ThyssenKrupp magazin - Umwelt - ThyssenKrupp Elevator (CENE)
ThyssenKrupp magazin - Umwelt - ThyssenKrupp Elevator (CENE)
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<strong>magazin</strong><br />
TK<br />
<strong>Umwelt</strong>
Auf dünnem Eis<br />
Natürliche und soziale <strong>Umwelt</strong> im Wandel<br />
Die Kultur der Inuit ist tief in der<br />
Arktis verwurzelt, in der sie seit<br />
rund vier Jahrtausenden leben.<br />
Nur wer die Gesetze der Natur<br />
achtet und über eine außergewöhnliche<br />
Anpassungsfähigkeit<br />
verfügt, kann im rauen Klima<br />
Alaskas, Nordkanadas, Sibiriens<br />
und Grönlands so lange überleben.<br />
Die „westliche“ Zivilisation<br />
mit ihren modernen Technologien<br />
hat enorme Auswirkungen<br />
auf das traditionell familien- und<br />
gruppenorientierte Sozialgefüge<br />
der Inuit. Zwar lassen die neuen<br />
Technologien das unwirtliche<br />
Klima wesentlich besser ertragen,<br />
aber zugleich verändern sie<br />
den Alltag dramatisch. Trotzdem<br />
ist das Selbstverständnis der<br />
Inuit noch immer vom Wunsch<br />
nach Harmonie zwischen<br />
Mensch und Natur geprägt.<br />
Doch nun bringt die globale Erwärmung<br />
das arktische Eis zum<br />
Schmelzen. Menschen und Tiere<br />
müssen sich den veränderten<br />
Bedingungen anpassen. Für die<br />
Inuit bedeutet Klimawandel nicht<br />
nur, dass die Jagd schwieriger<br />
wird. Wilde Tiere ändern ihre<br />
gewohnten Routen oder sind so<br />
selten geworden, dass die Jäger<br />
Entfernungen von bis zu 300<br />
Kilometern in Kauf nehmen müssen.<br />
Menschen verlaufen sich in<br />
der Einöde, weil sie sich nicht<br />
mehr an den gewohnten<br />
Schneewehen orientieren können.<br />
Das bisher bei hartem und<br />
festem Schnee in einer Stunde<br />
gebaute Iglu kann immer seltener<br />
unterwegs schnell als Unterkunft<br />
errichtet werden. Und<br />
mancherorts benötigt man zum<br />
Konservieren der Nahrung sogar<br />
schon Kühlschränke im einst<br />
„ewigen Eis“. 7
»Der Mensch braucht Punkte, an denen er Anker werfen kann.<br />
Das Bedürfnis nach Orientierung steigt, je beweglicher und<br />
unüberschaubarer die Lebensverhältnisse werden.«<br />
Prof. Karl Schlögel, Historiker und Publizist
»Es macht die Wüste schön, dass sie irgendwo einen Brunnen birgt.«<br />
Antoine de Saint Exupéry
Es ist ein alter Menschheitstraum,<br />
der sich hier erfüllt<br />
hat: die blühende Wüste.<br />
Das Wadi as-Sirhan in<br />
Saudi-Arabien bot den<br />
Bewohnern der Stadt Tubarjal<br />
(unten links zu erkennen)<br />
noch Mitte der achtziger<br />
Jahre nur wenige Möglichkeiten,<br />
Feldfrüchte anzubauen.<br />
Dann begann ein großes<br />
Bewässerungsprojekt, bei<br />
dem Grundwasser heraufgepumpt<br />
wurde; mittels<br />
Drehbewässerung entstanden<br />
die ersten kreisrunden<br />
Felder. Mit ihrem frischen<br />
Grün bieten sie dem Auge<br />
des Satelliten einen künstlich<br />
wirkenden Kontrast zu<br />
ihrer Umgebung.
»Der Wandel unserer natürlichen und sozialen <strong>Umwelt</strong><br />
verlangt uns ein hohes Maß an Voraussicht, Anpassungsbereitschaft<br />
und Kreativität ab.«
editorial<br />
9<br />
Nie zuvor hat sich die <strong>Umwelt</strong> des Menschen, hat der Mensch seine <strong>Umwelt</strong> so<br />
einschneidend verändert wie in den vergangenen 150 Jahren. Nie zuvor aber wussten wir auch<br />
so viel über unsere <strong>Umwelt</strong>: Von der Eroberung der Pole und der Erforschung der Tiefseegräben<br />
über die Entdeckung der DNA bis zu den ersten Schritten auf dem Mond – die Leistungen großer<br />
Forscher und Entdecker haben unsere Vorstellungen von dem, was „unmöglich“ ist, grundlegend<br />
verändert.<br />
Daraus können wir Zuversicht für die Herausforderungen gewinnen, vor denen wir jetzt,<br />
Anfang des 21. Jahrhunderts, stehen. Zwar ist unser Drang, Neues zu erforschen, heute nicht<br />
weniger wichtig als früher. Aber es geht zunehmend auch darum, unseren Planeten vor von<br />
Menschen verursachten Bedrohungen zu beschützen und einschneidende soziale Veränderungsprozesse<br />
nachhaltig zu bewältigen. Ressourcenknappheit und Klimawandel auf der einen,<br />
Bevölkerungswachstum, gesellschaftliche<br />
Alterungsprozesse, Pluralismus der<br />
Werte und Normen sowie die Auflösung<br />
traditioneller sozialer Beziehungsgefüge<br />
auf der anderen Seite – der Wandel unserer natürlichen und sozialen <strong>Umwelt</strong> verlangt uns ein<br />
hohes Maß an Voraussicht, Anpassungsbereitschaft und Kreativität ab.<br />
Als globaler Technologiekonzern mit rund 190.000 Mitarbeitern sieht sich <strong>ThyssenKrupp</strong> hier<br />
in der Pflicht. Wir sind entschlossen, an der Gestaltung eines nachhaltigen Lebensumfelds für die<br />
heutige und kommende Generationen mitzuwirken – in allen hierfür wichtigen Dimensionen.<br />
Wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt tragen ebenso wie <strong>Umwelt</strong>schutz zur Verbesserung<br />
der Lebensqualität bei. Neue umweltfreundliche Technologien stärken die Wettbewerbsfähigkeit<br />
unserer Wirtschaft, sichern Arbeitsplätze und die Finanzierung des sozialen Fortschritts. Und die<br />
vielversprechendsten Ideen entstehen in einem Umfeld, das jedem Einzelnen Wertschätzung<br />
entgegenbringt und Vielfalt nicht nur zulässt, sondern fördert. Am ehesten werden wir die großen<br />
globalen Herausforderungen meistern, wenn wir bereit sind, mit- und voneinander zu lernen.<br />
Indem wir innovative, technisch sinnvolle Produkte und Lösungen entwickeln, tragen wir zu einer<br />
auch ökologisch verantwortungsbewussten Gestaltung der Zukunft bei.<br />
„Optimismus ist Pflicht“, sagte der Philosoph Karl Popper. Tatsächlich werden wir die Herausforderungen<br />
der Zukunft nur dann meistern, wenn wir sie mit Zuversicht und Mut zu ungewöhnlichen<br />
Ideen angehen – wenn wir „Gestaltung“ an Stelle von „Reparatur“ setzen. In diesem Sinne<br />
sieht <strong>ThyssenKrupp</strong> sich seiner <strong>Umwelt</strong> verpflichtet – dem Einzelnen genauso wie der Welt, in<br />
der wir leben. In der Zuversicht, dass Menschen mit ihren Herausforderungen wachsen. Und mit<br />
dem Optimismus, dass, in Jules Vernes Worten, „das Unmögliche noch zu erreichen bleibt.“<br />
Zur Zuversicht verpflichtet<br />
Dr.-Ing. Ekkehard D. Schulz,<br />
Vorsitzender des Vorstands der <strong>ThyssenKrupp</strong> AG<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
inhalt<br />
TK Magazin | 1 | 2008<br />
<strong>Umwelt</strong><br />
ansichten<br />
28 Was bedeutet <strong>Umwelt</strong> für Sie?<br />
Ansichten von Ernst-Ulrich v. Weizsäcker und Wangari Maathai<br />
26 wissens_wert<br />
48 projekte_aktuell<br />
93 rätselseite<br />
98 rückblick<br />
forum<br />
40<br />
Ein guter Fang: Brasilianische Fischer profitieren von der<br />
Altlastenbeseitigung beim Stahlwerkbau.<br />
12 Von Klimawandel und Bewusstseinsveränderung<br />
Ein Gespräch mit Prof. Dr. Mojib Latif vom Leibniz-Institut<br />
für Meereswissenschaften in Kiel<br />
20 Auf die Balance kommt es an<br />
Vom richtigen Umgang mit den Widrigkeiten unserer <strong>Umwelt</strong><br />
24 Welt in Zahlen<br />
Wo sind Menschen glücklich?<br />
26<br />
Gold trägt einen schweren ökologischen Rucksack.<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
32<br />
CO 2: Algen sind einer der Hoffnungsträger<br />
im Kampf gegen Treibhausgasemissionen.<br />
76<br />
Schutz vor Naturkatastrophen:<br />
eine Frage der Anpassung<br />
52<br />
Windkraft:<br />
Technik mit Hebelwirkung<br />
70<br />
Der Mensch und die Naturgewalten:<br />
eine ambivalente Beziehung<br />
projekte<br />
32 Grüne Welle<br />
Wohin mit dem CO2?<br />
36 <strong>Umwelt</strong>freundlicher Wissenstransfer<br />
In Thailand wird aus Palmöl Biodiesel gemacht<br />
40 Nachhaltig investieren<br />
Beim Stahlwerkbau in Brasilien reden Anwohner und Natur mit<br />
44 Die Kulturdolmetscher<br />
Vom Umgang mit Unterschieden in einem zunehmend vielfältigen<br />
Arbeitsumfeld<br />
52 Windkraft<br />
Große Kräfte leicht übertragen<br />
54 Mobilität<br />
Respektvolle Annäherungen an eine mittelalterliche Stadt<br />
perspektiven<br />
56 Neue alte Welt<br />
Wie der demographische Wandel unsere Lebenswelt verändert<br />
62 Unter einem Dach<br />
Mehrgenerationenhäuser setzen auf Austausch<br />
70 Naturgewalten<br />
Angebetet, gefürchtet, zunutze gemacht – aber nie gezähmt<br />
76 Mit der Gefahr leben lernen<br />
Anpassungsstrategien für das Zeitalter der zunehmenden<br />
Naturkatastrophen<br />
82 Wandelbare Welt<br />
Menschen- und naturgemachter Wandel aus der Vogelperspektive<br />
88 Wenn die Seele SOS funkt<br />
Burnout – Symptom der Hochleistungsgesellschaft<br />
94 Planet der Nomaden<br />
Prof. Karl Schlögel über die bewegte Menschheit<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
forum_gespräch<br />
12<br />
»WIR RISKIEREN,<br />
DEN BEREICH ZU VERLASSEN,<br />
IN DEM ES UNS GUTGING«<br />
Ein Gespräch zu den Herausforderungen des Klimawandels mit<br />
Prof. Dr. Mojib Latif, Professor am Leibniz-Institut für Meereswissenschaften<br />
an der Universität Kiel<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar<br />
13
forum_gespräch<br />
14<br />
»Theoretisch ist es denkbar,<br />
die Weltwirtschaft<br />
innerhalb einiger Jahrzehnte<br />
komplett auf erneuerbare Energie<br />
umzustellen.«<br />
Mojib Latif<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar<br />
15
forum_gespräch<br />
16<br />
Der Klimawandel war die gesellschaftliche Debatte des<br />
Jahres 2007. Wie bewerten Sie die Art und Weise, wie<br />
diese Debatte in der Öffentlichkeit geführt wurde und<br />
wird? Halten Sie es für problematisch, dass die komplexen<br />
Forschungsergebnisse zum Klimawandel in den Medien<br />
oft wenig differenziert dargestellt werden?<br />
Mojib Latif: Das ist in einer Mediengesellschaft einfach so.<br />
Ganz egal, um welches Thema es geht, es gibt immer das<br />
komplette Spektrum an Meinungen. An einem Tag lesen Sie,<br />
der Klimawandel sei das größte Problem aller Zeiten, am<br />
nächsten, dass alles natürlichen Ursprungs sei und wir uns<br />
keine Sorgen machen müssten. Das verwirrt und verunsichert.<br />
Deshalb ist es wichtig, dass es Foren gibt, in denen<br />
diese Dinge deutlich dargestellt werden, damit die Menschen<br />
das Problem wirklich verstehen. Schließlich würde auch niemand<br />
verstehen, warum ein Auto fährt, wenn Sie jedes Detail,<br />
jede Schraube erklären – und dann vielleicht auch noch<br />
falsch. Sie müssen sich auf die wesentlichen Teile konzentrieren:<br />
den Motor, die Reifen, die Karosserie. Bei wissenschaftlichen<br />
Modellen ist das ähnlich. Wenn es um die Diskussion der<br />
Güte der Modelle geht, wird jeder Kratzer zum Anlass genommen<br />
zu sagen, das Auto könne doch gar nicht fahren, weil es<br />
einen Kratzer hat. Sicher ist kein Modell perfekt, aber für die<br />
Prognose der großräumigen, langfristigen Klimaentwicklung<br />
ist das völlig irrelevant.<br />
Die Debatte über den Klimawandel und der Nobelpreis für<br />
die Klimaschützer haben das Bewusstsein der Menschen<br />
für diese Problematik gestärkt. Aber bringt das auch wirklich<br />
etwas?<br />
Eine Bewusstseinsänderung führt nicht notwendigerweise zu<br />
einer Verhaltensänderung. Im Prinzip versagen hier alle<br />
Ebenen: die Weltpolitik, die Wirtschaft und jeder Einzelne. Im<br />
Moment versucht jeder, sich in einem guten Licht darzustellen,<br />
indem er sich des Themas annimmt. Ich nenne das gefühlten<br />
Klimaschutz. So hat man subjektiv immer den Eindruck, dass<br />
wir Deutschen die großen Vorbilder sind. Anhand der Zahlen<br />
lässt sich das aber nicht belegen. Ein Beispiel: Beim Ausstoß<br />
an CO2 ist ein Deutscher mit ungefähr 11 Tonnen pro Kopf und<br />
Jahr dabei, ein Chinese mit 3,5 Tonnen und ein Inder<br />
mit 1 Tonne – ein US-Amerikaner zugegebenermaßen mit<br />
20 Tonnen. Die jüngst von Bundeskanzlerin Merkel geforderte<br />
„carbon justice“ fordern wir schon lange. Wenn alle Menschen<br />
das gleiche Recht haben sollen, CO2 auszustoßen und wir eine<br />
einigermaßen weiche Landung hinlegen wollen, müssen wir<br />
uns irgendwo treffen, vielleicht bei 2 Tonnen pro Kopf – was<br />
einer Reduktion um den Faktor 5 gegenüber dem derzeitigen<br />
Wert von gut 10 Tonnen entspräche.<br />
Was entgegnen Sie denen, die darauf hinweisen, Klimawandel<br />
habe es in der Geschichte der Erde und auch der<br />
Menschheit immer wieder gegeben, mit den positivsten<br />
Auswirkungen für Mensch und Tier in warmen Phasen?<br />
Das stimmt natürlich bis zu einem gewissen Grad. Es gibt aber<br />
zwei große Unterschiede zur Vergangenheit. Der erste ist die<br />
Geschwindigkeit der Veränderung. Von der letzten Eiszeit bis<br />
heute hat sich die Temperatur im globalen Mittel um etwa 4 bis<br />
5 Grad verändert – über 20.000 Jahre hinweg. Wir reden jetzt<br />
über 4 bis 5 Grad in 100 Jahren, also eine gigantisch andere<br />
Dimension. Wenn die Änderung so schnell erfolgt, können<br />
sich die Ökosysteme nicht mehr so gut anpassen. Der zweite<br />
Unterschied ist das absolute Niveau der Veränderung.<br />
Während der letzten großen Warmzeit vor 125.000 Jahren war<br />
es durchschnittlich ungefähr ein halbes Grad wärmer als<br />
heute. Damals lag die Temperatur ungefähr bei 16 Grad. Jetzt<br />
reden wir vom Szenario einer Erdmitteltemperatur von<br />
20 Grad, also noch mal 4 Grad über dieser sehr starken Warmphase.<br />
Damit wäre nicht nur die Geschwindigkeit, sondern<br />
auch das absolute Niveau der Temperatur einmalig. Klar ging<br />
es uns gut in Warmphasen – einer der Gründe, warum wir<br />
Menschen uns in den vergangenen Jahrtausenden so wunderbar<br />
entwickeln konnten, ist die Tatsache, dass es warm<br />
war und das Klima praktisch nicht geschwankt hat. In den<br />
100.000 Jahren zuvor fuhr das Klima auf niedrigem Niveau<br />
Der Klimaexperte<br />
warnt vor der<br />
trügerischen Sicherheit<br />
des „gefühlten<br />
Klimaschutzes“.<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
17<br />
»Eine Bewusstseinsänderung führt nicht<br />
notwendigerweise zu einer Verhaltensänderung.«<br />
Achterbahn. Wenn es jetzt in kurzer Zeit zu dieser massiven Erwärmung<br />
käme, würden wir genau diesen Bereich verlassen,<br />
in dem es uns gutgegangen ist.<br />
Ist es den Menschen nicht immer gelungen, auf Klimaherausforderungen,<br />
von denen sie vorher nichts geahnt<br />
haben, Antworten zu finden? Der Mensch hat Kühlschrank<br />
und Klimaanlage erfunden – sollte ihm da nicht auch noch<br />
etwas zur globalen Erwärmung einfallen?<br />
Ich glaube, es geht nicht so sehr um die Anpassungsfähigkeit<br />
des Menschen wie darum, dass wir nicht nachhaltig auf<br />
diesem Planeten leben. Der Klimawandel ist ja nur eines von<br />
vielen Problemen. Wir verbrauchen die natürlichen Ressour- 3<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
forum_gespräch<br />
18<br />
3 cen, die uns die Erde zur Verfügung stellt – ob das nun die fossilen<br />
Brennstoffe sind, Fische, Wälder, Böden oder Wasser –,<br />
in einem Maße, das nicht haltbar ist. Eigentlich bräuchten wir<br />
bei unserem Ressourcenverbrauch zwei Planeten Erde. Ich<br />
glaube, vielen ist viel zu wenig bewusst, dass wir den Ast<br />
absägen, auf dem wir sitzen. Letztlich geht es darum, dass wir<br />
die Lebensgrundlagen für alle Organismen auf diesem Planeten<br />
verändern. Wir dürfen das nicht immer so sehr auf uns<br />
projizieren und uns fragen, ob wir damit fertig werden, ob wir<br />
Deiche bauen können und so weiter. Das ist eigentlich nicht<br />
die wichtigste Frage.<br />
Die für eine Reduzierung des Treibhausgasausstoßes<br />
nötigen Technologien stehen ja bereits zur Verfügung und<br />
sind auch erprobt. Warum hapert es mit der Umsetzung?<br />
Als Wissenschaftler sage ich immer, das Klimaproblem wäre<br />
ganz einfach zu lösen, indem wir den Ausstoß an Treibhausgasen<br />
bis 2100 um 80 Prozent reduzierten. Theoretisch ist es<br />
denkbar, die Weltwirtschaft innerhalb einiger Jahrzehnte komplett<br />
auf erneuerbare Energie umzustellen. Die Umsetzung ist<br />
allerdings Aufgabe der Politik in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft.<br />
Tatsächlich haben wir gar kein Energieproblem. Wir<br />
haben Energie im Überfluss. Nehmen Sie beispielsweise die<br />
Sonnenenergie: Sie müssen nur die Energie nutzen, die in der<br />
Sahara auf eine Fläche der Größe Niedersachsens – das heißt<br />
200 Kilometer mal 200 Kilometer – fällt, um den Weltenergiebedarf<br />
zu decken. Und wir haben ja nicht nur die Sonne. Wir<br />
haben Wind, Wasser, Geothermie, Gezeiten und alles mögliche<br />
andere. Wenn sich alle Länder einig wären, das Problem<br />
anzupacken, wäre es in einigen Jahrzehnten verschwunden.<br />
Selbst mit heutiger Technik wäre das möglich.<br />
Für wie realistisch halten Sie einen solchen internationalen<br />
Schulterschluss?<br />
Ich glaube, bei der Energie wird es nur über den Preis funktionieren.<br />
Da die Energiepreise steigen, werden die alternativen<br />
Techniken immer wettbewerbsfähiger. Spätestens wenn die<br />
Nachfrage nach Öl die Fördermenge überschreitet, werden die<br />
Preise explodieren. Letztlich – in vielleicht zehn oder 20 Jahren<br />
– wird dieser ökonomische Druck uns zwingen, diese<br />
erneuerbaren Energien weiterzuentwickeln und auch stärker in<br />
den Markt einzuführen. Die Politiker und auch die Großindustrie<br />
haben das inzwischen wirklich als ökonomische Notwendigkeit<br />
erkannt. Auf dem Nobelpreisträgertreffen vor einigen<br />
Wochen sagte Frau Merkel: „Wir haben immer die falsche<br />
Frage gestellt. Wir haben immer gefragt, was kostet es uns<br />
eigentlich, wenn wir etwas tun? Tatsächlich sollten wir fragen,<br />
was es uns kostet, wenn wir nichts tun.“ Seit Niklas Stern<br />
seine Studie vorgelegt hat, ist diese Frage wohl beantwortet:<br />
Es wird viel teurer, wenn wir nichts tun.<br />
Meinen Sie, dass dieses Umdenken noch rechtzeitig<br />
geschieht?<br />
Das hängt davon ab, wie man „rechtzeitig“ definiert. So ganz<br />
genau lässt sich das Klima nicht vorhersagen. Die Europäische<br />
Union und die Bundesregierung haben das Ziel formuliert,<br />
bis 2100 eine globale Erwärmung um 2 Grad im Vergleich<br />
zur vorindustriellen Zeit nicht zu überschreiten. Vielleicht<br />
liegt die Schwelle, bei der die irreversiblen Abläufe einsetzen,<br />
auch bei 3 Grad. Grönland ist so ein Beispiel. Wird ein<br />
bestimmtes Maß an Erwärmung überschritten, lässt sich das<br />
Abschmelzen der Gletscher Grönlands nicht mehr stoppen.<br />
Dann würde der Meeresspiegel um 7 Meter ansteigen. Ob<br />
das nun bei 2, bei 2,5 oder bei 3 Grad passiert, weiß zwar kein<br />
Mensch. Dass es aber irgendwann passiert, ist sicher. Deshalb<br />
ist es so wichtig, dass alles versucht wird, um die Erwärmung<br />
so gut wie möglich zu begrenzen.<br />
Gibt es beim Klimawandel Gewinner und Verlierer?<br />
Auf den ersten Blick kann es temporär auch Gewinner geben<br />
– zum Beispiel hier an Nord- und Ostsee könnten wir im<br />
Tourismus profitieren. Aber in einer globalisierten Welt ist so<br />
etwas viel zu vordergründig gedacht. Globale Probleme wie<br />
Migrationsströme und politische Destabilisierung wiegen viel<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
19<br />
»Eigentlich bräuchten wir bei unserem Ressourcenverbrauch<br />
zwei Planeten Erde.«<br />
schwerer als die potentiellen Gewinne in einigen Regionen.<br />
Das Problem besteht darin, dass es eine sowohl zeitliche als<br />
auch räumliche Entkopplung von Ursache und Wirkung gibt.<br />
Wenn wir heute etwas tun, spüren wir die Auswirkungen nicht<br />
sofort, weil es einige Jahrzehnte dauert, bis das Klima überhaupt<br />
reagiert. Zugleich sind diejenigen, die seit Jahren die<br />
Treibhausgase in die Atmosphäre entlassen haben, weitaus<br />
weniger von den Folgen betroffen als die Entwicklungsländer.<br />
Das muss zu politischen Spannungen führen.<br />
Ein Patentrezept scheint es nicht zu geben, aber wie kann<br />
man dafür sorgen, dass das Problembewusstsein auch<br />
beim Einzelnen, beim Endverbraucher ankommt?<br />
Ich sehe da zwei wichtige Punkte. Zum einen beobachte ich<br />
einen ganz allgemeinen Werteverlust: Korruption, Doping,<br />
<strong>Umwelt</strong>zerstörung – das gehört alles irgendwie zusammen.<br />
Jeweils geht es darum, dass wir uns auf Kosten anderer<br />
bereichern. Insofern glaube ich, dass wir insgesamt eine<br />
Wertediskussion in unserer Gesellschaft brauchen. Der zweite<br />
Punkt ist, dass Klimaschutz immer mit Verzicht gleichgesetzt<br />
wird. Das stimmt aber einfach nicht. Wir müssen den<br />
Menschen klarmachen, dass es dabei nicht um Verzicht geht,<br />
sondern möglicherweise auch um einen Gewinn an Lebensqualität,<br />
zum Beispiel durch die Entschleunigung unseres<br />
Alltags. 7<br />
DAS INTERVIEW FÜHRTE ANKE BRYSON. FOTOS: OLIVER RÜTHER<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
forum_kommentar<br />
20<br />
AUF DIE BALANCE<br />
KOMMT ES AN<br />
VON PROFESSOR DIETER BRODTMANN<br />
Unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit hängen zu einem wesentlichen Teil davon ab,<br />
in welchem Umfeld wir leben und wie wir auf dieses Umfeld reagieren. Sie sind nicht zuletzt eine<br />
