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Dezember - Anwaltsblatt

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MN<br />

durch Gewohnheit bewahrt. Dementsprechend gab es auch<br />

keine echten Rechtsmittel, kein Mehrinstanzensystem. Juristen<br />

als Prozessvertretung brauchte man nicht, ein „Vorsprecher“<br />

allerdings war vorgeschrieben.<br />

Eine allgemeine Regelung über die Tragung der Prozesskosten<br />

fehlte ebenfalls. Man unterschied noch nicht zwischen<br />

Strafe und Schadenersatz, erlittene Schäden und Kosten<br />

des Prozessgegners waren mit der Buße an den<br />

Verletzten abgegolten. Wegen des überwiegend pönalen<br />

Charakters vorgeschriebener Zahlungen auch an Richter<br />

und Schöffen ist überhaupt fraglich, ob diese als Prozesskosten<br />

zu qualifizieren sind. Man erblickt hier also ein<br />

grundlegend anderes Rechtssystem und -denken als das uns<br />

geläufige.<br />

Kostenrecht im Kirchenrecht<br />

Allerdings waren schon Ende des 12. Jahrhunderts die<br />

Menschen nicht ausschließlich auf das Gericht unter der<br />

Dorflinde verwiesen. Neben der weltlichen gab es eine<br />

kirchliche Gerichtsbarkeit, die zu dieser Zeit einen erheblichen<br />

Anstieg an Rechtssachen zu verzeichnen hatte. Gemeint<br />

ist hier das bischöfliche Gericht, das sog. Offizialat,<br />

das sich zuerst im 12. Jahrhundert in Frankreich entwickelte<br />

und von dort seit der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts<br />

