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Artikel Weltwoche Ausgabe 25/06<br />

«Jede Generation sucht ihren Mythos»<br />

Von Daniela Niederberger<br />

Darf die Tochter der Mutter «dumme Kuh» sagen? Soll man strafen? Muss man<br />

wirklich so viel Zeit mit Kindern verbringen? Antworten auf Erziehungsfragen gibt<br />

es viele –aber wenige sind so klar wie die von Psychologe Allan Guggenbühl.<br />

Von allen Seiten wird derzeit den Eltern geholfen, ihren<br />

Nachwuchs zu erziehen: Im Fernsehen bändigt die «Super<br />

Nanny» ungezogene Kinder, in Buchhandlungen sind die<br />

Gestelle voll von Erziehungsratgebern. Und Triple-P-<br />

Kurse, in denen Eltern lernen, ihren Kindern<br />

beizukommen, sind ständig ausgebucht. Weshalb diese<br />

Welle?<br />

Erziehung hat zu tun mit Abgrenzung: Erwachsene müssen oft<br />

Positionen und Haltungen einnehmen, mit denen die Kinder nicht einverstanden<br />

sind. Lange Zeit hatte man jedoch das Gefühl, Konsens reiche: Stimmt die<br />

Beziehung zum Kind, dann gehorcht es automatisch. Man glaubte, Nähe zulassen<br />

und Gefühle austauschen genüge. Jetzt kommt man weg von dieser Vorstellung.<br />

Der gegenwärtige Boom ist eine Gegenreaktion.<br />

Warum kommt man davon weg?<br />

Kinder passen sich nicht automatisch den Eltern an, sondern wollen ihre eigenen<br />

Anliegen einbringen. Eltern werden dadurch oft regelrecht terrorisiert von ihren<br />

Kindern. Sie reagieren dann ambivalent. Sie wissen, dass sie erziehen sollten,<br />

doch das Durchsetzen ihrer Vorstellungen ist mühsam. Sie verlangen vom Kind<br />

beispielsweise, dass es den Fernseher abschalten und ins Bett soll. Wenn das<br />

Kind dann lautstark reklamiert und herumspringt, dann kommt es ihnen blöd vor,<br />

ein riesiges Theater zu machen. In der Erziehung geht es zum Teil um simple<br />

Codes. Die Füsse gehören nicht auf den Tisch, Erwachsenen fällt man nicht ins<br />

Wort und so weiter. Solchen sozialen Codes gegenüber sind wir ambivalent. Eine<br />

Seite in uns stimmt dem Kind zu: Wieso soll man sich in ein Zivilisationskorsett<br />

drängen lassen? Müssen wir uns ständig anpassen? In unseren Kindern lebt<br />

unser Urwunsch nach einem freien, ungebundenen Leben weiter.<br />

Viele Eltern versuchen, mit ihrem Kind zu diskutieren, auf dass dieses<br />

den Sinn einer Massnahme erkenne.<br />

Erziehung beschränkt sich nicht auf Reden. Das Gespräch stieg zur zentralen<br />

Durchsetzungsmethode der Erziehung auf. Oft wollen die Eltern über ein<br />

Gespräch vom Kind das Einverständnis für ihren Befehl. Auch in der Schule ist<br />

diese Haltung verbreitet: Der Lehrer umnebelt eine Forderung durch wortreiche<br />

Erklärungen und Appelle an die Eigenverantwortung. Eigentlich hat das Kind<br />

www.elternmitwirkung.ch 28.05.06<br />

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jedoch keine Wahl. Zum Beispiel bei den Hausaufgaben. Nur ganz wenige Kinder<br />

wollen daheim Hausaufgaben machen. Sie wollen fernsehen, Freunde treffen,<br />

spielen. Die Lehrperson spricht von Förderung der Autonomie, will, dass das Kind<br />

selber will. Doch eigentlich ist diese Haltung unehrlich.<br />

Welches sind die grössten Erziehungssünden?<br />

Erziehung beginnt bereits im ersten Lebensjahr, bis zum Kindergarten zu warten,<br />

ist eine Erziehungssünde. Eine weitere, wenn man diffus bleibt und nicht darüber<br />

nachdenkt, was man eigentlich vom Kind will. Ist es mir wichtig, dass mein Kind<br />

das Essen achtet und nicht damit spielt? Ist mir die Religion wichtig? Man sollte<br />