Frage des – seelischen – Gleichgewichts. Entgegen allen Widrigkeiten unserer <strong>Umwelt</strong>.<br />
Anfang der neunziger Jahre stellte die Betriebskrankenkasse<br />
eines großen deutschen metallverarbeitenden Industrieunternehmens<br />
etwas sehr Merkwürdiges fest: Bei ihren<br />
männlichen Mitgliedern zwischen 55 und 57 Jahren stieg<br />
plötzlich die Zahl der Arztbesuche und der Rezepte für<br />
Beruhigungs- und Schlafmittel deutlich an. Ein bisher<br />
unbekanntes Virus? Schwer vorstellbar.<br />
Den Ursachen dieses Phänomens kam man erst auf die Spur, als ein<br />
neues gesundheitswissenschaftliches Konzept in den Blick geriet, das<br />
Konzept der Salutogenese. Dieses Konzept wurde in den siebziger Jahren<br />
von dem Medizinsoziologen Aaron Antonovsky entwickelt und ist<br />
seit 1986 grundlegend für alle Projekte der Weltgesundheitsorganisation<br />
(WHO). Antonovsky hatte Ende der sechziger Jahre in Israel, einem<br />
ausgesprochenen Einwanderungsland, versucht herauszufinden, ob die<br />
ethnische Herkunft eine Rolle dabei spielt, wie Frauen zwischen 47 und<br />
56 Jahren mit den Wechseljahren zurechtkommen. In den dafür entwickelten<br />
Fragebogen hatte er bei den aus Europa stammenden Frauen<br />
auch die Frage eingefügt: Waren Sie in einem Konzentrationslager?<br />
Ein Vergleich dieser Frauen mit der Gruppe der Befragten, denen das KZ<br />
erspart geblieben war, ergab: Nur 29 Prozent der KZ-Überlebenden<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
21<br />
fühlten sich recht gesund, dagegen 51 Prozent der Kontrollgruppe ohne<br />
KZ-Vergangenheit. Wer hätte anderes erwartet?<br />
Eines Nachts kam Antonovsky jedoch eine Idee, die das Nachdenken<br />
über Gesundheit revolutionieren sollte. Er fragte sich: Waren nicht diese<br />
29 Prozent der Frauen, die das KZ überlebt hatten, durch die Hölle gegangen,<br />
dann als „displaced persons“, die niemand aufnehmen wollte,<br />
durch die Welt geirrt, bevor sie schließlich in einem Staat ihre Heimat<br />
fanden, der in der Folge drei Kriege zu bestehen hatte? Was befähigt<br />
Frauen, die dies alles durchgemacht haben, sich in einer der schwierigsten<br />
Lebensphasen einer Frau immer noch gesund zu fühlen? 3<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
forum_kommentar<br />
22<br />
3 Weshalb also bleiben die einen gesund (und zufrieden), und dies trotz<br />
oft stärkster Belastungen, während andere in der gleichen Situation<br />
krank (oder unzufrieden) werden? An die Stelle der Frage nach der<br />
Pathogenese und den dafür verantwortlichen Risikofaktoren – „Was<br />
lässt jemanden krank werden?“ – tritt die Frage nach der Salutogenese<br />
und den dafür vorhandenen Schutzfaktoren: „Was lässt jemanden gesund<br />
bleiben, trotz aller Risikofaktoren, denen er – oft unvermeidlich –<br />
ausgesetzt ist?“<br />
Auf den Sockel kommt es an<br />
Im Grunde ist Gesundheit ein Balanceproblem: Wir müssen versuchen,<br />
im Gleichgewicht zu bleiben gegen alles, was uns aus dem Gleichgewicht<br />
zu bringen droht. Deshalb fühlt sich ein Mensch umso gesünder<br />
und zufriedener, je besser es ihm gelingt, die auf ihn einwirkenden<br />
„Stressoren“ auszubalancieren. Das können Krankheitserreger sein,<br />
Lärm, berufliche Überforderung oder Luftverschmutzung. Aber wir können<br />
uns auch selbst zum Stressor werden, wenn wir uns ständig unter<br />
Druck setzen und überfordern – manche tun aus diesem Grund mehr für<br />
ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden, als selbst die beste Konstitution<br />
auf Dauer aushalten kann.<br />
Ob und wie uns das Ausbalancieren von Belastungen gelingt, hängt<br />
zum einen davon ab, inwieweit wir über Schutzfaktoren verfügen. Dazu<br />
gehören Stressbewältigungsstrategien, ein intaktes Immunsystem,<br />
gesundheitliche Kenntnisse, finanzielle Sicherheit und auch eine günstige<br />
genetische Ausstattung. Nicht für alles hiervon können wir etwas<br />
tun, aber doch für einiges.<br />
Diese Schutzfaktoren – Antonovsky nennt sie „Widerstandsressourcen“<br />
– reichen aber allein nicht aus. Man stelle sich vor, der Mensch stehe<br />
auf der Mitte einer Wippe und versuche trotz allem, was von außen auf<br />
ihn einstürmt, in Balance zu bleiben. Die Geschicklichkeit, die er dafür<br />
benötigt, kann man mit den gesundheitlichen Widerstandsquellen vergleichen.<br />
Noch wichtiger ist allerdings der Sockel, auf dem die Wippe<br />
ruht. Ist dieser sehr schmal, rettet auch die beste Geschicklichkeit nicht<br />
vor dem Absturz. Der Sockel muss also breit und standfest genug sein.<br />
Für das Gesundbleiben und Glücklichwerden reicht aber selbst das noch<br />
nicht aus. Entscheidend ist letztlich, ob ein Mensch überhaupt<br />
bereit ist, seine Widerstandsquellen für das Ausbalancieren von Belastungen<br />
zu mobilisieren. Das ist gar nicht immer selbstverständlich. Aber<br />
das Konzept der Salutogenese hilft uns, es zu verstehen.<br />
Danach hängen Breite und Stabilität dieses Sockels vor allem von zwei<br />
Faktoren ab. Der erste Faktor ist die Überzeugung, ein sinnvolles Leben<br />
zu führen. Der zweite, untrennbar mit dieser Überzeugung verbundene<br />
Faktor ist ein positives Selbstwertgefühl. Werden die Zuversicht in den<br />
Sinn des eigenen Lebens und das Selbstwertgefühl dauerhaft beschädigt,<br />
bricht mit dem Sockel das ganze Balancesystem buchstäblich in<br />
sich zusammen.<br />
»Schutzfaktoren allein reichen nicht aus.«
Der Verlust der Fähigkeit, gesundheitsbedrohende Belastungen auszubalancieren,<br />
kann vor allem durch tiefgreifende soziale Verlusterlebnisse<br />
ausgelöst werden. Zum Beispiel, wenn ein alter Mensch mit dem Tod<br />
des langjährigen Ehepartners die einzigen noch Lebenssinn vermittelnden<br />
sozialen Bezüge verliert. Oder wenn ein Langzeitarbeitsloser immer<br />
wieder Ablehnung erfährt und dadurch in seinem Selbstwertgefühl<br />
zutiefst belastet wird. Umgekehrt heißt das aber auch: Intakte soziale<br />
Beziehungen sind ein Schutzfaktor allerersten Ranges. Wer allein lebt,<br />
lebt gefährlich.<br />
23<br />
Schutzfaktoren im Lebenssinn<br />
Alles, was das Gefühl der Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens, was das<br />
Selbstwertgefühl von Menschen, was ihre soziale Integration und soziale<br />
Anerkennung fördert, dient unmittelbar ihrer Gesundheit und lässt<br />
sich durch Jogging und Vollwertkost, durch Multivitaminkapseln und<br />
auch durch französischen Rotwein nicht ersetzen.<br />
Damit lässt sich auch das anfangs beschriebene Phänomen erklären.<br />
Wissen muss man dazu, dass das erwähnte Industrieunternehmen zur<br />
gleichen Zeit seine Angehörigen drängte, mit 55 Jahren in den vorzeitigen<br />
Ruhestand zu wechseln. Viele nahmen dieses Angebot gern an,<br />
nicht zuletzt aufgrund großzügiger Abfindungen – nicht ahnend, dass<br />
sie mit dem ungeplanten Ruhestand in ein tiefes seelisches „Loch“ fallen<br />
würden. Mit dem Fortfall der Arbeit war ja nicht nur der Verlust des<br />
bisherigen zentralen Lebenssinns verbunden, sondern auch der eines<br />
wichtigen soziales Bezugsfelds. Viele waren nicht darauf vorbereitet, in<br />
ihrer nunmehr „unendlichen“ Freizeit ihrem Leben einen neuen Sinn<br />
geben zu müssen und sich als wertvoll zu erleben. Und es fiel ihnen<br />
schwer, von einem Tag auf den nächsten ein neues soziales Bezugsfeld<br />
aufzubauen. Die Folgen für das gesundheitliche Befinden bekam die<br />
Betriebskrankenkasse zu spüren.<br />
Nach erfolgreicher Ursachenforschung entwickelten Unternehmen und<br />
Betriebskrankenkasse ein Projekt: Ruhestandsvorbereitungskurse, in<br />
denen die angehenden Vorruheständler gemeinsam mit ihrem indirekt<br />
ja ebenfalls betroffenen Lebenspartner in vielfältiger Weise auf die neue<br />
Lebenssituation vorbereitet wurden. Dies zahlte sich nicht nur in größerer<br />
Lebenszufriedenheit der Betroffenen aus, sondern auch für die Krankenkasse.<br />
Univ.-Prof. Dieter Brodtmann<br />
Prof. Dieter Brodtmann ist Erziehungswissenschaftler und<br />
war zuletzt bis zu seiner Emeritierung Lehrstuhlinhaber für<br />
Sportpädagogik im Fachbereich Erziehungswissenschaften<br />
der Universität Hannover. Seit über 20 Jahren ist sein<br />
zentraler Arbeitsschwerpunkt die Übertragung des salutogenetischen<br />
Denkens über Gesundheit auf den Schulsport<br />
und auf den Sport mit älteren Menschen. In diesem Zusammenhang<br />
war er auch als Berater für das Bundesministerium<br />
für Bildung und Wissenschaft, für verschiedene Kultusministerien<br />
sowie im Deutschen Sportbund tätig. 7<br />
Menschen als Menschen stärken<br />
Die zentrale Frage heißt daher auch: Wie können Menschen als Menschen<br />
gestärkt werden – und nicht nur ihre Körper? Angesichts der<br />
wesentlichen Rolle, die die soziale Dimension für Gesundbleiben und<br />
Krankwerden spielt, müssen all jene, die Verantwortung für andere<br />
Menschen tragen – ob in Wirtschaft, Politik, Schule oder andernorts –<br />
sich immer wieder fragen, ob in ihrem Verantwortungsbereich ein Klima<br />
herrscht, das die Erfahrung sozialen Anerkannt- und Integriertseins<br />
vermittelt. Wer anderen Menschen Spielräume für selbstständiges Handeln<br />
in Gruppen einräumt und ihnen Verantwortung zutraut und zumutet,<br />
leistet damit einen oft entscheidenden Beitrag dafür, dass Gesundheit<br />
erhalten bleibt und krankheitsbedingte Fehlzeiten sich deutlich<br />
verringern. 7<br />
ILLUSTRATION: TINA BERNING<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
forum_welt_in_zahlen<br />
24<br />
DER GLÜCKLICHSTE ORT<br />
Die Suche nach Glück gehört wohl zu den angeborenen Eigenschaften der Menschen. Schon Demokrit, Aristoteles und Epikur<br />
machten sich über das höchste für den Menschen erreichbare Gut, die „Eudaimonia“, Gedanken. Glück ist ein subjektives<br />
Gefühl. Dennoch versuchen Wissenschaftler immer wieder, Glück und Zufriedenheit objektiv zu messen und herauszufinden,<br />
in welchem Umfeld Menschen am glücklichsten sind.<br />
Genau darum ging es auch Forschern der britischen University of Leicester: Um eine globale Landkarte des „Bruttosozialglücks“<br />
zu zeichnen, werteten sie 100 Untersuchungen von Institutionen wie der Weltgesundheitsbehörde WHO oder<br />
der UNESCO aus, in denen rund 80.000 Personen befragt worden waren. Das Ergebnis: die „World Map of Happiness“.<br />
Glück ›Geld<br />
Aber Armut kann unglücklich machen: Die drei unglücklichsten Länder in der<br />
Untersuchung sind Burundi, Zimbabwe und Kongo. Als wohlhabende Kleinstaaten<br />
schneiden die Schweiz (2) und Luxemburg (10) sehr gut ab.<br />
Optimismus = Wohlbefinden<br />
Das glücklichste Volk in dieser Studie, die Dänen, schätzt sein eigenes gesundheitliches Wohlbefinden<br />
sehr viel höher ein, als es eine objektive Diagnose erlauben würde. Entsprechend höher fällt hier auch die<br />
Lebenszufriedenheit aus.<br />
glücklich neutral unglücklich<br />
Für alle Karten © Copyright 2006 SASI Group (University of Sheffield) und Mark Newman (University of Michigan). www.worldmapper.org<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
25<br />
DER WELT<br />
Glück ›Sonnenschein<br />
Trotz langer Winter und häufiger Regentage befinden sich vier der Top-10-Länder nördlich des 49. Breitengrades: Dänemark, Island,<br />
Finnland und Schweden. Das einzige Tropenparadies unter den Glücksländern sind die Bahamas. Was die sechs europäischen Länder<br />
unter den ersten 10 (die Schweiz und Österreich gehören auch dazu) gemein haben: Sie sind wohlhabend, haben ein funktionierendes<br />
Gesundheits- und Bildungssystem, eine relativ niedrige Arbeitslosigkeit und eher geringe soziale Unterschiede.<br />
Die Bewohner kleinerer Länder mit<br />
einem höheren sozialen Zusammenhalt<br />
und einem größeren Gefühl der nationalen<br />
Zugehörigkeit schätzen sich<br />
glücklicher ein als die Menschen in den<br />
bevölkerungsreichsten Ländern der<br />
Welt. China erreicht gerade einmal<br />
Platz 82, Indien sogar nur Platz 125,<br />
und Russland liegt abgeschlagen auf<br />
Platz 167. Eine Ausnahme sind die<br />
USA, die es immerhin auf Platz 23<br />
schaffen.<br />
Kleiner = glücklicher<br />
Mittelmaß ≠Unzufriedenheit<br />
In der Studie landen die Deutschen auf Platz 35 von 178 Nationen. Regelmäßige Untersuchungen zur Zufriedenheit<br />
der Bundesbürger mit ihren Wohnorten zeigen, dass die glücklichsten Deutschen am Bodensee, in Stuttgart,<br />
Starnberg und Osnabrück leben. München schneidet hingegen genauso mittelmäßig ab wie Sylt. Zählen Mäßigung<br />
und Überschaubarkeit mehr als Lifestyle?<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
forum_wissens_wert<br />
26<br />
Dänische Wurzeln<br />
Der heute vielbenutzte<br />
Begriff<br />
„<strong>Umwelt</strong>“<br />
wurde vermutlich<br />
von dem<br />
dänischen,<br />
in Hamburg<br />
lebenden<br />
Dichter Jens<br />
Immanuel<br />
Baggesen<br />
(1764-1828)<br />
hergeleitet. Baggesen<br />
suchte eine<br />
deutsche Entsprechung für<br />
das dänische „omverden“, mit der<br />
Bedeutung „umgebendes Land“<br />
oder „umgebende Welt“. Anfang des<br />
20. Jahrhunderts beschrieb der Biologe<br />
Jakob von Uexküll erstmals, wie<br />
der Mensch durch seine Aktivitäten<br />
Einfluss auf die <strong>Umwelt</strong> nimmt und<br />
ihren Einflüssen ausgesetzt ist. Die<br />
Bedeutung des Begriffs „<strong>Umwelt</strong>“ als<br />
Synonym für die durch Einwirkung<br />
des Menschen gefährdete Natur<br />
verbreitete sich mit der beginnenden<br />
<strong>Umwelt</strong>bewegung der frühen siebziger<br />
Jahre. Im Jahr 1978 definierte<br />
der Sachverständigenrat für <strong>Umwelt</strong>fragen<br />
der Bundesregierung „<strong>Umwelt</strong>bewusstsein“<br />
als „Einsichten<br />
in die Gefährdungen der natürlichen<br />
Lebensgrundlagen des Menschen<br />
durch diesen selbst“ und als „Bereitschaft<br />
zur Abhilfe“. 7<br />
Im Jahr 1975 lebten zwei Drittel der<br />
globalen Bevölkerung auf dem Land –<br />
2008 ist die Stadt die natürliche<br />
<strong>Umwelt</strong> für mehr als die Hälfte der<br />
Weltbevölkerung, bis 2030 soll sie das<br />
schon für zwei Drittel sein.<br />
Quelle: United Nations Population Division<br />
Das wahre Gewicht der Dinge<br />
Wie viel wiegt 1 Gramm Gold? Natürlich 1 Gramm. Oder vielleicht doch<br />
540 Kilogramm? So schwer zumindest ist der „ökologische Rucksack“,<br />
den das Edelmetall Gramm für Gramm mit sich herumschleppt.<br />
Berechnet hat das Professor Friedrich Schmidt-Bleek, Präsident<br />
des französischen Factor 10 Institute, mit den sogenannten Material-<br />
Input-Faktoren. Indem er zeigt, was für die Produktion eines Gutes aus<br />
der Natur entnommen und verarbeitet werden musste, macht er die<br />
unsichtbaren ökologischen Folgekosten unseres Wirtschaftens sichtbar.<br />
So kommt der „ökologische Rucksack“ eines durchschnittlichen<br />
Computers aufgrund der vielen darin enthaltenen Edelmetalle auf<br />
14 Tonnen, der einer Jeans auf 30<br />
Kilo, weil für den Anbau von<br />
Baumwolle sehr viel Wasser<br />
benötigt wird. Seine<br />
zum Teil überraschenden<br />
Thesen – so gibt<br />
es viele Produkte, bei<br />
denen die Einweglösung<br />
dem Recycling deutlich<br />
überlegen ist – hat Schmidt-<br />
Bleek in seinem neuen Buch<br />
„Nutzen wir die Erde richtig?“<br />
(Fischer-Verlag 2007) zusammengefasst<br />
und aktualisiert. Wer es gelesen hat, denkt künftig<br />
zweimal darüber nach, ob er eine E-Mail wirklich ausdrucken muss<br />
– schließlich kostet jedes Gramm Papier 15 Gramm Materialinput. 7<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
Erdumrundung mit Sonnenkraft<br />
Mit 14 Jahren zeichnete Louis Palmer seinen Traum auf ein Blatt<br />
Papier, am 3. Juli 2007, etwa 20 Jahre später, ging es los: zur ersten<br />
Erdumrundung im Solarmobil – 50.000 Kilometer und 50 Länder in<br />
15 Monaten. Inzwischen liegen halb Europa, die Arabische Halbinsel<br />
und Teile Asiens hinter dem findigen Schweizer. Mit der UN-Klimakonferenz<br />
in Bali im Dezember 2007 wurde ein wichtiges Etappenziel<br />
erreicht. Gesetzt sind Start und Ziel (Luzern) – die restlichen Reiseetappen<br />
bestimmen die Einladungen von Menschen, die sich weltweit<br />
für den Klimaschutz einsetzen. „Solartaxi“ hat Palmer sein Fahrzeug<br />
genannt, weil Etappenbegleiter auf dieser Reise ausdrücklich erwünscht<br />
sind. Platz genug ist auch – dank eines speziellen Anhängers, auf dem<br />
die Solarzellen angebracht sind. Inklusive Batteriebetrieb kann das<br />
solarbetriebene Elektromobil bis zu 400 Kilometer täglich zurücklegen.<br />
Deutlich schneller unterwegs sein wird das „Solar Impulse“. Die erste<br />
bemannte Weltumrundung im ausschließlich mit Solarenergie angetriebenen<br />
Flugzeug soll im Mai 2011 starten. 7<br />
www.solartaxi.com | www.solarimpulse.com<br />
Weltweit haben sich mehr als 9 Millionen<br />
Menschen in der Internetwelt<br />
„Second Life“ eine virtuelle Existenz<br />
aufgebaut. Allerdings scheinen<br />
sich die wenigsten in dieser vom<br />
Benutzer selbst bestimmten <strong>Umwelt</strong><br />
wohlzufühlen: Die Anzahl der<br />
aktiven Nutzer wird auf lediglich<br />
1 Prozent geschätzt.<br />
Wo andere<br />
hoch hinaus wollten, …<br />
WER WAR’S?<br />
… da konnte es für ihn gar nicht tief genug gehen. Der<br />
Sohn eines Rechtsanwalts begründete die Unterwasserforschungsgruppe<br />
der französischen Marine, stellte<br />
1947 mit 91,5 Metern Tiefe einen Weltrekord im „Freitauchen“<br />
(ohne Atemgerät) auf und entwarf das erste<br />
Presslufttauchgerät, das ungehindertes Tauchen ohne<br />
schweren Anzug ermöglichte. Außerdem konstruierte er<br />
Tauchfahrzeuge und Unterwasserlaboratorien. Populär<br />
wurde er durch die Kombination der Liebe zum Tauchen<br />
mit einer zweiten Leidenschaft, dem Filmen: Seine<br />
Dokumentarfilme waren es, die der Öffentlichkeit die<br />
Vielfalt der Meere, ihren ökologischen Reichtum und<br />
auch ihre Verletzlichkeit vor Augen führten – so trug er<br />
dazu bei, dass der <strong>Umwelt</strong>schutz als eine der zentralen<br />
Herausforderungen unserer Zeit erkannt wurde. Für<br />
seine filmische Arbeit erhielt er einen Oscar und errang<br />
die Goldene Palme in Cannes. Weltberühmt wurde er<br />
durch seine Expeditionen auf dem Forschungsschiff „Calypso“, das<br />
zugleich als schwimmendes Laboratorium diente. Durchschnittlich<br />
vier Monate jedes Jahres verbrachte er auf den Weltmeeren und legte<br />
in 50 Büchern, rund 70 Filmen und Fernsehserien Zeugnis von seiner<br />
Arbeit als Meeresforscher ab. Der Tauchpionier und Unterwasserfilmer<br />
entwickelte sich früh zum streitbaren Anwalt der Meere und gründete<br />
unter seinem Namen eine Gesellschaft, um das Überleben der<br />
Wassersysteme der Erde<br />
zu sichern. Für dieses<br />
Engagement erhielt er als<br />
eine von zahlreichen Auszeichnungen<br />
den <strong>Umwelt</strong>preis<br />
der UNO. Der „Nachfahre<br />
Noahs“, wie ihn<br />
die französische Presse<br />
einmal nannte, stand laut<br />
Umfragen jahrzehntelang<br />
an der Spitze der populärsten<br />
Franzosen. Als ihn<br />
der US-amerikanische<br />
Schauspieler Bill Murray<br />
vor wenigen Jahren<br />
unter dem Namen „Steve<br />
Zissou“ im Film „Die Tiefseetaucher“<br />
karikierte,<br />
trug er eine rote Wollmütze<br />
– denn das war<br />
das Markenzeichen des<br />
Meeresforschers. 7<br />
27<br />
AUFLÖSUNG: SEITE 93<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
ansichten<br />
28<br />
»Die Erde verdient es, dass wir sie als unsere Heimat ansehen.<br />
Die Heimat, das wissen alle Kulturen, zerstört man nicht.«<br />
Prof. Dr. Dr. h.c. Ernst-Ulrich v. Weizsäcker, Dekan der Bren School<br />
of Environmental Science and Management, University of California, Santa Barbara
ansichten<br />
30<br />
»Es werden viele Kriege um die zunehmend knappen Ressourcen geführt.<br />
Wenn wir schonender mit unseren Ressourcen umgingen, müssten wir nicht<br />
um sie kämpfen. Wer die <strong>Umwelt</strong> in ihrer Komplexität versteht, trägt die<br />
Verantwortung zu handeln. Wir dürfen nicht nachlassen, wir dürfen nicht<br />
aufgeben, wir müssen beharrlich bleiben.«<br />
Prof. Wangari Maathai, kenianische <strong>Umwelt</strong>schützerin, Vize-<strong>Umwelt</strong>ministerin und Friedensnobelpreisträgerin
projekte_CO2<br />
32<br />
Algen: Kohlendioxidfresser<br />
und Hoffnungsträger<br />
im Kampf gegen den<br />
Klimawandel
33<br />
GRÜNE<br />
WELLE<br />
Kohlendioxid wird im Zuge der<br />
Klimaschutzdiskussionen gerne als<br />
böser Bube abgestempelt. Mit<br />
zahlreichen Maßnahmen zur Reduzierung<br />
und Speicherung versucht man dem<br />
– in gewissen Mengen lebensnotwendigen –<br />
Treibhausgas zu Leibe zu rücken.<br />
V<br />
äxjö ist kein Ort, der auf Europas Bühne bisher<br />
nachhaltig in Erscheinung getreten ist. Touristisch<br />
hat das 80.000-Einwohner-Städtchen im Süden<br />
Schwedens keine besonderen Highlights vorzuweisen.<br />
Wichtige Konferenzen haben hier ebenso wenig<br />
stattgefunden wie Galaabende oder Preisverleihungen<br />
mit Stars und Prominenten. Selbst der ortsansässige<br />
Fußballklub Östers IF findet sich seit kurzem in der dritten<br />
schwedischen Liga wieder. Kurzum: Växjö scheint auf den ersten<br />
