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ThyssenKrupp magazin - Umwelt - ThyssenKrupp Elevator (CENE)

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<strong>magazin</strong><br />

TK<br />

<strong>Umwelt</strong>


Auf dünnem Eis<br />

Natürliche und soziale <strong>Umwelt</strong> im Wandel<br />

Die Kultur der Inuit ist tief in der<br />

Arktis verwurzelt, in der sie seit<br />

rund vier Jahrtausenden leben.<br />

Nur wer die Gesetze der Natur<br />

achtet und über eine außergewöhnliche<br />

Anpassungsfähigkeit<br />

verfügt, kann im rauen Klima<br />

Alaskas, Nordkanadas, Sibiriens<br />

und Grönlands so lange überleben.<br />

Die „westliche“ Zivilisation<br />

mit ihren modernen Technologien<br />

hat enorme Auswirkungen<br />

auf das traditionell familien- und<br />

gruppenorientierte Sozialgefüge<br />

der Inuit. Zwar lassen die neuen<br />

Technologien das unwirtliche<br />

Klima wesentlich besser ertragen,<br />

aber zugleich verändern sie<br />

den Alltag dramatisch. Trotzdem<br />

ist das Selbstverständnis der<br />

Inuit noch immer vom Wunsch<br />

nach Harmonie zwischen<br />

Mensch und Natur geprägt.<br />

Doch nun bringt die globale Erwärmung<br />

das arktische Eis zum<br />

Schmelzen. Menschen und Tiere<br />

müssen sich den veränderten<br />

Bedingungen anpassen. Für die<br />

Inuit bedeutet Klimawandel nicht<br />

nur, dass die Jagd schwieriger<br />

wird. Wilde Tiere ändern ihre<br />

gewohnten Routen oder sind so<br />

selten geworden, dass die Jäger<br />

Entfernungen von bis zu 300<br />

Kilometern in Kauf nehmen müssen.<br />

Menschen verlaufen sich in<br />

der Einöde, weil sie sich nicht<br />

mehr an den gewohnten<br />

Schneewehen orientieren können.<br />

Das bisher bei hartem und<br />

festem Schnee in einer Stunde<br />

gebaute Iglu kann immer seltener<br />

unterwegs schnell als Unterkunft<br />

errichtet werden. Und<br />

mancherorts benötigt man zum<br />

Konservieren der Nahrung sogar<br />

schon Kühlschränke im einst<br />

„ewigen Eis“. 7


»Der Mensch braucht Punkte, an denen er Anker werfen kann.<br />

Das Bedürfnis nach Orientierung steigt, je beweglicher und<br />

unüberschaubarer die Lebensverhältnisse werden.«<br />

Prof. Karl Schlögel, Historiker und Publizist


»Es macht die Wüste schön, dass sie irgendwo einen Brunnen birgt.«<br />

Antoine de Saint Exupéry


Es ist ein alter Menschheitstraum,<br />

der sich hier erfüllt<br />

hat: die blühende Wüste.<br />

Das Wadi as-Sirhan in<br />

Saudi-Arabien bot den<br />

Bewohnern der Stadt Tubarjal<br />

(unten links zu erkennen)<br />

noch Mitte der achtziger<br />

Jahre nur wenige Möglichkeiten,<br />

Feldfrüchte anzubauen.<br />

Dann begann ein großes<br />

Bewässerungsprojekt, bei<br />

dem Grundwasser heraufgepumpt<br />

wurde; mittels<br />

Drehbewässerung entstanden<br />

die ersten kreisrunden<br />

Felder. Mit ihrem frischen<br />

Grün bieten sie dem Auge<br />

des Satelliten einen künstlich<br />

wirkenden Kontrast zu<br />

ihrer Umgebung.


»Der Wandel unserer natürlichen und sozialen <strong>Umwelt</strong><br />

verlangt uns ein hohes Maß an Voraussicht, Anpassungsbereitschaft<br />

und Kreativität ab.«


editorial<br />

9<br />

Nie zuvor hat sich die <strong>Umwelt</strong> des Menschen, hat der Mensch seine <strong>Umwelt</strong> so<br />

einschneidend verändert wie in den vergangenen 150 Jahren. Nie zuvor aber wussten wir auch<br />

so viel über unsere <strong>Umwelt</strong>: Von der Eroberung der Pole und der Erforschung der Tiefseegräben<br />

über die Entdeckung der DNA bis zu den ersten Schritten auf dem Mond – die Leistungen großer<br />

Forscher und Entdecker haben unsere Vorstellungen von dem, was „unmöglich“ ist, grundlegend<br />

verändert.<br />

Daraus können wir Zuversicht für die Herausforderungen gewinnen, vor denen wir jetzt,<br />

Anfang des 21. Jahrhunderts, stehen. Zwar ist unser Drang, Neues zu erforschen, heute nicht<br />

weniger wichtig als früher. Aber es geht zunehmend auch darum, unseren Planeten vor von<br />

Menschen verursachten Bedrohungen zu beschützen und einschneidende soziale Veränderungsprozesse<br />

nachhaltig zu bewältigen. Ressourcenknappheit und Klimawandel auf der einen,<br />

Bevölkerungswachstum, gesellschaftliche<br />

Alterungsprozesse, Pluralismus der<br />

Werte und Normen sowie die Auflösung<br />

traditioneller sozialer Beziehungsgefüge<br />

auf der anderen Seite – der Wandel unserer natürlichen und sozialen <strong>Umwelt</strong> verlangt uns ein<br />

hohes Maß an Voraussicht, Anpassungsbereitschaft und Kreativität ab.<br />

Als globaler Technologiekonzern mit rund 190.000 Mitarbeitern sieht sich <strong>ThyssenKrupp</strong> hier<br />

in der Pflicht. Wir sind entschlossen, an der Gestaltung eines nachhaltigen Lebensumfelds für die<br />

heutige und kommende Generationen mitzuwirken – in allen hierfür wichtigen Dimensionen.<br />

Wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt tragen ebenso wie <strong>Umwelt</strong>schutz zur Verbesserung<br />

der Lebensqualität bei. Neue umweltfreundliche Technologien stärken die Wettbewerbsfähigkeit<br />

unserer Wirtschaft, sichern Arbeitsplätze und die Finanzierung des sozialen Fortschritts. Und die<br />

vielversprechendsten Ideen entstehen in einem Umfeld, das jedem Einzelnen Wertschätzung<br />

entgegenbringt und Vielfalt nicht nur zulässt, sondern fördert. Am ehesten werden wir die großen<br />

globalen Herausforderungen meistern, wenn wir bereit sind, mit- und voneinander zu lernen.<br />

Indem wir innovative, technisch sinnvolle Produkte und Lösungen entwickeln, tragen wir zu einer<br />

auch ökologisch verantwortungsbewussten Gestaltung der Zukunft bei.<br />

„Optimismus ist Pflicht“, sagte der Philosoph Karl Popper. Tatsächlich werden wir die Herausforderungen<br />

der Zukunft nur dann meistern, wenn wir sie mit Zuversicht und Mut zu ungewöhnlichen<br />

Ideen angehen – wenn wir „Gestaltung“ an Stelle von „Reparatur“ setzen. In diesem Sinne<br />

sieht <strong>ThyssenKrupp</strong> sich seiner <strong>Umwelt</strong> verpflichtet – dem Einzelnen genauso wie der Welt, in<br />

der wir leben. In der Zuversicht, dass Menschen mit ihren Herausforderungen wachsen. Und mit<br />

dem Optimismus, dass, in Jules Vernes Worten, „das Unmögliche noch zu erreichen bleibt.“<br />

Zur Zuversicht verpflichtet<br />

Dr.-Ing. Ekkehard D. Schulz,<br />

Vorsitzender des Vorstands der <strong>ThyssenKrupp</strong> AG<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


inhalt<br />

TK Magazin | 1 | 2008<br />

<strong>Umwelt</strong><br />

ansichten<br />

28 Was bedeutet <strong>Umwelt</strong> für Sie?<br />

Ansichten von Ernst-Ulrich v. Weizsäcker und Wangari Maathai<br />

26 wissens_wert<br />

48 projekte_aktuell<br />

93 rätselseite<br />

98 rückblick<br />

forum<br />

40<br />

Ein guter Fang: Brasilianische Fischer profitieren von der<br />

Altlastenbeseitigung beim Stahlwerkbau.<br />

12 Von Klimawandel und Bewusstseinsveränderung<br />

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Mojib Latif vom Leibniz-Institut<br />

für Meereswissenschaften in Kiel<br />

20 Auf die Balance kommt es an<br />

Vom richtigen Umgang mit den Widrigkeiten unserer <strong>Umwelt</strong><br />

24 Welt in Zahlen<br />

Wo sind Menschen glücklich?<br />

26<br />

Gold trägt einen schweren ökologischen Rucksack.<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


32<br />

CO 2: Algen sind einer der Hoffnungsträger<br />

im Kampf gegen Treibhausgasemissionen.<br />

76<br />

Schutz vor Naturkatastrophen:<br />

eine Frage der Anpassung<br />

52<br />

Windkraft:<br />

Technik mit Hebelwirkung<br />

70<br />

Der Mensch und die Naturgewalten:<br />

eine ambivalente Beziehung<br />

projekte<br />

32 Grüne Welle<br />

Wohin mit dem CO2?<br />

36 <strong>Umwelt</strong>freundlicher Wissenstransfer<br />

In Thailand wird aus Palmöl Biodiesel gemacht<br />

40 Nachhaltig investieren<br />

Beim Stahlwerkbau in Brasilien reden Anwohner und Natur mit<br />

44 Die Kulturdolmetscher<br />

Vom Umgang mit Unterschieden in einem zunehmend vielfältigen<br />

Arbeitsumfeld<br />

52 Windkraft<br />

Große Kräfte leicht übertragen<br />

54 Mobilität<br />

Respektvolle Annäherungen an eine mittelalterliche Stadt<br />

perspektiven<br />

56 Neue alte Welt<br />

Wie der demographische Wandel unsere Lebenswelt verändert<br />

62 Unter einem Dach<br />

Mehrgenerationenhäuser setzen auf Austausch<br />

70 Naturgewalten<br />

Angebetet, gefürchtet, zunutze gemacht – aber nie gezähmt<br />

76 Mit der Gefahr leben lernen<br />

Anpassungsstrategien für das Zeitalter der zunehmenden<br />

Naturkatastrophen<br />

82 Wandelbare Welt<br />

Menschen- und naturgemachter Wandel aus der Vogelperspektive<br />

88 Wenn die Seele SOS funkt<br />

Burnout – Symptom der Hochleistungsgesellschaft<br />

94 Planet der Nomaden<br />

Prof. Karl Schlögel über die bewegte Menschheit<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


forum_gespräch<br />

12<br />

»WIR RISKIEREN,<br />

DEN BEREICH ZU VERLASSEN,<br />

IN DEM ES UNS GUTGING«<br />

Ein Gespräch zu den Herausforderungen des Klimawandels mit<br />

Prof. Dr. Mojib Latif, Professor am Leibniz-Institut für Meereswissenschaften<br />

