OM Deutsch 2010 Internet-Ausgabe.pdf
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Sowjetische Geschichtsstunde, Teil 1<br />
Die Interpretation sowjetischer – und leider noch immer<br />
auch einiger russischer – Historiker der jüngsten Geschichte<br />
unterscheidet sich grundlegend von derjenigen, die in diesem<br />
Buch zum Ausdruck kommt und die vom überwiegenden Teil<br />
der westlichen Historiker vertreten wird. Die sowjetische<br />
Historiographie beschreibt im Sinne des „Marxismus-<br />
Leninismus“ historische Ereignisse als determinierte<br />
Wegmarken zur Vervollkommnung des Kommunismus. Sie<br />
markiert Etappen im revolutionären Klassenkampf, der unter<br />
Führung der Kommunistischen Partei unweigerlich zum Sieg<br />
des Proletariats über die kapitalistische Bourgeoisie führt. Um<br />
die Geschichte in diesem Sinne interpretieren zu können, hatten<br />
die sowjetischen Historiker zu verfälschen, zu verschweigen<br />
sowie Fakten und Ereignisse zu verdrehen. Damit dies deutlich<br />
wird, geben wir „Sowjetische Geschichtsstunden“ über wichtige<br />
historische Ereignisse. Die Zitate sind dem von A. Drīzulis<br />
redigierten und vom Historischen Institut der Akademie der<br />
Wissenschaften der Lettischen SSR herausgegebenen Buch<br />
Latvijas PSR vēsture [Die Geschichte der Lettischen SSR],<br />
Verlag Zinātne, Riga 1986, Band 2, entnommen. Zum jungen<br />
Staat ist darin zu lesen: „Der reaktionäre Staat und die<br />
reaktionäre Gesellschaftsordnung, eine dem Volk feindlich<br />
gesinnte Politik, wie sie auf ausländische Anweisungen hin<br />
von der bourgeoisen Regierung betrieben wurde, verwandelten<br />
Lettland in eine willige Waffe der imperialistischen Staaten.<br />
Die Staatsführung Lettlands machte das Land wirtschaftlich<br />
von den imperialistischen Staaten abhängig, und ihre Politik<br />
war maßgeblich von deren Interessen bestimmt. Gegen die<br />
Werktätigen ging die Bourgeoisie mit Terror und Verfolgung<br />
vor.“ (Band 2, S. 79)<br />
Buchdeckel der 1986 erschienenen Geschichte der Lettischen<br />
SSR, Latvijas PSR vēsture, von Geschichtslehrern häufig wegen<br />
der Farbe des Deckels auch als „das blaue Wunder“ bezeichnet.<br />
Das Schicksal der Letten in der<br />
Sowjetunion<br />
Während des Ersten Weltkriegs verließen rund 850.000 Einwohner<br />
bzw. ein Drittel der damaligen Bevölkerung das Gebiet des<br />
heutigen Lettland. Viele von ihnen wurden 1915 aus Kurland und<br />
Riga zwangsevakuiert, als die deutschen Truppen näherrückten.<br />
Die russische Regierung kümmerte sich so gut wie gar nicht<br />
um die Flüchtlinge; für ihre Versorgung wurden freiwillige<br />
Versorgungskomitees gegründet. Obwohl der Friedensvertrag<br />
zwischen der Republik Lettland und Sowjetrußland von 1920 die<br />
Repatriierung der Flüchtlinge vorsah, kehrten viele von ihnen<br />
nicht zurück. Manche blieben wegen ihrer kommunistischen<br />
Überzeugung in Rußland, andere aus familiären Gründen,<br />
viele jedoch erfuhren schlichtweg nicht von der Möglichkeit<br />
zurückzukehren – oder sie wurden daran gehindert. Verschiedene<br />
Quellen belegen, daß in der Zwischenkriegszeit rund 150.000<br />
Letten in der Sowjetunion lebten. Einige, die aus den Reihen der<br />
Lettischen Roten Schützen hervorgegangen waren, wurden zu<br />
herausragenden Befehlshabern der Roten Armee. Letten waren<br />
sowohl in der staatlichen Verwaltung der UdSSR aktiv wie im<br />
staatlichen Repressionsapparat. Lettische Vereine entstanden. An<br />
die 200 lettisch- bzw. lettgallischsprachige Schulen nahmen den<br />
Betrieb auf. Es gab rege kulturelle Aktivitäten. In Moskau gab es<br />
ein lettisches Theater und einen lettischen Verlag.<br />
Wie andere Einwohner der Sowjetunion waren Ende der<br />
zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre auch die auf dem Land<br />
lebenden Letten von der Kollektivierungswelle betroffen. Doch<br />
entscheidend für das Schicksal der lettischen Diaspora in Rußland<br />
war der stalinsche Terror von 1937/38. Die großen Schauprozesse<br />
in Moskau wurden vom Generalstaatsanwalt der UdSSR, Andrej<br />
Wischinski, geleitet, der 1940 die Machtübernahme in Lettland<br />
organisierte. Der stalinsche Terror richtete sich nicht nur gegen<br />
kommunistische Veteranen, sondern auch gegen nichtrussische<br />
Bevölkerungsteile wie <strong>Deutsch</strong>e, Polen, Letten, Esten, indem<br />
man sie als Konterrevolutionäre, Nationalisten, Spione und<br />
Saboteure bezichtigte. Der Terror traf auch die in Lettland im<br />
Untergrund agierenden Kommunisten. Viele von ihnen wurden<br />
in die Sowjetunion beordert, verhaftet und liquidiert. Rund<br />
14.000 (9,3 Prozent) der in der Sowjetunion lebenden Letten,<br />
mehrheitlich Männer, wurden erschossen. Ihre Angehörigen<br />
wurden deportiert und in entlegenen Gebieten Rußlands<br />
zwangsangesiedelt. Die Gesamtzahl der Menschen, die politischen<br />
Repressionen ausgesetzt waren, wird mit rund 70.000 beziffert,<br />
was etwa der Hälfte der seinerzeit in Rußland lebenden Letten<br />
entspricht. Lettische Organisationen wurden aufgelöst, Schulen<br />
und Kultureinrichtungen geschlossen. Das gesellschaftliche und<br />
kulturelle Leben der Letten kam zum Erliegen. Dies bedeutete<br />
praktisch das Ende der ethnischen Gemeinschaft der Letten in<br />
Rußland.<br />
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