Blick allenfalls ein Kandidat für die Namenspatenschaft bei<br />
der Regalserie eines großen schwedischen Möbelhauses zu<br />
sein.<br />
Doch weit gefehlt: Woche für Woche strömen Delegationen<br />
von Wissenschaftlern, Politikern und Journalisten nach Växjö.<br />
Denn die Stadt hat etwas zu bieten, um das sie ganz Europa<br />
beneidet. Dank eines ausgeklügelten Energieversorgungssystems,<br />
das zu einem Großteil auf der Verbrennung von Biomasse<br />
fußt, produzieren die Einwohner pro Kopf die geringste<br />
Menge an Kohlendioxid (CO2) auf dem gesamten Kontinent –<br />
lediglich 3,5 Tonnen pro Jahr. Zum Vergleich: In Deutschland<br />
liegen die Emissionen im selben Zeitraum bei rund 10 Tonnen<br />
pro Kopf, in den USA sogar bei fast 20 Tonnen.<br />
Die Aufmerksamkeit, die das skandinavische Städtchen<br />
wegen seiner Energiepolitik erfährt, kommt nicht von ungefähr.<br />
Der Umgang mit CO2 ist derzeit das zentrale Thema<br />
sämtlicher Klimaschutzdebatten. Teilweise wird dabei der Eindruck<br />
erweckt, CO2 sei aktuell die größte Geißel der Menschheit.<br />
Überschwemmungen, Wirbelstürme, Trockenperioden –<br />
sämtliche katastrophalen Wettererscheinungen werden mit<br />
dem sogenannten Treibhauseffekt in Verbindung gebracht,<br />
für den zu große Mengen von CO2 in der Luft verantwortlich<br />
gemacht werden.<br />
Gestörter Kreislauf<br />
Der Zusammenhang ist nicht von der Hand zu weisen.<br />
In der Atmosphäre sorgt CO2 zusammen mit<br />
anderen Gasen dafür, dass die von der Erdoberfläche<br />
reflektierte Sonnenstrahlung nicht vollständig in den<br />
Weltraum zurückentweichen kann, sondern zu einem Teil<br />
erneut auf die Erde reflektiert wird. In Maßen ist dieser Treibhauseffekt<br />
durchaus sinnvoll, ermöglicht er doch überhaupt<br />
erst das Leben auf der Erde. Denn ohne die reflektierten Sonnenstrahlen<br />
läge die Durchschnittstemperatur auf unserem<br />
Planeten bei minus 18 und nicht bei plus 15 Grad Celsius.<br />
3<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
projekte_CO2<br />
34<br />
In der Pilotanlage<br />
für ein CO2-freies<br />
Braunkohlekraftwerk<br />
im südbrandenburgischen<br />
Schwarze Pumpe<br />
überprüft ein<br />
Mitarbeiter den<br />
Brennkessel.<br />
3 CO 2 per se zu verteufeln wäre also der falsche Ansatz, zumal<br />
der CO2-Kreislauf zu den wichtigsten in der Natur vorkommenden<br />
Kreisläufen überhaupt zählt. Im Zuge der Photosynthese,<br />
der für das Leben fundamentalen Stoffwechselreaktion,<br />
wandeln Pflanzen das in der Atmosphäre vorkommende<br />
CO 2 mit Hilfe von Licht und Wasser in Sauerstoff und Glucose<br />
um. Erst wenn die Pflanzen verrotten, wird das CO2 wieder in<br />
die Luft abgegeben oder lagert sich in Erdschichten ab. Auf<br />
diese Weise entstehen fossile Brennstoffe wie Kohle, Erdöl<br />
oder Erdgas, die die Menschen seit langer Zeit zur industriellen<br />
Produktion und zum Heizen ihrer Wohnhäuser nutzen.<br />
Aber genau hier liegt auch die Wurzel des Problems: Wenn die<br />
Menschen fossile Brennstoffe für ihre Zwecke einsetzen, werden<br />
CO2-Mengen in die Atmosphäre abgegeben, die das evolutionär<br />
gewachsene System des gegenseitigen Stoffausgleichs<br />
aus dem Gleichgewicht bringen. Die Folgen sind<br />
bekannt: Aufgrund der größeren Menge von CO2 in der Luft erwärmt<br />
sich die Atmosphäre, Pole und Gletscher schmelzen,<br />
der Meeresspiegel steigt an, Naturkatastrophen häufen sich.<br />
Ein unausweichlicher Zielkonflikt<br />
Aktuell liegt der CO2-Anteil in der Luft um etwa ein Drittel<br />
höher als vor der industriellen Revolution vor rund 200 Jahren.<br />
Anlass zur Sorge geben auch Meldungen, dass die Ozeane<br />
als riesige natürliche CO2-Speicher nicht mehr in der Lage<br />
sind, so viel CO2 aufzunehmen, wie es nötig wäre. Britische<br />
Ein Ingenieur der<br />
Brandenburgischen<br />
Technischen<br />
Universität<br />
Cottbus kontrolliert<br />
im Kraftwerk<br />
Jänschwalde ein<br />
Messinstrument<br />
der ersten Oxyfuel-<br />
Testanlage. Hier<br />
wird das anfallende<br />
CO2 nicht in<br />
die Atmosphäre<br />
entlassen, sondern<br />
verflüssigt, um<br />
es dauerhaft speichern<br />
zu können.<br />
Forscher haben festgestellt, dass sich beispielsweise die Aufnahmefähigkeit<br />
des Nordatlantiks seit Mitte der neunziger<br />
Jahre um die Hälfte verringert hat. Große Teile des Treibhausgases<br />
können somit nicht mehr absorbiert werden.<br />
Parallel führt der globale Wettbewerb zwischen den Industrienationen<br />
dazu, dass die Produktionskapazitäten weiter wachsen<br />
und dafür immer größere Mengen Energie benötigt werden.<br />
Ein Zielkonflikt scheint unausweichlich: Einerseits sind<br />
fossile Energieträger in den kommenden Dekaden unverzichtbar<br />
zur wirtschaftlichen Sicherung der Stromversorgung – allein<br />
in Deutschland wird in den nächsten 20 Jahren mit einem<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
Zusatzbedarf von 40.000 Megawatt gerechnet –, andererseits<br />
ist die Nutzung fossiler Energieträger mit den heute verfügbaren<br />
Technologien unter den beschriebenen umweltpolitischen<br />
Gesichtspunkten höchst brisant. Fest steht, dass die fossilen<br />
Energien weiterhin eine tragende Rolle spielen werden, da<br />
selbst ein zügiger Ausbau der Nutzung von Biomasse und erneuerbarer<br />
Energien aus Sonne, Wind und Wasser den Bedarf<br />
nicht alleine decken kann.<br />
Wie aber lässt sich das Problem entschärfen? „Eine Möglichkeit<br />
ist der umweltfreundliche, möglichst emissionsarme Betrieb<br />
fossil befeuerter Kraftwerke. Die entsprechenden Technologien<br />
hierfür bereitzustellen zählt zu den bedeutendsten<br />
Entwicklungsaufgaben der heutigen Zeit“, sagt Dr. Bodo Gehrmann,<br />
Projektleiter im Bereich Forschung und Entwicklung bei<br />
der <strong>ThyssenKrupp</strong> VDM GmbH. Gemeinsam mit weiteren<br />
Fachleuten aus Industrie und Wissenschaft beteiligt sich das<br />
Unternehmen an der COORETEC-Initiative des Bundesministeriums<br />
für Wirtschaft und Technologie. COORETEC (CO2 Reduction<br />
Technologies) verfolgt mehrere Ansätze, um des Problems<br />
des übermäßigen CO2-Ausstoßes Herr zu werden.<br />
Unter anderem geht es um die gezielte Abtrennung von CO2 im<br />
Energieerzeugungsprozess und die anschließende Speicherung<br />
(Sequestrierung) des Treibhausgases, beispielsweise in<br />
Öl- und Gasfeldern, Kohleflözen oder in der Tiefsee. Mit dieser<br />
Thematik beschäftigt sich auch das EU-Projekt „CO2SINK“ im<br />
brandenburgischen Ketzin, wo in den nächsten Jahren versuchsweise<br />
60.000 Tonnen CO2 in 600 bis 800 Meter tief liegende<br />
saline Aquiferen (wasserleitende Gesteinsschichten mit<br />
hohem Salzgehalt) gepumpt werden. Darüberliegende Tonschichten<br />
sollen den unterirdischen Speicher dicht- und CO2<br />
von der Atmosphäre fernhalten.<br />
Auf der Suche nach der besten Lösung<br />
COORETEC rückt aber noch eine zweite Frage in den Mittelpunkt:<br />
Wie lässt sich bei der Energieerzeugung in fossilen<br />
Kraftwerken durch den Einsatz neuer Werkstoffe die Effizienz<br />
steigern, so dass weniger CO2 in die Atmosphäre abgegeben<br />
wird? „Ziel ist es, den Wirkungsgrad der Kraftwerke von knapp<br />
40 auf über 50 Prozent zu steigern“, sagt Gehrmann. Dafür<br />
müsste die Dampftemperatur von 600 Grad auf 700 Grad erhöht<br />
werden können. <strong>ThyssenKrupp</strong> VDM hat Werkstoffe im<br />
Herstellungsprogramm, welche die nötige Warmfestigkeit für<br />
den Einsatz bei der erhöhten Temperatur aufweisen: so zum<br />
Beispiel die Nickellegierungen Nicrofer 5120CoTi und Nicrofer<br />
5520Co sowie die modifizierte Weiterentwicklung Nicrofer<br />
5520CoB. „Bei der Herstellung der Stoffe stand im Mittelpunkt,<br />
dass sie den Temperaturen standhalten, gut verarbeitet<br />
werden können, schweißbar sind und gleichzeitig eine<br />
hohe Oxidations- und Korrosionsbeständigkeit aufweisen“,<br />
erklärt Gehrmann.<br />
Wann das erste fossile Kraftwerk mit der erhöhten Kesseltemperatur<br />
die Arbeit aufnehmen kann, ist noch offen. Allzu lange<br />
Einrichtung des Bohrkopfes über dem Bohrloch für den unterirdischen<br />
CO 2-Testspeicher des GeoForschungsZentrums Potsdam in Ketzin<br />
(Havelland)<br />
wird es nicht mehr dauern – da ist Gehrmann sicher. „Anfang<br />
des nächsten Jahrzehnts wird es so weit sein, die Vorbereitungen<br />
laufen auf Hochtouren. In Kooperation mit den Kraftwerksbetreibern,<br />
Kesselbauern, Komponenten- und Rohrherstellern<br />
tragen wir als Werkstoffentwickler unseren Teil dazu<br />
bei, dass die Kessel mit 700 Grad befeuert werden können“,<br />
sagt Dr. Jutta Klöwer, Leiterin der Forschung und Entwicklung<br />
von <strong>ThyssenKrupp</strong> VDM. Und wer weiß, vielleicht strömen die<br />
Delegationen von Politikern, Wissenschaftlern und Journalisten<br />
dann künftig nicht nur nach Växjö, sondern auch an den<br />
Standort, an dem das erste 700-Grad-Kraftwerk seine Arbeit<br />
aufnimmt. 7<br />
TEXT: JAN VOOSEN<br />
Grüne Helfer<br />
Aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten als natürliche<br />
Kohlendioxidfresser sind Algen ebenfalls ein<br />
interessanter Kandidat in Klimaschutzüberlegungen.<br />
Eine Idee, die von internationalen Forschern derzeit<br />
verfolgt wird, ist die Züchtung von Algen dort,<br />
wo zu viel CO2 produziert wird: neben Kraftwerken.<br />
Die Abgase werden durch einen Bioreaktor mit<br />
Algen geleitet, die das Kohlendioxid binden,<br />
dadurch Biomasse aufbauen und sich vermehren.<br />
Dabei fällt noch ein wirtschaftlicher Nutzeffekt ab:<br />
Die Algen lassen sich nämlich, nachdem sie das<br />
CO 2 gebunden haben, zu Fischfutter, Baustoffen<br />
oder gar Biodiesel weiterverarbeiten. Bis zu einem<br />
möglichen großtechnischen<br />
Einsatz ist allerdings noch ein<br />
weiter Weg zurückzulegen. 7<br />
35<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
projekte_thailand<br />
36<br />
DIESEL<br />
UNTER PALMEN<br />
Wenn Know-how um die Welt reist, gibt es so<br />
manch interessante Begegnung mit lokalen<br />
Ressourcen. In Thailand traf westliche Technologie<br />
auf natives Palmöl – mit der zusätzlich<br />
positiven Wirkung, dass bei der Gewinnung von<br />
Biodiesel alle Substanzen aus der Produktion<br />
verwertet werden können.<br />
Die Ernte ist Knochenarbeit. Hoch oben unter den Blättern<br />
der Ölpalme hängen die Früchte in dicken, kürbisgroßen<br />
Bündeln. Der Arbeiter reckt sich, hebt<br />
eine lange, dünne Metalllanze bis in die Baumspitze.<br />
Schweiß tropft ihm von der Stirn. Er ruckt und<br />
zerrt, bis das rötliche Bündel endlich krachend<br />
herabstürzt. Viele Hundert walnussgroße Ölfrüchte<br />
stecken in einem solchen zotteligen 30-Kilo-Klumpen. Sie liefern<br />
einen der wertvollsten Rohstoffe Asiens – Palmöl. Palmöl steckt in<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
Palmenhaine im Süden Thailands: Lieferanten<br />
einer zunehmend begehrten Ressource<br />
37<br />
Margarine, in Eiscreme, in Hautlotionen und Klebstoffen. Noch nie<br />
aber war die Multifunktionssubstanz so begehrt wie heute. Der<br />
Grund: Palmöl eignet sich optimal für die Herstellung von Biodiesel.<br />
Die Nachfrage nach Palmöl ist deshalb in den vergangenen<br />
Jahren stark gestiegen – und der Rohstoff wird immer teurer:<br />
Allein 2006 kletterte der Preis um fast 20 Prozent in ungeahnte<br />
Höhen. In Deutschland wird dem Autokraftstoff schon länger<br />
Biodiesel – zumeist Methylester aus Raps – beigemischt, um den<br />
Rohölverbrauch zu senken. Diesem Beispiel folgt jetzt auch Südostasien.<br />
Von dort stammt der Löwenanteil des weltweit erzeugten<br />
Palmöls. So hat die thailändische Regierung beschlossen, bis zum<br />
Jahr 2011 dem Diesel 5 Prozent Biosprit beizumischen. Das entspricht<br />
einem Verbrauch von 4 Millionen Litern Palmöl-Methylester<br />
täglich. Den Thailändern war klar, dass sich dieses Ziel nur mit<br />
modernen und leistungsfähigen Produktionsanlagen erreichen<br />
lässt. Für die Tochtergesellschaften von Thailands Petrochemieriesen<br />
PTT Chemicals, die Thai Oleochemicals Company (TOL) und<br />
die Thai Fatty Alcohols Company (TFA), setzt die seit langem in<br />
3<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
projekte_thailand<br />
38<br />
Abtransport<br />
der 30 Kilogramm<br />
schweren<br />
Palmölbündel<br />
»Der Charme des Verfahrens besteht darin,<br />
dass sich alle Substanzen aus der Produktion verwerten lassen.«<br />
3 Thailand aktive <strong>ThyssenKrupp</strong> Tochter Uhde GmbH jetzt ein ehrgeiziges<br />
Projekt in die Tat um: einen Anlagenkomplex mit einer<br />
Jahresproduktion von 200.000 Tonnen Biodiesel und 100.000<br />
Tonnen Fettalkohol für die Herstellung von Reinigungsmitteln und<br />
Kosmetika.<br />
Gebaut wird am Industriestandort Map Ta Phut, etwa 150 Kilometer<br />
südöstlich von Bangkok. Ende vergangenen Jahres ging die<br />
Methylesterfabrik nach nur etwas mehr als anderthalb Jahren Planungs-<br />
und Bauzeit in Betrieb. In der Fettalkoholanlage startet die<br />
Produktion im Frühjahr. Die Fettalkoholanlage wird mit Öl aus den<br />
Kernen der Palmölfrüchte gespeist. Das Kernöl enthält kurze<br />
Fettsäureketten mit nur sechs bis 14 Kohlenstoffatomen. Diese<br />
Fettalkohole sind ideal für Kosmetika und Reinigungsmittel, weil sie<br />
schon bei Raumtemperatur flüssig werden und auch in Hautporen<br />
eindringen. Für Biodiesel hingegen eignet sich das Öl aus dem<br />
Fruchtfleisch. Seine Fettsäureketten sind 16 bis 18 Kohlenstoffatome<br />
lang und damit ideal für die Herstellung von Biodiesel.<br />
Optimale Ausschöpfung<br />
„Freilich haben wir für unsere erste Biodieselanlage nicht jedes<br />
Rad neu erfunden“, sagt Klaus-Dieter Gaber, Projektleiter bei<br />
Uhde. „Wir setzen für die Gewinnung von Methylester das Verfahren<br />
der süddeutschen Firma AT-Agrartechnik ein, denn bei diesem<br />
lassen sich recht flexibel unterschiedliche Öle nutzen.“ So wollen<br />
die Thailänder in Zukunft nicht nur Palmöl einsetzen, sondern auch<br />
verbrauchte Speisefette. Bei dem süddeutschen Verfahren wird<br />
das Palmöl mit Methanol und einem Katalysator versetzt. Dadurch<br />
spaltet sich Glycerin ab, das die Fettsäureketten zusammenhält.<br />
Übrig bleibt der fertige Biodiesel. Der Charme des Verfahrens<br />
besteht darin, dass sich alle<br />
Substanzen aus der Produktion<br />
verwerten lassen. Selbst der verbrauchte<br />
Katalysator kann – mit<br />
Schwefelsäure versetzt – als Dünger verkauft werden. Das Glycerin<br />
wiederum lässt sich zu hochwertigem Pharmaglycerin aufbereiten<br />
– einem Rohstoff, den PTT Chemicals in den eigenen Werken<br />
nutzen will.<br />
In der Fettalkoholanlage wiederum kommt ein bewährtes Lizenzverfahren<br />
der Cognis Deutschland, eines Anbieters von chemischen<br />
Grundstoffen, zum Einsatz. Dabei wird das Palmkernöl zu<br />
Rohmethylester umgesetzt und im Vakuum in einzelne Fraktionen<br />
aufgetrennt. Die eigentliche Herstellung der Fettalkohole geschieht<br />
bei einem hohen Druck von 300 Bar und 300 Grad Celsius unter<br />
Einsatz von Wasserstoff. Dafür ist ausgeklügelte Hochdrucktechnik<br />
nötig. Die so hergestellten Rohfettalkohole werden nach der<br />
Abtrennung des Methanols in Fettalkohole verschiedener Kettenlängen<br />
aufgetrennt. Diese hochwertigen Fettalkohole lassen sich<br />
anschließend zu verschiedenen Produkten veredeln.<br />
Der thailändische Betreiber wird seine beiden Anlagen zunächst<br />
mit Palmöl aus Malaysia versorgen – einem der weltgrößten Palmölerzeuger<br />
neben Indonesien. In den kommenden Jahren soll dann<br />
verstärkt direkt in Thailand angebaut werden. Dafür sind vor allem<br />
bestehende Agrarflächen vorgesehen, auf denen bislang beispielsweise<br />
Bäume für die Naturkautschukproduktion wachsen.<br />
Nach Ansicht von Experten ist die Gewinnung von Öl aus Palmen<br />
besonders deshalb nachhaltig, weil die Palmen bis zu 20 Jahre<br />
Früchte liefern. Der Aufwand ist also deutlich geringer als bei einjährigen<br />
Biodieselpflanzen, die in jedem Jahr neu ausgesät und<br />
kultiviert werden müssen. Kongkrapan Intarajang, Vorsitzender von<br />
TOL und TFA, ist deshalb sicher, mit der Anlage einen guten Schritt<br />
in einen neuen Markt gegangen zu sein. 7<br />
TEXT: TIM SCHRÖDER | FOTOS: HARTMUT NÄGELE<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
39<br />
Das Uhde-Baustellenteam (v.l.n.r.): Sathit Apaijit, Peter Röhr, Vinai Kunthakan<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
projekte_brasilien<br />
40<br />
Durch den Abbau industrieller Altlasten<br />
verbessern sich die Aussichten für<br />
die Fischer in der Bucht von Sepetiba.<br />
EIN GUTER FANG<br />
In der Bucht von Sepetiba nahe der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro entsteht ein gewaltiges<br />
Projekt: ein Stahlwerk, gebaut im Einklang mit den Anwohnern – und der natürlichen Umgebung.<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
41<br />
Nach fünf Stunden Diskussion platzte Rodrigo Abreu<br />
der Kragen. Der Fischer aus dem 10.000-Einwohner-Örtchen<br />
Santa Cruz ging selbstbewusst auf<br />
das Mikrofon zu, nahm es zur Hand und sprach<br />
mit den folgenden kurzen Worten den meisten<br />
Fischern aus der Seele: „Das neue Stahlwerk ist<br />
eine große Chance für unsere Stadt. Da werden<br />
viele Arbeitsplätze geschaffen, auch für unsere Kinder. Und jetzt<br />
gehen wir nach Hause, wir müssen morgen arbeiten.“<br />
Rodrigo Abreu war gemeinsam mit zahlreichen Bürgerinnen und<br />
Bürgern aus dem Ort zum ersten von drei öffentlichen Hearings gekommen,<br />
um sich über das neue Stahlwerk zu informieren, das<br />
<strong>ThyssenKrupp</strong> in der Bucht von Sepetiba nahe Rio de Janeiro<br />
bauen will. Für 17.30 Uhr war das Hearing angesetzt, knapp eine<br />
Stunde später konnte die Veranstaltung beginnen – mit einem<br />
zünftigen Essen. „Das ist hier so üblich“, sagt Dr. Gunnar Still,<br />
Leiter des Direktionsbereichs <strong>Umwelt</strong>schutz bei der <strong>ThyssenKrupp</strong><br />
Steel AG. Die Anwohner kamen mit ihren Familien, tranken, aßen<br />
und beteiligten sich dann intensiv an der Diskussion. „Das Interesse<br />
der Anwohner war größer, als wir das bei uns zu Hause gewohnt<br />
»Das Interesse der Anwohner<br />
war größer, als wir das<br />
bei uns zu Hause gewohnt sind.«<br />
sind“, erklärt Still. Viele Menschen äußerten im Verlauf der Versammlungen<br />
ihre Bedenken und Sorgen, auch Rodrigo Abreu, und<br />
zwar sachlich und immer darauf bedacht, die vorgesehene Redezeit<br />
von fünf Minuten nicht zu überschreiten.<br />
Auch der Versuch einer Minderheit, die Gelegenheit zu nutzen, um<br />
Stimmung gegen den Investor aus Deutschland zu machen, schlug<br />
fehl. Nach der couragierten Ansprache von Rodrigo Abreu schaute<br />
manch ein Anwohner für einen kleinen Moment ein wenig ungläubig<br />
drein, doch dann standen die meisten von ihnen auf, kamen<br />
der Aufforderung nach – und gingen heim.<br />
Bessere Perspektiven<br />
Rodrigo Abreu ist einer der zahlreichen Fischer, die hier an der<br />
Küste ihren Lebensunterhalt verdienen. Tag für Tag fährt er frühmorgens<br />
mit seinem kleinen Fischerboot hinaus aufs Meer, wirft<br />
immer wieder sein Netz aus und hofft, abends mit einem vernünftigen<br />
Fang nach Hause zurückzukehren, um seine Familie ernähren<br />
zu können. Natürlich hatte auch Rodrigo Abreu seine Bedenken ob<br />
des Stahlwerks, das der Konzern aus Deutschland plötzlich hier<br />
errichten wollte. Doch schnell war er, genauso wie die meisten anderen<br />
Menschen aus der Region, zu dem Ergebnis gekommen,<br />
dass er für die Ansiedlung dieser neuen Industrie sei. Mag sein,<br />
3<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
projekte_brasilien<br />
42<br />
3 dass das Stahlwerk auf den ersten Blick einen Einschnitt in die<br />
Landschaft der Region bedeutet. Doch unter dem Strich herrschte<br />
Einigkeit darüber, dass das Werk den Menschen und der Natur vor<br />
Ort nutzen werde.<br />
Beispiele dafür gibt es zur Genüge. Vor allem wird das Werk der<br />
Region eine Menge neuer Arbeitsplätze bescheren. Zu den bisher<br />
annähernd 13.000 Stellen, die das Unternehmen schon jetzt<br />
vornehmlich in den Bereichen Automobil- und Aufzugsgeschäft in<br />
Brasilien anbietet, kommen durch das neue Werk noch einmal etwa<br />
3.500 direkte und weitere geschätzte 10.000 indirekte Arbeitsplätze<br />
hinzu. Das bietet auch den Kindern von Rodrigo Abreu eine<br />
realistischere Perspektive auf einen guten Arbeitsplatz.<br />
Insgesamt werden der Wohlstand der Region, aber auch Schulen,<br />
Kindergärten und mit ihnen die gesamte Infrastruktur profitieren.<br />
So sollte zum Beispiel um den nahegelegenen Ort Santa Cruz eine<br />
Straße gebaut werden, um den durch die Baustelle entstehenden<br />
Schwerverkehr um das Wohngebiet herumzuführen. Die Anwohner<br />
aber wollten genau das Gegenteil erreichen, nämlich, dass die<br />
Straße mitten durch die Stadt führe. „Wir konnten das nicht verstehen“,<br />
so Still, die Begründung war letztlich jedoch ebenso logisch<br />
wie für Deutsche kaum nachvollziehbar: In Santa Cruz gibt es keine<br />
