OM Deutsch 2010 Internet-Ausgabe.pdf
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“Verbannt auf Lebenszeit“:<br />
25. März 1949: Beginn der zweiten<br />
Massendeportation<br />
Die Machthaber in Moskau entschlossen sich zu<br />
einer massenhaften Deportation besonders der<br />
Landbevölkerung, um den Widerstand gegen die<br />
Kollektivierung auf dem Lande zu brechen, eine materielle<br />
Basis für die Kolchosen zu schaffen und sich gleichzeitig<br />
der Partisanenunterstützer zu entledigen. Durch die<br />
Zwangsverschickung des erfolgreichsten und produktivsten<br />
Teils der Landbevölkerung machte das Besatzungsregime<br />
nicht nur die Produktionskapazitäten zunichte, sondern<br />
zerstörte gleichzeitig die jahrhundertealten ländlichen<br />
Traditionen und Strukturen in Lettland.<br />
Im Herbst 1948 wies der Oberstaatsanwalt der Lettischen<br />
SSR, Alexander Mischutin, in einer Note an den Sekretär<br />
des ZK der Kommunistischen Partei Lettlands, Jānis<br />
Kalnbērziņš, auf die Notwendigkeit hin, hinsichtlich der<br />
„Verschickung von Konterrevolutionären ins Staatsinnere“<br />
zu einer Entscheidung zu gelangen. Zur „rechtlichen“<br />
Grundlage für die Deportationen wurde die besonderer<br />
Geheimhaltung unterliegende Entscheidung des Ministerrats<br />
der UdSSR vom 29. Januar 1949 sowie die im Februar vom<br />
Staatssicherheitsministerium (MGB) ausgegebene Instruktion<br />
„Vorgehensweise, nach der verschiedene Kategorien von<br />
Bürgern aus der Estnischen, Lettischen und Litauischen<br />
SSR zu verschicken sind.“ Der entsprechende Beschluß<br />
des Ministerrats der Lettischen SSR zur „Verschickung<br />
von Kulakenfamilien aus der Lettischen SSR“ wurde vom<br />
Regierungsvorsitzenden der LSSR, Vilis Lācis, am 17. März<br />
1949 unterzeichnet.<br />
Am 28. Februar 1949 erhielten die Einheiten des MGB<br />
und des Innenministeriums den streng geheimen Befehl Nr.<br />
0068 zur Durchführung der Deportationen in den baltischen<br />
Staaten. Die Operation lief unter dem Namen priboj (russ.<br />
Küstenwoge).<br />
Zuverlässige Helfer aus den Reihen von Parteimitgliedern<br />
und Komsomolzen, die etwa die Hälfte der<br />
Deportationsvollstrecker ausmachten, sowie speziell<br />
eingesetzte Bezirksbevollmächtigte des MGB erhielten<br />
Instruktionen für das Vorgehen am Abend des 24. März 1949.<br />
Für jede zur Deportation vorgesehene Familie war eine Akte<br />
vorbereitet, in der sich eine Archivauskunft über den Umfang<br />
der „Kulakenwirtschaft“ im Jahre 1939, eine Bestätigung<br />
über die Aufnahme in die Listen von Kulakenfamilien<br />
seit 1947, ein Hinweis, ob einer der zu Deportierenden<br />
in der Roten Armee gedient hat, ein Fragebogen zu den<br />
Familienmitgliedern und andere Dokumente befanden.<br />
Außer den sogenannten Kulaken waren die Familien von<br />
„Banditen, Nationalisten und anderen Volksfeinden“ zur<br />
Deportation vorgesehen – unter ihnen auch jene, denen<br />
es geglückt war, aus einer der vorherigen Deportationen<br />
zurückzukehren, insbesondere Kinder und Jugendliche.<br />
In der Nacht vom 24. auf den 25. März wurden die<br />
Menschen in ihren Wohnungen verhaftet bzw. am folgenden<br />
Tag an ihrem Arbeitsplatz; Schüler gelangten mitunter<br />
geradewegs von der Schulbank in die Eisenbahnwaggons.<br />
Vom 25. bis zum 28. März wurden 42.125 Menschen,<br />
darunter mehr als 10.990 Kinder und Jugendliche unter<br />
16 Jahren, mit 33 Zügen aus Lettland in „Spezialsiedlungen“<br />
Bestätigung über den Empfang des Deportationsbeschlusses,<br />
unterschrieben am 10. April 1949 von der 1897 geborenen<br />
Emilija Belte. Laut Vordrucktext wird die Unterzeichnerin<br />
auf Beschluß der obersten Behörden der UdSSR in entlegene<br />
Regionen der Sowjetunion verschickt. Sie darf niemals wieder<br />
in die Heimat zurückkehren und unter Androhung von<br />
20 Jahren schwerster Zwangsarbeit nicht ohne Erlaubnis ihren<br />
Wohn- und Arbeitsplatz wechseln.<br />
(größtenteils in den Gebieten Krasnojarsk, Amur, Omsk und<br />
Novosibirsk) deportiert. 73% der Deportierten waren Frauen<br />
und Kinder. Bei 95,6% der Zwangsverschickten handelte<br />
es sich um Einwohner lettischer Nationalität. Im Jahr 1949<br />
wurden aus dem gesamten Baltikum 94.799 Menschen<br />
bzw. 30.620 Familien deportiert. Die Verschickten hatten<br />
ein Dokument zu unterzeichnen, aus dem hervorging, daß<br />
sie auf Lebenszeit verbannt waren, ohne ein Recht auf<br />
Rückkehr in das Heimatland.<br />
Die Menschen waren 1949 besser auf eine mögliche<br />
Deportation vorbereitet als 1941. Deshalb gab es<br />
mitunter ganze Familien, die sich ihrer Verschickung<br />
entziehen konnten, indem sie sich versteckt hielten oder<br />
den Widerstandskämpfern anschlossen. An ihrer Stelle<br />
wurden nicht selten andere deportiert, damit die Zahlen im<br />
Deportationsplan stimmten.<br />
Trotz vereinzelter Proteste gegen die Deportationen war<br />
ein Aufbegehren in der allgemeinen Atmosphäre von Angst,<br />
Terror und nicht selten anzutreffendem Verrat hoffnungslos.<br />
Neuentstandene Partisanengruppen spürte das MGB bis<br />
1953 auf und liquidierte sie.<br />
Die Jugend begehrt auf<br />
Die Deportationen riefen unter Jugendlichen spontane<br />
Proteste hervor, beispielsweise im Forstwirtschaftstechnikum<br />
Ogre, über die es in einer geheimen Mitteilung der<br />
Komsomolleitung an das ZK der Partei heißt: „Im Technikum<br />
war eine nationalistische Gruppe von drei Personen tätig. Die<br />
Mitglieder dieser Gruppe provozierten am 25. und 29. März, als<br />
Kulakenelemente abgeführt wurden, im Studentenwohnheim<br />
Schlägereien, indem sie jene Elemente verteidigten. Unter<br />
anderem wurden im Wohnheim die Porträts unserer Führer<br />
zerrissen. In der Gruppe befanden sich zwei Komsomolzen.<br />
[...] Zahlreiche Studenten des Technikums, darunter acht<br />
Komsomolzen, haben nicht nur keinen Widerstand geleistet,<br />
sondern sogar unterstützend mitgewirkt, indem sie keine<br />
Meldung erstatteten.“<br />
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