in der Erziehung ein Minimalprogramm definieren und versuchen, dieses dann<br />

durchzuziehen.<br />

Nehmen wir an, ich hätte einen Sohn, der immer die Füsse auf den Tisch<br />

streckt. Ich sage ihm: «Füsse runter!», aber er legt sie gleich wieder<br />

rauf. Was soll ich tun?<br />

Hilfreich ist es, in Phasen zu denken. In der ersten Phase weist man das Kind<br />

darauf hin, dass sein Verhalten nicht akzeptabel ist, ohne zu moralisieren oder<br />

persönlich beleidigt zu sein. Dann kommt das konkrete Durchsetzen. Oft geht es<br />

dann nicht mehr um das Fehlverhalten, sondern um einen Machtkampf. Die<br />

Eltern müssen überlegen, wie sie diesen gewinnen können. Beispielsweise indem<br />

sie Sanktionen androhen. Die meisten Kinder wissen haargenau, was nicht<br />

erlaubt ist. Sie testen die Vitalität der Eltern, indem sie ein Verbot oder einen<br />

Code missachten.<br />

Manche Eltern sind abends erschöpft von der Arbeit und denken dann<br />

vielleicht, ich mag jetzt nicht, lassen wir ihn halt.<br />

Das hat auch mit dem heutigen Bild von Familie zu tun. Eine verbreitete<br />

Vorstellung ist, dass Eltern und Kinder eine enge Freizeit- und<br />

Lebensgemeinschaft sind. Neben gemeinsamem Essen werden auch Ferien und<br />

das Sozialleben miteinander verbracht, Hobbys zusammen betrieben. Aus<br />

historischer Sicht ist das relativ neu. Früher gab es eine grössere Distanz und<br />

eine territoriale Trennung zwischen Kindern und Erwachsenen. Die Kinder<br />

spielten mit anderen Kindern, die Grossen hatten ihre eigenen Themen. Das<br />

heutige Bild ist sehr romantisch. Die ganze Familie fährt gemeinsam um den See,<br />

das Kleinste im Anhänger, die anderen Kinder auf ihren Velos. Das ist auch gut.<br />

Aber es entstehen Schwierigkeiten punkto Abgrenzung.<br />

Ein anderes Beispiel: Die Tochter sagt der Mutter «dumme Kuh». Diese<br />

ist perplex und schockiert und überlegt sich erst mal, wie sie reagieren<br />

soll. Was ist das Beste?<br />

Sofort reagieren, so geht es nicht! Das Kind muss die Emotionen der Mutter<br />

spüren. Die sind viel wichtiger als die Aussage.<br />

Kann sie der Tochter nicht versuchen zu erklären: «Du hast mich<br />

verletzt?»<br />

Das interessiert das Kind kaum. Die Mutter ist einfach eine «dumme Kuh»,<br />

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weshalb soll sie verletzt sein? So denkt das Kind in dem Augenblick.<br />

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Mir fällt im Supermarkt oft auf, dass Mütter ihre Kinder fragen: Was<br />

möchtest du zu Mittag essen, sollen wir dieses oder jenes kaufen? Ist<br />

das toll? Denn sie bezieht das Kind ein. Oder ist das eine Überforderung?<br />

Kinder an Haushalt-Entscheidungen mitzubeteiligen, ist wichtig. Oft werden<br />

jedoch Entscheide an Kinder delegiert, deren Folgen sie nicht beurteilen können.<br />

Viele Kinder entscheiden nach den unmittelbaren Erlebnisqualitäten, etwa wenn<br />

es um ein Hobby geht. Pony reiten ist lässig, doch dass man das Pony auch<br />

striegeln muss, realisieren sie nicht, werden dann frustriert und finden plötzlich<br />

etwas anderes spannend.<br />

Ein Lehrer erzählte mir folgenden Fall: Er gab einem Schüler, der den<br />

Unterricht dauernd störte, Strafaufgaben. Postwendend rief die Mutter<br />

an: «Mein Sohn macht keine Strafaufgaben.» Und fügte stolz hinzu: «Er<br />

ist halt ein Schlingel.»<br />

Der eigene Sohn und die eigene Tochter sind immer etwas Besonderes:<br />

begabter, kreativer, wilder, rebellischer oder schöner als andere Kinder. Eltern<br />