vernünftigen Straßen. Also nehmen die Anwohner den Schwerverkehr<br />
einige Jahre lang in Kauf – zugunsten eines neuen Verkehrsweges,<br />
der über längere Zeit Bestand hat.<br />
Altlasten abbauen, Gutes bewahren<br />
Wie in den beschriebenen Fällen hat sich der Konzern im Verlauf<br />
eines umfassenden Verfahrens bei der Vorbereitung für die Investition<br />
darum bemüht, die Vorstellungen der örtlichen Bevölkerung<br />
sowie der 129 vertretenen Interessengruppen aufzugreifen. „Wir<br />
wollen schließlich nicht wie Kolonialisten in Brasilien einfallen,<br />
sondern mit den Menschen vor Ort einen Interessenausgleich<br />
betreiben“, unterstreicht Still. Da der Erhalt der <strong>Umwelt</strong> einen<br />
zentralen Aspekt bildet, gehörten die Fischer zu den wichtigsten<br />
Gesprächspartnern.<br />
Männer wie Rodrigo Abreu sorgten sich anfangs um die möglichen<br />
negativen Auswirkungen auf die vorhandenen Fischgründe.<br />
Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Denn jahrelang wurde der<br />
Boden der Küste durch eine inzwischen nicht mehr produzierende<br />
Zinkhütte verseucht, wurden Abwässer aus der Zink- und einer<br />
Die Bucht von Sepetiba: Mangrovenwälder, Fischgründe,<br />
direkter Zugang zum Atlantik<br />
nahe gelegenen Aluminiumanlage ins Meer geleitet – und zwar<br />
ungeklärt. Das entsprechend kontaminierte Erdreich bereitet den<br />
Fischern seit Jahren Probleme.<br />
Parallel zum Bau der Fabrik investiert <strong>ThyssenKrupp</strong> nun in Arbeiten,<br />
bei denen die verseuchten Sedimentschichten dort, wo Hafenbecken<br />
und Zufahrtkanal es erfordern, zunächst abgetragen und<br />
schließlich in eine sichere, nach modernen Standards errichtete<br />
Unterwasserdeponie eingelagert werden. „Damit werden auch Alt-<br />
Die Bauarbeiten am Stahlwerk sollen bis Anfang 2009 abgeschlossen sein.<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
43<br />
lasten abgebaut“, so Still. Für die Fische wird das Wasser hier<br />
in Zukunft einen besseren Lebensraum darstellen als zuvor – ein<br />
positiver „Mitnahmeeffekt“ des Stahlwerkbaus.<br />
Die Idee für das neue Werk entstand 2004. Neben den großen<br />
Eisenerzvorkommen in Brasilien gaben noch weitere gewichtige<br />
Gründe im Mai 2006 endgültig den Ausschlag für die Entscheidung,<br />
das Werk in der Bucht von Sepetiba zu errichten: Durch den direkten<br />
Zugang zum Atlantik ergeben sich erhebliche Logistikvorteile.<br />
Zudem liegt das Gelände am Ende einer Eisenbahnlinie, die Erz aus<br />
dem Landesinnern in die Häfen transportiert. Im Frühjahr 2009 soll<br />
in Sepetiba die erste Bramme vom Band laufen, danach wird das<br />
Werk jährlich rund 5 Millionen Tonnen Stahl produzieren.<br />
Die Technik des neuen Stahlwerks werde dabei, versichert der<br />
Vorstandsvorsitzende der <strong>ThyssenKrupp</strong> Steel AG, Dr. Karl-Ulrich<br />
Köhler, „alle internationalen <strong>Umwelt</strong>standards erfüllen“. Ein ständiger<br />
Gesprächspartner waren deshalb auch die <strong>Umwelt</strong>schützer.<br />
Denn im Brackwasser der tropischen Küste von Sepetiba, dort,<br />
wo Süß- und Meerwasser zusammentreffen, bildet ein dichtes,<br />
undurchdringlich erscheinendes Gewirr von Wurzeln einen einzigartigen<br />
Lebensraum: die Mangroven. Die bizarren Gezeitenwälder<br />
»Für die Fische wird das Wasser in Zukunft<br />
einen besseren Lebensraum darstellen.«<br />
stellen hier einen wirksamen Schutz gegen Erosion und Flutwellen<br />
dar und bieten darüber hinaus einen Lebensraum für zahllose Tierarten.<br />
„Der Erhalt der Mangrovenwälder war für uns ein wesentliches<br />
Anliegen“, schildert Still. Deshalb wird derzeit eine knapp<br />
4 Kilometer lange Brücke gebaut, die über die Mangroven hinweg<br />
vom Hafen bis ins Werk führen wird, die Wälder bleiben unangetastet.<br />
All das hat Anwohner und Fischer im Rahmen zahlreicher<br />
Gespräche und Hearings überzeugt. Die durchaus emotionalen,<br />
aber stets besonnenen Versammlungen mit der brasilianischen<br />
Bevölkerung zogen sich dabei gerne bis in die Nachtstunden hinein.<br />
Nur einmal packten die Menschen plötzlich ganz eilig ihre<br />
Sachen und verließen die Versammlung fluchtartig. Der Hintergrund<br />
entpuppte sich in der Tat als bedeutsam: Keiner wollte das<br />
wichtige Spiel zweier lokaler Fußballmannschaften verpassen. 7<br />
TEXT: DANIEL SCHLEIDT<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
projekte_integration<br />
44<br />
DIE KULTUR-<br />
DOLMETSCHER<br />
Die internationale Migration nimmt zu – und mit ihr die kulturelle Vielfalt<br />
der <strong>Umwelt</strong>, in der wir uns bewegen. Im Arbeitsumfeld helfen<br />
„Kulturmittler“ wie Seyahn Savas und Peter Trube als eine Art Übersetzer<br />
beim Umgang mit Unterschieden.<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
Wer beim Stichwort Globalisierung an Unternehmen<br />
denkt, die weltweit Märkte erobern und<br />
über Grenzen hinweg fusionieren, an Manager,<br />
die in Firmenjets um die Welt düsen, oder an<br />
Containerschiffe, die Waren rund um den Globus<br />
transportieren, der liegt zwar nicht falsch. Doch<br />
die Globalisierung hat auch ein anderes Gesicht. In<br />
Duisburg trägt sie Namen wie Ali Güzel, Hennes Urban, Xhevat<br />
Busatovic, Annegret Finke, Hassan Sahin, Uwe Gaertner, Peter<br />
Trube, Seyhan Savas. Diese Mitarbeiter von <strong>ThyssenKrupp</strong> Steel<br />
stehen schon mit ihrem Namen für kulturelle Vielfalt. Vor allem aber<br />
ist es ihre Arbeit als „Kulturmittler“ im Stahlwerk in Duisburg-Hamborn,<br />
die deutlich macht, dass die Globalisierung unsere gesellschaftliche<br />
<strong>Umwelt</strong> verändert – und zeigt, wie man Wege finden<br />
kann, um damit umzugehen und so die Vielfalt als Bereicherung zu<br />
verstehen und zu nutzen.<br />
Vom Auswanderungskontinent zum Einwanderungsziel<br />
Dass man sich am Arbeitsplatz mit interkulturellen Konflikten<br />
beschäftigt, ist für Deutschland – und viele andere europäische<br />
Länder – vergleichsweise neu. Schließlich war Europa von 1750 bis<br />
ungefähr 1960 ein Auswanderungskontinent, den rund 70 Millionen<br />
seiner Bewohner verließen, um anderswo ihr Glück zu suchen.<br />
Doch während der vergangenen 50 Jahre sind alle Länder Westeuropas<br />
zu Einwanderungszielen geworden, sogar einst „klassische“<br />
Auswanderungsländer wie Irland oder Spanien.<br />
In Deutschland begann die Zeit der Einwanderung in größerem<br />
Maßstab Mitte des vergangenen Jahrhunderts: Die Bundesregierung<br />
schloss 1955 ein erstes Abkommen über die Abwerbung<br />
italienischer Arbeitskräfte. Seither fanden Millionen Menschen<br />
ihren Platz in deutschen Betrieben. Als sogenannte „Gastarbeiter“<br />
verdienten Italiener, Spanier, Griechen, Türken Geld für die Verwandten<br />
daheim und richteten sich – ebenso wie die deutsche<br />
Gesellschaft – zunächst auf einen vorübergehenden Aufenthalt ein.<br />
Doch nach und nach wurde klar, dass die Einwanderer bleiben<br />
würden: Familienmitglieder zogen nach, die alte Heimat wurde nur<br />
noch in den Ferien besucht. „Wir riefen Arbeitskräfte, und es<br />
kamen Menschen“, wie es der Schweizer Schriftsteller Max Frisch<br />
einmal auf den Punkt brachte. Aus den „Gastarbeitern“ wurden<br />
Bürger des Landes, mit den Jahren veränderte sich das Gesicht<br />
der Gesellschaft, veränderten sich auch Gewohnheiten, denn ihre<br />
Kultur hatten die Einwanderer nicht an der Grenze abgegeben.<br />
Ungewollte Konflikte<br />
Das ging und geht im alltäglichen Zusammenleben und Zusammenarbeiten<br />
nicht ohne Konflikte ab. „Anlass dafür sind häufig<br />
ganz simple Dinge“, erzählt Seyhan Savas. Die Betriebsrätin ist<br />
eine von 70 Kulturmittlern im Stahlwerk Duisburg-Hamborn. „Ein<br />
3<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
projekte_integration<br />
46<br />
Neutraler Blick: Die Kulturmittler zeigen Lösungen auf, wenn es zu Konflikten<br />
kommt.<br />
»Anlass für interkulturelle Konflikte sind häufig ganz simple Dinge.«<br />
3 Beispiel: Die türkischen Kollegen legen Wert darauf, dass in der<br />
Kantine nicht auf dem Grill, auf dem das Schweinefleisch zubereitet<br />
wurde, ihr Hähnchenfilet gegrillt wird. Kommt das doch vor, unterstellen<br />
sie dem deutschen Kollegen vielleicht gleich‚ der macht das<br />
extra, während der sich einfach keine Gedanken darüber gemacht<br />
hat.“ Um solche unausgesprochenen Konflikte geht es oft in der<br />
Arbeit der Kulturmittler. Ihre Funktion beschreibt Savas dabei als<br />
die eines Aufklärers. „Wir als<br />
Kulturmittler kommen mit neutralem<br />
Blick von außen, hören<br />
uns dann beide Seiten an und<br />
versuchen, eine Lösung aufzuzeigen,<br />
um mit dem Konflikt umzugehen.“<br />
Eingeführt wurden die Kulturmittler im Betrieb kurz nach dem<br />
11. September 2001. Denn nach den Anschlägen auf das World<br />
Trade Center war die Stimmung „merklich aggressiver“, wie Peter<br />
Trube erzählt, der neben seiner Arbeit als Betriebsrat ebenfalls als<br />
Kulturmittler tätig ist. Auch Seyhan Savas hat damals beobachtet,<br />
„dass viele Muslime sich so behandelt fühlten, als hätten sie die<br />
Anschläge zu veranworten. Da gab es Ausgrenzung, auch persönliche<br />
Angriffe. Im Pausenraum saßen die deutschen Kollegen auf<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
47<br />
der einen und die ausländischen Kollegen auf der anderen Seite,<br />
und keiner ist auf den anderen zugegangen.“ Savas, Trube und<br />
weitere Kollegen aus der Vertrauenskörperleitung der IG Metall<br />
schlugen daraufhin vor, Kulturmittler im Werk einzuführen, die dazu<br />
beitragen sollten, interkulturelle Konflikte zu erkennen und zu<br />
lösen. Hierbei stießen sie auf offene Ohren, denn schon 1996 hatte<br />
das Unternehmen eine Betriebsvereinbarung zur „Förderung der<br />
Gleichbehandlung aller ausländischen und deutschen Belegschaftsmitglieder“<br />
geschlossen. „Es gab also bereits eine Sensibilität<br />
für diese Problematik“, sagt Trube. „Als wir dann 2002 die<br />
Kulturmittler einführten, hat das die Unternehmensleitung sehr positiv<br />
aufgenommen.“<br />
Die angehenden Kulturmittler – zunächst 30 – wurden unter den<br />
Vertrauensleuten der einzelnen Unternehmensbereiche ausgewählt<br />
und absolvierten mehrere Fortbildungen. Seither werden<br />
regelmäßig Mitarbeiter zu Kulturmittlern ausgebildet. „Der Andrang<br />
ist groß. Wir achten aber darauf, dass die Kulturmittler die Vielfalt<br />
im Unternehmen widerspiegeln: Die Hälfte sind deutsche Kollegen,<br />
die andere Hälfte Kollegen mit ganz unterschiedlichen Nationalitäten,<br />
darunter viele Türken, die gut drei Viertel der ausländischen<br />
Belegschaft ausmachen. Und wir achten auch auf eine gute altersmäßige<br />
und geschlechtsspezifische Mischung, um alle Sichtweisen<br />
abzubilden“, sagt Savas. Der hohe Anteil Deutscher unter den Kulturmittlern<br />
ist bei diesem Thema „eher unüblich“, wie Trube sagt.<br />
„Viele Deutsche denken, dass Migrantenarbeit nur die Ausländer<br />
selbst machen. Doch es ist wichtig, dass bei uns immer 50 Prozent<br />
deutsche Kollegen dabei sind – schließlich betreffen interkulturelle<br />
Konflikte immer beide Seiten.“<br />
Ein vieldiskutiertes Thema, mit dem die Kulturmittler immer<br />
wieder zu tun haben, ist die Sprache. „Zwar ist die Betriebssprache<br />
grundsätzlich Deutsch. Aber wenn Ausländer zusammenkommen,<br />
sprechen sie untereinander häufig in ihrer Herkunftssprache. Wenn<br />
dann deutsche Kollegen dazukommen, erwarten diese, dass die<br />
Gruppe umschwenkt in die deutsche Sprache, weil sie sich sonst<br />
ausgegrenzt fühlen“, berichtet Savas. „Wir sagen immer, dass es<br />
kein Problem ist, untereinander in der eigenen Sprache zu reden.<br />
Aber man sollte darauf achten, dass man Deutsch spricht, wenn<br />
Kollegen dabei sind, die die Sprache nicht können.“ Savas selbst,<br />
die türkischer Herkunft ist, spricht grundsätzlich nur Deutsch mit<br />
ihren Kollegen – auch mit den türkischen. „Damit haben manche<br />
ein Problem und können das nicht verstehen. Da ist dann meine<br />
ganz persönliche Kulturmittlung gefragt“, sagt sie schmunzelnd.<br />
Die Vielfalt nimmt weiter zu<br />
Wie geht man in deutschen Betrieben miteinander um? Und was ist<br />
Brasilianern wichtig? Auch bei den neuen Kollegen aus Brasilien<br />
wie Cássio Vieira Rezende aus Belo Horizonte werden die Kulturmittler aktiv.<br />
Wie hilfreich ihre Erfahrungen als Kulturmittler sind, erfahren Savas<br />
und Trube seit einigen Monaten besonders intensiv: <strong>ThyssenKrupp</strong><br />
Steel investiert in ein neues Stahlwerk in Brasilien (siehe Seite 40)<br />
und bildet zur Vorbereitung brasilianische Mitarbeiter an den Anlagen<br />
in Duisburg aus. „Auf die Kollegen aus Brasilien haben wir uns<br />
gemeinsam mit einigen Kollegen auf einem Seminar vorbereitet,<br />
um mehr über die brasilianische Mentalität zu lernen. Den neuen<br />
Kollegen mussten wir dann erst mal klarmachen, wer wir überhaupt<br />
sind: In Brasilien gibt es keine Wörter für Mitbestimmung und<br />
Betriebsrat“, erzählt Trube. Nun sind – per Dolmetscher – erste<br />
Kontakte zu den Brasilianern im Stahlwerk geknüpft. Um das Eis zu<br />
brechen, ist bereits ein gemeinsames Fußballturnier geplant. „Vielleicht<br />
auch wieder ein Klischee: Brasilien gleich Fußball. Doch<br />
wenn man sich über solche gegenseitigen Klischees und Vorurteile<br />
austauscht, lernt man viel voneinander“, ist Savas überzeugt.<br />
Die beiden Kulturmittler freuen sich schon darauf, dass ihre Arbeit<br />
mit der zunehmenden Internationalisierung des Unternehmens<br />
noch interessanter wird: „Jetzt sind erst einmal die Brasilianer da,<br />
demnächst werden neue Kollegen aus den USA kommen, weil wir<br />
auch dort ein neues Werk bauen. In dieser Dimension haben wir<br />
das ja auch noch nicht erlebt. Denn bis jetzt konzentrierten wir uns<br />
auf die Kulturen, die wir hier haben: Türken, Italiener, Russen,<br />
Polen, Kroaten, Serben. Wenn jetzt noch Brasilianer und Amerikaner<br />
dazukommen, wird es so richtig spannend.“ 7<br />
TEXT: ALEXANDER SCHNEIDER | FOTOS: OLIVER RÜTHER<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
projekte_aktuell<br />
48<br />
Eisberge retten in Shanghai<br />
Eisberg voraus: Auch die kleinen Besucher packten mit an, um ein Abschmelzen<br />
des kalten Kolosses zu verhindern.<br />
3 Drüben kracht es, hinten in der Ecke<br />
qualmt es, dort wird geklopft und hier<br />
wird gekurbelt – mit handbetriebenen<br />
Dynamos, um dem in der schwülen<br />
Shanghaier Spätsommerluft dahinschmelzenden<br />
Eisberg etwas Kühlung zu<br />
verschaffen. Doch nicht nur dieser für die<br />
veranstaltete, gab es auf 2.500 Quadratmetern<br />
viel zu entdecken und auszuprobieren.<br />
Unter dem Motto „Lösungen<br />
für eine saubere Zukunft“ wurden rund<br />
50 Exponate präsentiert, von denen die<br />
meisten von <strong>ThyssenKrupp</strong> stammten,<br />
einige aber auch von Partnern wie der<br />
Shanghaier Tongji-Universität und der<br />
Technischen Universität Clausthal.<br />
Ob es um Werkstoffe ging, die moderne<br />
Meerwasserentsalzungsanlagen effizienter<br />
und nachhaltiger arbeiten lassen, um<br />
hochmoderne Verfahren zur Abtrennung<br />
von Schadstoffen aus der Luft oder um<br />
ressourcenschonende Automobilkonstruktion<br />
– Ziel der Ausstellung war es, die<br />
Besucher für die großen globalen Herausforderungen<br />
der Zukunft zu sensibilisieren:<br />
für den schonenden Umgang mit<br />
Rohstoffen und der <strong>Umwelt</strong> in einem<br />
Jahrhundert stark zunehmender Mobilität<br />
und einer bislang unbekannten<br />
Wirtschaftsdynamik, gerade auch im<br />
Gastgeberland selbst.<br />
Dass das Konzept auch von offizieller<br />
Seite begrüßt wurde, unterstreicht die<br />
Bedeutung des internationalen Knowhow-Transfers<br />
im Zeitalter der Globalisierung.<br />
Bei der Ausstellungseröffnung legte<br />
der chinesische Wissenschaftsminister<br />
Wan Gang besondere Betonung auf das<br />
Ziel seiner Regierung, Wirtschaftswachstum<br />
und Kohlendioxidemissionen zu<br />
entkoppeln. Wie das bereits im Alltag umgesetzt<br />
wird, zeigte ein in China vertrautes<br />
Exponat: Rund 12 Millionen Menschen<br />
haben den Transrapid schon genutzt, um<br />
vom internationalen Flughafen Pudong in<br />
die Shanghaier Innenstadt zu fahren<br />
– in acht Minuten statt<br />
in bis zu einer Stunde<br />
mit dem Auto.<br />
Aber auch für<br />
Überraschungen<br />
war gesorgt<br />
– zum Beilokalen<br />
Verhältnisse eher ungewöhnliche<br />
Anblick lässt die Besucher der Technologieausstellung<br />
im Shanghaier Science<br />
and Technology Museum staunen. Bei<br />
den „Technology Days“, die Thyssen<br />
Krupp während der Golden Week vom<br />
30. September bis zum 6. Oktober 2007<br />
Ein fast alltägliches Transportmittel in China:<br />
der Transrapid<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
49<br />
spiel, wenn Andrea Niehaus, die Direktorin<br />
des Deutschen Museums Bonn, die<br />
chinesischen Besucher in die Besonderheiten<br />
der chinesischen Lotusblume<br />
einführte: wie mit Hilfe der Nanotechnologie<br />
das Geheimnis des „springenden<br />
Tropfens“ gelöst und einer praktischen<br />
Anwendung zugeführt werden konnte.<br />
Denn durch den in China weitgehend unbekannten<br />
„Lotuseffekt“, der dafür sorgt,<br />
dass weder Ruß noch Honig oder Tinte<br />
auf den Blättern der Lotusblume eine<br />
Spur hinterlassen, können auch Dachziegel<br />
oder Autobleche vor Verschmutzung<br />
und Korrosion geschützt werden.<br />
Die Technology Days sind Teil der im<br />
Jahr 2004 von <strong>ThyssenKrupp</strong> ins Leben<br />
gerufenen Initiative „Zukunft Technik entdecken“.<br />
Ein weiterer Baustein der Initiative<br />
ist der IdeenPark, der vom 17. bis<br />
25. Mai 2008 in Stuttgart stattfinden wird<br />
(www.zukunft-technik-entdecken.de). 7<br />
Technik zum Anfassen: ein Großwälzlager aus<br />
einer Windturbine<br />
Farbenfroher Aufstieg in der Osloer U-Bahn<br />
Lichteffekte mit <strong>Umwelt</strong>wirkung<br />
3 Licht tut gut. Wer wüsste das besser als die in dieser Jahreszeit nicht<br />
gerade lichtverwöhnten Skandinavier? Bei der Planung von öffentlichen<br />
Orten wie Bahnhöfen, Flughäfen und Einkaufszentren spielt die Beleuchtung<br />
inzwischen eine immer wichtigere Rolle. Mit einem innovativen<br />
Beleuchtungssystem bietet <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>Elevator</strong> seinen Kunden eine<br />
individuell abstimmbare Vielfalt an ständig wechselnden Lichtszenarien<br />
– vom einfachen Farbwechsel über Lauflicht bis hin zum Lichtwechsel mit<br />
weichen Verläufen. Moderne LED-Technik sorgt dafür, dass zudem der<br />
Strom- und Materialverbrauch sinkt. So tun die in bis zu 20 Farben erstrahlenden<br />
Fahrtreppen im Osloer Bahnhof „Nationaltheater“ nicht nur den<br />
norwegischen Pendlern gut, sondern auch der <strong>Umwelt</strong>. 7<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
projekte_aktuell<br />
50<br />
Energie aus Reststoffen<br />
Mittelkalorikkraftwerke haben eine größere Energieeffizienz als<br />
Müllheizkraftwerke.<br />
3 Mehr Strom, und das ohne<br />
Kohle: Nach diesem Prinzip arbeiten<br />
sogenannte Mittelkalorik-Kraftwerke.<br />
Denn statt fossiler Brennstoffe nutzen<br />
sie Stoffreste aus Recyclinganlagen<br />
oder Gewerbeabfälle. Trotz Mülltrennung<br />
ist nämlich längst nicht alles,<br />
was in den Abfalleimern landet, noch<br />
für das Recycling geeignet. Deshalb<br />
bleibt in der Abfallaufbereitung eine<br />
Mischung aus Papier, Kunststoff-,<br />
Holz- und Verpackungsresten übrig –<br />
die sogenannte „Mittelkalorik“. Der<br />
Heizwert der Mittelkalorik entspricht<br />
in etwa dem von trockener Braunkohle,<br />
im Gegensatz dazu jedoch teilweise<br />
CO 2-neutral, da darin nachwachsende<br />
Rohstoffe enthalten sind. An<br />
einem neuen Mittelkalorik-Kraftwerk<br />
ist nun die <strong>ThyssenKrupp</strong> Xervon<br />
Energy, ein Tochterunternehmen von<br />
<strong>ThyssenKrupp</strong> Services, beteiligt: In<br />
Bremen baut der regionale Energieversorger<br />
swb eine solche Anlage.<br />
<strong>ThyssenKrupp</strong> Xervon Energy liefert<br />
dabei den Vorschubrost, über den<br />
sich der Brennstoff während der<br />
Verbrennung bewegt, sowie Nebenanlagen.<br />
Durch modernste Anlagentechnik<br />
ist die Energieeffizienz des<br />
Mittelkalorik-Kraftwerks hoch: Es<br />
nutzt die Verbrennungswärme noch<br />
besser als viele Müllheizkraftwerke.<br />
Damit kann das Kraftwerk 70.000<br />
Tonnen Kohle jährlich als Brennstoff<br />
ersetzen. Gebaut wird in Bremen seit<br />
September 2007, Anfang 2009 soll<br />
das Kraftwerk dann bis zu 60.000<br />
Haushalte in der Hansestadt mit<br />
Strom versorgen können. 7<br />
Entschlackendes Verfahren<br />
3 Eine glühende, zähflüssige<br />
Masse, die allmählich abkühlt und<br />
schließlich Steine so hart wie Granit<br />
oder Basalt zurücklässt – was klingt<br />
wie die Geburt eines Planeten ist in<br />
Wirklichkeit eine ausgefeilte Form des<br />
Recyclings: Jeden Tag aufs Neue produziert<br />
der OxyCup-Schachtofen von<br />
<strong>ThyssenKrupp</strong> Steel in Duisburg nicht<br />
