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Pfade der Freiheit - auf Fluchthilfe.de

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Markus<br />

erwartet im August ’89 in einem Haus am Neusiedlersee<br />

<strong>auf</strong> ungarischer Seite das En<strong>de</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> Nacht.<br />

Am nächsten Morgen will <strong><strong>de</strong>r</strong> Theologiestu<strong>de</strong>nt mit<br />

Freun<strong>de</strong>n die Grenze zwischen <strong>de</strong>n Machtblöcken<br />

NATO und Warschauer Pakt, die irgendwo da hinten<br />

im leise rascheln<strong>de</strong>n Schilf verläuft, überwin<strong>de</strong>n.<br />

Markus weiß, daß es gefährlich ist; ungarische<br />

Grenzer übergeben verhaftete Flüchtlinge nach wie<br />

vor <strong>de</strong>n DDR-Behör<strong>de</strong>n. Aber er ist entschlossen,<br />

die Bildungsbrosamen, die die Biographieplaner<br />

in seiner Heimat für einen Bürgersohn wie ihn<br />

übriggelassen haben, vom Tisch seines Schicksals<br />

zu wischen. Und er will <strong><strong>de</strong>r</strong> Agonie entkommen,<br />

von <strong><strong>de</strong>r</strong> er das alltägliche Leben in <strong><strong>de</strong>r</strong> DDR befallen<br />

fühlt. Im Westen wird er von Freun<strong>de</strong>n und Verwandten<br />

erwartet, hat also gute Karten. Und dann<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> Asthmaanfall mitten in <strong><strong>de</strong>r</strong> Nacht. Keine Luft.<br />

Sein Körper rebelliert und erzwingt die Umkehr.<br />

Warum? Später ist die Diagnose ganz einfach: verliebt.<br />

Er kehrt nach Leipzig zurück, nur um erneut<br />

die Flucht vorzubereiten, diesmal in Begleitung<br />

<strong>de</strong>s Mädchens, das ihn in ihren Bann geschlagen<br />

hat. Bei<strong>de</strong> gelangen als Botschaftsflüchtlinge über<br />

Budapest und Wien in <strong>de</strong>n Westen und erleben die<br />

Maueröffnung in einem verträumten Kaff in Schleswig-Holstein.<br />

Für Markus, <strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n 9. Oktober als<br />

Demonstrant in Leipzig erlebt hat, <strong>de</strong>m die Gefahr<br />

jener Stun<strong>de</strong>n noch heute plastisch vor Augen steht,<br />

ist das »wirklich tragisch«, <strong>de</strong>nn eines ist ihm sofort<br />

klar: »Da wer<strong>de</strong>n wir nun <strong>de</strong>finitiv nicht dabeisein<br />

können.« Bald kehrt er nach Leipzig zurück, bricht<br />

das Theologiestudium ab und schreibt sich in Berlin<br />

für Politologie ein. Markus ist in <strong><strong>de</strong>r</strong> Hauptstadt<br />

geblieben, arbeitet als Redakteur für <strong>de</strong>n Evangelischen<br />

Pressedienst und ist verheiratet mit einer<br />

aus <strong>de</strong>m früheren West-Berlin stammen<strong>de</strong>n Frau,<br />

Journalistin wie er. Er beobachtet die Erinnerungskultur<br />

in <strong><strong>de</strong>r</strong> Tagespresse nun schon lange: »Ich<br />

fühle mich je<strong>de</strong>s Mal persönlich beleidigt, wenn<br />

<strong><strong>de</strong>r</strong> 9. Oktober ’89 in Leipzig nirgendwo erwähnt<br />

wird, wenn diesem Tag einfach nicht <strong><strong>de</strong>r</strong> historische<br />