an der Universität Kiel<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


TK Magazin | 1 | 2008 | Januar<br />

13


forum_gespräch<br />

14<br />

»Theoretisch ist es denkbar,<br />

die Weltwirtschaft<br />

innerhalb einiger Jahrzehnte<br />

komplett auf erneuerbare Energie<br />

umzustellen.«<br />

Mojib Latif<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


TK Magazin | 1 | 2008 | Januar<br />

15


forum_gespräch<br />

16<br />

Der Klimawandel war die gesellschaftliche Debatte des<br />

Jahres 2007. Wie bewerten Sie die Art und Weise, wie<br />

diese Debatte in der Öffentlichkeit geführt wurde und<br />

wird? Halten Sie es für problematisch, dass die komplexen<br />

Forschungsergebnisse zum Klimawandel in den Medien<br />

oft wenig differenziert dargestellt werden?<br />

Mojib Latif: Das ist in einer Mediengesellschaft einfach so.<br />

Ganz egal, um welches Thema es geht, es gibt immer das<br />

komplette Spektrum an Meinungen. An einem Tag lesen Sie,<br />

der Klimawandel sei das größte Problem aller Zeiten, am<br />

nächsten, dass alles natürlichen Ursprungs sei und wir uns<br />

keine Sorgen machen müssten. Das verwirrt und verunsichert.<br />

Deshalb ist es wichtig, dass es Foren gibt, in denen<br />

diese Dinge deutlich dargestellt werden, damit die Menschen<br />

das Problem wirklich verstehen. Schließlich würde auch niemand<br />

verstehen, warum ein Auto fährt, wenn Sie jedes Detail,<br />

jede Schraube erklären – und dann vielleicht auch noch<br />

falsch. Sie müssen sich auf die wesentlichen Teile konzentrieren:<br />

den Motor, die Reifen, die Karosserie. Bei wissenschaftlichen<br />

Modellen ist das ähnlich. Wenn es um die Diskussion der<br />

Güte der Modelle geht, wird jeder Kratzer zum Anlass genommen<br />

zu sagen, das Auto könne doch gar nicht fahren, weil es<br />

einen Kratzer hat. Sicher ist kein Modell perfekt, aber für die<br />

Prognose der großräumigen, langfristigen Klimaentwicklung<br />

ist das völlig irrelevant.<br />

Die Debatte über den Klimawandel und der Nobelpreis für<br />

die Klimaschützer haben das Bewusstsein der Menschen<br />

für diese Problematik gestärkt. Aber bringt das auch wirklich<br />

etwas?<br />

Eine Bewusstseinsänderung führt nicht notwendigerweise zu<br />

einer Verhaltensänderung. Im Prinzip versagen hier alle<br />

Ebenen: die Weltpolitik, die Wirtschaft und jeder Einzelne. Im<br />

Moment versucht jeder, sich in einem guten Licht darzustellen,<br />

indem er sich des Themas annimmt. Ich nenne das gefühlten<br />

Klimaschutz. So hat man subjektiv immer den Eindruck, dass<br />

wir Deutschen die großen Vorbilder sind. Anhand der Zahlen<br />

lässt sich das aber nicht belegen. Ein Beispiel: Beim Ausstoß<br />

an CO2 ist ein Deutscher mit ungefähr 11 Tonnen pro Kopf und<br />

Jahr dabei, ein Chinese mit 3,5 Tonnen und ein Inder<br />

mit 1 Tonne – ein US-Amerikaner zugegebenermaßen mit<br />

20 Tonnen. Die jüngst von Bundeskanzlerin Merkel geforderte<br />

„carbon justice“ fordern wir schon lange. Wenn alle Menschen<br />

das gleiche Recht haben sollen, CO2 auszustoßen und wir eine<br />

einigermaßen weiche Landung hinlegen wollen, müssen wir<br />

uns irgendwo treffen, vielleicht bei 2 Tonnen pro Kopf – was<br />

einer Reduktion um den Faktor 5 gegenüber dem derzeitigen<br />

Wert von gut 10 Tonnen entspräche.<br />

Was entgegnen Sie denen, die darauf hinweisen, Klimawandel<br />

habe es in der Geschichte der Erde und auch der<br />

Menschheit immer wieder gegeben, mit den positivsten<br />

Auswirkungen für Mensch und Tier in warmen Phasen?<br />

Das stimmt natürlich bis zu einem gewissen Grad. Es gibt aber<br />

zwei große Unterschiede zur Vergangenheit. Der erste ist die<br />

Geschwindigkeit der Veränderung. Von der letzten Eiszeit bis<br />

heute hat sich die Temperatur im globalen Mittel um etwa 4 bis<br />

5 Grad verändert – über 20.000 Jahre hinweg. Wir reden jetzt<br />

über 4 bis 5 Grad in 100 Jahren, also eine gigantisch andere<br />

Dimension. Wenn die Änderung so schnell erfolgt, können<br />

sich die Ökosysteme nicht mehr so gut anpassen. Der zweite<br />

Unterschied ist das absolute Niveau der Veränderung.<br />

Während der letzten großen Warmzeit vor 125.000 Jahren war<br />

es durchschnittlich ungefähr ein halbes Grad wärmer als<br />

heute. Damals lag die Temperatur ungefähr bei 16 Grad. Jetzt<br />

reden wir vom Szenario einer Erdmitteltemperatur von<br />

20 Grad, also noch mal 4 Grad über dieser sehr starken Warmphase.<br />

Damit wäre nicht nur die Geschwindigkeit, sondern<br />

auch das absolute Niveau der Temperatur einmalig. Klar ging<br />

es uns gut in Warmphasen – einer der Gründe, warum wir<br />

Menschen uns in den vergangenen Jahrtausenden so wunderbar<br />

entwickeln konnten, ist die Tatsache, dass es warm<br />

war und das Klima praktisch nicht geschwankt hat. In den<br />

100.000 Jahren zuvor fuhr das Klima auf niedrigem Niveau<br />

Der Klimaexperte<br />

warnt vor der<br />

trügerischen Sicherheit<br />

des „gefühlten<br />

Klimaschutzes“.<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


17<br />

»Eine Bewusstseinsänderung führt nicht<br />

notwendigerweise zu einer Verhaltensänderung.«<br />

Achterbahn. Wenn es jetzt in kurzer Zeit zu dieser massiven Erwärmung<br />

käme, würden wir genau diesen Bereich verlassen,<br />

in dem es uns gutgegangen ist.<br />

Ist es den Menschen nicht immer gelungen, auf Klimaherausforderungen,<br />

von denen sie vorher nichts geahnt<br />

haben, Antworten zu finden? Der Mensch hat Kühlschrank<br />

und Klimaanlage erfunden – sollte ihm da nicht auch noch<br />

etwas zur globalen Erwärmung einfallen?<br />

Ich glaube, es geht nicht so sehr um die Anpassungsfähigkeit<br />

des Menschen wie darum, dass wir nicht nachhaltig auf<br />

diesem Planeten leben. Der Klimawandel ist ja nur eines von<br />

vielen Problemen. Wir verbrauchen die natürlichen Ressour- 3<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


forum_gespräch<br />

18<br />

3 cen, die uns die Erde zur Verfügung stellt – ob das nun die fossilen<br />

Brennstoffe sind, Fische, Wälder, Böden oder Wasser –,<br />

in einem Maße, das nicht haltbar ist. Eigentlich bräuchten wir<br />

bei unserem Ressourcenverbrauch zwei Planeten Erde. Ich<br />

glaube, vielen ist viel zu wenig bewusst, dass wir den Ast<br />

absägen, auf dem wir sitzen. Letztlich geht es darum, dass wir<br />

die Lebensgrundlagen für alle Organismen auf diesem Planeten<br />

verändern. Wir dürfen das nicht immer so sehr auf uns<br />

projizieren und uns fragen, ob wir damit fertig werden, ob wir<br />

Deiche bauen können und so weiter. Das ist eigentlich nicht<br />

die wichtigste Frage.<br />

Die für eine Reduzierung des Treibhausgasausstoßes<br />

nötigen Technologien stehen ja bereits zur Verfügung und<br />

sind auch erprobt. Warum hapert es mit der Umsetzung?<br />

Als Wissenschaftler sage ich immer, das Klimaproblem wäre<br />

ganz einfach zu lösen, indem wir den Ausstoß an Treibhausgasen<br />

bis 2100 um 80 Prozent reduzierten. Theoretisch ist es<br />

denkbar, die Weltwirtschaft innerhalb einiger Jahrzehnte komplett<br />

auf erneuerbare Energie umzustellen. Die Umsetzung ist<br />

allerdings Aufgabe der Politik in Zusammenarbeit mit der Wirtschaft.<br />

Tatsächlich haben wir gar kein Energieproblem. Wir<br />

haben Energie im Überfluss. Nehmen Sie beispielsweise die<br />

Sonnenenergie: Sie müssen nur die Energie nutzen, die in der<br />

Sahara auf eine Fläche der Größe Niedersachsens – das heißt<br />

200 Kilometer mal 200 Kilometer – fällt, um den Weltenergiebedarf<br />

zu decken. Und wir haben ja nicht nur die Sonne. Wir<br />

haben Wind, Wasser, Geothermie, Gezeiten und alles mögliche<br />

andere. Wenn sich alle Länder einig wären, das Problem<br />

anzupacken, wäre es in einigen Jahrzehnten verschwunden.<br />

Selbst mit heutiger Technik wäre das möglich.<br />

Für wie realistisch halten Sie einen solchen internationalen<br />

Schulterschluss?<br />

Ich glaube, bei der Energie wird es nur über den Preis funktionieren.<br />

Da die Energiepreise steigen, werden die alternativen<br />

Techniken immer wettbewerbsfähiger. Spätestens wenn die<br />

Nachfrage nach Öl die Fördermenge überschreitet, werden die<br />

Preise explodieren. Letztlich – in vielleicht zehn oder 20 Jahren<br />

– wird dieser ökonomische Druck uns zwingen, diese<br />

erneuerbaren Energien weiterzuentwickeln und auch stärker in<br />

den Markt einzuführen. Die Politiker und auch die Großindustrie<br />

haben das inzwischen wirklich als ökonomische Notwendigkeit<br />

erkannt. Auf dem Nobelpreisträgertreffen vor einigen<br />

Wochen sagte Frau Merkel: „Wir haben immer die falsche<br />

Frage gestellt. Wir haben immer gefragt, was kostet es uns<br />

eigentlich, wenn wir etwas tun? Tatsächlich sollten wir fragen,<br />

was es uns kostet, wenn wir nichts tun.“ Seit Niklas Stern<br />

seine Studie vorgelegt hat, ist diese Frage wohl beantwortet:<br />

Es wird viel teurer, wenn wir nichts tun.<br />

Meinen Sie, dass dieses Umdenken noch rechtzeitig<br />

geschieht?<br />

Das hängt davon ab, wie man „rechtzeitig“ definiert. So ganz<br />

genau lässt sich das Klima nicht vorhersagen. Die Europäische<br />

Union und die Bundesregierung haben das Ziel formuliert,<br />

bis 2100 eine globale Erwärmung um 2 Grad im Vergleich<br />

zur vorindustriellen Zeit nicht zu überschreiten. Vielleicht<br />

liegt die Schwelle, bei der die irreversiblen Abläufe einsetzen,<br />

auch bei 3 Grad. Grönland ist so ein Beispiel. Wird ein<br />

bestimmtes Maß an Erwärmung überschritten, lässt sich das<br />

Abschmelzen der Gletscher Grönlands nicht mehr stoppen.<br />

Dann würde der Meeresspiegel um 7 Meter ansteigen. Ob<br />

das nun bei 2, bei 2,5 oder bei 3 Grad passiert, weiß zwar kein<br />

Mensch. Dass es aber irgendwann passiert, ist sicher. Deshalb<br />

ist es so wichtig, dass alles versucht wird, um die Erwärmung<br />

so gut wie möglich zu begrenzen.<br />

Gibt es beim Klimawandel Gewinner und Verlierer?<br />

Auf den ersten Blick kann es temporär auch Gewinner geben<br />

– zum Beispiel hier an Nord- und Ostsee könnten wir im<br />

Tourismus profitieren. Aber in einer globalisierten Welt ist so<br />

etwas viel zu vordergründig gedacht. Globale Probleme wie<br />

Migrationsströme und politische Destabilisierung wiegen viel<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