nur Roheisen aus Reststoffen des<br />
Hüttenbetriebs, sondern sorgt ebenfalls<br />
dafür, dass die dabei entstehende<br />
Schlacke zu einem wertvollen Baustoff<br />
weiterverarbeitet werden kann.<br />
Das geht natürlich nicht von selbst –<br />
<strong>ThyssenKrupp</strong> Steel entwickelte Verfahren,<br />
die die Schachtofenschlacke<br />
während der Abkühlung so beeinflussen,<br />
dass daraus ein kristallines<br />
Material mit hoher Dichte und Festigkeit<br />
wird: der Wasserbaustein. Was<br />
früher noch Abfall war, wird so zu<br />
einem marktfähigen Produkt. Denn<br />
diese Wasserbausteine sind gerade<br />
im Garten- und Landschaftsbau<br />
beliebt. Und weil sie aus Reststoffen<br />
entstehen, schonen sie auch noch<br />
die natürlichen Ressourcen. 7<br />
Steine zu Steinen: Aus diesen Agglomeratsteinen<br />
wird im Schachtofen Roheisen produziert –<br />
und aus der dabei anfallenden Schlacke<br />
entstehen wiederum<br />
Wasserbausteine.<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
51<br />
»Was früher noch Abfall war,<br />
wird zu einem marktfähigen Produkt.«<br />
Schonende Sicherheit<br />
3 Wer an Edelstahl denkt, kann sich<br />
wohl kaum vorstellen, dass dieses<br />
Material auch einen schweren Autounfall<br />
aushalten kann. Doch in bestimmten<br />
Bereichen wie der B-Säule<br />
– die Fahrzeugboden und -dach in<br />
der Mitte des Fahrzeugs verbindet –<br />
ist es sinnvoll und machbar, Edelstahl<br />
zu verwenden. Ohne an Sicherheit<br />
einzubüßen, können Autos so<br />
Gewicht sparen und damit Ressour-<br />
cen schonen, weil sie weniger Energie<br />
verbrauchen. Das hat Thyssen<br />
Krupp Nirosta nun im Rahmen des<br />
Projekts „Next Generation Vehicle“<br />
(www.ngvproject.org) gezeigt, das<br />
die Einsatzmöglichkeiten von Edelstahl<br />
im Automobilbau unter anderem<br />
in Crashtests untersucht hat.<br />
Geht es nach den Edelstahlherstellern,<br />
haben Fahrzeugentwickler<br />
künftig immer häufiger mit Edelstahl<br />
zu tun. Wie sich dieser Werkstoff ansonsten<br />
im Automobilbau verwenden<br />
lässt, um die Autos leichter zu<br />
machen oder die Zahl der Bauteile<br />
und damit die Kosten zu verringern,<br />
zeigen Ingenieure bereits heute:<br />
Edelstahl von <strong>ThyssenKrupp</strong> Nirosta<br />
wird beispielsweise für Crashkomponenten<br />
beim Porsche Carrera GT<br />
und als Teil der Rahmenkonstruktion<br />
des Audi A8 eingesetzt. 7<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
projekte_windkraft<br />
52<br />
Große Kräfte leicht übertragen<br />
Windkraftanlagen, das sagt<br />
schon der Name, müssen eine<br />
Menge Kräfte übertragen. Bläst<br />
es einmal so richtig und kommen<br />
die Rotorblätter hierdurch<br />
in Schwung, geht es auch im<br />
Maschinenhaus rund. Diese sogenannte<br />
Gondel mit dem<br />
Generator befindet sich auf der<br />
Spitze des Turms, direkt hinter<br />
der Rotornabe. Die den Rotor<br />
drehenden Kräfte werden zum<br />
Generator weitergeleitet, der die<br />
Windenergie in Strom umwandelt.<br />
Die übrigen Kräfte werden<br />
über Lager in das Maschinenhaus<br />
eingeleitet. Bis vor wenigen<br />
Jahren waren zwei getrennte<br />
Lager üblich, um Windlasten<br />
und Gewichtskräfte in die Gondel<br />
einzuleiten. In neuen alternativen<br />
Anlagenkonzepten ist hierfür<br />
nur noch ein sogenanntes Großwälzlager<br />
nötig. Entsprechend<br />
kleiner kann die Gondel ausfallen<br />
und wiegt damit auch weniger.<br />
Rothe Erde, ein Tochterunternehmen<br />
von <strong>ThyssenKrupp</strong><br />
Technologies, hat ein spezielles<br />
Verfahren zur vollständigen Härtung<br />
der Laufbahnen für solche<br />
permanent drehenden Großwälzlager<br />
entwickelt. Hierbei<br />
wird die Tragfähigkeit der Lager<br />
durch eine induktive Randschichthärtung<br />
gewährleistet.<br />
Nun können Stürme an den<br />
Rotorblättern ziehen und zerren,<br />
wie sie wollen – das Lager tut<br />
seinen Dienst und trägt dazu bei,<br />
dass die saubere Energie aus<br />
der Luft in unseren Steckdosen<br />
ankommt. 7
projekte_mobilität<br />
54<br />
Respektvolle Annäherungen an eine<br />
mittelalterliche Stadt<br />
Wenn Alter und Moderne aufeinander<br />
treffen, kommt es schon<br />
einmal zu Spannungen. So zum<br />
Beispiel im nordspanischen<br />
Vitoria/Gasteiz, als es darum<br />
ging, den modernen, unteren<br />
Teil der Hauptstadt des Baskenlandes<br />
mit der mittelalterlichen,<br />
auf einer Anhöhe gelegenen<br />
Altstadt zu verbinden. Wo der<br />
Zugang über unebene Steintreppen<br />
bislang die einzige<br />
Zugangsmöglichkeit war, wurde<br />
eine Erweiterung des Straßennetzes<br />
mit entsprechend drastischen<br />
Eingriffen in das über<br />
Jahrhunderte gewachsene<br />
Stadtbild erwogen. Doch es gab<br />
eine Alternative, die sowohl die<br />
<strong>Umwelt</strong> als auch das ästhetische<br />
Empfinden von Einwohnern und<br />
Besuchern schont: Über sieben<br />
Fahrtreppen auf zwei verschiedenen<br />
Fahrstrecken können nun<br />
bis zu 9.000 Menschen pro<br />
Stunde das mittelalterliche<br />
Vitoria regengeschützt, emissionsfrei<br />
und nahezu geräuschlos<br />
erreichen.<br />
Die von den lokalen Architekten<br />
Roberto Ercilla und Miguel Angel<br />
Campo entworfene Stahl-Glas-<br />
Konstruktion bietet zusätzlich<br />
einen atemberaubenden Ausblick<br />
auf Stadt und Umland.<br />
Neben der harmonischen Verbindung<br />
von Moderne und Alter,<br />
Kunst und Nutzen stellten die<br />
engen Gassen der Stadt und<br />
Neigungen von sechs bis zwölf<br />
Grad die Konstrukteure vor<br />
besondere Herausforderungen.<br />
Für die innovative Umsetzung<br />
erhielt <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>Elevator</strong><br />
den „Project of the Year Award<br />
2007“ der Zeitschrift <strong>Elevator</strong><br />
World in der Kategorie „Automatic<br />
People Mover“. 7
perspektiven_demographischer wandel<br />
56<br />
Nordamerika<br />
335 Millionen<br />
20,2%<br />
20,5%<br />
62,7%<br />
24,1%<br />
15,9%<br />
Europa<br />
733 Millionen<br />
63,5%<br />
NEUE ALTE WELT<br />
Der demographische Wandel wird unsere Lebenswelt in den nächsten 30 Jahren<br />
stark verändern – mit guten Aussichten für „Silver Ager“<br />
10,2%<br />
29,8%<br />
61,2%<br />
Süd-/Lateinamerika/Karibik<br />
569 Millionen<br />
Welt<br />
28,3%<br />
11,6%<br />
61,4%<br />
Manche Kontinente sind „jünger“, manche „älter“<br />
– aber im Jahr 2005 liegt selbst im alten Europa<br />
der Anteil der Über-60-Jährigen noch unter<br />
25 Prozent, im jungen Afrika der Anteil der<br />
Unter-15-Jährigen noch bei über 40 Prozent.<br />
Blättern Sie auf die nächste Doppelseite, und das<br />
Bild sieht schon wieder ganz anders aus.<br />
■ 0 – 14 ■ 15 – 59 ■ 60+<br />
Quelle: United Nations Population Division<br />
Die Größe der Tortengrafiken spiegelt den absoluten Anteil an der globalen Bevölkerung wider.<br />
espenstische Szenen: ein Drittel der Rentner<br />
unterhalb der Armutsgrenze, Massenunterkünfte<br />
für verarmte Senioren, bettelnde alte<br />
Menschen in den Straßen, häusliche Pflege<br />
nur noch für Wohlhabende und ein „freiwilliges<br />
Frühableben“ im Leistungskatalog der<br />
GKrankenkassen. Eine Horrorvorstellung, die<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
10,2%<br />
57<br />
aller Asiaten waren im Jahr<br />
2005 älter als 60.<br />
28,3%<br />
Asien<br />
4,01 Milliarden<br />
62,7%<br />
5,6%<br />
41,1%<br />
53,4%<br />
Afrika<br />
944 Millionen<br />
Australien/Ozeanien<br />
35 Millionen<br />
24,9<br />
16,7%<br />
61,O%<br />
der ZDF-Dreiteiler „2030 – Aufstand der Alten“ im Januar<br />
2007 in die heimischen Wohnzimmer transportierte.<br />
Obwohl der „Demographie-Krimi“ als Fiktion gekennzeichnet<br />
war und bewusst überzog, griff er mit seinen Schreckensvisionen<br />
die Ängste vieler Menschen auf, im Alter verarmt,<br />
verlassen und verelendet zu sein. Auch diesseits der Filmwelt,<br />
im „echten Leben“, wird von vielen ein überaus negatives Bild<br />
vom Demographiewandel in vielen Teilen der westlichen Welt<br />
gezeichnet. Mancher scheint gar zu befürchten, dass der<br />
Untergang des Abendlandes bevorsteht. Und tatsächlich gilt<br />
als gesichert, dass der Generationenwandel unumkehrbar ist.<br />
Schon in weniger als 30 Jahren, so haben Statistiker<br />
errechnet, wird jeder zweite Deutsche älter als 50 Jahre sein.<br />
Mitte des Jahrhunderts wird es hierzulande mehr 65-Jährige 3<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
perspektiven_demographischer wandel<br />
58<br />
2050<br />
28,2%<br />
17,1%<br />
23,1%<br />
14,6%<br />
44,1%<br />
18,0%<br />
55,6%<br />
50,9%<br />
18,0%<br />
29,5% 11,5%<br />
58,3%<br />
57,8%<br />
28,0%<br />
61,7%<br />
18,4%<br />
21,6%<br />
56,9%<br />
In 42 Jahren hat sich die Altersstruktur der globalen<br />
Bevölkerung bereits deutlich verändert. Mit Ausnahme<br />
Afrikas ist der Anteil der Bevölkerung im arbeitsfähigen<br />
Alter (15–59) überall geschrumpft.<br />
(Legende: siehe S. 56)<br />
Quelle: United Nations Population Division<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
59<br />
3<br />
als 15-Jährige geben. Die Bevölkerung schrumpft und altert.<br />
Doch die durch den demographischen Wandel veränderte<br />
<strong>Umwelt</strong> bringt auch viele Chancen mit sich, die bisher kaum<br />
beachtet werden – sowohl für die ältere als auch für die jüngere<br />
Generation. Probleme, mit denen sich Politik und Gesellschaft<br />
heute noch plagen, werden schon in einer Generation<br />
auf natürliche Weise entzerrt: Es wird genügend Kindergartenund<br />
Krippenplätze für dann weniger Kinder geben. Jugendliche,<br />
die heute keine Lehrstelle finden, werden unter mehreren<br />
Ausbildungsplätzen wählen können, und überfüllte Hörsäle<br />
gehören der Vergangenheit an. Gut ausgebildete Frauen,<br />
die nach der Familienpause weiter ihrem Beruf nachgehen<br />
wollen, werden in der Arbeitswelt dringender benötigt denn je.<br />
Der drohende Fachkräftemangel, der schon heute laut beklagt<br />
wird, wird (zwangsläufig) dafür sorgen, dass wieder hochmotivierte<br />
und erfahrene Fachleute über 50 eingestellt werden,<br />
die in den letzten Jahren dem Jugendwahn in vielen Unternehmen<br />
weichen mussten. Kurz und gut: Es wird mehr Platz<br />
und Wohnraum für die Menschen geben, und sie werden bessere<br />
Bildungs- und Berufschancen für ein langes und ausgefülltes<br />
Arbeitsleben bekommen. Das hört sich doch durchaus<br />
ermutigend an.<br />
Brachliegende Ressourcen<br />
Aber noch sind wir nicht so weit – in unserer heutigen Realität<br />
kommen eher die Jungen, Dynamischen zum Zuge. In vielen<br />
Unternehmen gibt es kaum noch Angestellte über 50, dafür<br />
aber viele Mittdreißiger, die nach wenigen Berufsjahren schon<br />
den Gipfel des Möglichen erreicht haben. Dieses Missverhältnis<br />
ist in Deutschland besonders krass: Mit einer Beschäftigungsquote<br />
von unter 42 Prozent bei den 55- bis 64-Jährigen<br />
ist die Bundesrepublik Schlusslicht im Vergleich mit Schweden<br />
(70 Prozent), Neuseeland (67 Prozent) oder der Schweiz (65<br />
Prozent). Es mutet seltsam an, dass z.B. in den Ingenieursberufen<br />
seit langem vor einem dramatischen Fachkräftemangel<br />
gewarnt wird, auf umständliche Weise Spezialisten vom anderen<br />
Ende der Welt nach Europa gelockt werden und gleichzeitig<br />
gut ausgebildete Arbeitnehmer auf dem hiesigen Arbeitsmarkt<br />
keine Chance mehr bekommen, nur weil sie die 50 schon<br />
überschritten haben. Engagierte Hochschullehrer müssen<br />
wegen starrer Altersgrenzen ihren universitären Arbeitsplatz<br />
räumen, obwohl ihr umfangreiches Spezialwissen für die junge<br />
Studentengeneration überaus wertvoll wäre. Nicht immer<br />
gehen emeritierte deutsche Professoren dann in den Ruhestand,<br />
sondern immer öfter an amerikanische Universitäten,<br />
wo man ihre hohen Qualifikationen offenbar mehr schätzt.<br />
Älteren Menschen scheint man hierzulande kreatives Denken,<br />
die Fähigkeit zur Innovation, Dynamik und Fortschrittsfähigkeit<br />
nicht mehr zuzutrauen. Erst wenige haben verstanden, dass<br />
eine breite Umstellung im Denken erforderlich ist: weg von der<br />
Fixierung auf Jugend und Schönheit hin zur Anerkennung von<br />
Erfahrung und Wissensressourcen. So könnte der „Problemfall<br />
Demographiewandel“ nachhaltig gelöst werden.<br />
Erfahrungsschätze ausschöpfen<br />
»In der östlichen Kultur<br />
bedeutet das Alte das Ehrwürdige,<br />
Verehrenswürdige.«<br />
Völlig anders ist derweil die Haltung der Asiaten, speziell der<br />
Japaner, gegenüber dem Alter und alten Menschen. Während<br />
der Westen geprägt ist von der Dynamik des Fortschritts, von<br />
steter Erneuerung und dem Kampf Jung gegen Alt, der Begeisterung<br />
für das Neue, steht im fernen Osten die Ehrfurcht<br />
vor der Tradition ganz weit oben auf der Werteskala. Und dies<br />
meint beileibe nicht die Verhinderung von Fortschritt – sonst<br />
wäre Japan nicht eine der führenden Industrienationen. In der<br />
östlichen Kultur bedeutet das Alte das Ehrwürdige, Verehrenswürdige.<br />
Alter ist kein Makel, sondern der Beweis für ein<br />
gelebtes Leben, für Erfahrung, die weitergegeben werden<br />
kann und muss. Das gilt sowohl im Privaten und in der Familie<br />
als auch im Berufsleben und in den Unternehmen. Die Jungen<br />
lernen von den Älteren, nutzen und wertschätzen deren<br />
Erfahrung.<br />
Diese fernöstlich inspirierte Philosophie findet ihren Niederschlag<br />
inzwischen auch bei uns, z.B. in „Erfahrung Deutschland“,<br />
einer Initiative der Deutschen Seniorenliga (DSL) mit<br />
wissenschaftlichem Beirat, die von Banken und Wirtschaftsunternehmen<br />
ausdrücklich unterstützt und gefördert wird.<br />
Die Initiative „Erfahrung Deutschland“ vermittelt ehemalige<br />
Leistungsträger, die sich im Ruhestand befinden, zurück in die<br />
deutsche Wirtschaft. Dort arbeiten sie als Berater und Experten<br />
auf Zeit für einzelne Projekte. Die Initiatoren betonen, dass<br />
die Ruheständler wichtige Wissensträger seien, extrem gut<br />
aus- und fortgebildet und mit jahrzehntelang erworbenen<br />
Erfahrungen. Auf diese wertvollen Ressourcen können Unternehmen<br />
inzwischen nicht mehr verzichten. Und die Zahl<br />
der Unternehmen wächst, in denen Personalverantwortliche<br />
erkannt haben, dass ein Team oder ein Projekt dann nach-<br />
3<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
perspektiven_demographischer wandel<br />
60<br />
Männer<br />
80 +<br />
75 – 79<br />
Frauen<br />
70 – 74<br />
65 – 69<br />
60 – 64<br />
55 – 59<br />
50 – 54<br />
Entwicklungsländer<br />
45 – 49<br />
40 – 44<br />
35 – 39<br />
30 – 34<br />
25 – 29<br />
20 – 24<br />
15 – 19<br />
10 – 14<br />
5 – 9<br />
0 – 4<br />
300<br />
250<br />
200<br />
150<br />
100<br />
50 0 50 100 150 200 250 300<br />
Millionen<br />
80 +<br />
75 – 79<br />
Industrieländer<br />
70 – 74<br />
65 – 69<br />
60 – 64<br />
55 – 59<br />
50 – 54<br />
45 – 49<br />
40 – 44<br />
35 – 39<br />
30 – 34<br />
25 – 29<br />
20 – 24<br />
15 – 19<br />
10 – 14<br />
5 – 9<br />
0 – 4<br />
Im Gegensatz zu<br />
den Industrieländern<br />
haben Entwicklungsländer<br />
eine sehr junge<br />
Altersstruktur. Ein<br />
Drittel der Bevölkerung<br />
in Entwicklungsländern<br />
sind<br />
Kinder und<br />
Jugendliche. In<br />
Afrika sind sogar<br />
42 Prozent der<br />
Bevölkerung jünger<br />
als 15 Jahre.<br />
Grund für die junge<br />
Bevölkerungsstruktur<br />
ist die<br />
hohe Fertilitätsrate<br />
vieler Entwicklungsländer.<br />
300<br />
250<br />
200<br />
150<br />
100<br />
50 0 50 100 150 200 250 300<br />
Millionen<br />
Quelle: Vereinte Nationen, World Population Prospects: The 2000 Revision, New York 2001.<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
61<br />
3 haltig erfolgreich wird, wenn die Mischung aus verschiedenen<br />
Altersgruppen und Erfahrungshintergründen stimmt.<br />
Mehrere große deutsche Industrie- und Automobilkonzerne<br />
arbeiten seit längerem mit altersgemischten Teams, in denen<br />
erfahrene Mitarbeiter zusammen mit jungen Fachkräften effizientere,<br />
optimierte Arbeitsergebnisse erzielen können. Denn<br />
langjährige Experten haben das richtige Gespür im Umgang<br />
mit Kunden, können aufgrund höherer Lebens- und Arbeitserfahrung<br />
mit komplexen Sachverhalten besser umgehen und<br />
zeichnen sich durch eine höhere Sozialkompetenz aus.<br />
Genau das bestätigen auch die Gründer des Jobportals<br />
www.expertia.de, der ersten Internetjobbörse für Arbeitssuchende<br />
ab 50 Jahren. Sie heben hervor, welche besonderen<br />
Eigenschaften für die sogenannten „Silver Agers“ sprechen:<br />
„Unsere Experten verfügen über persönliche Reife und können<br />
sowohl mit Erfolgen als auch Misserfolgen aufgrund ihrer<br />
Erfahrung sehr gut umgehen. Sie wissen, was sie können und<br />
wo ihre Grenzen sind. Mit Problemen und Krisen im Job gehen<br />
sie gelassen um, haben langjährige Praxiserfahrung und kennen<br />
Risiken und Stolpersteine. Sie wissen, wie sie die Dinge<br />
anpacken müssen. Unsere Experten haben eine hohe soziale<br />
Intelligenz, weil sie im Lauf ihres Berufslebens alle möglichen<br />
Persönlichkeitstypen von Chefs, Mitarbeitern und Kollegen<br />
kennengelernt haben. Sie wirken oft stabilisierend bei Teamkonflikten“,<br />
so weiß man hier.<br />
Die neue Welt der jungen Alten<br />
Tatsächlich waren ältere Menschen noch nie so vital und leistungsfähig.<br />
Die heute 60-Jährigen sind geistig und körperlich<br />
deutlich jünger als die 55-Jährigen früherer Generationen. Sie<br />
nehmen interessiert und aktiv am Leben teil und haben durchaus<br />
Ansprüche an ihre Ruhestandsphase.<br />
Erst jüngst hat eine Roland-Berger-Studie im Auftrag der Bundesregierung<br />
diese Diskrepanz aufgezeigt und die positiven<br />
Auswirkungen der alternden Gesellschaft im Hinblick auf<br />
Wachstum und Beschäftigung ins Blickfeld gerückt. Von der<br />
„Wirtschaftskraft Alter“ könne Deutschland in den nächsten<br />
Jahren und Jahrzehnten stark profitieren. Dabei müssten die<br />
Ideen für die Ansprache dieser wachsenden Zielgruppe weit<br />
über Haftcreme und Treppenlifte hinausgehen. Die Bereiche<br />
Freizeit und Tourismus, Wohnen und Dienstleistungen, Neue<br />
Medien und Kommunikation, Finanzdienstleistungen und vor<br />
allem Gesundheit und Pflege stünden vor einem enormen<br />
Boom – wenn die Zeichen der Zeit erkannt würden.<br />
Schon jetzt hat der Wunsch der Menschen nach ewiger<br />
Jugend und Schönheit eine ganze „Anti-Aging“- Industrie<br />
hervorgebracht, die rasante Wachstumszahlen aufweisen<br />
kann. Lifestyleprodukte, Nahrungsergänzungsmittel und<br />
Diäten verkaufen sich gut. Allerdings findet auch eine Menge<br />
faszinierender Forschung statt: Typische Alterserkrankungen<br />
wie Alzheimer oder Diabetes, Gefäßerkrankungen und Osteoporose<br />
werden immer intensiver erforscht und besser behandelbar.<br />
Bei aller Bemühung darum, die Beschwerden und Krankheiten<br />
des Alters zu besiegen: Eine wissenschaftlich fundierte<br />
Altersmedizin wird sicher nicht einem übersteigerten Jugendwahn<br />
zuarbeiten. Seriöse Gerontologen betonen, dass es das<br />
Ziel ihrer Arbeit sei, eine Verlängerung jener Phase zu erreichen,<br />
in der man gesund und glücklich ist im Leben. Und so<br />
soll am Ende dieser Betrachtung der Wunsch eines englischen<br />
Altersforschers exemplarisch für geglücktes Altern stehen:<br />
„Meine Vorstellung vom gesunden Altwerden wäre es,<br />
erschossen zu werden. Vom eifersüchtigen Ehemann einer<br />
Geliebten – mit 90 Jahren.“ 7<br />
TEXT: DR. MELANIE THIELKING<br />
Skurriles<br />
Der Jugendwahn treibt zum Teil seltsame Blüten.<br />
Besonders in den USA gibt es viele Alte, die ihre<br />
Jungerhaltung zum Kult erhoben haben. Doch<br />
auch in Deutschland sprudeln immer neue Anti-<br />
Aging-Ideen hervor:<br />
Prevent-Age-Medizin: Gezielter Einsatz von<br />
Hormonen, Melatonin, DHEA, der Verzehr von<br />
Sojaprodukten, grünem Tee und speziellen<br />
Fettsäuren sollen Altersbeschwerden lindern und<br />
Alterungsprozesse hinauszögern.<br />
Neurobics: das Aerobic-Programm für das Gehirn.<br />
Neurobics-Übungen beziehen alle fünf Sinne des<br />
Menschen ein, um die geistige Fitness zu steigern.<br />
Face-Jogging: gezielte Übungen gegen eine<br />
vorzeitige Alterung der Gesichtshaut durch Streichmassagen,<br />
Lymphdrainage und Akupressuren,<br />
die die Gesichtsmuskulatur stimulieren und durchblutungsfördernd<br />
wirken.<br />
Well-Aging: Eine ausgewogene Aminosäurenbalance<br />
im Körper, ein spezifisches Workout der<br />
Tiefenmuskulatur und richtiges Essen sollen<br />
mobilisierend und verjüngend auf den Körper<br />
wirken. 7<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
perspektiven_mehrgenerationenhaus<br />
62<br />
UNTER EINEM DACH<br />
Die Fragen, die der demographische Wandel aufwirft, verlangen nach neuen Antworten. Eine<br />
solche ist das Mehrgenerationenhaus – ein Dach, unter dem mehrere Generationen miteinander<br />
leben und voneinander lernen können. Bald soll es einen solchen Treffpunkt in jedem Landkreis<br />
in Deutschland geben. Langen bei Frankfurt am Main hat schon jetzt einen.