können das schulische Verhalten ihrer Kinder und ihren Charakter schwer<br />

beurteilen. Sie sind ihnen zu nah. Nähe heisst nicht unbedingt, dass man<br />

jemanden besser kennt. Je näher man sich ist, desto eher blendet man<br />

gegenseitig die Schattenseiten aus. Eltern sagen: «Mein Sohn ist doch<br />

hochsensibel», dabei schlägt er in der Schule andere Kinder und verhält sich wie<br />

ein Rüpel.<br />

Welches sind vernünftige Arten von Strafen?<br />

Strafen sollen eine temporäre Entfremdung sein. Das Kind merkt, die Beziehung<br />

hat sich etwas abgekühlt, Mutter und Vater sind distanzierter. Spürt es das, fühlt<br />

es sich selbständig und wird auf sich selber zurückgeworfen. Durch diese Distanz<br />

kann das Bewusstsein und die Autonomie gestärkt werden. Es sind oft wichtige<br />

Entwicklungsschritte damit verbunden. Das Kind merkt, dass seine Handlungen<br />

auch reale Folgen haben. Eine Strafe sollte unmittelbar sein, nicht verzögert. In<br />

der Schule verbreitet ist das Strichli-System: Bei zehn Strichen erfolgt ein<br />

Zeugniseintrag. Solche Strafen sind zu abstrakt. Das Kind denkt dann vielleicht<br />

sogar, jetzt habe ich zehn und kann nun tun, was ich will. In der Familie sind<br />

unmittelbare Konsequenzen wichtig. Eine Strafe kann beispielsweise ein<br />

Fernsehverbot sein, ins Zimmer gehen müssen, kein Abendessen bekommen.<br />

Doch viele Eltern haben das Gefühl, ihr Kind verhungere auf der Stelle, wenn es<br />

einmal keinen Znacht isst.<br />

Und Ohrfeigen?<br />

Körperliche Strafen müssen wir uns verbieten. Leider sind in vielen Kulturen<br />

Körperstrafen noch gang und gäbe, wer sie nicht einsetzt, gilt als schwach. Es ist<br />

ein hoher Wert zu versuchen, Kinder auf andere Arten zu beeinflussen und zu<br />

strafen. Natürlich ist ein Kind nach einer Ohrfeige nicht zwingend traumatisiert.<br />

Doch sie drückt Überlegenheit auf eine Art aus, die degradierend ist.<br />

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Angenommen, ich hätte eine 13-jährige Tochter, die in hautengen<br />

Hüftjeans, bei denen hinten der String herausragt, und einem Träger-<br />

Top in die Schule will. Ich sage: «So gehst du mir nicht auf die Strasse.»<br />

Sie entgegnet: «Alle meine Freundinnen sind so gekleidet.» Soll ich<br />

nachgeben, damit sie kleidungsmässig keine Aussenseiterin ist?<br />

Zum einen: Das Argument «Alle machen es so», gehört zur normalen<br />

Durchsetzungsrhetorik, ist weit verbreitet. Auch in der Wissenschaft. Hier heisst<br />

es: Es ist erwiesen, dass es so ist, alle wissen das. Um eine Position zu<br />

untermauern, zitieren wir unsere Peergroup. Aber die sexualisierte Kleidung ist<br />

effektiv ein grosses Thema. In einem bestimmten Alter wollen die Mädchen<br />

testen, wie sie auf die Umgebung wirken, was ihr Aussehen auslöst. Für Eltern ist<br />

das schwierig. Sie müssen der Tochter natürlich sagen: «So gehst du nicht nach<br />

draussen.» Dadurch werden sie in den Augen der Tochter bünzlig und engstirnig.<br />

Diese Reaktion ist nicht zu verhindern. Ein Problem ist, dass Verbote oft<br />

wirkungslos bleiben, weil die Mädchen sich vor dem Schulbesuch heimlich wieder<br />

umziehen.<br />

Merken die Mädchen, was sie bei manchen Männern mit ihrer Kleidung<br />

auslösen, oder sind sie noch so unschuldig, dass sie gar nicht an solche<br />

Dinge denken?<br />

Das ist unterschiedlich. Viele sind recht naiv, oft noch selbstzentriert. Sie<br />

denken, was ich anziehe, ist privat. Den Effekt ihrer Aufmachung sehen sie nicht.<br />