19<br />

»Eigentlich bräuchten wir bei unserem Ressourcenverbrauch<br />

zwei Planeten Erde.«<br />

schwerer als die potentiellen Gewinne in einigen Regionen.<br />

Das Problem besteht darin, dass es eine sowohl zeitliche als<br />

auch räumliche Entkopplung von Ursache und Wirkung gibt.<br />

Wenn wir heute etwas tun, spüren wir die Auswirkungen nicht<br />

sofort, weil es einige Jahrzehnte dauert, bis das Klima überhaupt<br />

reagiert. Zugleich sind diejenigen, die seit Jahren die<br />

Treibhausgase in die Atmosphäre entlassen haben, weitaus<br />

weniger von den Folgen betroffen als die Entwicklungsländer.<br />

Das muss zu politischen Spannungen führen.<br />

Ein Patentrezept scheint es nicht zu geben, aber wie kann<br />

man dafür sorgen, dass das Problembewusstsein auch<br />

beim Einzelnen, beim Endverbraucher ankommt?<br />

Ich sehe da zwei wichtige Punkte. Zum einen beobachte ich<br />

einen ganz allgemeinen Werteverlust: Korruption, Doping,<br />

<strong>Umwelt</strong>zerstörung – das gehört alles irgendwie zusammen.<br />

Jeweils geht es darum, dass wir uns auf Kosten anderer<br />

bereichern. Insofern glaube ich, dass wir insgesamt eine<br />

Wertediskussion in unserer Gesellschaft brauchen. Der zweite<br />

Punkt ist, dass Klimaschutz immer mit Verzicht gleichgesetzt<br />

wird. Das stimmt aber einfach nicht. Wir müssen den<br />

Menschen klarmachen, dass es dabei nicht um Verzicht geht,<br />

sondern möglicherweise auch um einen Gewinn an Lebensqualität,<br />

zum Beispiel durch die Entschleunigung unseres<br />

Alltags. 7<br />

DAS INTERVIEW FÜHRTE ANKE BRYSON. FOTOS: OLIVER RÜTHER<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


forum_kommentar<br />

20<br />

AUF DIE BALANCE<br />

KOMMT ES AN<br />

VON PROFESSOR DIETER BRODTMANN<br />

Unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit hängen zu einem wesentlichen Teil davon ab,<br />

in welchem Umfeld wir leben und wie wir auf dieses Umfeld reagieren. Sie sind nicht zuletzt eine<br />

Frage des – seelischen – Gleichgewichts. Entgegen allen Widrigkeiten unserer <strong>Umwelt</strong>.<br />

Anfang der neunziger Jahre stellte die Betriebskrankenkasse<br />

eines großen deutschen metallverarbeitenden Industrieunternehmens<br />

etwas sehr Merkwürdiges fest: Bei ihren<br />

männlichen Mitgliedern zwischen 55 und 57 Jahren stieg<br />

plötzlich die Zahl der Arztbesuche und der Rezepte für<br />

Beruhigungs- und Schlafmittel deutlich an. Ein bisher<br />

unbekanntes Virus? Schwer vorstellbar.<br />

Den Ursachen dieses Phänomens kam man erst auf die Spur, als ein<br />

neues gesundheitswissenschaftliches Konzept in den Blick geriet, das<br />

Konzept der Salutogenese. Dieses Konzept wurde in den siebziger Jahren<br />

von dem Medizinsoziologen Aaron Antonovsky entwickelt und ist<br />

seit 1986 grundlegend für alle Projekte der Weltgesundheitsorganisation<br />

(WHO). Antonovsky hatte Ende der sechziger Jahre in Israel, einem<br />

ausgesprochenen Einwanderungsland, versucht herauszufinden, ob die<br />

ethnische Herkunft eine Rolle dabei spielt, wie Frauen zwischen 47 und<br />

56 Jahren mit den Wechseljahren zurechtkommen. In den dafür entwickelten<br />

Fragebogen hatte er bei den aus Europa stammenden Frauen<br />

auch die Frage eingefügt: Waren Sie in einem Konzentrationslager?<br />

Ein Vergleich dieser Frauen mit der Gruppe der Befragten, denen das KZ<br />

erspart geblieben war, ergab: Nur 29 Prozent der KZ-Überlebenden<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


21<br />

fühlten sich recht gesund, dagegen 51 Prozent der Kontrollgruppe ohne<br />

KZ-Vergangenheit. Wer hätte anderes erwartet?<br />

Eines Nachts kam Antonovsky jedoch eine Idee, die das Nachdenken<br />

über Gesundheit revolutionieren sollte. Er fragte sich: Waren nicht diese<br />

29 Prozent der Frauen, die das KZ überlebt hatten, durch die Hölle gegangen,<br />

dann als „displaced persons“, die niemand aufnehmen wollte,<br />

durch die Welt geirrt, bevor sie schließlich in einem Staat ihre Heimat<br />

fanden, der in der Folge drei Kriege zu bestehen hatte? Was befähigt<br />

Frauen, die dies alles durchgemacht haben, sich in einer der schwierigsten<br />

Lebensphasen einer Frau immer noch gesund zu fühlen? 3<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


forum_kommentar<br />

22<br />

3 Weshalb also bleiben die einen gesund (und zufrieden), und dies trotz<br />

oft stärkster Belastungen, während andere in der gleichen Situation<br />

krank (oder unzufrieden) werden? An die Stelle der Frage nach der<br />

Pathogenese und den dafür verantwortlichen Risikofaktoren – „Was<br />

lässt jemanden krank werden?“ – tritt die Frage nach der Salutogenese<br />

und den dafür vorhandenen Schutzfaktoren: „Was lässt jemanden gesund<br />

bleiben, trotz aller Risikofaktoren, denen er – oft unvermeidlich –<br />

ausgesetzt ist?“<br />

Auf den Sockel kommt es an<br />

Im Grunde ist Gesundheit ein Balanceproblem: Wir müssen versuchen,<br />

im Gleichgewicht zu bleiben gegen alles, was uns aus dem Gleichgewicht<br />

zu bringen droht. Deshalb fühlt sich ein Mensch umso gesünder<br />

und zufriedener, je besser es ihm gelingt, die auf ihn einwirkenden<br />

„Stressoren“ auszubalancieren. Das können Krankheitserreger sein,<br />

Lärm, berufliche Überforderung oder Luftverschmutzung. Aber wir können<br />

uns auch selbst zum Stressor werden, wenn wir uns ständig unter<br />

Druck setzen und überfordern – manche tun aus diesem Grund mehr für<br />

ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden, als selbst die beste Konstitution<br />

auf Dauer aushalten kann.<br />

Ob und wie uns das Ausbalancieren von Belastungen gelingt, hängt<br />

zum einen davon ab, inwieweit wir über Schutzfaktoren verfügen. Dazu<br />

gehören Stressbewältigungsstrategien, ein intaktes Immunsystem,<br />

gesundheitliche Kenntnisse, finanzielle Sicherheit und auch eine günstige<br />

genetische Ausstattung. Nicht für alles hiervon können wir etwas<br />

tun, aber doch für einiges.<br />

Diese Schutzfaktoren – Antonovsky nennt sie „Widerstandsressourcen“<br />

– reichen aber allein nicht aus. Man stelle sich vor, der Mensch stehe<br />

auf der Mitte einer Wippe und versuche trotz allem, was von außen auf<br />

ihn einstürmt, in Balance zu bleiben. Die Geschicklichkeit, die er dafür<br />

benötigt, kann man mit den gesundheitlichen Widerstandsquellen vergleichen.<br />

Noch wichtiger ist allerdings der Sockel, auf dem die Wippe<br />

ruht. Ist dieser sehr schmal, rettet auch die beste Geschicklichkeit nicht<br />

vor dem Absturz. Der Sockel muss also breit und standfest genug sein.<br />

Für das Gesundbleiben und Glücklichwerden reicht aber selbst das noch<br />

nicht aus. Entscheidend ist letztlich, ob ein Mensch überhaupt<br />

bereit ist, seine Widerstandsquellen für das Ausbalancieren von Belastungen<br />

zu mobilisieren. Das ist gar nicht immer selbstverständlich. Aber<br />

das Konzept der Salutogenese hilft uns, es zu verstehen.<br />

Danach hängen Breite und Stabilität dieses Sockels vor allem von zwei<br />

Faktoren ab. Der erste Faktor ist die Überzeugung, ein sinnvolles Leben<br />

zu führen. Der zweite, untrennbar mit dieser Überzeugung verbundene<br />

Faktor ist ein positives Selbstwertgefühl. Werden die Zuversicht in den<br />

Sinn des eigenen Lebens und das Selbstwertgefühl dauerhaft beschädigt,<br />

bricht mit dem Sockel das ganze Balancesystem buchstäblich in<br />

sich zusammen.<br />

»Schutzfaktoren allein reichen nicht aus.«


Der Verlust der Fähigkeit, gesundheitsbedrohende Belastungen auszubalancieren,<br />

kann vor allem durch tiefgreifende soziale Verlusterlebnisse<br />

ausgelöst werden. Zum Beispiel, wenn ein alter Mensch mit dem Tod<br />

des langjährigen Ehepartners die einzigen noch Lebenssinn vermittelnden<br />

sozialen Bezüge verliert. Oder wenn ein Langzeitarbeitsloser immer<br />

wieder Ablehnung erfährt und dadurch in seinem Selbstwertgefühl<br />

zutiefst belastet wird. Umgekehrt heißt das aber auch: Intakte soziale<br />

Beziehungen sind ein Schutzfaktor allerersten Ranges. Wer allein lebt,<br />

lebt gefährlich.<br />

23<br />

Schutzfaktoren im Lebenssinn<br />

Alles, was das Gefühl der Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens, was das<br />