In Martina Römerts<br />
Yogastunde werden<br />
nicht nur Sonne und<br />
Mond begrüßt, sondern<br />
auch Säuglinge<br />
und Kleinkinder willkommen<br />
geheißen<br />
– notfalls mit Reiswaffeln.<br />
Der Sohn zupft an der Trainingshose der Mutter.<br />
Während sie auf der Turnmatte liegt, die Hände<br />
in die Hüften stemmt und die Beine in die<br />
Höhe streckt, fragt er nach einer Puffreiswaffel.<br />
So sieht keine gewöhnliche Yogastunde<br />
aus. Ort der Sportübung ist das Zentrum für<br />
Jung und Alt, das zwei Vereine – das Mütterzentrum<br />
und die Seniorenhilfe – gemeinsam in Langen bei Frankfurt<br />
unterhalten. Das Zentrum gehört zu den Mehrgenerationenhäusern,<br />
die Bundesfamilienministerin Ursula von der<br />
Leyen seit einem Jahr fördert. Ein Mehrgenerationenhaus soll<br />
ein offener Treffpunkt sein, an dem Menschen verschiedenen<br />
Alters zusammenkommen, Hilfe finden und geben können.<br />
3
perspektiven_mehrgenerationenhaus<br />
64<br />
3 Ein Opa für alle Fälle<br />
Tesafilmstreifen halten den Einband zusammen: Das Bilderbuch<br />
„Die Tiere des Waldes“ lieben die Kinder am meisten.<br />
Wieder und wieder muss Jan Jabczynski den Band hervorkramen<br />
und von den Rehen, Bären und Amseln berichten.<br />
Zumindest solange im Flur der Papierpfeil auf die Buntstiftwolke<br />
zeigt. Weist er jedoch endlich auf die Filzstiftsonne, dürfen<br />
alle hinaus. In den Sandkasten und auf die Schaukel. Dass<br />
er seit ungefähr vier Jahren Rentner ist, erzählt Jan Jabczynski,<br />
während er Sandkuchen in Plastikförmchen backt. Fast genauso<br />
lange kümmert sich der ehemalige Bibliothekar schon<br />
gemeinsam mit den Erzieherinnen um ein Dutzend Kinder. Ein,<br />
zweimal in der Woche schaut er in der Tagesstätte vorbei. „Je<br />
nach Bedarf“, sagt er. Er hat eine Aufgabe, er wird gebraucht.<br />
3
Niemand nennt ihn<br />
Jan Jabczynski, alle<br />
rufen nach Opa Jan.<br />
Enkelkinder hat<br />
der Rentner keine.<br />
Dafür aber Fabian,<br />
Sina und Mohammed.
66<br />
perspektiven_mehrgenerationenhaus
Mehr als 50 Buntstiftzeichnungen<br />
hängen im Flur. Sie<br />
zeigen Großeltern<br />
und Enkel. Und<br />
einmal auch einen<br />
quietschgelben<br />
Hund.<br />
3 Alltägliche Begegnungen<br />
Eine Großmutter frisiert sich den weißen Lockenkopf, ein<br />
Großvater trägt enge Röhrenjeans. Rund 50 Buntstiftporträts<br />
hängen an der Flurwand. Sie haben eine Gemeinsamkeit:<br />
Viele der Großeltern wurden unter Palmen, auf Segelschiffen<br />
oder in Liegestühlen gemalt – die 4 bis 14 Jahre alten Künstler<br />
treffen Oma und Opa zumeist in den Ferien. „Wichtig ist<br />
aber vor allem die alltägliche Begegnung zwischen Jüngeren<br />
und Älteren“, sagt Monika Maier-Luchmann, die für die<br />
Koordination im Zentrum zuständig ist. „Diesen ständigen<br />
Kontakt wollen wir ermöglichen.“<br />
3
perspektiven_mehrgenerationenhaus<br />
68<br />
Das Engagement aller ist gefragt –<br />
auch bei der Gartenarbeit.<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
69<br />
Wo die Kinder sonst im Kaufmannsladen Kakao und Konserven gegen<br />
Papiergeld tauschen, posiert ausnahmsweise die Großfamilie.<br />
Das Zentrum für<br />
Jung und Alt gibt<br />
es seit rund<br />
20 Jahren, das<br />
Mehrgenerationenhaus<br />
seit gut<br />
einem Jahr.<br />
3 Erfahrungsschätze anzapfen<br />
Rund 400 Namen stehen auf der Liste, allesamt mit einem<br />
„Betätigungsfeld“ versehen. Spalte für Spalte geht Helga<br />
Techen sie durch. Wer von den aktiven Mitgliedern im Seniorenverein<br />
könnte wohl einer Grundschülerin Deutschnachhilfe<br />
geben? Bei einer pensionierten Lehrerin hält sie inne und<br />
greift zum Telefonhörer. So findet die 72-Jährige Woche für<br />
Woche Menschen, die anderen im Garten, bei Behördengängen,<br />
in der Schule helfen wollen. Helga Techen sitzt fast jeden<br />
Dienstag von 10 bis 12 Uhr in der Geschäftsstelle. „Denn“,<br />
sagt die frühere Reisebürokauffrau, „hier ist Leben im Haus.“7<br />
TEXT: INKA WICHMANN | FOTOS: OLIVER RÜTHER<br />
Eine Drittklässlerin<br />
braucht Nachhilfe<br />
im Deutschunterricht.<br />
Ursula Gutsch<br />
(vorne) und Helga<br />
Techen vermitteln<br />
sie ihr.<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
perspektiven_naturgewalten<br />
70<br />
ANGEBETET, GEFÜRCHTET,<br />
ABER NIE GEZÄHMT<br />
Magisch angezogen fühlen wir uns von dem, was wir am meisten fürchten. Eine Ambivalenz,<br />
die in den Naturgewalten ganz klar zum Ausdruck kommt: Was Segen bringen kann,<br />
kann auch schaden. Zu allen Zeiten haben die Menschen Wind, Wasser und Sonne besungen<br />
und gefürchtet – und versucht, sie sich zunutze zu machen.<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
71<br />
ZUNUTZE GEMACHT –<br />
Beim Sonnenwagen von Trundholm, einer Skulptur aus der älteren Nordischen Bronzezeit<br />
(um 1400 v. Chr.) Nordeuropas, handelt es sich um den Versuch, sich die Bewegung<br />
der Sonne klarzumachen. Weitergeführt wurde die nordische Vorstellung später von den<br />
Griechen und Römern mit ihren vom Sonnengott gelenkten Vierergespannen.<br />
Sonne<br />
Dass von der Sonne, dem<br />
beherrschenden Himmelskörper<br />
in unserem Planetensystem,<br />
alles Leben auf der Erde abhängt, ist den Menschen<br />
seit Alters her bewusst. In nahezu allen Kulturen, von<br />
den Azteken, Mayas und Inkas bis zu den Ägyptern, Griechen<br />
und nordischen Kulturen findet sich ein mehr oder weniger<br />
ausgeprägter Sonnenkult. Die Sonne wurde früh als natürliche<br />
Uhr des Menschen erkannt, ihre regelmäßige tägliche Wiederkehr<br />
ängstlich erwartet und mittels magischer Rituale<br />
beschworen, die Bestimmung ihrer Bahnpunkte für die Erstellung<br />
von Kalendern und die Voraussage wichtiger jahreszeitlicher<br />
Ereignisse wie des Nilhochwassers im alten Ägypten<br />
genutzt. Große Ängste lösten Sonnenfinsternisse aus. So war<br />
man im alten China überzeugt, ein Drache würde die Sonne<br />
verschlingen, und versuchte, diesen mit großem Lärm dazu zu<br />
bewegen, sie wieder freizugeben.<br />
Als physikalisches Objekt wurde die Sonne vermutlich erstmals<br />
im antiken Griechenland betrachtet. Mit seiner Beschreibung<br />
der Sonne als feurige Ausdünstung oder Wolke widersprach<br />
der griechische Philosoph und Dichter Xenophanes<br />
ca. 500 v. Chr. fundamental der vorherigen – und auch in späteren<br />
Jahrhunderten noch häufig vertretenen – Auffassung<br />
der Sonne als Gottheit.<br />
Eine passive Nutzung der Sonnenenergie ist in Ansätzen bereits<br />
in der Architektur des alten Ägyptens, in Mesopotamien<br />
und in den frühen südamerikanischen Hochkulturen zu finden.<br />
So nutzten die Ägypter zur Zeit des Pharaos Echnaton vor<br />
ca. 3.000 Jahren die Sonnenenergie zum Öffnen und<br />
Schließen der Tore eines Tempels. Wenn die aufgehende<br />
Sonne Wasser in einem großen Behälter in der Nähe des Tempels<br />
erwärmte, dehnten Wasser und Luft sich aus, das Wasser<br />
im Behälter lief über und floss in einen zweiten Behälter,<br />
der per Seilzug mit den Toren verbunden war und diese mit<br />
seinem Gewicht aufzog. Bei Sonnenuntergang kühlte das<br />
Wasser ab und floss mit dem nachlassenden Druck in den<br />
großen Behälter zurück. Ein schwerer Stein, der als Gegengewicht<br />
diente, zog die Tore wieder zu.<br />
3<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
perspektiven_naturgewalten<br />
72<br />
„Die Armillarsphaere“, Holzschnitt von Albrecht<br />
Dürer (1525): Ein auf die Hauptkreise der<br />
Gestirnsbewegungen reduzierter Himmelsglobus<br />
zeigt das geozentrische Weltsystem in der<br />
Außenansicht – hier mit den Winden der Erde in<br />
menschlicher Gestalt.<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
In der aztekischen Mythologie ist<br />
Quetzalcoatl – die gefiederte Schlange<br />
– der Gott des Windes.<br />
mit Sonnenkraft in Kalifornien zum ersten Mal Warmwasser<br />
aufbereitet, und 1932 wurden in Chicago sogar ganze Solarhäuser<br />
gebaut. Das Prinzip der Solarzelle wurde 1954 in den<br />
USA entwickelt. Bereits 1958 wurde der erste mit Solarzellen<br />
bestückte Satellit ins All geschickt.<br />
73<br />
3<br />
Auch das Prinzip der Solarthermie – die Beobachtung, dass<br />
sich Sonnenwärme in Glas oder Spiegeln konzentrieren lässt –<br />
wurde bereits lange vor unserer Zeitrechnung angewandt.<br />
Sicher nachgewiesen ist die Verwendung von Brennspiegeln<br />
im antiken Griechenland und Rom. Der griechische Philosoph<br />
Aristoteles berichtet um 350 v. Chr. zudem, dass Seeleute mit<br />
Hilfe von Destillation durch Sonnenwärme Trinkwasser aus<br />
Meerwasser gewannen.<br />
Die aktive Nutzung der Sonnenenergie ist allerdings eine<br />
Errungenschaft der Neuzeit. Im 18. Jahrhundert erfand der<br />
Naturforscher Horace-Bénédict de Saussure mit seiner „Heizkiste“<br />
einen Vorläufer der heutigen Solarkollektoren. Nach<br />
dem Vorbild von de Saussure konstruierte der französische<br />
Mathematiklehrer Augustin Mouchot dann im 19. Jahrhundert<br />
sogar einen mit Dampf betriebenen Solarmotor. Mit der Entdeckung<br />
des Photoeffekts schuf der französische Physiker<br />
Alexandre Edmond Becquerel 1839 schließlich die Voraussetzungen<br />
für die heutigen Solarzellen. 1904 entstand in<br />
St. Louis die erste Solarfarmanlage, fünf Jahre später wurde<br />
Wind<br />
Flügelbewehrt, mit wehendem Gewand,<br />
fliegenden Locken und dick<br />
geblähten Wangen schwebt er<br />
heran: Zephyr, der Westwind, bläst die leichtfüßig in ihrer<br />
Muschelbarke stehende Venus an das Ufer Zyperns. So zeigt<br />
es Botticellis „Geburt der Venus“, eines der prominentesten<br />
Werke der Renaissancemalerei, die systematisch die Figuren<br />
antiker Mythologie wiederauferstehen lässt – samt ihrer ungezählten<br />
Götter und personifizierten Naturgewalten.<br />
Neben Westwind Zephyr wurden im alten Griechenland auch<br />
dessen Brüder Notos (Süd-), Boreas (Nord-) und Euros (Ostwind)<br />
verehrt. Ihre menschlich-geflügelte Erscheinungsform<br />
ist aber nur einer unter zahlreichen Versuchen polytheistischer<br />
Völker, dem Wind eine fassbare, göttliche Gestalt zu<br />
verleihen: So stellten sich die Azteken ihren Gott<br />
Quetzalcoatl als gefiederte Schlange vor, die Ägypter<br />
verehrten den Windgott Amun in Gestalt eines Widders<br />
und als Mann mit Federkrone, die Anbetungsformen<br />
reichen vom reinen Gebet bis zum Blut- und Menschenopfer.<br />
Das Ziel aller Opferungen aber blieb durch alle<br />
Kulturen und Zeiten gleich: die Gunst der Götter zu gewinnen,<br />
die dem Wind gebieten sollten – natürlich im Sinne der<br />
Anbetenden. Denn so alt wie die Verehrung der Windgötter,<br />
so alt ist auch die Nutzung der Windenergie durch<br />
den Menschen.<br />
Die wohl älteste Nutzungsform der Windenergie ist wie Windgott<br />
Amun vermutlich bei den Ägyptern zu Hause: das Segel.<br />
Über 5.000 Jahre alt sind die ägyptischen Vasen, die die<br />
frühesten Abbildungen von Segelbooten zeigen. Und die Erfolgsgeschichte<br />
dieser Erfindung dauerte bis weit ins 19. Jahrhundert:<br />
Denn erst das Aufkommen der Dampfmaschine setzte<br />
der intensiven Nutzung der Windkraft ein vorläufiges Ende.<br />
Dazwischen aber liegen nicht nur der Import der Windmühle<br />
aus Asien nach Europa und die ständige technische Fortentwicklung<br />
der Segelschiffe bis zum Fünfmaster. Auch einige<br />
der bedeutendsten Errungenschaften der Zivilisation wären<br />
ohne Windenergie unmöglich gewesen, wie die Entdeckung<br />
Amerikas oder die Forschungsreisen Charles Darwins.<br />
Allerdings folgt dem Segen der Windkraft auch der Fluch auf<br />
dem Fuße, und das bis in unsere Tage. Der wiederkehrenden<br />
Begeisterung für Windkraftanlagen und erneuerbare Energien<br />
stehen verheerende Stürme gegenüber, die Namen wie<br />
„Katrina“ oder „Kyrill“ tragen und deren Stärke wir anhand<br />
der Beaufort-Skala, die der gleichnamige britische Seeadmiral<br />
1806 zur Klassifikation von Winden nach ihrer Geschwindigkeit<br />
entwickelte, messen. 3<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
perspektiven_naturgewalten<br />
74<br />
„Die große Woge“, Holzschnitt von Katsushika Hokusai<br />
3 Ähnlich wie Beaufort begegnen auch wir heute der immensen<br />
Kraft des Windes: Wissenschaftliche Erforschung hat Gebete<br />
und Opfer abgelöst, Satelliten beobachten das Erdenwetter,<br />
Messungen ermitteln Windstärke, Luftdruck, -temperatur und<br />
-feuchtigkeit. Dennoch bleibt es die Naturgewalt, die am<br />
längeren Hebel sitzt. Zwar kann die Kraft des Windes immer<br />
besser gemessen, vorhergesagt und genutzt werden – doch<br />
bezähmt ist sie deswegen noch lange nicht.<br />
Wasser<br />
Meterhoch türmt sich<br />
die Riesenwelle auf,<br />
jeden Moment droht<br />
sie zu brechen; ihre Schaumkronen greifen Tentakeln gleich<br />
nach den schlanken Holzbooten, die der Gewalt des Wassers<br />
schutzlos ausgeliefert sind. „Die große Woge“ von Katsushika<br />
Hokusai (1831) ist ein Meisterwerk des japanischen Farbholzschnitts<br />
und eindrucksvolles Zeugnis jenes Naturphänomens,<br />
das sich spätestens mit der Katastrophe vom 26. Dezember<br />
2004 dem kollektiven Gedächtnis eingeprägt hat. Das japani-<br />
sche Wort „Tsunami“ bedeutet eigentlich „lange Hafenwelle“,<br />
doch heute sind damit ausschließlich jene Monsterwellen<br />
gemeint, die aus seismographischen Erschütterungen hervorgehen:<br />
Seebeben oder Vulkanausbrüchen. Gebärdet sich das<br />
Meer an stürmischen Tagen ohnehin höchst anarchisch, potenziert<br />
sich bei sogenannten „Freak Waves“ die Zerstörungskraft<br />
– selbst Containerschiffe und Supertanker können von<br />
den kolossalen Riesenwogen zertrümmert werden. „Nichts<br />
auf der Welt ist weicher als Wasser, aber im Besiegen des<br />
Harten kommt ihm nichts gleich“, schrieb der chinesische<br />
Philosoph Laotse bereits im 6. Jahrhundert v. Chr.. Taifune,<br />
die das Meer aufs Land peitschen, Sturmfluten, die Deiche<br />
brechen lassen, Flüsse, die nach Dauerregen über die Ufer<br />
treten: Die Urgewalt des Wassers lässt sich nicht bezähmen –<br />
und nur mit großer Mühe kann der Mensch sich seine Kraft zu<br />
Diensten machen. Wasser gibt und Wasser nimmt; als Sintflut<br />
bringt es Verderben, als Taufe das Heil. Kein Wunder also,<br />
dass die Menschheit seit jeher ein höchst ambivalentes<br />
Verhältnis zum Wasser hat. Auch die Wassergötter, in der grie-<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
Die Statue des griechischen<br />
Gottes der Meere, Poseidon,<br />
im Archäologischen Nationalmuseum<br />
Athen. Undatiert<br />
chischen Mythologie durch Poseidon vertreten, sind zwiespältige<br />
Geschöpfe. So erschuf ein gutgelaunter Poseidon, der<br />
sich gerne mit Nereiden und Okeaniden vergnügte, neue<br />
Inseln und ließ die See ruhen. Wurde er jedoch wütend,<br />
erschütterte er mit seinem Dreizack die Erde und wühlte das<br />
Meer auf. Viele Meeres- und Schöpfungsgeschichten sind<br />
universell: Ihre Motive winden sich durch die Kulturen wie ein<br />
Fluss, der die Völker der Welt miteinander verbindet. Nicht im<br />
Salz-, sondern im Süßwasser liegt der Ursprung der Zivilisation:<br />
Die erste Hochkultur im Zweistromland zwischen Euphrat<br />
und Tigris konnte erst entstehen, als die Menschen gelernt<br />
hatten, ihre<br />
Felder zu bewässern.<br />
Auch<br />
heute werden Ströme<br />
vielfältig genutzt: Sie liefern Wasser für<br />
die Landwirtschaft, für Energieerzeugung durch Wasserkraft;<br />
sie dienen als wichtige Handels- und Transportwege.<br />
Kaum zu glauben, dass nur etwa 3 Prozent der Gesamtwassermenge<br />
auf unserem Globus – geschätzten 1,4 Milliarden<br />
Kubikkilometern – als Süßwasserreservoir zur Verfügung<br />
stehen; das meiste davon ist im Eis der Pole und in Gebirgsgletschern<br />
eingefroren. Umso unbegreiflicher ist, wie verschwenderisch<br />
wir mit dem kostbaren Nass umgehen. Die<br />
<strong>Umwelt</strong>behörde der Vereinten Nationen zeichnet in ihrem<br />
jüngsten Bericht ein düsteres Bild: In weniger als 20 Jahren<br />
werde das Frischwasser in weiten Teilen der Erde knapp,<br />
prognostizieren die Experten. Bereits heute sterben jährlich<br />
3 Millionen Menschen an den Folgen von verschmutztem Wasser.<br />
Drei Viertel der Erdoberfläche sind von Wasser bedeckt;<br />
trotzdem nennen wir unseren Planeten „Erde“. „Wasser“ wäre<br />
eigentlich zutreffender. 7<br />
TEXT: ANKE BRYSON, SARAH BAUTZ, MARGIT UBER<br />
75<br />
Ein Gott, der Früchte bringt: der Flussgott Hapi, Personifikation des Nils<br />
und der Nilüberschwemmungen, hier abgebildet auf einem Relief aus<br />
der Zeit um 1490-1468 v. Chr.<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
perspektiven_katastrophen<br />
76<br />
660 Tonnen Stahl zum Schutz vor Erdbeben:<br />
Diese Stahlkugel in der Spitze des 508 Meter<br />
hohen Wolkenkratzers „Taipeh 101“ in der<br />
taiwanischen Hauptstadt Taipeh soll als<br />
Schwingungsdämpfer bei Erdbeben dienen.<br />
MIT DER GEFAHR<br />
LEBEN LERNEN<br />
Erdbeben, Hurrikane, Dürren, Tsunamis, Überschwemmungen – Naturgefahren gibt es seit Menschengedenken.<br />
Doch die Zahl der Katastrophen hat in den vergangenen Jahren rapide zugenommen.<br />
Der Mensch, scheint es, bleibt hilfloses Opfer tosender Naturgewalten – es sei denn, er entwickelt<br />
die richtigen Warnsysteme und Anpassungsstrategien.<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
Im Jahr 1975 zählten Experten weltweit<br />
etwa 70 Naturkatastrophen. Im Jahr<br />
2006 waren es mit 395 fast sechsmal<br />
so viele – und die Zahl der Opfer steigt<br />
überproportional. Dafür gibt es viele<br />
Gründe: die wachsende Erdbevölkerung<br />
und damit mehr Menschen, die<br />
extremen Naturereignissen zum Opfer fallen.<br />
Millionen Bauern und Tagelöhner<br />
drängen in die überquellenden Megacities,<br />
von denen sich viele in gefährdeten Regionen<br />
befinden. Mehr und mehr Menschen<br />
leben weltweit in Küstenregionen und<br />
Flusstälern. Treiben Stürme oder schwere<br />
Regenfälle Fluten heran, sind Hunderttausende<br />
betroffen. Auch der Klimawandel<br />
scheint eine Rolle zu spielen. Er gilt als Ursache<br />
für lang anhaltende Dürren, extreme<br />
Niederschläge und starke Stürme.<br />
Das alles klingt beängstigend. Doch es gibt<br />
einen ermutigenden Trend: die wachsende<br />
Einsicht, dass der Mensch die Naturereignisse<br />
nicht fatalistisch über sich ergehen<br />
lassen muss. Er kann durchaus<br />
selbst steuern, ob das Naturereignis<br />
zur Katastrophe wird. Die<br />
Voraussetzung dafür ist, dass<br />
er das Risiko kennt und vor<br />
dem Ereignis gewarnt wird.<br />
Der Tsunami im Dezember<br />
2004 brach aus heiterem<br />
Himmel über die Menschen<br />
in Südostasien<br />
herein. Unter anderem,<br />
weil es im indischen<br />
Ozean noch kein leistungsfähiges<br />
Frühwarnsystem<br />
gab. Doch wahrscheinlich<br />
wäre selbst<br />
dann eine Katastrophe eingetreten,<br />
wenn die Sirenen<br />
geheult und im Radio Warnmeldungen<br />
geschnarrt hätten.<br />
Naturkatastrophen passieren unregelmäßig.<br />
Wenn es lange still ist,<br />
geraten sie in Vergessenheit. Das<br />
Gefühl für die Gefahr verschwindet. In<br />
Thailand oder in Indien übersahen die<br />
Menschen das Warnsignal: Vor der Welle<br />
zog sich das Meer zurück. Kaum jemand<br />
3<br />
77<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
perspektiven_katastrophen<br />
78<br />
sowieso zahlt.“ Nach der Katastrophe wird<br />
dann oftmals an derselben Stelle neu gebaut<br />
– bis zur nächsten Katastrophe.<br />
Risikobewusstsein lässt sich lernen<br />
Das modernste Tsunami-Warnzentrum der Welt steht in Indien. Innerhalb von 13 Minuten<br />
nach einem Erdbeben warnt es vor den „Monsterwellen“.<br />
3 wusste, wie er sich richtig verhalten sollte.<br />
Ähnliches gilt für die Flut in Mozambique<br />
im Jahr 2002. Obwohl das Wasser nach<br />
starken Regenfällen immer weiter stieg,<br />
blieben die Menschen in ihren Häusern –<br />
aus Angst, bestohlen zu werden, aber<br />
auch, weil ihnen die Gefahr nicht bewusst<br />
war. Und selbst in New Orleans wollten die<br />
Menschen lieber daheim ausharren – trotz<br />
bedrohlicher Satellitenbilder im Fernsehen<br />
und drängender Evakuierungsaufrufe.<br />
Ihnen war nicht klar, welche Wassermassen<br />
sich draußen vor den Deichen am<br />
Mississippi und Lake Pontchartrain aufstauten.<br />
Mehrere Hundert ertranken.<br />
Trügerische Sicherheit<br />
Für Thomas Loster gibt es deshalb nur<br />
einen Weg, die Menschen vor den zunehmenden<br />
Naturkatastrophen zu schützen –<br />
die Schulung des Risikobewusstseins.<br />
„Bottom-up-Ansatz“ nennt das der Geschäftsführer<br />
der Stiftung der Münchner<br />
Rückversicherung, die sich auf Katastrophenvorsorge<br />
spezialisiert hat. Die Katastrophenvorsorge<br />
beginnt im Bewusstsein<br />
des kleinen Mannes – des Fischers, des<br />
Bauern. „Lösungen wie Frühwarnsysteme<br />
sind sinnvoll. Sie erreichen die Menschen<br />
ganz am Ende der Informationskette aber<br />
nur, wenn sie um die Gefahr wissen und<br />
entsprechend reagieren können.“<br />
Sich des Risikos bewusst zu sein, ist der<br />
wohl beste Schutz gegen eine Katastrophe.<br />
Wie viele Katastrophen zeigen, ist das<br />
Bewusstsein oftmals aber nicht vorhanden<br />
– das gilt nicht allein für Entwicklungsländer,<br />
sondern auch für die erste Welt. Der<br />
Sozialgeograph Carsten Felgentreff von<br />
der Universität Osnabrück kennt die<br />
psychologischen Mechanismen: „Je sicherer<br />
sich die Leute fühlen, desto mehr Werte<br />
häufen sie an. Im Katastrophenfall sind die<br />
Schäden immens.“<br />
Die Waldbrände in Kalifornien vor wenigen<br />
Monaten machten das nur allzu deutlich.<br />
