Andreas Symank - FEG Zürich-Helvetiaplatz
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Übersetzung gelesen hatte. Aber das wurde rundweg abgelehnt – der Koran könne nur in<br />
seiner Originalsprache Arabisch richtig verstanden werden. Die Konsequenz aus dieser<br />
Haltung sieht genauso aus, wie ich sie eben beschrieben habe: Wenn man nicht in einer<br />
fremden Sprache über den Koran nachdenken darf, darf man es letztlich auch nicht in<br />
Arabisch. In den Koranschulen in aller Welt lernen zahllose Kinder den arabischen Wortlaut<br />
der Suren auswendig, ohne auch nur ein Wort davon zu verstehen.<br />
Aus dem allem dürfte bereits klar geworden sein, worauf es beim Übersetzen vor allem<br />
ankommt: auf den Inhalt, nicht auf die Form. Übersetzen heißt eigentlich nichts anderes als:<br />
die Form ändern, den Inhalt belassen. Die Gedanken sind<br />
sozusagen Kleider, und die sprachliche Form ist der Koffer, in<br />
den die Kleider verpackt sind. Was der Fährmann tut, ist nichts<br />
anderes, als dass er erst an das – sagen wir – englische Ufer<br />
rudert, dort den Koffer öffnet, die Kleidungstücke auspackt, sie<br />
ins Boot lädt, dann ans deutsche Ufer übersetzt und die Kleidung dort wieder einpackt – in<br />
einen anderen Koffer.<br />
Wörter sind mehrdeutig<br />
„Möglichst die gesamte Ladung“ soll der Fährmann übersetzen. „So genau wie möglich“ soll<br />
der Übersetzer übersetzen. Wie macht man das?<br />
Viele stellen sich das so vor, dass man am besten Wort für Wort wiedergibt. Je wörtlicher<br />
eine Übersetzung, desto weniger läuft der Übersetzer Gefahr, etwas hineinzuinterpretieren. Je<br />
wörtlicher, desto zuverlässiger.<br />
Wenn das nur so einfach wäre! Die wenigsten Wörter sind eindeutig! Die meisten Wörter,<br />
gerade die, die zum Grundwortschatz gehören und ständig vorkommen, haben mehrere, oft<br />
zahlreiche Bedeutungen.<br />
Beginnen wir mit ein paar ganz einfachen Beispielen. Einem Wort in der einen Sprache<br />
stehen zwei in der anderen Sprache gegenüber: eine Eins-zu-zwei-Entsprechung.<br />
deutsch „Straße“ -> englisch „street“ [wenn mindestens an 1 Straßenseite Häuser] /<br />
„road“ [wenn keine Häuser]<br />
<br />
<br />
<br />
<br />
deutsch „Himmel“ -> englisch „sky“ [Luftraum] / „heaven“ [religiöser Bereich]<br />
deutsch „Leben“ -> griechisch /bíos [physisches, irdisches Leben] / /zoë<br />
[geistliches Leben]<br />
griechisch /dáktylos -> deutsch „Finger“ / „Zehe“<br />
griechisch /psychë -> deutsch „Seele“ / „Leben“<br />
Übersetzen heißt:<br />
die Form ändern,<br />
den Inhalt belassen.<br />
Vor einiger Zeit schickte mir jemand einen Artikel zu Übersetzungsfragen. Darin beklagt sich<br />
der Autor darüber, dass selbst eine so „wortnahe“ Übersetzung wie die Elberfelder Bibel<br />
nicht immer mit „Seele“ wiedergibt, sondern fast genauso oft mit „Leben“, und er<br />
schreibt wörtlich: „Das ist nach meiner Auffassung geistlich kriminell.“ Mag er das sehen,<br />
wie er will – kriminell ist hier ganz und gar nichts. unterschiedlich wiederzugeben ist<br />
so wenig ein Verbrechen, wie wenn ein Engländer das deutsche „Himmel“ einmal mit „sky“<br />
und einmal mit „heaven“ übersetzt. Es ist nicht nur kein Verbrechen, es ist das einzig<br />
Richtige, was er tun kann, wenn er die Mehrdeutigkeit des sprachlichen Zeichens HIMMEL<br />
ernst nimmt.<br />
Nehmen wir ein etwas aufwendigeres Beispiel, das deutsche Wort „Gang“ (ein Substantiv,<br />
das interessanterweise nicht mit dem Verb „gehen“ verwandt ist, wie man meinen würde,<br />
sondern auf ein germanisches Verb mit der Bedeutung „schreiten“ zurückgeht). Man wird<br />
also vielleicht als erstes an die Bedeutung „Gangart“ denken:<br />
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