Selbstwertgefühl von Menschen, was ihre soziale Integration und soziale<br />

Anerkennung fördert, dient unmittelbar ihrer Gesundheit und lässt<br />

sich durch Jogging und Vollwertkost, durch Multivitaminkapseln und<br />

auch durch französischen Rotwein nicht ersetzen.<br />

Damit lässt sich auch das anfangs beschriebene Phänomen erklären.<br />

Wissen muss man dazu, dass das erwähnte Industrieunternehmen zur<br />

gleichen Zeit seine Angehörigen drängte, mit 55 Jahren in den vorzeitigen<br />

Ruhestand zu wechseln. Viele nahmen dieses Angebot gern an,<br />

nicht zuletzt aufgrund großzügiger Abfindungen – nicht ahnend, dass<br />

sie mit dem ungeplanten Ruhestand in ein tiefes seelisches „Loch“ fallen<br />

würden. Mit dem Fortfall der Arbeit war ja nicht nur der Verlust des<br />

bisherigen zentralen Lebenssinns verbunden, sondern auch der eines<br />

wichtigen soziales Bezugsfelds. Viele waren nicht darauf vorbereitet, in<br />

ihrer nunmehr „unendlichen“ Freizeit ihrem Leben einen neuen Sinn<br />

geben zu müssen und sich als wertvoll zu erleben. Und es fiel ihnen<br />

schwer, von einem Tag auf den nächsten ein neues soziales Bezugsfeld<br />

aufzubauen. Die Folgen für das gesundheitliche Befinden bekam die<br />

Betriebskrankenkasse zu spüren.<br />

Nach erfolgreicher Ursachenforschung entwickelten Unternehmen und<br />

Betriebskrankenkasse ein Projekt: Ruhestandsvorbereitungskurse, in<br />

denen die angehenden Vorruheständler gemeinsam mit ihrem indirekt<br />

ja ebenfalls betroffenen Lebenspartner in vielfältiger Weise auf die neue<br />

Lebenssituation vorbereitet wurden. Dies zahlte sich nicht nur in größerer<br />

Lebenszufriedenheit der Betroffenen aus, sondern auch für die Krankenkasse.<br />

Univ.-Prof. Dieter Brodtmann<br />

Prof. Dieter Brodtmann ist Erziehungswissenschaftler und<br />

war zuletzt bis zu seiner Emeritierung Lehrstuhlinhaber für<br />

Sportpädagogik im Fachbereich Erziehungswissenschaften<br />

der Universität Hannover. Seit über 20 Jahren ist sein<br />

zentraler Arbeitsschwerpunkt die Übertragung des salutogenetischen<br />

Denkens über Gesundheit auf den Schulsport<br />

und auf den Sport mit älteren Menschen. In diesem Zusammenhang<br />

war er auch als Berater für das Bundesministerium<br />

für Bildung und Wissenschaft, für verschiedene Kultusministerien<br />

sowie im Deutschen Sportbund tätig. 7<br />

Menschen als Menschen stärken<br />

Die zentrale Frage heißt daher auch: Wie können Menschen als Menschen<br />

gestärkt werden – und nicht nur ihre Körper? Angesichts der<br />

wesentlichen Rolle, die die soziale Dimension für Gesundbleiben und<br />

Krankwerden spielt, müssen all jene, die Verantwortung für andere<br />

Menschen tragen – ob in Wirtschaft, Politik, Schule oder andernorts –<br />

sich immer wieder fragen, ob in ihrem Verantwortungsbereich ein Klima<br />

herrscht, das die Erfahrung sozialen Anerkannt- und Integriertseins<br />

vermittelt. Wer anderen Menschen Spielräume für selbstständiges Handeln<br />

in Gruppen einräumt und ihnen Verantwortung zutraut und zumutet,<br />

leistet damit einen oft entscheidenden Beitrag dafür, dass Gesundheit<br />

erhalten bleibt und krankheitsbedingte Fehlzeiten sich deutlich<br />

verringern. 7<br />

ILLUSTRATION: TINA BERNING<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


forum_welt_in_zahlen<br />

24<br />

DER GLÜCKLICHSTE ORT<br />

Die Suche nach Glück gehört wohl zu den angeborenen Eigenschaften der Menschen. Schon Demokrit, Aristoteles und Epikur<br />

machten sich über das höchste für den Menschen erreichbare Gut, die „Eudaimonia“, Gedanken. Glück ist ein subjektives<br />

Gefühl. Dennoch versuchen Wissenschaftler immer wieder, Glück und Zufriedenheit objektiv zu messen und herauszufinden,<br />

in welchem Umfeld Menschen am glücklichsten sind.<br />

Genau darum ging es auch Forschern der britischen University of Leicester: Um eine globale Landkarte des „Bruttosozialglücks“<br />

zu zeichnen, werteten sie 100 Untersuchungen von Institutionen wie der Weltgesundheitsbehörde WHO oder<br />

der UNESCO aus, in denen rund 80.000 Personen befragt worden waren. Das Ergebnis: die „World Map of Happiness“.<br />

Glück ›Geld<br />

Aber Armut kann unglücklich machen: Die drei unglücklichsten Länder in der<br />

Untersuchung sind Burundi, Zimbabwe und Kongo. Als wohlhabende Kleinstaaten<br />

schneiden die Schweiz (2) und Luxemburg (10) sehr gut ab.<br />

Optimismus = Wohlbefinden<br />

Das glücklichste Volk in dieser Studie, die Dänen, schätzt sein eigenes gesundheitliches Wohlbefinden<br />

sehr viel höher ein, als es eine objektive Diagnose erlauben würde. Entsprechend höher fällt hier auch die<br />

Lebenszufriedenheit aus.<br />

glücklich neutral unglücklich<br />

Für alle Karten © Copyright 2006 SASI Group (University of Sheffield) und Mark Newman (University of Michigan). www.worldmapper.org<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


25<br />

DER WELT<br />

Glück ›Sonnenschein<br />

Trotz langer Winter und häufiger Regentage befinden sich vier der Top-10-Länder nördlich des 49. Breitengrades: Dänemark, Island,<br />

Finnland und Schweden. Das einzige Tropenparadies unter den Glücksländern sind die Bahamas. Was die sechs europäischen Länder<br />

unter den ersten 10 (die Schweiz und Österreich gehören auch dazu) gemein haben: Sie sind wohlhabend, haben ein funktionierendes<br />

Gesundheits- und Bildungssystem, eine relativ niedrige Arbeitslosigkeit und eher geringe soziale Unterschiede.<br />

Die Bewohner kleinerer Länder mit<br />

einem höheren sozialen Zusammenhalt<br />

und einem größeren Gefühl der nationalen<br />

Zugehörigkeit schätzen sich<br />

glücklicher ein als die Menschen in den<br />

bevölkerungsreichsten Ländern der<br />

Welt. China erreicht gerade einmal<br />

Platz 82, Indien sogar nur Platz 125,<br />

und Russland liegt abgeschlagen auf<br />

Platz 167. Eine Ausnahme sind die<br />

USA, die es immerhin auf Platz 23<br />

schaffen.<br />

Kleiner = glücklicher<br />

Mittelmaß ≠Unzufriedenheit<br />

In der Studie landen die Deutschen auf Platz 35 von 178 Nationen. Regelmäßige Untersuchungen zur Zufriedenheit<br />

der Bundesbürger mit ihren Wohnorten zeigen, dass die glücklichsten Deutschen am Bodensee, in Stuttgart,<br />

Starnberg und Osnabrück leben. München schneidet hingegen genauso mittelmäßig ab wie Sylt. Zählen Mäßigung<br />

und Überschaubarkeit mehr als Lifestyle?<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


forum_wissens_wert<br />

26<br />

Dänische Wurzeln<br />

Der heute vielbenutzte<br />

Begriff<br />

„<strong>Umwelt</strong>“<br />

wurde vermutlich<br />

von dem<br />

dänischen,<br />

in Hamburg<br />

lebenden<br />

Dichter Jens<br />

Immanuel<br />

Baggesen<br />

(1764-1828)<br />

hergeleitet. Baggesen<br />

suchte eine<br />

deutsche Entsprechung für<br />

das dänische „omverden“, mit der<br />

Bedeutung „umgebendes Land“<br />

oder „umgebende Welt“. Anfang des<br />

20. Jahrhunderts beschrieb der Biologe<br />

Jakob von Uexküll erstmals, wie<br />

der Mensch durch seine Aktivitäten<br />

Einfluss auf die <strong>Umwelt</strong> nimmt und<br />

ihren Einflüssen ausgesetzt ist. Die<br />

Bedeutung des Begriffs „<strong>Umwelt</strong>“ als<br />

Synonym für die durch Einwirkung<br />

des Menschen gefährdete Natur<br />

verbreitete sich mit der beginnenden<br />

<strong>Umwelt</strong>bewegung der frühen siebziger<br />

Jahre. Im Jahr 1978 definierte<br />

der Sachverständigenrat für <strong>Umwelt</strong>fragen<br />

der Bundesregierung „<strong>Umwelt</strong>bewusstsein“<br />

als „Einsichten<br />

in die Gefährdungen der natürlichen<br />

Lebensgrundlagen des Menschen<br />

durch diesen selbst“ und als „Bereitschaft<br />

zur Abhilfe“. 7<br />

Im Jahr 1975 lebten zwei Drittel der<br />

globalen Bevölkerung auf dem Land –<br />

2008 ist die Stadt die natürliche<br />

<strong>Umwelt</strong> für mehr als die Hälfte der<br />

Weltbevölkerung, bis 2030 soll sie das<br />

schon für zwei Drittel sein.<br />

Quelle: United Nations Population Division<br />

Das wahre Gewicht der Dinge<br />

Wie viel wiegt 1 Gramm Gold? Natürlich 1 Gramm. Oder vielleicht doch<br />

540 Kilogramm? So schwer zumindest ist der „ökologische Rucksack“,<br />

den das Edelmetall Gramm für Gramm mit sich herumschleppt.<br />

Berechnet hat das Professor Friedrich Schmidt-Bleek, Präsident<br />

des französischen Factor 10 Institute, mit den sogenannten Material-<br />

Input-Faktoren. Indem er zeigt, was für die Produktion eines Gutes aus<br />

der Natur entnommen und verarbeitet werden musste, macht er die<br />

unsichtbaren ökologischen Folgekosten unseres Wirtschaftens sichtbar.<br />

So kommt der „ökologische Rucksack“ eines durchschnittlichen<br />

Computers aufgrund der vielen darin enthaltenen Edelmetalle auf<br />

14 Tonnen, der einer Jeans auf 30<br />

Kilo, weil für den Anbau von<br />

Baumwolle sehr viel Wasser<br />

benötigt wird. Seine<br />

zum Teil überraschenden<br />

Thesen – so gibt<br />

es viele Produkte, bei<br />

denen die Einweglösung<br />

dem Recycling deutlich<br />

überlegen ist – hat Schmidt-<br />

Bleek in seinem neuen Buch<br />

„Nutzen wir die Erde richtig?“<br />

(Fischer-Verlag 2007) zusammengefasst<br />

und aktualisiert. Wer es gelesen hat, denkt künftig<br />

zweimal darüber nach, ob er eine E-Mail wirklich ausdrucken muss<br />

– schließlich kostet jedes Gramm Papier 15 Gramm Materialinput. 7<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