Viele Wohlhabende hatten ihre Häuser in<br />
den trockenen Waldflächen vor den Städten<br />
gebaut, in Gebieten, die schon immer<br />
von Waldbränden verwüstet werden. Niemand<br />
hatte damit gerechnet, dass irgendwann<br />
die Feuerwalze anrollen würde. Das<br />
Problem kann durch Versicherungen noch<br />
verschärft werden, sagt Felgentreff. „Es ist<br />
paradox. Wer gut versichert ist, geht höhere<br />
Risiken ein, weil die Versicherung ja<br />
Ein Tsunami-<br />
Warnturm am<br />
Strand von<br />
Patong auf der<br />
thailändischen<br />
Insel Phuket.<br />
Das Wissen um die Gefahr ist also der<br />
Schlüssel für eine erfolgreiche Katastrophenvermeidung.<br />
Die Gesellschaft für<br />
Technische Zusammenarbeit (GTZ) in<br />
Eschborn berücksichtigt das in ihren Entwicklungshilfeprojekten.<br />
Nach dem Tsunami<br />
startete die GTZ ein Schulprojekt in Indonesien<br />
und auf Sri Lanka. Gemeinsam<br />
mit den Bildungsbehörden beider Länder<br />
entwickelten die Experten Unterrichtsmaterial<br />
für Schüler und Lehrer, das über die Naturgefahren<br />
in der Region informiert – Überflutungen,<br />
Vulkanausbrüche, Erdbeben<br />
und Hangrutschungen. Mehr als 30.000<br />
Kinder haben inzwischen nicht nur Lesen<br />
und Schreiben, sondern auch Risikobewusstsein<br />
gelernt. Seine Bewährungsprobe<br />
bestand das Projekt im Mai 2006,<br />
als ein Erdbeben die indonesische Region<br />
Yogyakarta erschütterte. „Die Opferzahlen<br />
wären weitaus höher gewesen, wenn die<br />
meisten Kinder nicht kurz vorher in der<br />
Schule gelernt hätten, wie sie sich bei<br />
einem Erdbeben verhalten müssen“, sagt<br />
Thomas Schaef, bei der GTZ Planungsspezialist<br />
für internationales Disaster-Management.<br />
Bildung ist nur ein Aspekt der<br />
modernen Katastrophenbekämpfung. Das<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
79<br />
Ein Seismograph im Erdbebenforschungszentrum der Universität von Tokio.<br />
»Die moderne Katastrophenhilfe<br />
braucht eher Einfühlungsvermögen<br />
als harte Technik.«<br />
Das Tsunami-Frühwarnsystem des Kieler Leibniz-<br />
Instituts für Meereswissenschaften soll über<br />
Bojen in Verbindung mit Meeresbodensensoren<br />
Seebeben und Flutwellen frühzeitig erkennen.<br />
international als ideal betrachtete und vom<br />
Genfer UN-Katastrophenschutzprogramm<br />
(International Strategy for Disaster Reduction,<br />
ISDR) vorgeschlagene Modell besteht<br />
noch aus weiteren Säulen. Auch die GTZ<br />
richtet ihre Projekte danach aus. Wichtigstes<br />
Ziel ist, die Katastrophe zu verhindern.<br />
Zum Konzept gehört daher die Katastrophenvorbeugung<br />
– dazu zählen die Unterstützung<br />
von Katastrophenschutzeinrichtungen<br />
wie dem Technischen Hilfswerk<br />
in Deutschland oder die Ausrüstung von<br />
Rettungskräften. Die Katastrophenprävention<br />
ist die dritte Säule: Baumaßnahmen,<br />
die helfen, die Katastrophe zu verhindern –<br />
durch erdbebensichere Häuser oder hurrikanfeste<br />
Gebäude. Vor allem beim Wiederaufbau<br />
muss man präventiv denken –<br />
getreu dem Motto „Aus Schaden wird man<br />
klug“. Nur dann lässt sich die nächste Katastrophe<br />
tatsächlich abwenden. Darüber<br />
hinaus können ein entsprechendes Baurecht<br />
und intelligente Landnutzungspläne<br />
vermeiden, dass in gefährdeten Bereichen<br />
wie etwa Überschwemmungsflächen gebaut<br />
wird. Die letzte Säule ist meist der<br />
Beginn eines Katastrophenschutzprojektes<br />
– die Risikoanalyse. „Risiko“ ist das magische<br />
Wort der Katastrophenexperten. Nach<br />
der Definition der Gefahrenforscher ist das<br />
Risiko das mathematische Produkt aus der<br />
Eintretenswahrscheinlichkeit einer Gefahr<br />
und dem Schadenspotential – den materiellen<br />
Werten oder Menschenleben, die vernichtet<br />
werden könnten. 3<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
mit wissenschaftlichen Messungen – etwa<br />
Luftaufnahmen des Höhenprofils. Die Bauern<br />
brachten traditionelles Wissen über<br />
dürreresistente Pflanzen ein, die Europäer<br />
ihre Expertise über den Bau von Wasserrückhaltebecken<br />
oder Uferbefestigungen.<br />
Nach vier Jahren sind erste, einst<br />
karge Hänge aufgeforstet. Mäuerchen<br />
schützen die Hänge am Fluss vor Sturzbächen.<br />
Es ist gelungen, die Bauern und<br />
auch die Kommunalpolitiker in das Projekt<br />
zu integrieren, sagt Schaef. Die Bauern<br />
wissen jetzt, wie sie der Bedrohung begegnen<br />
können. Inzwischen folgen andere<br />
Regionen in Bolivien dem Beispiel.<br />
Das Projekt Rio San Pedro macht klar, dass<br />
die moderne Katastrophenhilfe eher<br />
Einfühlungsvermögen als harte Technik<br />
braucht. Damit packt man die Naturgefahren<br />
anders als noch vor zehn Jahren an.<br />
Seit Ende der achtziger Jahre hatte man<br />
die Erforschung der Naturgefahren mit<br />
Hightech forciert. Ausgeklügelte Frühwarnsysteme<br />
wurden entwickelt. Viel Geld floss<br />
in die Erforschung von Erdbeben und anperspektiven_katastrophen<br />
80<br />
Heiße Arbeit: Eine Vulkanologin vom Vulkanobservatorium auf Hawaii entnimmt dem Lavafluss des<br />
Pu’u ‘O’o ein Stück Magma.<br />
3 Mit der Risikoanalyse begann vor knapp<br />
fünf Jahren ein GTZ-Projekt im Hochland<br />
von Bolivien. Hier im Einzugsgebiet des Rio<br />
San Pedro bricht die Katastrophe durchaus<br />
häufiger über die Menschen herein – vermutlich<br />
beschleunigt durch den Klimawandel.<br />
Dürreperioden setzen früh im Jahr ein<br />
und dauern länger als gewöhnlich. Dann<br />
wieder gibt es extreme Regenfälle. Flüsse<br />
schwellen zu Sturzfluten an, spülen den<br />
Rest der ausgelaugten Muttererde fort und<br />
reißen Straßen und Brücken mit sich.<br />
Selbst in einigermaßen guten Jahren hatten<br />
die Menschen kaum genug zu essen.<br />
Die jungen Leute wanderten ab. Verdingten<br />
sich als Tagelöhner.<br />
Von Vorbeugung bis Prävention<br />
Schaef und seine Mitarbeiter hatten das<br />
Ziel, die Bevölkerung direkt mit einzubinden<br />
– „bottom-up“. Sie ließen die Dorfbewohner<br />
die Gefahren in handgemalte Karten<br />
zeichnen – wo waren Schlammlawinen<br />
niedergegangen, wo war der Hang gerutscht<br />
– und kombinierten die Ergebnisse<br />
»Wer lernt,<br />
mit der Gefahr zu leben,<br />
wird nicht weichen müssen.«<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
81<br />
deren Bedrohungen. Inzwischen sind viele<br />
Grundlagen bekannt. Das Geo-ForschungsZentrum<br />
in Potsdam zum Beispiel<br />
hat einen Atlas zur weltweiten Erdbebengefährdung<br />
entwickelt und führend am neuen<br />
Tsunami-Frühwarnsystem mitgearbeitet.<br />
Trotz des technischen Aufwands aber lässt<br />
sich ein Erdbeben nach wie vor nicht auf<br />
die Minute genau vorhersagen. Japan hat<br />
sich deshalb vom Ideal des unfehlbaren<br />
Erdbebenfrühwarnsystems verabschiedet<br />
und steckt die Gelder stattdessen in erdbebensichere<br />
Gebäude oder eine robuste<br />
Infrastruktur – Gasnetze, die sich in Sekundenschnelle<br />
abschalten lassen, oder Notstoppsysteme<br />
für Hochgeschwindigkeitszüge.<br />
Hilfe mit Einfühlungsvermögen<br />
Länder wie Japan können sich derartige<br />
Dinge leisten. Am schwersten von Katastrophen<br />
betroffen sind aber nach wie vor<br />
die Entwicklungsländer. Wo das Geld<br />
ohnehin knapp ist, steht der Katastrophenschutz<br />
nicht unbedingt an der Spitze der<br />
Bedarfsliste – der Straßenbau ist da mitunter<br />
wichtiger. Hilfsorganisationen versuchen<br />
deshalb, die Katastrophenvorbeugung<br />
in andere Projekte zu integrieren. So<br />
kann man ein Krankenhaus, das ohnehin<br />
neu errichtet wird, gleich erdbebensicher<br />
machen. Katastrophenschutz als Teil eines<br />
„Ongoing Process“, so nennt das Gerd<br />
Tetzlaff, Professor für Meteorologie an der<br />
Universität Leipzig. Katastrophenschutz<br />
wird eingebaut, wo sowieso gebaut wird.<br />
Bei einem neuen Deich zum Beispiel, den<br />
man etwas höher auslegt. Tetzlaff befasst<br />
US-Wissenschaftler<br />
installieren ein<br />
globales Positionierungssystem<br />
zur Kontrolle der<br />
Erdbewegungen am<br />
Mount St. Helens,<br />
der zuletzt 1980<br />
ausgebrochen ist.<br />
Amphibienhäuser in den Niederlanden: Mit wasserfesten Gebäuden bereiten sich die Niederländer auf<br />
steigende Meeresspiegel vor. Treten Flüsse über die Ufer, treiben die schwimmenden Häuser einfach<br />
obenauf.<br />
sich vor allem mit dem Einfluss des Klimawandels<br />
auf die Zunahme von Naturgefahren.<br />
Aus wissenschaftlicher Sicht, sagt er,<br />
kann bislang niemand mit Sicherheit<br />
sagen, ob extreme Wetterereignisse mit<br />
Katastrophenpotential tatsächlich zunehmen,<br />
obwohl Politiker gleich welcher Couleur<br />
immer wieder gern Schreckensbilder<br />
entwerfen. Noch fehle es an Daten. Ihn<br />
wundert es daher nicht, dass auch die Mitteleuropäer<br />
zögern, viel Geld in die Katastrophenvorsorge<br />
zu stecken, um für<br />
Naturgefahren gut gerüstet zu sein; Geld<br />
für den Bau großer Polder beispielsweise,<br />
Überschwemmungsflächen, entlang der<br />
Flüsse. Nach wie vor fällt es den Verantwortlichen<br />
schwer, die Vorsorgeziele scharf<br />
einzugrenzen und konkrete Präventionsmaßnahmen<br />
anzugehen.<br />
Der Klügere gibt nach<br />
Da erscheint es durchaus sinnvoll, den<br />
Holländern zu folgen: In den Niederlanden<br />
verabschiedet man sich inzwischen von<br />
dem 1.000-jährigen Kampf zwischen den<br />
Nordseefluten und den Deichbauern. „Man<br />
kann nicht bis in alle Ewigkeit so weitermachen<br />
und einfach immer höher bauen“,<br />
sagt Toine Smits, Experte für Wassermanagement<br />
an zwei holländischen Universitäten.<br />
Smits hat mit Unterstützung des<br />
Naturschutzverbands WWF Konzepte für<br />
alternative Hochwasserschutzmaßnahmen<br />
an den Flüssen und an der Küste entwickelt,<br />
mit denen sich der Mensch künftig<br />
an die natürliche Dynamik des Meeres und<br />
der Flüsse anpasst und nicht umgekehrt.<br />
Smits arbeitet an neuen Wohn- und<br />
Lebenskonzepten, die überflutungsunempfindlich<br />
sind. Dazu gehören schwimmende<br />
Gewächshäuser oder gar ganze<br />
Städte. Treibende Stege und Straßen gibt<br />
es bereits in Kanada, sagt Smits. In Maasbommel<br />
bei Nijmegen hat die Baufirma<br />
Dura Vermeer eine erste schwimmende<br />
Siedlung errichtet. Die Häuser ruhen auf<br />
kleinen Pontons und heben und senken<br />
sich mit dem Wasserstand. Natürlich seien<br />
Deiche an vielen Stellen unverzichtbar,<br />
sagt Smits. Aber sie sind eben nicht die<br />
einzige Lösung. Es gibt eine Alternative:<br />
Wer lernt, mit dem Wasser, mit der Gefahr,<br />
zu leben, wird nicht weichen müssen. Und<br />
das gilt für andere Naturgefahren gleichermaßen.<br />
7<br />
TEXT: TIM SCHRÖDER<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
perspektiven_zerbrechliche welt<br />
82<br />
WANDELBARE<br />
WELTDer ständige Wandel prägt unseren Planeten, seit es<br />
ihn gibt. Doch der Mensch hat die Entwicklungen<br />
beschleunigt – innerhalb weniger Jahre gestaltet er<br />
ganze Landschaften um. Manchmal aber ist es<br />
auch die Natur, die mit einem Vulkanausbruch oder<br />
einem Erdbeben für plötzliche Veränderungen sorgt.<br />
Ob menschen- oder naturgemachter Wandel: An<br />
ihre <strong>Umwelt</strong> müssen sich damit alle Bewohner der<br />
Erde immer wieder neu anpassen.<br />
Santa Cruz, Bolivien, Juni 1975<br />
Ein dichter Dschungel und vereinzelte Rodungen – so sah die Gegend nordöstlich der bolivianischen<br />
Stadt Santa Cruz noch vor etwas mehr als 30 Jahren aus. Nur auf dem links des Flusses Guapay<br />
gelegenen Ufer sind schon deutliche Siedlungsspuren zu erkennen.<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
83<br />
Santa Cruz, Bolivien, Mai 2003<br />
Wälder zu Sojafeldern: Nur wenige Jahrzehnte später prägen Äcker das<br />
Gesicht der Landschaft. Die Bevölkerung des Bundesstaats Santa Cruz<br />
ist von 30.000 auf mehr als 1 Million angewachsen – Menschen,<br />
die Bäume abholzen, um neue Dörfer zu bauen und Felder zu bestellen.<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
perspektiven_zerbrechliche welt<br />
84<br />
Shishmaref, September 2005<br />
„Permafrostboden“ heißt eigentlich Dauerfrostboden. Was aber, wenn der Frost<br />
gar nicht mehr das ganze Jahr über andauert? Das bekommen die Bewohner des<br />
Dörfchens Shishmaref zu spüren, das auf einer Insel vor Alaska liegt, …<br />
Shishmaref, Oktober 2005<br />
… denn die Küste erodiert nun um durchschnittlich<br />
3,3 Meter pro Jahr, weil der Boden<br />
auftaut und damit seine Stabilität verliert.<br />
Einige Gebäude sind dem vordringenden<br />
Meer bereits zum Opfer gefallen. Die Gemeinde<br />
muss jetzt entscheiden, ob sie das<br />
Dorf verlegt oder Dämme errichtet.<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
85<br />
Mount St. Helens, Mai 1980<br />
Es gibt nur wenige Vulkanausbrüche, die so gut<br />
dokumentiert sind wie der Ausbruch des Mount<br />
St. Helens im US-Bundesstaat Washington. Die paradiesische<br />
Berglandschaft in seiner Umgebung …<br />
Mount St. Helens, September 1980<br />
… wurde am 18. Mai 1980 von einer gewaltigen Eruption erschüttert. Eine Wolke<br />
aus heißer Asche strömte ins Tal und riss alles mit, was ihr in die Quere kam.<br />
Zurück blieb eine „nackte“, scheinbar tote <strong>Umwelt</strong>.<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
perspektiven_zerbrechliche welt<br />
86<br />
Upsala-Gletscher, 2004<br />
Wie die meisten Gletscher der Welt zieht sich allerdings auch dieser Gletscher<br />
immer weiter zurück. Die hellen Stellen auf den Felsen verraten, welche Höhe das<br />
Eis zur Zeit seiner größten Ausdehnung erreichte.<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
Upsala-Gletscher, 1928<br />
Im äußersten Süden Patagoniens erstreckt sich mit dem patagonischen Inlandeis<br />
eine der größten zusammenhängenden Eisflächen außerhalb der Polarregionen.<br />
Vom Inlandeis fließen riesige Gletscher wie der Upsala-Gletscher herab.<br />
87<br />
Zerbrechliche Erde<br />
Wie Natur und Mensch die Erde verändern,<br />
zeigt der Bildband „Zerbrechliche Erde“<br />
(National Geographic), dem diese Fotos<br />
entnommen sind. Die spektakulären Vorher-Nachher-Bilder<br />
machen deutlich, wie<br />
schnell sich das Gesicht unseres Planeten<br />
wandeln kann und welche dramatischen<br />
Folgen Naturkatastrophen und der Eingriff<br />
des Menschen haben. Die Fotos öffnen<br />
den Blick für die Herausforderungen,<br />
vor denen wir heute stehen, und belegen<br />
etwa die Zerstörungen, die der Hurrikan<br />
„Katrina“ in New Orleans und der Tsunami<br />
vor Sumatra anrichteten. Außerdem<br />
präsentiert der Bildband die Landgewinnung<br />
aus dem Meer,<br />
ausufernde Städte<br />
und gigantische<br />
Verkehrsprojekte<br />
sowie die Auswirkungen<br />
von Tourismus<br />
und Landwirtschaft.<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
perspektiven_burnout<br />
88<br />
WENN DIE SEELE<br />
SOS FUNKT<br />
Burnout ist westlich, industriell, kapitalistisch, Ausdruck einer schnelllebigen<br />
Hochleistungsgesellschaft. Oder? Rauben <strong>Umwelt</strong>faktoren auch Menschen<br />
in anderen Kulturräumen ihre Lebensenergie?<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
89<br />
Hilfe, ich kann nicht mehr! Im Film<br />
„Tage wie dieser“ reibt sich<br />
Michelle Pfeiffer als Architektin und<br />
alleinerziehende Mutter auf.<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
perspektiven_burnout<br />
90<br />
Kontrollverlust und Verzweiflung – typische Burnout-Symptome<br />
Mal ist es ein Viertel aller Arbeitnehmer, mal<br />
sogar ein Drittel aller Angestellten: Regelmäßige<br />
Untersuchungen und Umfragen<br />
zeigen, dass sich große Teile der arbeitenden<br />
Bevölkerung in Deutschland vom Burnout<br />
betroffen sehen. Eindeutig definieren<br />
lässt sich der Begriff jedoch nicht. „Burnout“<br />
ist keine Diagnose, sondern eine Metapher. Eine starke<br />
zudem. „Ausgebrannt sein“, das verstehen Menschen, auch<br />
ohne je einen Blick auf die lange Liste der möglichen Symptome<br />
geworfen zu haben.<br />
Mangels offizieller, allgemeingültiger Definition fallen Müdigkeit<br />
und Schlaflosigkeit genauso darunter wie allgemeine<br />
Lustlosigkeit, innere Leere, Angstzustände, Unzufriedenheit,<br />
das Gefühl permanenter Überforderung, Stimmungsschwankungen<br />
und viele andere negative Empfindungen. Ausschließende<br />
Symptome gibt es andererseits nicht: Der Beweis,<br />
dass ein Patient eindeutig nicht an Burnout leidet, ist<br />
kaum zu erbringen. Wollte man einen allgemeinen Konsens<br />
unter Medizinern erreichen, müsste man auf die Kombination<br />
von „emotionaler Erschöpfung“, „Depersonalisierung“ und<br />
„reduzierter persönlicher Leistungsfähigkeit“ zurückgreifen.<br />
Besonders oft scheint Burnout in Berufen mit hohem sozialem<br />
Engagement aufzutreten, bei Lehrern also, Krankenschwestern<br />
oder Sozialarbeitern. Sicher ist: Die gängigen Programme,<br />
von Entspannung bis Psychotherapie, sind nicht immer<br />
erfolgreich. Vielleicht lohnt sich der Blick über die kulturellen<br />
Grenzen?<br />
Die Suche nach dem optimalen Kräfteverhältnis<br />
Doch – gibt es Burnout überhaupt in anderen Kulturen? Kennen<br />
die Bewohner Afrikas und Asiens diese chronischen Erschöpfungszustände,<br />
sind die Völker der Dschungelregionen<br />
Papua-Neuguineas oder Hochgebirgskulturen Südamerikas<br />
genauso geplagt von Stress und Schlaflosigkeit? Schon mit<br />
dieser grundlegenden Frage tut sich die Wissenschaft schwer.<br />
Denn für eine Antwort bräuchte es nicht nur eine empirisch relevante<br />
Anzahl Burnout-geplagter Menschen, sondern immer<br />
auch einen, der Notiz nimmt, jemanden, der sich interessiert<br />
und wenn schon nicht erklärt, dann doch wenigstens dokumentiert<br />
und weiterträgt, ja vielleicht sogar darüber forscht.<br />
Die Grundkonzeption des westlichen Begriffs „Burnout“, so<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
91<br />
»Der Medizinmann braucht viel Zeit,<br />
Ausgebrannt, von<br />
Selbstzweifeln<br />
und Schlafstörungen<br />
geplagt<br />
um die Seele zu rufen<br />
und wieder einzusetzen.«<br />
wie wir ihn verstehen, scheint für einen internationalen<br />
Vergleich wenig geeignet. Im Westen ist der Begriff Burnout<br />
untrennbar mit dem beruflichen Umfeld verbunden. Nun lässt<br />
sich das Konzept „Beruf“ nicht immer problemlos auf andere<br />
Kulturen übertragen. Auch der Terminus „Depersonalisierung“<br />
geht von einer westlichen Auffassung von Nähe und<br />
persönlichen Beziehungen aus, die sich nicht unbedingt auf<br />
ein nigerianisches Dorf oder eine chinesische Fabrik übertragen<br />
lässt. Gleiches gilt für die „reduzierte persönliche Leistung“.<br />
Nicht zuletzt erfordert die Selbstdiagnose „Burnout“<br />
bestimmte Vorstellungen von Glück, Arbeit und Freizeit, die<br />
Muße und Beobachtungsgabe, den eigenen Zustand an<br />
einem Ideal zu messen. Nur wer Ausgeglichenheit erlebt hat,<br />
kann die Abweichung von diesem Zustand erkennen.<br />
Die grundlegende Vorstellung des Burnouts ist dabei vielen<br />
Kulturen gar nicht so fremd: „Das innere Gleichgewicht verlieren“,<br />
sich „leer fühlen“ gilt im ostasiatischen Raum als völlig<br />
legitime Leidensbeschreibung. Schließlich basiert die traditionelle<br />
Medizin auf der Existenz des „Qi“, des Lebensatems, der<br />
den Menschen durchflutet und die Organe versorgt. Um<br />
gilt es, es durch Nahrung und Atem aufzustocken. Schwächelt<br />
das Qi, steht dem traditionellen Arzt in China wie in Japan oder<br />
Korea von der Akupunktur bis zu Entspannungsübungen eine<br />
ganze Palette potenter Maßnahmen zur Verfügung. Selbst die<br />
Geomantik, in der ostasiatischen Architektur und Innenarchitektur<br />
allgegenwärtig, ist im Grunde nichts anderes als der<br />
Versuch, die Energiekräfte des Planeten in eine für den<br />
Menschen günstige Bahn zu lenken und ihn auch auf diese Art<br />
in einem optimalen Kräfteverhältnis zu platzieren. Im Prinzip<br />
also nichts anderes als eine permanente Burnout-Prophylaxe<br />
auf allen Ebenen.<br />
Gerade in Ostasien fällt noch ein weiterer Aspekt auf: Mit dem<br />
Schlagwort „Work-Life-Balance“ könnten hier viele Menschen<br />
eher wenig anfangen. Zwischen Arbeit und Leben verläuft<br />
keine Trennlinie, Arbeit ist Leben, und wenn der Geschäftsmann<br />
am Ende eines harten Tages aufs Kissen sinkt, lautet<br />
das Fazit nicht: „viel Stress gehabt“, sondern: „gut verdient“.<br />
Sicher, das ist eine grob verallgemeinernde Darstellung. Trotzdem<br />
ist ganz generell der Anspruch an den persönlichen<br />
Freiraum, die individuelle Komponente des Lebens in Asien<br />
dieses Qi muss man sich kümmern. Vereinfacht gesprochen, ein gutes Stück geringer als in Europa.<br />
3<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
perspektiven_burnout<br />
92<br />
3<br />
Tage wie dieser<br />
Wer so lebt wie Melanie Parker im Film „Tage wie<br />
dieser“ muss jederzeit mit der Diagnose Burnout<br />
rechnen. Als strapazierte Architektin und Mutter<br />
reibt sich Melanie Parker (gespielt von Michelle<br />
Pfeiffer) in dieser Rolle zwischen Geschäftsterminen<br />
und Kindergarten auf. Tatsächlich sind die Doppelbelastung<br />
und das Hin-und-her-Gerissensein<br />
zwischen familiärem und beruflichem Umfeld<br />
Hauptquellen von Burnout. Für Melanie Parker<br />
erscheint die Rettung an diesem „One Fine Day“<br />
(der Originaltitel des Films) in Form des Journalisten<br />
Jack Taylor (George Clooney), dem seine<br />
geschiedene Frau ausgerechnet<br />
an einem schwierigen<br />
Arbeitstag seine fünfjährige<br />
Tochter vor der Tür<br />
absetzt. Melanie und Jack<br />