Stellenwert zuerkannt wird, <strong>de</strong>n er nun einmal hat<br />

– über die nationalen Grenzen hinaus.« Neulich hat<br />

er seinen zwei Söhnen Verl<strong>auf</strong> und Be<strong>de</strong>utung <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Berliner Mauer zu erklären versucht. Schwierig,<br />

wenn man überall ungehin<strong><strong>de</strong>r</strong>t hin und her l<strong>auf</strong>en<br />

kann. Aber genau das habe ihn gefreut: Wir sind<br />

angekommen im Alltag.<br />

Gerd<br />

steht als Soldat <strong><strong>de</strong>r</strong> Nationalen Volksarmee im<br />

August 1962 an <strong><strong>de</strong>r</strong> inner<strong>de</strong>utschen Grenze im<br />

Eichsfeld <strong>auf</strong> Posten. Auf <strong><strong>de</strong>r</strong> Westseite tauchen<br />

junge Leute mit Bierflaschen <strong>auf</strong>, bieten einen<br />

Schluck an. Halb im Scherz ruft <strong><strong>de</strong>r</strong> Posten zurück:<br />

»Wir trinken nicht aus halbleeren Flaschen.« Das<br />

Markus<br />

läßt die Gegenseite nicht <strong>auf</strong> sich sitzen, bringt eine<br />

ganze Flasche. Gerd kennt die Schlupflöcher im<br />

Zaun. Er kann <strong>de</strong>n Genossen seines Zugs vertrauen,<br />

heimlich und unent<strong>de</strong>ckt wechseln sie immer<br />

wie<strong><strong>de</strong>r</strong> die Systeme, um <strong>auf</strong> <strong>de</strong>m Staatsgebiet <strong>de</strong>s<br />

Klassenfeinds Bier zu trinken und eventuell – davon<br />

schwärmen sie – tanzen zu gehen. Gerd ist schon<br />

aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Armee entlassen, als plötzlich vor seiner<br />

Haustür ein Offizier mit vorgehaltener Pistole<br />

steht. Einer aus <strong><strong>de</strong>r</strong> Kompanie war in <strong>de</strong>n Westen<br />

geflüchtet, später reuevoll zurückgekehrt und hat<br />

alles verraten. Gerd wird verhaftet, es folgt ein<br />

Schauprozeß in Berlin, er wird wegen Spionage<br />

zu mehreren Jahren Haft verurteilt. Das wird zur<br />

großen Kehrtwen<strong>de</strong> in seinem Leben, <strong>de</strong>nn im Gefängnis<br />

lernt er einen Akrobaten kennen, <strong><strong>de</strong>r</strong> wegen<br />

versuchter Republikflucht sitzt: Bei <strong><strong>de</strong>r</strong> Durchfahrt<br />

Gerd<br />

seines Zugs an <strong><strong>de</strong>r</strong> bayrischen Grenze war er lei<strong><strong>de</strong>r</strong><br />

<strong>auf</strong> <strong><strong>de</strong>r</strong> falschen Seite ins Freie gesprungen – En<strong>de</strong><br />

eines Gastspiels in Moskau. Nach <strong><strong>de</strong>r</strong> Arbeit in <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Schreinerei <strong><strong>de</strong>r</strong> Justizvollzugsanstalt bleibt Gerd<br />

genug Zeit, von seinem Mithäftling zu lernen, wie<br />

man <strong>de</strong>n Trinkbecher <strong>auf</strong> <strong>de</strong>m Kinn balanciert und<br />

Körperbeherrschung trainiert. Wie<strong><strong>de</strong>r</strong> in <strong>Freiheit</strong>,<br />

beginnt Gerd als Akrobat zu arbeiten, frei und<br />

selbständig. Anfang <strong><strong>de</strong>r</strong> neunziger Jahre legt er mit<br />

befreun<strong>de</strong>ten Kollegen die vergessenen Wurzeln<br />

<strong>de</strong>s Leipziger Varietés frei, sucht neue Spielstätten,<br />

engagiert sich für seinen Stadtteil, grün<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n<br />

Verein Freun<strong>de</strong> Marienbrunns. Er holt die vergessene<br />

Marienquelle an <strong><strong>de</strong>r</strong> Tabaksmühle wie<strong><strong>de</strong>r</strong> ans<br />