Erdumrundung mit Sonnenkraft<br />

Mit 14 Jahren zeichnete Louis Palmer seinen Traum auf ein Blatt<br />

Papier, am 3. Juli 2007, etwa 20 Jahre später, ging es los: zur ersten<br />

Erdumrundung im Solarmobil – 50.000 Kilometer und 50 Länder in<br />

15 Monaten. Inzwischen liegen halb Europa, die Arabische Halbinsel<br />

und Teile Asiens hinter dem findigen Schweizer. Mit der UN-Klimakonferenz<br />

in Bali im Dezember 2007 wurde ein wichtiges Etappenziel<br />

erreicht. Gesetzt sind Start und Ziel (Luzern) – die restlichen Reiseetappen<br />

bestimmen die Einladungen von Menschen, die sich weltweit<br />

für den Klimaschutz einsetzen. „Solartaxi“ hat Palmer sein Fahrzeug<br />

genannt, weil Etappenbegleiter auf dieser Reise ausdrücklich erwünscht<br />

sind. Platz genug ist auch – dank eines speziellen Anhängers, auf dem<br />

die Solarzellen angebracht sind. Inklusive Batteriebetrieb kann das<br />

solarbetriebene Elektromobil bis zu 400 Kilometer täglich zurücklegen.<br />

Deutlich schneller unterwegs sein wird das „Solar Impulse“. Die erste<br />

bemannte Weltumrundung im ausschließlich mit Solarenergie angetriebenen<br />

Flugzeug soll im Mai 2011 starten. 7<br />

www.solartaxi.com | www.solarimpulse.com<br />

Weltweit haben sich mehr als 9 Millionen<br />

Menschen in der Internetwelt<br />

„Second Life“ eine virtuelle Existenz<br />

aufgebaut. Allerdings scheinen<br />

sich die wenigsten in dieser vom<br />

Benutzer selbst bestimmten <strong>Umwelt</strong><br />

wohlzufühlen: Die Anzahl der<br />

aktiven Nutzer wird auf lediglich<br />

1 Prozent geschätzt.<br />

Wo andere<br />

hoch hinaus wollten, …<br />

WER WAR’S?<br />

… da konnte es für ihn gar nicht tief genug gehen. Der<br />

Sohn eines Rechtsanwalts begründete die Unterwasserforschungsgruppe<br />

der französischen Marine, stellte<br />

1947 mit 91,5 Metern Tiefe einen Weltrekord im „Freitauchen“<br />

(ohne Atemgerät) auf und entwarf das erste<br />

Presslufttauchgerät, das ungehindertes Tauchen ohne<br />

schweren Anzug ermöglichte. Außerdem konstruierte er<br />

Tauchfahrzeuge und Unterwasserlaboratorien. Populär<br />

wurde er durch die Kombination der Liebe zum Tauchen<br />

mit einer zweiten Leidenschaft, dem Filmen: Seine<br />

Dokumentarfilme waren es, die der Öffentlichkeit die<br />

Vielfalt der Meere, ihren ökologischen Reichtum und<br />

auch ihre Verletzlichkeit vor Augen führten – so trug er<br />

dazu bei, dass der <strong>Umwelt</strong>schutz als eine der zentralen<br />

Herausforderungen unserer Zeit erkannt wurde. Für<br />

seine filmische Arbeit erhielt er einen Oscar und errang<br />

die Goldene Palme in Cannes. Weltberühmt wurde er<br />

durch seine Expeditionen auf dem Forschungsschiff „Calypso“, das<br />

zugleich als schwimmendes Laboratorium diente. Durchschnittlich<br />

vier Monate jedes Jahres verbrachte er auf den Weltmeeren und legte<br />

in 50 Büchern, rund 70 Filmen und Fernsehserien Zeugnis von seiner<br />

Arbeit als Meeresforscher ab. Der Tauchpionier und Unterwasserfilmer<br />

entwickelte sich früh zum streitbaren Anwalt der Meere und gründete<br />

unter seinem Namen eine Gesellschaft, um das Überleben der<br />

Wassersysteme der Erde<br />

zu sichern. Für dieses<br />

Engagement erhielt er als<br />

eine von zahlreichen Auszeichnungen<br />

den <strong>Umwelt</strong>preis<br />

der UNO. Der „Nachfahre<br />

Noahs“, wie ihn<br />

die französische Presse<br />

einmal nannte, stand laut<br />

Umfragen jahrzehntelang<br />

an der Spitze der populärsten<br />

Franzosen. Als ihn<br />

der US-amerikanische<br />

Schauspieler Bill Murray<br />

vor wenigen Jahren<br />

unter dem Namen „Steve<br />

Zissou“ im Film „Die Tiefseetaucher“<br />

karikierte,<br />

trug er eine rote Wollmütze<br />

– denn das war<br />

das Markenzeichen des<br />

Meeresforschers. 7<br />

27<br />

AUFLÖSUNG: SEITE 93<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


ansichten<br />

28<br />

»Die Erde verdient es, dass wir sie als unsere Heimat ansehen.<br />

Die Heimat, das wissen alle Kulturen, zerstört man nicht.«<br />

Prof. Dr. Dr. h.c. Ernst-Ulrich v. Weizsäcker, Dekan der Bren School<br />

of Environmental Science and Management, University of California, Santa Barbara


ansichten<br />

30<br />

»Es werden viele Kriege um die zunehmend knappen Ressourcen geführt.<br />

Wenn wir schonender mit unseren Ressourcen umgingen, müssten wir nicht<br />

um sie kämpfen. Wer die <strong>Umwelt</strong> in ihrer Komplexität versteht, trägt die<br />

Verantwortung zu handeln. Wir dürfen nicht nachlassen, wir dürfen nicht<br />

aufgeben, wir müssen beharrlich bleiben.«<br />

Prof. Wangari Maathai, kenianische <strong>Umwelt</strong>schützerin, Vize-<strong>Umwelt</strong>ministerin und Friedensnobelpreisträgerin