Das andere Problem ist: In den Augen vieler Jugendlicher kommen die<br />

Erwachsenen sowieso nicht draus. Und noch etwas kommt hinzu: Das<br />

Registriert-Werden, das Gesehen-Werden, ist wichtig in dem Alter. Jungen<br />

machen es über Monturen, Kappen und Bewegungen, Mädchen mit sexy<br />

Kleidung.<br />

Weshalb ist das wichtig?<br />

Jede Generation inszeniert ihren eigenen Auftritt, sucht ihren Mythos. Es gibt<br />

keine Generation, die schön alles von den Erwachsenen übernimmt. Die Jugend<br />

will ihre eigene Performance.<br />

Wenn die Mutter Feministin ist und es schlecht findet, wenn Frauen<br />

ihren Körper zu stark zur Schau stellen, wird dann die Tochter ihre<br />

Weiblichkeit umso mehr betonen?<br />

Jugendliche machen oft extra das Gegenteil von dem, was die Eltern wollen. Eine<br />

sexy Kleidung wird bei einer feministischen Mutter zu einer Möglichkeit, sich<br />

abzugrenzen. Die Empörung der Eltern stärkt das Gefühl der Selbständigkeit.<br />

Manchmal sind die Hosen so tief geschnitten, dass man die Schamhaare sieht.<br />

Da bin selbst ich schockiert.<br />

Zu meiner Zeit reichte es, mit Arafat-Tüchern um den Hals, weiten<br />

Hemden und zerschlissenen Jeans herumzulaufen, und die Eltern liefen<br />

Amok.<br />

Damals gab es mehr Konventionen, die Abgrenzung war leichter. An englischen<br />

Schulen genügte es, die Krawatte der Schuluniform leicht zu verschieben, und<br />

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schon galt man als Rebell. Heute sind die Konventionen stark gelockert. Die<br />

Kleidung ist individualisiert. Jugendliche müssen stärkere Signale senden, um<br />

registriert zu werden. Wichtig ist auch, dass die Jugendlichen die Emotionen der<br />

Erwachsenen spüren. Auf diese Weise merken sie, dass sie immer noch wichtig<br />

sind für die Eltern. Die Bindung zu den Eltern wird so verstärkt. Gleichgültige<br />

Eltern sind für Jugendliche schlimm.<br />

Nun geben sich ja viele Vierzigjährige wie Teenager: Sie tragen<br />

dieselben Jeans und dieselben Turnschuhe. In einem Interview sagten<br />

Sie, dieser Jugendwahn sei Diebstahl. Wie haben Sie das gemeint?<br />

Das Paradoxe an unserer Gesellschaft ist, dass die Jugend rein von der<br />

Demografie her zurückgeht. Wir leben in einer überalterten Gesellschaft. In<br />

China oder Mexiko, wo mehr als jeder Dritte unter zwanzig ist, da ist die Jugend<br />

omnipräsent. In diesen Ländern erhält das Alter automatisch einen hohen<br />

Stellenwert. Bei uns ist es umgekehrt. Die Jugend wird überhöht, weil wir in<br />

einer gerontologisierten Gesellschaft leben. Die Alten reklamieren Jugendlichkeit<br />

zunehmend für sich. Man sieht das an den gelebten Werten: Alle wollen locker<br />

sein, flexibel und dynamisch. Man sieht das aber auch rein äusserlich: Auch wenn<br />

wir über vierzig sind, wollen wir fit und schlank bleiben. Früher wurde ab einem<br />

bestimmten Alter eine gediegene Korpulenz geachtet, nur die Jungen oder arme<br />

Schlucker waren schlank. Heute wollen wir alle jugendlich sein und quälen uns<br />

dafür in diversen Folterkammern für dieses Ziel ab. Zwangsläufig müssen die<br />

Jugendlichen neue Codes entwickeln, um sich abzugrenzen: extremere Kleidung<br />

oder andere Bewegungsmuster.<br />

Andere Bewegungsmuster?<br />

Unter vielen Jugendlichen ist der Schlurfgang verbreitet. Die Langsamkeit wird<br />

kultiviert. Während der Vierzigjährige im Kapuzenjäckli zackig die Treppe<br />

hochspringt, weil er das Gefühl hat, er müsse seine Vitalität beweisen, schlurfen<br />