in das Heilige Römische Reich ausbreitete. Die<br />

Zuständigkeit der Kirchengerichtshöfe war personell auf<br />

den Klerus sowie auf besonders schutzbedürftige Personengruppen<br />

wie Arme, Witwen und Waisen beschränkt. Sachlich<br />

hatten sie über Fälle zu entscheiden, in denen schwere<br />

Sünden zu beurteilen waren, vor allem über Ehe- und Familiensachen<br />

und Betrug. Alle übrigen Tatbestände, Vertragsverletzungen<br />

etwa, gehörten vor die weltlichen Gerichte.<br />

Allerdings bestand die Möglichkeit der Zuständigkeitsbegründung<br />

durch Schiedsvereinbarung, von der reger Gebrauch<br />

gemacht wurde.<br />

Dabei war Gerechtigkeit vor kirchlichen Gerichten keineswegs<br />

„billiger“ zu haben als vor weltlichen und die<br />

Rechtsverfolgung auch nicht weniger risikobehaftet. Auch<br />

hier waren die Verfahrenskosten keine Nebensache, sondern<br />

konnten über Sieg oder Niederlage entscheiden. Grund für<br />

die Beliebtheit der Kirchengerichte war ihre sachliche<br />

Überlegenheit: Es gab hier keinen „Umstand“, das Verfahren<br />

fand in geschlossenen Räumen und vor einem rechtswissenschaftlich<br />

ausgebildeten Richter statt. Der Prozess<br />

war ein Aktenprozess, in dem der Verhandlungsgrundsatz<br />

galt. Der mündliche Parteivortrag wurde von öffentlichen<br />

Notaren zur Akte protokolliert. Rechtsausführungen trugen<br />

die Anwälte in Schriftsätzen vor, die verlesen und diskutiert<br />

wurden. Transparenz und Berechenbarkeit erhielt das Verfahren<br />

insbesondere auch durch die klare Regelung, dass<br />

der Unterlegene die Verfahrenskosten zu tragen habe. Die<br />

Kostenentscheidung wurde von dem Richter zusammen mit<br />

der Sachentscheidung gefällt.<br />

Renaissance des Corpus iuris civilis<br />

Die Kirche kannte also das römische Recht und wandte<br />

es bereits an, als es im weltlichen Rechtskreis noch vergessen<br />

war. Kirchenjuristen von europäischem Rang wie Ivo<br />

von Chartres (1014 – 1116) hatten schon lange, bevor das<br />

weltliche Recht wissenschaftlich zu denken anfing, eine<br />

moderne Kirchenrechtsdogmatik entworfen, in der die spätantiken<br />

römisch-rechtlichen Traditionen zu neuem Leben<br />

erweckt waren. Der Einfluss dieser römisch-kanonischen<br />

Rechtstexte auf die Verwissenschaftlichung des weltlichen<br />

AnwBl 12/2005<br />

Mitteilungen<br />

Rechtsdenkens und der Rechtspraxis ging in seiner Bedeutung<br />

über die direkte Rezeption des römischen Rechts hinaus,<br />

die Ende des 11. Jahrhunderts erst allmählich begann.<br />

Es sollte allerdings noch lange dauern, bis Justinians klares<br />

Kostentragungsprinzip außerhalb des Kirchenrechts wieder<br />

in Geltung trat.<br />

Deutschlands Sonderweg: Einzelfallgerechtigkeit<br />

In Deutschland ging man trotz des frühen und eindeutigen<br />

Votums der Rechtsuchenden für die römisch-kanonische<br />

Regelung zunächst andere Wege. Das Reichskammergericht<br />

in Wetzlar wandte in seiner Gerichtspraxis des<br />

16. und 17. Jahrhunderts überwiegend die sogenannte Kostenkompensation<br />

an, die unserer Kostenaufhebung entspricht.<br />

Dahinter stand die Wertung, dass diejenige Partei,<br />

die eine gerechte Sache verfolgt und nicht böswillig oder<br />

verzögerlich prozessiert, auch dann nicht die Kosten des<br />

Gegners tragen solle, wenn sie den Prozess verliert. Die<br />

zeitgenössische Wissenschaft entwickelte mangels einer gesetzlichen<br />

Regelung eine weitverzweigte Kasuistik zur Anwendung<br />

des Prinzips, die für den einzelnen nicht überschaubar<br />

war. Da die Kostenkompensation im Ermessen<br />

des Gerichts stand, waren Missbrauch und Willkür Tür und<br />

Tor geöffnet.<br />

Im 18. und 19. Jahrhundert versuchte man, dem entgegenzusteuern<br />

und die Kostenkompensation begrifflich<br />

und inhaltlich klarer zu bestimmen. Zu ihrer Untermauerung<br />

wurden Argumente angeführt, die uns auch heute<br />

noch in der Diskussion um unsere Kostenregelung begegnen:<br />

Man verwies beispielsweise auf den aleatorischen<br />

Charakter des Obsiegens oder Unterliegens und meinte, der<br />

Erfolg im Prozess erlaube nicht den Rückschluss, der Verlierer<br />

habe ex mala fide gehandelt. Jeder Rechtsstreit diene<br />

neben der Durchsetzung subjektiver Rechte im ausschließlichen<br />

Interesse der Parteien auch der Lösung sozialer Konflikte<br />

und damit der Allgemeinheit.<br />

Wer verliert, der zahlt<br />

Das Misstrauen gegen die Kostenkompensation, die als<br />

„Gefühlssache“ und ausgeklügelte Erfindung der Juristen<br />

abgetan wurde, gewann jedoch schließlich die Oberhand.<br />

Für den römisch-kanonischen Grundsatz sprach seine bestechende<br />

Einfachheit, die von der Gerichtspraxis wie von den<br />

Rechtsuchenden geschätzt wurde. Nachdem er Eingang in<br />

die Gesetzescorpora des 19. Jahrhunderts gefunden hatte,<br />

wurde er schließlich in § 87 der „Civilprozessordnung“ von<br />

1877 übernommen. Von dort gelangte er fast unverändert in<br />

unsere ZPO.<br />

Wer nun heute Einwendungen gegen unser Kostentragungsprinzip<br />

erhebt, sollte sich zuvor vergewissern, dass<br />

diese nicht schon historisch obsolet sind. Sämtliche Argumente<br />

dürften gedacht und gewechselt sein, und die Qualität<br />

des Grundsatzes ist zudem durch eine jahrhundertelange<br />

praktische Anwendung verbürgt. Der Blick in die Zukunft<br />

muss in diesem Fall in der Vergangenheit ansetzen, oder:<br />

Die juristische Moderne begann in der Spätantike.

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