projekte_CO2<br />

32<br />

Algen: Kohlendioxidfresser<br />

und Hoffnungsträger<br />

im Kampf gegen den<br />

Klimawandel


33<br />

GRÜNE<br />

WELLE<br />

Kohlendioxid wird im Zuge der<br />

Klimaschutzdiskussionen gerne als<br />

böser Bube abgestempelt. Mit<br />

zahlreichen Maßnahmen zur Reduzierung<br />

und Speicherung versucht man dem<br />

– in gewissen Mengen lebensnotwendigen –<br />

Treibhausgas zu Leibe zu rücken.<br />

V<br />

äxjö ist kein Ort, der auf Europas Bühne bisher<br />

nachhaltig in Erscheinung getreten ist. Touristisch<br />

hat das 80.000-Einwohner-Städtchen im Süden<br />

Schwedens keine besonderen Highlights vorzuweisen.<br />

Wichtige Konferenzen haben hier ebenso wenig<br />

stattgefunden wie Galaabende oder Preisverleihungen<br />

mit Stars und Prominenten. Selbst der ortsansässige<br />

Fußballklub Östers IF findet sich seit kurzem in der dritten<br />

schwedischen Liga wieder. Kurzum: Växjö scheint auf den ersten<br />

Blick allenfalls ein Kandidat für die Namenspatenschaft bei<br />

der Regalserie eines großen schwedischen Möbelhauses zu<br />

sein.<br />

Doch weit gefehlt: Woche für Woche strömen Delegationen<br />

von Wissenschaftlern, Politikern und Journalisten nach Växjö.<br />

Denn die Stadt hat etwas zu bieten, um das sie ganz Europa<br />

beneidet. Dank eines ausgeklügelten Energieversorgungssystems,<br />

das zu einem Großteil auf der Verbrennung von Biomasse<br />

fußt, produzieren die Einwohner pro Kopf die geringste<br />

Menge an Kohlendioxid (CO2) auf dem gesamten Kontinent –<br />

lediglich 3,5 Tonnen pro Jahr. Zum Vergleich: In Deutschland<br />

liegen die Emissionen im selben Zeitraum bei rund 10 Tonnen<br />

pro Kopf, in den USA sogar bei fast 20 Tonnen.<br />

Die Aufmerksamkeit, die das skandinavische Städtchen<br />

wegen seiner Energiepolitik erfährt, kommt nicht von ungefähr.<br />

Der Umgang mit CO2 ist derzeit das zentrale Thema<br />

sämtlicher Klimaschutzdebatten. Teilweise wird dabei der Eindruck<br />

erweckt, CO2 sei aktuell die größte Geißel der Menschheit.<br />

Überschwemmungen, Wirbelstürme, Trockenperioden –<br />

sämtliche katastrophalen Wettererscheinungen werden mit<br />

dem sogenannten Treibhauseffekt in Verbindung gebracht,<br />

für den zu große Mengen von CO2 in der Luft verantwortlich<br />

gemacht werden.<br />

Gestörter Kreislauf<br />

Der Zusammenhang ist nicht von der Hand zu weisen.<br />

In der Atmosphäre sorgt CO2 zusammen mit<br />

anderen Gasen dafür, dass die von der Erdoberfläche<br />

reflektierte Sonnenstrahlung nicht vollständig in den<br />

Weltraum zurückentweichen kann, sondern zu einem Teil<br />

erneut auf die Erde reflektiert wird. In Maßen ist dieser Treibhauseffekt<br />

durchaus sinnvoll, ermöglicht er doch überhaupt<br />

erst das Leben auf der Erde. Denn ohne die reflektierten Sonnenstrahlen<br />

läge die Durchschnittstemperatur auf unserem<br />

Planeten bei minus 18 und nicht bei plus 15 Grad Celsius.<br />

3<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


projekte_CO2<br />

34<br />

In der Pilotanlage<br />

für ein CO2-freies<br />

Braunkohlekraftwerk<br />

im südbrandenburgischen<br />

Schwarze Pumpe<br />

überprüft ein<br />

Mitarbeiter den<br />

Brennkessel.<br />

3 CO 2 per se zu verteufeln wäre also der falsche Ansatz, zumal<br />

der CO2-Kreislauf zu den wichtigsten in der Natur vorkommenden<br />

Kreisläufen überhaupt zählt. Im Zuge der Photosynthese,<br />

der für das Leben fundamentalen Stoffwechselreaktion,<br />

wandeln Pflanzen das in der Atmosphäre vorkommende<br />

CO 2 mit Hilfe von Licht und Wasser in Sauerstoff und Glucose<br />

um. Erst wenn die Pflanzen verrotten, wird das CO2 wieder in<br />

die Luft abgegeben oder lagert sich in Erdschichten ab. Auf<br />

diese Weise entstehen fossile Brennstoffe wie Kohle, Erdöl<br />

oder Erdgas, die die Menschen seit langer Zeit zur industriellen<br />

Produktion und zum Heizen ihrer Wohnhäuser nutzen.<br />

Aber genau hier liegt auch die Wurzel des Problems: Wenn die<br />

Menschen fossile Brennstoffe für ihre Zwecke einsetzen, werden<br />

CO2-Mengen in die Atmosphäre abgegeben, die das evolutionär<br />

gewachsene System des gegenseitigen Stoffausgleichs<br />

aus dem Gleichgewicht bringen. Die Folgen sind<br />

bekannt: Aufgrund der größeren Menge von CO2 in der Luft erwärmt<br />

sich die Atmosphäre, Pole und Gletscher schmelzen,<br />

der Meeresspiegel steigt an, Naturkatastrophen häufen sich.<br />

Ein unausweichlicher Zielkonflikt<br />

Aktuell liegt der CO2-Anteil in der Luft um etwa ein Drittel<br />

höher als vor der industriellen Revolution vor rund 200 Jahren.<br />

Anlass zur Sorge geben auch Meldungen, dass die Ozeane<br />

als riesige natürliche CO2-Speicher nicht mehr in der Lage<br />

sind, so viel CO2 aufzunehmen, wie es nötig wäre. Britische<br />

Ein Ingenieur der<br />

Brandenburgischen<br />

Technischen<br />

Universität<br />

Cottbus kontrolliert<br />

im Kraftwerk<br />

Jänschwalde ein<br />

Messinstrument<br />

der ersten Oxyfuel-<br />

Testanlage. Hier<br />

wird das anfallende<br />

CO2 nicht in<br />

die Atmosphäre<br />

entlassen, sondern<br />

verflüssigt, um<br />

es dauerhaft speichern<br />

zu können.<br />

Forscher haben festgestellt, dass sich beispielsweise die Aufnahmefähigkeit<br />

des Nordatlantiks seit Mitte der neunziger<br />

Jahre um die Hälfte verringert hat. Große Teile des Treibhausgases<br />

können somit nicht mehr absorbiert werden.<br />

Parallel führt der globale Wettbewerb zwischen den Industrienationen<br />

dazu, dass die Produktionskapazitäten weiter wachsen<br />

und dafür immer größere Mengen Energie benötigt werden.<br />

Ein Zielkonflikt scheint unausweichlich: Einerseits sind<br />

fossile Energieträger in den kommenden Dekaden unverzichtbar<br />

zur wirtschaftlichen Sicherung der Stromversorgung – allein<br />

in Deutschland wird in den nächsten 20 Jahren mit einem<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


Zusatzbedarf von 40.000 Megawatt gerechnet –, andererseits<br />

ist die Nutzung fossiler Energieträger mit den heute verfügbaren<br />

Technologien unter den beschriebenen umweltpolitischen<br />

Gesichtspunkten höchst brisant. Fest steht, dass die fossilen<br />

Energien weiterhin eine tragende Rolle spielen werden, da<br />

selbst ein zügiger Ausbau der Nutzung von Biomasse und erneuerbarer<br />

Energien aus Sonne, Wind und Wasser den Bedarf<br />

nicht alleine decken kann.<br />

Wie aber lässt sich das Problem entschärfen? „Eine Möglichkeit<br />

ist der umweltfreundliche, möglichst emissionsarme Betrieb<br />

fossil befeuerter Kraftwerke. Die entsprechenden Technologien<br />

hierfür bereitzustellen zählt zu den bedeutendsten<br />

Entwicklungsaufgaben der heutigen Zeit“, sagt Dr. Bodo Gehrmann,<br />

Projektleiter im Bereich Forschung und Entwicklung bei<br />

der <strong>ThyssenKrupp</strong> VDM GmbH. Gemeinsam mit weiteren<br />

Fachleuten aus Industrie und Wissenschaft beteiligt sich das<br />

Unternehmen an der COORETEC-Initiative des Bundesministeriums<br />

für Wirtschaft und Technologie. COORETEC (CO2 Reduction<br />

Technologies) verfolgt mehrere Ansätze, um des Problems<br />

des übermäßigen CO2-Ausstoßes Herr zu werden.<br />

Unter anderem geht es um die gezielte Abtrennung von CO2 im<br />

Energieerzeugungsprozess und die anschließende Speicherung<br />

(Sequestrierung) des Treibhausgases, beispielsweise in<br />

Öl- und Gasfeldern, Kohleflözen oder in der Tiefsee. Mit dieser<br />

Thematik beschäftigt sich auch das EU-Projekt „CO2SINK“ im<br />

brandenburgischen Ketzin, wo in den nächsten Jahren versuchsweise<br />

60.000 Tonnen CO2 in 600 bis 800 Meter tief liegende<br />

saline Aquiferen (wasserleitende Gesteinsschichten mit<br />

hohem Salzgehalt) gepumpt werden. Darüberliegende Tonschichten<br />

sollen den unterirdischen Speicher dicht- und CO2<br />

von der Atmosphäre fernhalten.<br />

Auf der Suche nach der besten Lösung<br />

COORETEC rückt aber noch eine zweite Frage in den Mittelpunkt:<br />

Wie lässt sich bei der Energieerzeugung in fossilen<br />

Kraftwerken durch den Einsatz neuer Werkstoffe die Effizienz<br />

steigern, so dass weniger CO2 in die Atmosphäre abgegeben<br />

wird? „Ziel ist es, den Wirkungsgrad der Kraftwerke von knapp<br />

40 auf über 50 Prozent zu steigern“, sagt Gehrmann. Dafür<br />

müsste die Dampftemperatur von 600 Grad auf 700 Grad erhöht<br />

werden können. <strong>ThyssenKrupp</strong> VDM hat Werkstoffe im<br />

Herstellungsprogramm, welche die nötige Warmfestigkeit für<br />

den Einsatz bei der erhöhten Temperatur aufweisen: so zum<br />

Beispiel die Nickellegierungen Nicrofer 5120CoTi und Nicrofer<br />

5520Co sowie die modifizierte Weiterentwicklung Nicrofer<br />

5520CoB. „Bei der Herstellung der Stoffe stand im Mittelpunkt,<br />

dass sie den Temperaturen standhalten, gut verarbeitet<br />

werden können, schweißbar sind und gleichzeitig eine<br />

hohe Oxidations- und Korrosionsbeständigkeit aufweisen“,<br />

erklärt Gehrmann.<br />

Wann das erste fossile Kraftwerk mit der erhöhten Kesseltemperatur<br />

die Arbeit aufnehmen kann, ist noch offen. Allzu lange<br />

Einrichtung des Bohrkopfes über dem Bohrloch für den unterirdischen<br />

CO 2-Testspeicher des GeoForschungsZentrums Potsdam in Ketzin<br />

(Havelland)<br />

wird es nicht mehr dauern – da ist Gehrmann sicher. „Anfang<br />

des nächsten Jahrzehnts wird es so weit sein, die Vorbereitungen<br />

laufen auf Hochtouren. In Kooperation mit den Kraftwerksbetreibern,<br />

Kesselbauern, Komponenten- und Rohrherstellern<br />

tragen wir als Werkstoffentwickler unseren Teil dazu<br />

bei, dass die Kessel mit 700 Grad befeuert werden können“,<br />

sagt Dr. Jutta Klöwer, Leiterin der Forschung und Entwicklung<br />

von <strong>ThyssenKrupp</strong> VDM. Und wer weiß, vielleicht strömen die<br />

Delegationen von Politikern, Wissenschaftlern und Journalisten<br />

dann künftig nicht nur nach Växjö, sondern auch an den<br />

Standort, an dem das erste 700-Grad-Kraftwerk seine Arbeit<br />

aufnimmt. 7<br />

TEXT: JAN VOOSEN<br />

Grüne Helfer<br />

Aufgrund ihrer besonderen Fähigkeiten als natürliche<br />

Kohlendioxidfresser sind Algen ebenfalls ein<br />

interessanter Kandidat in Klimaschutzüberlegungen.<br />

Eine Idee, die von internationalen Forschern derzeit<br />

verfolgt wird, ist die Züchtung von Algen dort,<br />

wo zu viel CO2 produziert wird: neben Kraftwerken.<br />

Die Abgase werden durch einen Bioreaktor mit<br />

Algen geleitet, die das Kohlendioxid binden,<br />

dadurch Biomasse aufbauen und sich vermehren.<br />

Dabei fällt noch ein wirtschaftlicher Nutzeffekt ab:<br />

Die Algen lassen sich nämlich, nachdem sie das<br />

CO 2 gebunden haben, zu Fischfutter, Baustoffen<br />

oder gar Biodiesel weiterverarbeiten. Bis zu einem<br />

möglichen großtechnischen<br />

Einsatz ist allerdings noch ein<br />

weiter Weg zurückzulegen. 7<br />

35<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


projekte_thailand<br />

36<br />

DIESEL<br />

UNTER PALMEN<br />

Wenn Know-how um die Welt reist, gibt es so<br />

manch interessante Begegnung mit lokalen<br />

Ressourcen. In Thailand traf westliche Technologie<br />

auf natives Palmöl – mit der zusätzlich<br />

positiven Wirkung, dass bei der Gewinnung von<br />

Biodiesel alle Substanzen aus der Produktion<br />

verwertet werden können.<br />

Die Ernte ist Knochenarbeit. Hoch oben unter den Blättern<br />

der Ölpalme hängen die Früchte in dicken, kürbisgroßen<br />

Bündeln. Der Arbeiter reckt sich, hebt<br />

eine lange, dünne Metalllanze bis in die Baumspitze.<br />

Schweiß tropft ihm von der Stirn. Er ruckt und<br />

zerrt, bis das rötliche Bündel endlich krachend<br />

herabstürzt. Viele Hundert walnussgroße Ölfrüchte<br />

stecken in einem solchen zotteligen 30-Kilo-Klumpen. Sie liefern<br />

einen der wertvollsten Rohstoffe Asiens – Palmöl. Palmöl steckt in<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


