlaß zur Hoffnung. Dieser Generation eröffnen<br />

sich Möglichkeiten, die ihren Eltern und Großeltern vom<br />

Besatzungsregime verwehrt worden waren. Die Kenntnisse<br />

und die praktische Anwendung westlicher Sprachen<br />

nehmen stetig zu. Immer mehr gebildete, kompetente<br />

und selbstbewußte junge Leute stehen an der Spitze von<br />

Unternehmen und Behörden. Die Lettischkenntnisse der<br />

bereits in Lettland geborenen jungen Generation der einstigen<br />

Zuwandererfamilien werden immer besser. Während die<br />

älteren Generationen von Letten und Russen Mißtrauen<br />

und das Erbe der Okkupation trennen, vereint die junge<br />

Generation bereits die gemeinsame Zukunft. Obwohl auch<br />

bei der jungen Generation der Letten wie der Russen<br />

nationalistische Tendenzen erkennbar sind, so ist sie doch erst<br />

die erste auf die Okkupation folgende weltoffene Generation,<br />

die mit dem schweren Erbe der Vergangenheit nicht direkt<br />

belastet ist. Andere Generationen werden folgen.<br />

Das Okkupationsmuseum und auch dieses Buch sind<br />

diesem schweren Erbe der Vergangenheit gewidmet, aber<br />

mehr noch dem, was die Zukunft verspricht. Denn nur<br />

mit der Kenntnis und dem Verstehen der Vergangenheit<br />

läßt sich die Zukunft mit mehr Bedacht, Verständnis und<br />

Menschlichkeit gestalten.<br />

Valters Nollendorfs<br />

4. August <strong>2010</strong><br />

140

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