Jugendliche wie Neunzigjährige durch die Gegend.<br />

Wenn eine Mutter die gleichen Jeans und die gleichen T-Shirts wie ihre<br />

Tochter trägt, könnte man sagen, das ist doch lässig für das Mädchen,<br />

eine Art Kollegin als Mutter zu haben.<br />

In der Pubertät muss man sich abgrenzen. Mütter zu haben, die das Gleiche<br />

tragen und tun, ist ein Ärger. Jugendliche haben ein Recht, nicht verstanden zu<br />

werden. Eltern müssen sich damit abfinden, dass sie nicht mehr dazugehören.<br />

Das Verhältnis Eltern–Kind hat eine archetypische Qualität. Es ist ungeheuer eng,<br />

aber es hat etwas Archetypisches. Man ist grundsätzlich anders. Eine Mutter ist<br />

immer eine Mutter, ein Vater immer ein Vater.<br />

Sie schreiben ein Buch zum Thema «Buben». Buben sollen in der<br />

Volksschule benachteiligt sein. Ich sehe nicht ein, warum.<br />

Jungen haben in der Schule gemäss diversen Statistiken mehr Probleme als<br />

Mädchen, ihre Schulleistungen sind schlechter, sie treten weniger häufig an die<br />

Mittelschule über. Auch punkto Gewaltanwendung und Schulausschlüssen<br />

dominieren die Jungen.<br />

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Wenn sie stören und sich blöd benehmen, ist das ihr Fehler und nicht<br />

jener der Schule.<br />

Klar, sie stören mehr und treiben Unfug. Doch wir müssen uns auch fragen,<br />

warum. Viele Jungen sind durch die aktuellen schulischen Kommunikations- und<br />

Disziplinierungsmethoden überfordert. Wenn Buben in einer Gruppe<br />

zusammenkommen, muss man anders vorgehen, damit Ruhe einkehrt, als bei<br />

Mädchen. Das sehen wir hier am Institut (siehe auch Box) immer wieder. Bei<br />

Mädchen ist es wichtig, erst Kontakt aufzunehmen, zu reden, sich anzunähern.<br />

Bei Buben geht das nicht. Buben wollen, wenn sie in eine Gruppe kommen,<br />

wissen: Wie sind die Hierarchien, wer hat was zu sagen, wer ist der Stärkste, wer<br />

der Zweitstärkste? Das muss bereinigt werden und führt anfänglich zu intensiven<br />

Provokationen. Erst wenn dies bereinigt ist, kann man mit Jungen arbeiten. Das<br />

Problem ist, dass an den Schulen anders vorgegangen wird. Ein weiteres Problem<br />

ist, dass die Hauptinteressen der Jungen –Autos, Fussball, Gewalt –wenig<br />

schulisch genutzt werden. Früher bestand das Fach Geschichte zum Beispiel<br />

praktisch nur aus Schlachten, was sehr einseitig war. Heute schlägt das Pendel<br />

stark auf die andere Seite aus. Kriege, Kämpfe und Katastrophen, dramatische<br />

Ereignisse generell, interessieren Buben sehr. Doch all dies kommt im Unterricht<br />

kaum mehr vor. Schade, denn es wäre eine Möglichkeit zu erreichen, dass<br />

Jungen lieber lernen.<br />

Das war bei uns in der Schule tatsächlich so: Die Weltkriege faszinierten<br />

die Buben wahnsinnig, uns Mädchen überhaupt nicht.<br />

Mädchen empfinden die Auseinandersetzung mit Gewalt als gestört und unnötig.<br />

Jungen werden hellwach: das Bombardement von Dresden, die Invasion in der<br />

Normandie! Über die Auseinandersetzung mit solch grässlichen Themen lernen<br />

sie sich und die Welt kennen. Heute stehen an der Schule soziale Kompetenzen<br />

im Vordergrund. Das ist natürlich auch wichtig. Doch die Art und Weise, wie<br />

Buben und Mädchen sprechen, ist unterschiedlich. Buben benützen weniger eine<br />