Palmenhaine im Süden Thailands: Lieferanten<br />

einer zunehmend begehrten Ressource<br />

37<br />

Margarine, in Eiscreme, in Hautlotionen und Klebstoffen. Noch nie<br />

aber war die Multifunktionssubstanz so begehrt wie heute. Der<br />

Grund: Palmöl eignet sich optimal für die Herstellung von Biodiesel.<br />

Die Nachfrage nach Palmöl ist deshalb in den vergangenen<br />

Jahren stark gestiegen – und der Rohstoff wird immer teurer:<br />

Allein 2006 kletterte der Preis um fast 20 Prozent in ungeahnte<br />

Höhen. In Deutschland wird dem Autokraftstoff schon länger<br />

Biodiesel – zumeist Methylester aus Raps – beigemischt, um den<br />

Rohölverbrauch zu senken. Diesem Beispiel folgt jetzt auch Südostasien.<br />

Von dort stammt der Löwenanteil des weltweit erzeugten<br />

Palmöls. So hat die thailändische Regierung beschlossen, bis zum<br />

Jahr 2011 dem Diesel 5 Prozent Biosprit beizumischen. Das entspricht<br />

einem Verbrauch von 4 Millionen Litern Palmöl-Methylester<br />

täglich. Den Thailändern war klar, dass sich dieses Ziel nur mit<br />

modernen und leistungsfähigen Produktionsanlagen erreichen<br />

lässt. Für die Tochtergesellschaften von Thailands Petrochemieriesen<br />

PTT Chemicals, die Thai Oleochemicals Company (TOL) und<br />

die Thai Fatty Alcohols Company (TFA), setzt die seit langem in<br />

3<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


projekte_thailand<br />

38<br />

Abtransport<br />

der 30 Kilogramm<br />

schweren<br />

Palmölbündel<br />

»Der Charme des Verfahrens besteht darin,<br />

dass sich alle Substanzen aus der Produktion verwerten lassen.«<br />

3 Thailand aktive <strong>ThyssenKrupp</strong> Tochter Uhde GmbH jetzt ein ehrgeiziges<br />

Projekt in die Tat um: einen Anlagenkomplex mit einer<br />

Jahresproduktion von 200.000 Tonnen Biodiesel und 100.000<br />

Tonnen Fettalkohol für die Herstellung von Reinigungsmitteln und<br />

Kosmetika.<br />

Gebaut wird am Industriestandort Map Ta Phut, etwa 150 Kilometer<br />

südöstlich von Bangkok. Ende vergangenen Jahres ging die<br />

Methylesterfabrik nach nur etwas mehr als anderthalb Jahren Planungs-<br />

und Bauzeit in Betrieb. In der Fettalkoholanlage startet die<br />

Produktion im Frühjahr. Die Fettalkoholanlage wird mit Öl aus den<br />

Kernen der Palmölfrüchte gespeist. Das Kernöl enthält kurze<br />

Fettsäureketten mit nur sechs bis 14 Kohlenstoffatomen. Diese<br />

Fettalkohole sind ideal für Kosmetika und Reinigungsmittel, weil sie<br />

schon bei Raumtemperatur flüssig werden und auch in Hautporen<br />

eindringen. Für Biodiesel hingegen eignet sich das Öl aus dem<br />

Fruchtfleisch. Seine Fettsäureketten sind 16 bis 18 Kohlenstoffatome<br />

lang und damit ideal für die Herstellung von Biodiesel.<br />

Optimale Ausschöpfung<br />

„Freilich haben wir für unsere erste Biodieselanlage nicht jedes<br />

Rad neu erfunden“, sagt Klaus-Dieter Gaber, Projektleiter bei<br />

Uhde. „Wir setzen für die Gewinnung von Methylester das Verfahren<br />

der süddeutschen Firma AT-Agrartechnik ein, denn bei diesem<br />

lassen sich recht flexibel unterschiedliche Öle nutzen.“ So wollen<br />

die Thailänder in Zukunft nicht nur Palmöl einsetzen, sondern auch<br />

verbrauchte Speisefette. Bei dem süddeutschen Verfahren wird<br />

das Palmöl mit Methanol und einem Katalysator versetzt. Dadurch<br />

spaltet sich Glycerin ab, das die Fettsäureketten zusammenhält.<br />

Übrig bleibt der fertige Biodiesel. Der Charme des Verfahrens<br />

besteht darin, dass sich alle<br />

Substanzen aus der Produktion<br />

verwerten lassen. Selbst der verbrauchte<br />

Katalysator kann – mit<br />

Schwefelsäure versetzt – als Dünger verkauft werden. Das Glycerin<br />

wiederum lässt sich zu hochwertigem Pharmaglycerin aufbereiten<br />

– einem Rohstoff, den PTT Chemicals in den eigenen Werken<br />

nutzen will.<br />

In der Fettalkoholanlage wiederum kommt ein bewährtes Lizenzverfahren<br />

der Cognis Deutschland, eines Anbieters von chemischen<br />

Grundstoffen, zum Einsatz. Dabei wird das Palmkernöl zu<br />

Rohmethylester umgesetzt und im Vakuum in einzelne Fraktionen<br />

aufgetrennt. Die eigentliche Herstellung der Fettalkohole geschieht<br />

bei einem hohen Druck von 300 Bar und 300 Grad Celsius unter<br />

Einsatz von Wasserstoff. Dafür ist ausgeklügelte Hochdrucktechnik<br />

nötig. Die so hergestellten Rohfettalkohole werden nach der<br />

Abtrennung des Methanols in Fettalkohole verschiedener Kettenlängen<br />

aufgetrennt. Diese hochwertigen Fettalkohole lassen sich<br />

anschließend zu verschiedenen Produkten veredeln.<br />

Der thailändische Betreiber wird seine beiden Anlagen zunächst<br />

mit Palmöl aus Malaysia versorgen – einem der weltgrößten Palmölerzeuger<br />

neben Indonesien. In den kommenden Jahren soll dann<br />

verstärkt direkt in Thailand angebaut werden. Dafür sind vor allem<br />

bestehende Agrarflächen vorgesehen, auf denen bislang beispielsweise<br />

Bäume für die Naturkautschukproduktion wachsen.<br />

Nach Ansicht von Experten ist die Gewinnung von Öl aus Palmen<br />

besonders deshalb nachhaltig, weil die Palmen bis zu 20 Jahre<br />

Früchte liefern. Der Aufwand ist also deutlich geringer als bei einjährigen<br />

Biodieselpflanzen, die in jedem Jahr neu ausgesät und<br />

kultiviert werden müssen. Kongkrapan Intarajang, Vorsitzender von<br />

TOL und TFA, ist deshalb sicher, mit der Anlage einen guten Schritt<br />

in einen neuen Markt gegangen zu sein. 7<br />

TEXT: TIM SCHRÖDER | FOTOS: HARTMUT NÄGELE<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


39<br />

Das Uhde-Baustellenteam (v.l.n.r.): Sathit Apaijit, Peter Röhr, Vinai Kunthakan<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


projekte_brasilien<br />

40<br />

Durch den Abbau industrieller Altlasten<br />

verbessern sich die Aussichten für<br />

die Fischer in der Bucht von Sepetiba.<br />

EIN GUTER FANG<br />

In der Bucht von Sepetiba nahe der brasilianischen Metropole Rio de Janeiro entsteht ein gewaltiges<br />

Projekt: ein Stahlwerk, gebaut im Einklang mit den Anwohnern – und der natürlichen Umgebung.<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


41<br />

Nach fünf Stunden Diskussion platzte Rodrigo Abreu<br />

der Kragen. Der Fischer aus dem 10.000-Einwohner-Örtchen<br />

Santa Cruz ging selbstbewusst auf<br />

das Mikrofon zu, nahm es zur Hand und sprach<br />

mit den folgenden kurzen Worten den meisten<br />

Fischern aus der Seele: „Das neue Stahlwerk ist<br />

eine große Chance für unsere Stadt. Da werden<br />

viele Arbeitsplätze geschaffen, auch für unsere Kinder. Und jetzt<br />

gehen wir nach Hause, wir müssen morgen arbeiten.“<br />

Rodrigo Abreu war gemeinsam mit zahlreichen Bürgerinnen und<br />

Bürgern aus dem Ort zum ersten von drei öffentlichen Hearings gekommen,<br />

um sich über das neue Stahlwerk zu informieren, das<br />

<strong>ThyssenKrupp</strong> in der Bucht von Sepetiba nahe Rio de Janeiro<br />

bauen will. Für 17.30 Uhr war das Hearing angesetzt, knapp eine<br />

Stunde später konnte die Veranstaltung beginnen – mit einem<br />

zünftigen Essen. „Das ist hier so üblich“, sagt Dr. Gunnar Still,<br />

Leiter des Direktionsbereichs <strong>Umwelt</strong>schutz bei der <strong>ThyssenKrupp</strong><br />

Steel AG. Die Anwohner kamen mit ihren Familien, tranken, aßen<br />

und beteiligten sich dann intensiv an der Diskussion. „Das Interesse<br />

der Anwohner war größer, als wir das bei uns zu Hause gewohnt<br />

»Das Interesse der Anwohner<br />

war größer, als wir das<br />

bei uns zu Hause gewohnt sind.«<br />

sind“, erklärt Still. Viele Menschen äußerten im Verlauf der Versammlungen<br />

ihre Bedenken und Sorgen, auch Rodrigo Abreu, und<br />

zwar sachlich und immer darauf bedacht, die vorgesehene Redezeit<br />

von fünf Minuten nicht zu überschreiten.<br />

Auch der Versuch einer Minderheit, die Gelegenheit zu nutzen, um<br />

Stimmung gegen den Investor aus Deutschland zu machen, schlug<br />

fehl. Nach der couragierten Ansprache von Rodrigo Abreu schaute<br />

manch ein Anwohner für einen kleinen Moment ein wenig ungläubig<br />

drein, doch dann standen die meisten von ihnen auf, kamen<br />

der Aufforderung nach – und gingen heim.<br />

Bessere Perspektiven<br />

Rodrigo Abreu ist einer der zahlreichen Fischer, die hier an der<br />

Küste ihren Lebensunterhalt verdienen. Tag für Tag fährt er frühmorgens<br />

mit seinem kleinen Fischerboot hinaus aufs Meer, wirft<br />

immer wieder sein Netz aus und hofft, abends mit einem vernünftigen<br />

Fang nach Hause zurückzukehren, um seine Familie ernähren<br />

zu können. Natürlich hatte auch Rodrigo Abreu seine Bedenken ob<br />

des Stahlwerks, das der Konzern aus Deutschland plötzlich hier<br />

errichten wollte. Doch schnell war er, genauso wie die meisten anderen<br />

Menschen aus der Region, zu dem Ergebnis gekommen,<br />

dass er für die Ansiedlung dieser neuen Industrie sei. Mag sein,<br />

3<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


projekte_brasilien<br />

42<br />

3 dass das Stahlwerk auf den ersten Blick einen Einschnitt in die<br />

Landschaft der Region bedeutet. Doch unter dem Strich herrschte<br />

Einigkeit darüber, dass das Werk den Menschen und der Natur vor<br />

Ort nutzen werde.<br />

Beispiele dafür gibt es zur Genüge. Vor allem wird das Werk der<br />

Region eine Menge neuer Arbeitsplätze bescheren. Zu den bisher<br />

annähernd 13.000 Stellen, die das Unternehmen schon jetzt<br />

vornehmlich in den Bereichen Automobil- und Aufzugsgeschäft in<br />

Brasilien anbietet, kommen durch das neue Werk noch einmal etwa<br />

3.500 direkte und weitere geschätzte 10.000 indirekte Arbeitsplätze<br />

hinzu. Das bietet auch den Kindern von Rodrigo Abreu eine<br />

realistischere Perspektive auf einen guten Arbeitsplatz.<br />

Insgesamt werden der Wohlstand der Region, aber auch Schulen,<br />

Kindergärten und mit ihnen die gesamte Infrastruktur profitieren.<br />

So sollte zum Beispiel um den nahegelegenen Ort Santa Cruz eine<br />

Straße gebaut werden, um den durch die Baustelle entstehenden<br />

Schwerverkehr um das Wohngebiet herumzuführen. Die Anwohner<br />

aber wollten genau das Gegenteil erreichen, nämlich, dass die<br />

Straße mitten durch die Stadt führe. „Wir konnten das nicht verstehen“,<br />

so Still, die Begründung war letztlich jedoch ebenso logisch<br />

wie für Deutsche kaum nachvollziehbar: In Santa Cruz gibt es keine<br />

vernünftigen Straßen. Also nehmen die Anwohner den Schwerverkehr<br />

einige Jahre lang in Kauf – zugunsten eines neuen Verkehrsweges,<br />

der über längere Zeit Bestand hat.<br />

Altlasten abbauen, Gutes bewahren<br />

Wie in den beschriebenen Fällen hat sich der Konzern im Verlauf<br />

eines umfassenden Verfahrens bei der Vorbereitung für die Investition<br />

darum bemüht, die Vorstellungen der örtlichen Bevölkerung<br />

sowie der 129 vertretenen Interessengruppen aufzugreifen. „Wir<br />

wollen schließlich nicht wie Kolonialisten in Brasilien einfallen,<br />

sondern mit den Menschen vor Ort einen Interessenausgleich<br />

betreiben“, unterstreicht Still. Da der Erhalt der <strong>Umwelt</strong> einen<br />

zentralen Aspekt bildet, gehörten die Fischer zu den wichtigsten<br />

Gesprächspartnern.<br />

Männer wie Rodrigo Abreu sorgten sich anfangs um die möglichen<br />

negativen Auswirkungen auf die vorhandenen Fischgründe.<br />

Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Denn jahrelang wurde der<br />