Licht, organisiert Feste, freut sich an <strong><strong>de</strong>r</strong> Freu<strong>de</strong><br />

seiner Mitmenschen. Einmal im Jahr fährt er ins<br />

Eichsfeld und pflanzt in <strong><strong>de</strong>r</strong> Senke hinter Diedorf<br />

einen Baum im ehemaligen To<strong>de</strong>sstreifen, <strong><strong>de</strong>r</strong> heute<br />

noch durch einen grünen Streifen erkennbar ist.<br />

Wenn er <strong>de</strong>n Wachtturm in seinem ehemaligen<br />

Postengebiet sieht, in <strong>de</strong>m heute ein Museum<br />

eingerichtet ist, fragt er sich immer noch, wieso<br />

sie damals als Soldaten die Grenze mit <strong>de</strong>m Rücken<br />

zum Feind bewachen mußten. »Die Dummheit <strong><strong>de</strong>r</strong><br />

Mächtigen«, sagt Gerd in Betrachtung <strong>de</strong>s alten<br />

Grenzverl<strong>auf</strong>s, »ist manchmal wirklich grenzenlos.«<br />

Franka<br />

scheint, rein äußerlich betrachtet, eine Biographie<br />

zu haben, die frei von jenen Brüchen ist, wie sie<br />

für viele DDR-Lebensläufe typisch ist. Die Wandlungsprozesse,<br />

die sich seit <strong>de</strong>m Herbst ’89 um<br />

sie herum abgespielt haben, wären gleichwohl als<br />

Kontrapunkte geeignet, ihre eigene Entwicklung zu<br />

beschreiben. Franka hat Schauspiel studiert. Sie hat<br />

ihr unmittelbares Erleben von Zeit und Gegenwart<br />

in einen Bewußtseinsprozeß eingebettet, <strong><strong>de</strong>r</strong> ihrem<br />

Alltag etwas Schweben<strong>de</strong>s verleiht. Es gibt in ihrem<br />

Haushalt keinen Trott, keine Maßregelung, keine<br />

Diktatur. Friedrich Engels’ I<strong>de</strong>e von <strong><strong>de</strong>r</strong> Familie als<br />

kleinste gesellschaftliche Einheit fin<strong>de</strong>t hier einen<br />

i<strong>de</strong>alen Spiegelpunkt real praktizierter Demokratie.<br />

Wenn Franka für sieben Kin<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n Tisch <strong>de</strong>ckt<br />

o<strong><strong>de</strong>r</strong> <strong>de</strong>n kleinen Sascha <strong>auf</strong> <strong>de</strong>n Arm nimmt, ist<br />

sie glücklich. Was ist für sie heute an<strong><strong>de</strong>r</strong>s? Eine<br />

erstaunlich schlichte Antwort <strong>auf</strong> die Frage, die bei<br />

an<strong><strong>de</strong>r</strong>en einen Strom von Reflexionen auslöst: »Ich<br />

war damals glücklich und bin heute noch viel, viel<br />

glücklicher.« Wie sie das macht? Sie tanzt, wenn<br />

sie von Schatten umlagert ist. Vielleicht ist das ja<br />

auch gar nicht schwer, wenn man mit einem Musiker<br />

lebt und alle in <strong><strong>de</strong>r</strong> großen Familie irgen<strong>de</strong>in<br />

Instrument spielen. Das kann ich auch, hat sie sich<br />

kürzlich gesagt und hat eine Gitarre gek<strong>auf</strong>t. Ihre<br />

Lie<strong><strong>de</strong>r</strong> entstehen spontan, die Texte hat sie alle im<br />

Kopf. Wenn es mit <strong>de</strong>m Stimmen <strong><strong>de</strong>r</strong> Saiten nicht<br />

gleich klappt, hilft ihr Josef, <strong><strong>de</strong>r</strong> an <strong><strong>de</strong>r</strong> Leipziger<br />

14<br />

Leipziger Blätter · Ausgabe 55 · 2009

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