Beziehungssprache als eine Berichtssprache. Beziehungssprache findet auf einer<br />

persönlichen Ebene statt. Buben sprechen lieber in einer nüchternen<br />

Berichtssprache, bei der Fakten im Vordergrund stehen.<br />

Man hört oft, auch Buben müssten lernen, ihre Gefühle auszudrücken.<br />

Natürlich müssen sie das, doch sie drücken ihre Gefühle anders aus. Das tun sie<br />

oft, wenn sie über Sachen reden: Fussball, Technisches. Doch in der Schule<br />

herrscht heute das Dogma, dass auch Jungen lernen müssten, in der<br />

Beziehungssprache auszudrücken: «Du hast mich verletzt.» Jungen reden auf<br />

eine andere Art über Gefühle. Sie erklären einem das beste Automodell, prahlen<br />

oder erzählen Witze. Ich hatte einen Jungen in der Gruppe, der sich nicht<br />

öffnete. Ich sah dann, dass er im Portemonnaie das Foto eines Autos mit sich<br />

trug. Ich fragte ihn: «Was ist das für ein Auto?» So begann er zu sprechen. Wir<br />

unterhielten uns über Autos, nicht über Gefühle.<br />

Jungen aus Ex-Jugoslawien treten oft machohaft auf: mit Gelfrisur,<br />

muskelbetonenden Shirts und einer Sprache, die feminismuserprobten<br />

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Schweizerinnen und Schweizern den Atem stocken lässt: Frauen sind<br />

Schlampen. Das Ganze wirkt auf hiesige Buben cool. Besteht die Gefahr,<br />

dass sie alle zu unverbesserlichen Machos werden?<br />

Das Machohafte erlebt einen generellen Aufschwung, auch bei Schweizer<br />

Jugendlichen. Das grösste Schimpfwort unter Jugendlichen ist ja «Feministin». Es<br />

ist fast schon auf der gleichen Ebene angesiedelt wie «Fascho». Untersuchungen<br />

haben gezeigt: Erzieht man eine Gruppe von Kindern geschlechtsneutral, indem<br />

man sagt, es sind alles Menschen, passiert paradoxerweise das Gegenteil. Sie<br />

werden zu Tussis und Machos. Darum plädiere ich dafür, dass man die<br />

Unterschiede zwischen Mann und Frau nicht verwischt. Wenn wir das tun,<br />

müssen die Kinder das Frau- und Mannsein später karikieren, um eine weibliche<br />

oder männliche Identität zu entwickeln. Indem wir so tun, als gebe es keine<br />

Unterschiede zwischen den Geschlechtern, produzieren wir Tussis und Machos.<br />

Das ist interessant. Bisher dachte ich immer, das archaische Männerbild<br />

gehe vor allem von den Immigranten aus dem Balkan und ihrer Kultur<br />

aus.<br />

Leute aus anderen Kulturen haben oft ein aus unserer Sicht urtümliches<br />

Männerbild. Und diese Männer werden attraktiv, weil es ein Bedürfnis danach<br />

gibt. Was es bei uns braucht, ist ein positives Männerbild, das wir diesem<br />

Machobild entgegensetzen können. Denn in unserer Gesellschaft entwerfen wir<br />

kein spezifisches Bild vom Mann. Wir sagen, es gibt den Menschen. Nur: Das<br />

stimmt nicht.<br />

An Zürcher Schulen wurde ein Projekt «Weder Tussi noch Macho»<br />

durchgeführt. Man versuchte Buben beizubringen, ihre weiblichen Seiten<br />

zuzulassen. Sie sollten lernen, schwach zu sein. Mädchen lernten in<br />

Selbstverteidigungskursen, stark zu sein und dreinzuschlagen, und es<br />

wurde ihnen vermittelt, dass Aussehen nicht alles sei.<br />

Im Rahmen des «doing gender» sollen die geschlechtlichen Stereotypien<br />

dekonstruiert werden. Es gibt viele geschlechtliche Vorurteile, die problematisch<br />

sind. Auch Knaben können zum Beispiel schwach sein. Wenn nun aber die<br />

psychologischen Geschlechtsunterschiede ausschliesslich als durch die<br />

Gesellschaft gemacht betrachtet werden, ist das ebenso problematisch. Es gibt<br />

nun halt Mädchen und Knaben. Das ist auch nicht schlimm. Wir müssen diese<br />

Unterschiede aufnehmen, zivilisieren und nicht dagegen ankämpfen. Wichtig ist<br />

natürlich die Gleichberechtigung, das Geschlecht darf kein Kriterium sein für<br />

soziale Positionen.<br />

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