schließen ein Bündnis, um<br />
Kind und Karriere wenigstens<br />
für einen Tag unter einen Hut<br />
zu bekommen. 7<br />
Nicht weniger inspirierend ist der Blick gen Westen. Prof. Dr.<br />
Ina Rösing, Psychotherapeutin, Kulturanthropologin und Institutsdirektorin<br />
am Klinikum der Universität Ulm, forscht seit<br />
Jahren schwerpunktmäßig über den Vergleich von „Seelenverlust“<br />
in den Anden sowie im Himalaya und Burnout in der<br />
westlichen Kultur. Mehr als sieben Jahre hat sie mit den<br />
Quechua-Indianern gelebt und zahlreiche interessante Beobachtungen<br />
mitgebracht: „In unserer Gesellschaft kennen wir<br />
Burnout als Belastungssyndrom aus dem Beruf heraus. Auch<br />
wenn dies für die in Subsistenzwirtschaft lebenden Hochgebirgsindianer<br />
der Anden im klassischen Sinne nicht zutrifft,<br />
gibt es auch hier belastende Faktoren. Das tägliche Leben<br />
besteht aus unendlich vielen Aufgaben, Konflikten. Krankheiten<br />
und der Tod sind alltäglich, die medizinische Versorgung<br />
rudimentär. Selbstverständlich können sich auch in diesem<br />
Umfeld Menschen überfordert fühlen“, unterstreicht Prof. Dr.<br />
Rösing.<br />
Die Andenkultur kennt eine große und eine kleine Seele. Die<br />
große Seele entspricht dem Leben, die kleine jedoch kann verlorengehen<br />
oder gestohlen werden. Dies geschieht zum Beispiel<br />
durch Erschrecken. Die Folgen, die Liste der möglichen<br />
Symptome, kommen dem Westler bekannt vor: Müdigkeit,<br />
Lustlosigkeit, Angstzustände, Kraftlosigkeit, gepaart mit<br />
Schlaflosigkeit und Stimmungsschwankungen. Auch wenn<br />
der Auslöser vermeintlich ein anderer ist, scheint der Seelenverlust<br />
mit dem Burnout durchaus vergleichbar. Die Reaktion<br />
darauf freilich unterscheidet sich erheblich von der westlichen<br />
Praxis. Viel Zeit braucht der herbeigerufene Medizinmann, um<br />
in langen Gesprächen seine Diagnose zu stellen. In behutsamen<br />
Zwiegesprächen wird die gesamte persönliche Lebenssituation<br />
des Patienten miteinbezogen. Danach gilt es, die Seele<br />
zu rufen und wieder einzusetzen.<br />
Sorge um den Verlust der Seele<br />
Sieben Tage wird der Patient vom Medizinmann behandelt,<br />
permanent begleitet und umsorgt, während andere Dorfbewohner<br />
seine alltäglichen Aufgaben übernehmen. „Der<br />
Patient, egal ob Mann oder Frau, wird komplett aus dem<br />
Alltag herausgenommen und erhält so die Möglichkeit, zu seinen<br />
inneren Ressourcen zurückzufinden“, so Prof. Dr. Rösing.<br />
Erstaunlich ähnlich präsentiert sich die Situation in der tibetischen<br />
Kultur des Himalayas. Auch hier existiert die Vorstellung<br />
von mehreren Seelen, wobei diese nicht nur im Körper, sondern<br />
auch außerhalb des Körpers wohnen können. Doch auch<br />
sie können verlorengehen oder geraubt werden und müssen<br />
in verblüffend ähnlichen Ritualen wieder eingesetzt werden.<br />
„Hinter all den Ritualen und Methoden, die wohl schwerlich in<br />
den Westen zu übertragen sind, steckt ein wichtiger Kerngedanke:<br />
Diese Krankheit ist legitim und wird ernst genommen“,<br />
unterstreicht Prof. Dr. Rösing. Gerade dies lässt sich von den<br />
westlichen Kulturen kaum behaupten. Sicher, der Begriff ist in<br />
aller Munde, in den Regalen der Buchhandlungen stapeln sich<br />
die Selbsthilfebücher zum Thema. Ein soziales Stigma haftet<br />
dem Begriff dennoch an. Ein Unternehmensberater oder<br />
Manager tut allemal gut daran, seine Burnoutprobleme für<br />
sich zu behalten. Auch die totale Auszeit wird ihm im Westen<br />
sicher nicht zugestanden.<br />
Der trennende Graben in Sachen Burnout verläuft daher nicht<br />
entlang von Ländergrenzen, sondern irgendwo zwischen den<br />
Polen Individualismus und Kollektivität, zwischen Akzeptanz<br />
und Ablehnung. Dies zu überwinden ist sicher auch eine<br />
kulturelle Leistung. 7<br />
TEXT: FRANÇOISE HAUSER<br />
Lektüre-Empfehlung:<br />
Ina Rösing: „Ist die Burnout-Forschung ausgebrannt?<br />
Analyse und Kritik der internationalen<br />
Burnout-Forschung“. Asanger Verlag 2003<br />
Andreas Hillert und Michael Marwitz:<br />
„Die Burnout-Epidemie oder Brennt die Leistungsgesellschaft<br />
aus?“. Verlag C.H.Beck 2006<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
ätselseite<br />
kreuz und quer<br />
93<br />
Fünf Fragen – fünf Lösungen – fünf Gewinne<br />
<strong>Umwelt</strong> bezeichnet die den Menschen umgebende Welt in unterschiedlichen<br />
Zusammenhängen. Einschneidende Veränderungsprozesse<br />
sind in nahezu allen Bereichen zu beobachten: in unserem sozialen<br />
Umfeld genauso wie in der Natur, in und von der wir leben. Wir werfen<br />
ein Schlaglicht auf fünf Aspekte dieser komplexen Problematik und stellen<br />
Ihnen hierzu jeweils eine Frage. Wer die richtigen Lösungen findet,<br />
kann mit etwas Glück auch zu den Gewinnern eines der fünf attraktiven<br />
Preise gehören. Und so geht’s: Zu jeder Frage gibt es nur ein Lösungswort.<br />
Lösen Sie die Fragen in beliebiger Reihenfolge, und tragen Sie<br />
die jeweiligen Lösungswörter in das Kreuzworträtselraster ein – wo,<br />
das müssen Sie selbst herausfinden. Bitte beachten Sie dabei, dass<br />
Umlaute (ä, ö, ü) ausgeschrieben (ae, oe, ue) werden.<br />
Setzen Sie die Buchstaben, die in mit Ziffern versehenen Kästchen<br />
stehen, in die richtige Reihenfolge, und Sie erhalten das Lösungswort.<br />
Schicken Sie eine Postkarte mit dem Lösungswort an:<br />
F.A.Z.-Institut<br />
Redaktion <strong>ThyssenKrupp</strong> Magazin<br />
Postfach 20 01 63<br />
60605 Frankfurt am Main<br />
Oder schicken Sie eine E-Mail an: thyssenkrupp_<strong>magazin</strong>@faz-institut.de.<br />
Einsendeschluss ist der 15. Mai 2008. Alle Gewinner werden schriftlich<br />
benachrichtigt. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.<br />
Und nun viel Spaß!<br />
3<br />
1<br />
7<br />
4 2<br />
Auflösung der Seite „forum_wissens_wert“:<br />
Die gesuchte Person aus „Wer war’s“: Jacques-Yves Cousteau<br />
6<br />
5<br />
Unter allen Einsendern einer<br />
richtigen Lösung verlosen wir<br />
fünf Gutscheine im Wert<br />
von je 100 Euro für amazon.de.<br />
Frage 1<br />
Alexandre Edmond Becquerel gilt als<br />
Vater der Photovoltaik. Der französische<br />
Forscher stellte gegen Mitte des<br />
19. Jahrhunderts fest, dass bei einem<br />
galvanischen Element im Sonnenlicht<br />
mehr Strom erzeugt wird als bei einem<br />
galvanischen Element im Schatten.<br />
Aus welchem Grundmaterial bestand<br />
die erste – mit einem Wirkungsgrad<br />
von 1,5 Prozent allerdings noch nicht<br />
sonderlich effektive – Solarzelle, die<br />
ein amerikanischer Forscher, auf den<br />
Entdeckungen Becquerels aufbauend,<br />
herstellte?<br />
Frage 2<br />
Als Krankheitsbild einer schnelllebigen<br />
sozialen <strong>Umwelt</strong> ist Burnout heute in<br />
aller Welt bekannt. Bereits 1936 wurde<br />
„Stress“ in einer wissenschaftlichen<br />
Publikation identifiziert und definiert.<br />
„Ich habe allen Sprachen ein neues<br />
Wort geschenkt“, sagte der „Vater der<br />
Stressforschung“ bei der Zusammenfassung<br />
seines Lebenswerks. Wer war<br />
es (Nachname)?<br />
Frage 3<br />
Es gehört von jeher zu den Ängsten der<br />
Menschen, dass die verlässlichen und<br />
unumstößlichen Gesetze der Natur<br />
außer Kraft gesetzt werden könnten.<br />
Diese Erfahrung lässt auch Shakespeare<br />
seinem Protagonisten Macbeth<br />
zuteil werden: Er muss nur dann um<br />
Macht und Leben fürchten, wenn sich<br />
ein eigentlich unverrückbarer Teil der<br />
Natur auf ihn zubewegen wird. Welcher<br />
Teil der Landschaft von Birnam<br />
marschiert ihm schließlich entgegen?<br />
Frage 4<br />
Die globale Erwärmung bringt das<br />
„ewige Eis“ der Pole zum Schmelzen.<br />
Die Träume früherer Entdecker und<br />
heutiger Reeder könnten dadurch wahr<br />
werden: eine schnellere Seepassage<br />
nach Asien und ein eisfreier Nordozean.<br />
Die erste Gesamtdurchfahrt der<br />
Nordostpassage – mit einer Überwinterung<br />
– gelang im 19. Jahrhundert<br />
einem Skandinavier. Wie heißt das<br />
Schiff, mit dem er unterwegs war?<br />
Frage 5<br />
Seit Anfang 2006 deckt ein Dorf in<br />
Deutschland nicht nur den kompletten<br />
Energiebedarf seiner Einwohner mittels<br />
regenerativer Energieträger, sondern<br />
erzeugt durch Nutzung der in ortsansässigen<br />
land- und forstwirtschaftlichen<br />
Betrieben anfallenden Biomasse<br />
sogar doppelt so viel Biostrom, wie es<br />
selbst verbraucht. Wie heißt Deutschlands<br />
erstes „Bioenergiedorf“?<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
perspektiven_interview<br />
»DIE MENSCHHEITSGESCHICHTE<br />
IST EINE GESCHICHTE<br />
DER BEWEGUNG«<br />
Ist Migration ein Naturereignis? Und wie verändert<br />
weltweite Wanderung unsere soziale <strong>Umwelt</strong>?<br />
Ein Gespräch mit dem Historiker und<br />
Publizisten Professor Karl Schlögel über den<br />
„Planeten der Nomaden“<br />
Herr Professor Schlögel, wenn Medien über Migration berichten,<br />
stellen sie dieses Phänomen häufig als Naturereignis dar:<br />
Metaphern wie Migrantenströme oder Asylantenflut vermitteln,<br />
dass diese Vorgänge von Natur aus ablaufen. Liegt Migration, liegt<br />
Wandern tatsächlich in der Natur des Menschen?<br />
Karl Schlögel: Es ist zunächst ein menschengemachtes Ereignis, weil<br />
Menschen sich in Bewegung setzen. Dass man zu diesen Metaphern<br />
greift, hat etwas mit dem überwältigenden Geschehen zu tun: Es<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
95<br />
eines buchstäblich überwältigenden Geschehens, dem die politischen<br />
Mechanismen hilflos gegenüberstehen. Man kann diese Prozesse in<br />
gewisser Weise steuern, moderieren. Aber man ist nicht Herr des Geschehens.<br />
Zum Teil handelt es sich hier auch wirklich um einen Naturvorgang.<br />
Denn in vielen Fällen ist Wanderung ausgelöst von Naturkatastrophen<br />
– beispielsweise Dürren, gefolgt von Hungersnot oder<br />
permanenten Überflutungen. Nicht alle Fluchtbewegungen sind Folge<br />
von Kriegen oder ethnischen Säuberungen. Es gibt immer mehr auch<br />
die Flucht vor Naturereignissen.<br />
Eine Entwicklung, die noch weiter zunehmen könnte?<br />
Ich glaube schon. Mich wundert, wie beharrlich der Mensch ist, obwohl<br />
es in bestimmten Regionen auf längere Sicht immer wieder diese Ausnahmezustände<br />
gibt. Wenn man sich die wiederkehrenden Nachrichten<br />
über die Überschwemmungen im Gangesdelta anschaut, kann man nur<br />
»Mich wundert,<br />
wie beharrlich der Mensch ist.«<br />
staunen, wie zäh der Mensch an seinen Orten festhält. Oder Erdbeben:<br />
Menschen haben sich damit abgefunden, auf kontinentalen Rissen zu<br />
leben – obwohl klar ist, dass irgendwann große Städte, Millionenstädte<br />
in Trümmern liegen werden.<br />
sprengt die Dimension, mit der man normalerweise glaubt, gesellschaftliche<br />
Vorgänge behandeln zu können. Es übersteigt den Einflussbereich<br />
von Gesetzgebung, von politischen Entscheidungen, von<br />
Verträgen. Man kann auf internationalen Konferenzen beschließen, die<br />
Grenzen zu schließen. Aber das ist natürlich eine völlig hilflose Aktion<br />
gegenüber dem faktischen Wanderungsdruck und der faktischen Intelligenz,<br />
die sich in solchen Menschenströmen ansammeln und die ihren<br />
Weg finden werden. Die Metaphern sind damit hauptsächlich Ausdruck<br />
Naturkatastrophen oder Zwangsmigration durch Kriege sind<br />
Extremsituationen. Aber was die alltägliche Migration antreibt, ist<br />
doch häufig die Suche nach Arbeit, nach einer ökonomischen<br />
Grundlage. Kann man sagen, dass die Unternehmen selbst es sind,<br />
die diese Migration antreiben, indem sie Arbeit überhaupt erst<br />
ermöglichen?<br />
Hauptmotor der Migration sind sicherlich die Wirtschaftsaktivitäten und<br />
da wahrscheinlich – aber nicht nur – die Unternehmen. Sie schaffen die<br />
Grundlagen für Lebenserwerb. Das gilt nicht nur für die Migration, wie<br />
wir sie in Europa vor Augen haben. Wenn weite Teile Afrikas oder Lateinamerikas<br />
entblößt sind und die Menschen vom Land in die Städte überströmen,<br />
dann deswegen, weil es offensichtlich immer weniger Lebens- 3<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
perspektiven_interview<br />
96<br />
»Die Beschleunigung der Bewegung führt<br />
zu einer unglaublichen Komplizierung der Lebensverhältnisse.«<br />
3 und Verdienstmöglichkeiten auf dem flachen Land gibt. Dass die Bevölkerung<br />
ganzer Kontinente sich in diesen Megalopolen niederlässt, ist ein<br />
Vorgang von historischer Dimension. 2008 wird immer angegeben<br />
als das Jahr, in dem erstmals mehr als die Hälfte der Menschheit in<br />
Städten lebt. Das ist tatsächlich ein epochales Datum. Es bedeutet,<br />
dass die traditionelle Lebensform auf dem Land für mehr als die Hälfte<br />
der Bevölkerung nicht mehr die Basis darstellt, sondern dass sie ihr<br />
Leben neu begründen müssen durch Arbeit in diesen Megalopolen.<br />
Eines Ihrer Essays trägt den Titel „Planet der Nomaden“. Ist der<br />
Zustand der Bewegung, also die Migration, das Normale für den<br />
Menschen?<br />
Die Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte der Bewegung, und es<br />
gab immer Wanderung, auch über große Distanzen hinweg. Es hat aber<br />
eine unglaubliche Beschleunigung gegeben. Innerhalb einer Generation<br />
gibt es plötzlich dieses Phänomen, dass fast niemand mehr an dem<br />
Ort stirbt, an dem er geboren wurde. Dieser Sprung ist eine Entwicklung<br />
der allerneuesten Zeit, die mit der Auflösung der traditionellen, vor<br />
allem der ländlichen Gesellschaft zu tun hat. Dadurch werden die<br />
Verhältnisse mobil, unüberschaubar, geradezu fließend. Früher war<br />
man aufgehoben in einem Leben, das ohne große Änderungen an Ort<br />
und Stelle weiterging. Nun wechselt man innerhalb kürzester Zeit vielleicht<br />
sogar mehrmals den Lebensort und den Arbeitsort; es begegnen<br />
sich Menschen, die sich sonst nie begegnet wären. Mit dieser Komplizierung<br />
der Lebensverhältnisse fertig zu werden, erfordert eine Schule,<br />
ein Training in Indifferenz: Man kann sich gar nicht auf alles einlassen,<br />
sonst würde man verrückt. Man muss Differenzen ignorieren können<br />
und Dinge ausschalten. Die kulturelle Leistung, mit dieser Komplexität<br />
und mit dieser permanenten Bewegung leben zu können, ist ungeheuer.<br />
Es ist auch eine der zivilisatorischen Leistungen des 20. Jahrhunderts,<br />
dass man gar nichts Besonderes mehr daran findet.<br />
Sind dann die Migranten die Avantgarde dieser kulturellen Leistung,<br />
weil sie am meisten gezwungen sind, mit dieser permanenten<br />
Bewegung zurechtzukommen?<br />
Von denjenigen, die gezwungen sind, sich von heute auf morgen neu<br />
zurechtzufinden, die sich neu einrichten und Fuß fassen, sich neu aufstellen<br />
müssen, wie man heute sagt, ist ein Höchstmaß an Wachheit, an<br />
intelligenter Organisation des Lebens, an Findigkeit gefordert. Mehr als<br />
von denen, die immer schon da gewesen sind und sich eingerichtet<br />
haben. Insofern stimmt das. Aber man sollte die Avantgarderolle der<br />
Migranten nicht romantisieren. Die Intaktheit der Routinen, des funktionierenden<br />
Lebensalltags einer großen Stadt ist das Werk derer, die<br />
schon immer da sind und den Betrieb am Laufen halten. Das ist die<br />
Voraussetzung dafür, dass die Integration neuer Bürger funktionieren<br />
kann. Sie werden vielleicht fragen, ob es Grenzen gibt für diese<br />
Leistung. Ja, wahrscheinlich gibt es die.<br />
Ist die Grenze vielleicht schon erreicht, und suchen wir deshalb<br />
vermehrt unseren Halt in virtuellen Räumen, um mit der Unüberschaubarkeit<br />
der Lebensverhältnisse zurechtzukommen?<br />
Vielleicht suchen wir ihn in virtuellen Räumen. Sehr stark aber in ideologischen,<br />
symbolischen Räumen: Der neue Boom des Religiösen hat<br />
auch etwas damit zu tun, dass das Bedürfnis nach einer gewissen<br />
Orientierung steigt, je beweglicher und unüberschaubarer die Lebensverhältnisse<br />
werden. Auch dieser ungeheure Boom der Erinnerungskultur<br />
– dass man sich an bestimmten Orten oder Themen festhält, sozusagen<br />
festen Orten der Erinnerung – ist ein Komplement zu dieser<br />
rasenden Beschleunigung in der Globalisierung. Man braucht Punkte,<br />
an denen man Anker werfen kann. Orte spielen überhaupt eine große<br />
Rolle, heute vielleicht mehr als der Staat, dem man sich zurechnet. Man<br />
rechnet sich dann eben einer Stadt zu, ist nicht so sehr deutscher oder<br />
französischer Staatsbürger, sondern lebt in Paris, Berlin oder Frankfurt.<br />
Der konkrete Ort gewinnt damit an Bedeutung.<br />
Auch dadurch, dass sich die Menschen in den Städten konzentrieren<br />
und damit diesen Orten eine noch größere Bedeutung verleihen?<br />
Die Städte sind der Hauptort, wo sich alles abspielt. Man hat immer gesagt,<br />
dass es einen Bedeutungsverlust von Städten gebe. Ich glaube<br />
eher das Gegenteil: Diese Leistung und diese Rolle der Stadt, nämlich<br />
die Neuzugezogenen, die Immigranten, die provisorischen Besucher<br />
zu permanenten Bürgern eines Gemeinwesens zu machen, ist eher<br />
gewachsen. Die Stadt ist Schule des Zusammenlebens, Schule des<br />
Konfliktaustragens, Schule, wo aus irgendwelchen fremden Leuten<br />
Teile einer irgendwie funktionierenden Gemeinschaft werden. 7<br />
DAS GESPRÄCH FÜHRTE ALEXANDER SCHNEIDER | FOTOS: NICOLE MASKUS<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
97<br />
Der Historiker und Publizist Professor<br />
Karl Schlögel, Jahrgang 1948, hat an<br />
der Freien Universität Berlin, in Moskau<br />
und St. Petersburg Philosophie, Soziologie,<br />
Osteuropäische Geschichte und Slawistik<br />
studiert und lehrt heute osteuropäische<br />
Geschichte an der Europa-Universität<br />
Viadrina in Frankfurt/Oder. In seinem Essay<br />
„Planet der Nomaden“ beschreibt er als<br />
scharfsinniger Beobachter Ursachen<br />
und Folgen der globalen Migration. 2005<br />
erhielt er den Hamburger Lessing-Preis,<br />
zuvor 2004 unter anderem den Sigmund-<br />
Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa<br />
der Deutschen Akademie für Sprache und<br />
Dichtung.<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar
ückblick<br />
98<br />
Verantwortung ist einer der wichtigsten<br />
Grundwerte unserer Gesellschaft. Verantwortung<br />
übernehmen heißt, die<br />
möglichen Folgen des eigenen Handelns<br />
auch in seinen Auswirkungen auf andere<br />
Menschen, auf unsere <strong>Umwelt</strong> und auf die<br />
Zukunft unserer Welt zu bedenken. Das<br />
Magazin zeigt, was <strong>ThyssenKrupp</strong> unter<br />
Verantwortung versteht. Ein Interview<br />
mit dem Dalai Lama über universelle und<br />
individuelle Verantwortung verdeutlicht<br />
dies ebenso wie ein Gespräch mit Gesine<br />
Schwan zur Verantwortung von Staat und<br />
Unternehmen. Ob Venedig vor der Überflutung<br />
geschützt werden soll, innovative<br />
Technologien den verantwortungsbewussten<br />
Umgang mit Emissionen und Energie<br />
erleichtern oder Tsunamihilfe in Südindien<br />
geleistet wird – in einer globalisierten<br />
Welt ist Verantwortung im wahrsten Sinne<br />
grenzenlos. 7<br />
Globale Ansichten können der Blick des<br />
deutschen Fotografen auf die Gastheimat<br />
Shanghai sein oder das Streitgespräch<br />
zwischen Globalisierungsbefürworter und<br />
Globalisierungsskeptiker. Dieses Magazin<br />
handelt genauso von interkulturellen<br />
Grenzgängen wie von grenzüberschreitendem<br />
Brückenbau. Es geht um Wissenschaftler<br />
und Entwicklungsingenieure,<br />
die der Technik in einer zunehmend vernetzten<br />
Welt durch neue Verfahren und<br />
Werkstoffe neue Wege öffnen und helfen,<br />
globale Probleme wie die Wasserknappheit<br />
zu bekämpfen, aber auch um den<br />
Eintritt in neue Märkte. Internationalität<br />
bedeutet, gemeinsame Ansätze über<br />
Ländergrenzen hinweg zu verfolgen und<br />
gemeinsame Ziele auf unterschiedlichem<br />
Wege zu erreichen – und dabei voneinander<br />
zu lernen. 7<br />
Das aktuelle Magazin und bereits<br />
erschienene Magazine können Sie unter<br />
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Navigation unter „Publikationen“ bestellen.<br />
impressum<br />
Herausgeber: <strong>ThyssenKrupp</strong> AG,<br />
Dr. Jürgen Claassen,<br />
August-Thyssen-Straße 1,<br />
40211 Düsseldorf,<br />
Telefon: +49 211 824-0<br />
Projektleitung bei <strong>ThyssenKrupp</strong>: Barbara Scholten<br />
Der Inhalt der Beiträge gibt nicht in jedem Fall<br />
die Meinung des Herausgebers wieder.<br />
Nachdruck nur mit Quellenangabe und Belegexemplar.<br />
Verlag und Redaktion: F.A.Z.-Institut für Management-,<br />
Markt- und Medieninformationen GmbH,<br />
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Art Director: Wolfgang Hanauer<br />
Autoren: Sarah Bautz, Anke Bryson, Françoise Hauser,<br />
Daniel Schleidt, Alexander Schneider, Tim Schröder,<br />
Dr. Melanie Thielking, Margit Uber, Jan Voosen, Inka Wichmann<br />
Bildquellen: Archivo Museo Salesiano (S. 87 oben), Peter<br />
Arnold (S. 30), David Ausserhofer/Intro (S. 28), Daniel Beltra/<br />
Greenpeace (S. 87 unten), Bridgeman Art Library (S. 75),<br />
cinetext (S. 11, 88-92), corbis (S. 10, 11, 40, 76, 80), Getty<br />
Images (S. 11, 26, 50, 52, 56, 78), Hanauer Grafik Design<br />
(S. 24, 58-63), Huber/laif (S. 51), Lineair/Das Fotoarchiv<br />
(S. 42-43), National Geographic (S. 85 unten), Picture-<br />
Alliance/dpa (S. 2-3, 8, 11, 26, 32-35, 70-75, 79, 81, 99),<br />
Vera Schimetzek (S. 81 oben), Solartaxi.com (S. 27), UNEP<br />
(S. 6-7, 82, 83), USGS (S. 85 oben), Tony A. Weyiouanna Sr.<br />
(S. 84), Javier Larrea (S. 54), Zuder/laif (S. 78)<br />
Litho: Goldbeck Art, Frankfurt am Main<br />
Druck: Kuthal Druck, Mainaschaff<br />
TK Magazin | 1 | 2008 | Januar