Boden der Küste durch eine inzwischen nicht mehr produzierende<br />

Zinkhütte verseucht, wurden Abwässer aus der Zink- und einer<br />

Die Bucht von Sepetiba: Mangrovenwälder, Fischgründe,<br />

direkter Zugang zum Atlantik<br />

nahe gelegenen Aluminiumanlage ins Meer geleitet – und zwar<br />

ungeklärt. Das entsprechend kontaminierte Erdreich bereitet den<br />

Fischern seit Jahren Probleme.<br />

Parallel zum Bau der Fabrik investiert <strong>ThyssenKrupp</strong> nun in Arbeiten,<br />

bei denen die verseuchten Sedimentschichten dort, wo Hafenbecken<br />

und Zufahrtkanal es erfordern, zunächst abgetragen und<br />

schließlich in eine sichere, nach modernen Standards errichtete<br />

Unterwasserdeponie eingelagert werden. „Damit werden auch Alt-<br />

Die Bauarbeiten am Stahlwerk sollen bis Anfang 2009 abgeschlossen sein.<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


43<br />

lasten abgebaut“, so Still. Für die Fische wird das Wasser hier<br />

in Zukunft einen besseren Lebensraum darstellen als zuvor – ein<br />

positiver „Mitnahmeeffekt“ des Stahlwerkbaus.<br />

Die Idee für das neue Werk entstand 2004. Neben den großen<br />

Eisenerzvorkommen in Brasilien gaben noch weitere gewichtige<br />

Gründe im Mai 2006 endgültig den Ausschlag für die Entscheidung,<br />

das Werk in der Bucht von Sepetiba zu errichten: Durch den direkten<br />

Zugang zum Atlantik ergeben sich erhebliche Logistikvorteile.<br />

Zudem liegt das Gelände am Ende einer Eisenbahnlinie, die Erz aus<br />

dem Landesinnern in die Häfen transportiert. Im Frühjahr 2009 soll<br />

in Sepetiba die erste Bramme vom Band laufen, danach wird das<br />

Werk jährlich rund 5 Millionen Tonnen Stahl produzieren.<br />

Die Technik des neuen Stahlwerks werde dabei, versichert der<br />

Vorstandsvorsitzende der <strong>ThyssenKrupp</strong> Steel AG, Dr. Karl-Ulrich<br />

Köhler, „alle internationalen <strong>Umwelt</strong>standards erfüllen“. Ein ständiger<br />

Gesprächspartner waren deshalb auch die <strong>Umwelt</strong>schützer.<br />

Denn im Brackwasser der tropischen Küste von Sepetiba, dort,<br />

wo Süß- und Meerwasser zusammentreffen, bildet ein dichtes,<br />

undurchdringlich erscheinendes Gewirr von Wurzeln einen einzigartigen<br />

Lebensraum: die Mangroven. Die bizarren Gezeitenwälder<br />

»Für die Fische wird das Wasser in Zukunft<br />

einen besseren Lebensraum darstellen.«<br />

stellen hier einen wirksamen Schutz gegen Erosion und Flutwellen<br />

dar und bieten darüber hinaus einen Lebensraum für zahllose Tierarten.<br />

„Der Erhalt der Mangrovenwälder war für uns ein wesentliches<br />

Anliegen“, schildert Still. Deshalb wird derzeit eine knapp<br />

4 Kilometer lange Brücke gebaut, die über die Mangroven hinweg<br />

vom Hafen bis ins Werk führen wird, die Wälder bleiben unangetastet.<br />

All das hat Anwohner und Fischer im Rahmen zahlreicher<br />

Gespräche und Hearings überzeugt. Die durchaus emotionalen,<br />

aber stets besonnenen Versammlungen mit der brasilianischen<br />

Bevölkerung zogen sich dabei gerne bis in die Nachtstunden hinein.<br />

Nur einmal packten die Menschen plötzlich ganz eilig ihre<br />

Sachen und verließen die Versammlung fluchtartig. Der Hintergrund<br />

entpuppte sich in der Tat als bedeutsam: Keiner wollte das<br />

wichtige Spiel zweier lokaler Fußballmannschaften verpassen. 7<br />

TEXT: DANIEL SCHLEIDT<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


projekte_integration<br />

44<br />

DIE KULTUR-<br />

DOLMETSCHER<br />

Die internationale Migration nimmt zu – und mit ihr die kulturelle Vielfalt<br />

der <strong>Umwelt</strong>, in der wir uns bewegen. Im Arbeitsumfeld helfen<br />

„Kulturmittler“ wie Seyahn Savas und Peter Trube als eine Art Übersetzer<br />

beim Umgang mit Unterschieden.<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


Wer beim Stichwort Globalisierung an Unternehmen<br />

denkt, die weltweit Märkte erobern und<br />

über Grenzen hinweg fusionieren, an Manager,<br />

die in Firmenjets um die Welt düsen, oder an<br />

Containerschiffe, die Waren rund um den Globus<br />

transportieren, der liegt zwar nicht falsch. Doch<br />

die Globalisierung hat auch ein anderes Gesicht. In<br />

Duisburg trägt sie Namen wie Ali Güzel, Hennes Urban, Xhevat<br />

Busatovic, Annegret Finke, Hassan Sahin, Uwe Gaertner, Peter<br />

Trube, Seyhan Savas. Diese Mitarbeiter von <strong>ThyssenKrupp</strong> Steel<br />

stehen schon mit ihrem Namen für kulturelle Vielfalt. Vor allem aber<br />

ist es ihre Arbeit als „Kulturmittler“ im Stahlwerk in Duisburg-Hamborn,<br />

die deutlich macht, dass die Globalisierung unsere gesellschaftliche<br />

<strong>Umwelt</strong> verändert – und zeigt, wie man Wege finden<br />

kann, um damit umzugehen und so die Vielfalt als Bereicherung zu<br />

verstehen und zu nutzen.<br />

Vom Auswanderungskontinent zum Einwanderungsziel<br />

Dass man sich am Arbeitsplatz mit interkulturellen Konflikten<br />

beschäftigt, ist für Deutschland – und viele andere europäische<br />

Länder – vergleichsweise neu. Schließlich war Europa von 1750 bis<br />

ungefähr 1960 ein Auswanderungskontinent, den rund 70 Millionen<br />

seiner Bewohner verließen, um anderswo ihr Glück zu suchen.<br />

Doch während der vergangenen 50 Jahre sind alle Länder Westeuropas<br />

zu Einwanderungszielen geworden, sogar einst „klassische“<br />

Auswanderungsländer wie Irland oder Spanien.<br />

In Deutschland begann die Zeit der Einwanderung in größerem<br />

Maßstab Mitte des vergangenen Jahrhunderts: Die Bundesregierung<br />

schloss 1955 ein erstes Abkommen über die Abwerbung<br />

italienischer Arbeitskräfte. Seither fanden Millionen Menschen<br />

ihren Platz in deutschen Betrieben. Als sogenannte „Gastarbeiter“<br />

verdienten Italiener, Spanier, Griechen, Türken Geld für die Verwandten<br />

daheim und richteten sich – ebenso wie die deutsche<br />

Gesellschaft – zunächst auf einen vorübergehenden Aufenthalt ein.<br />

Doch nach und nach wurde klar, dass die Einwanderer bleiben<br />

würden: Familienmitglieder zogen nach, die alte Heimat wurde nur<br />

noch in den Ferien besucht. „Wir riefen Arbeitskräfte, und es<br />

kamen Menschen“, wie es der Schweizer Schriftsteller Max Frisch<br />

einmal auf den Punkt brachte. Aus den „Gastarbeitern“ wurden<br />

Bürger des Landes, mit den Jahren veränderte sich das Gesicht<br />

der Gesellschaft, veränderten sich auch Gewohnheiten, denn ihre<br />

Kultur hatten die Einwanderer nicht an der Grenze abgegeben.<br />

Ungewollte Konflikte<br />

Das ging und geht im alltäglichen Zusammenleben und Zusammenarbeiten<br />

nicht ohne Konflikte ab. „Anlass dafür sind häufig<br />

ganz simple Dinge“, erzählt Seyhan Savas. Die Betriebsrätin ist<br />

eine von 70 Kulturmittlern im Stahlwerk Duisburg-Hamborn. „Ein<br />

3<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


projekte_integration<br />

46<br />

Neutraler Blick: Die Kulturmittler zeigen Lösungen auf, wenn es zu Konflikten<br />

kommt.<br />

»Anlass für interkulturelle Konflikte sind häufig ganz simple Dinge.«<br />

3 Beispiel: Die türkischen Kollegen legen Wert darauf, dass in der<br />

Kantine nicht auf dem Grill, auf dem das Schweinefleisch zubereitet<br />

wurde, ihr Hähnchenfilet gegrillt wird. Kommt das doch vor, unterstellen<br />

sie dem deutschen Kollegen vielleicht gleich‚ der macht das<br />

extra, während der sich einfach keine Gedanken darüber gemacht<br />

hat.“ Um solche unausgesprochenen Konflikte geht es oft in der<br />

Arbeit der Kulturmittler. Ihre Funktion beschreibt Savas dabei als<br />

die eines Aufklärers. „Wir als<br />

Kulturmittler kommen mit neutralem<br />

Blick von außen, hören<br />

uns dann beide Seiten an und<br />

versuchen, eine Lösung aufzuzeigen,<br />

um mit dem Konflikt umzugehen.“<br />

Eingeführt wurden die Kulturmittler im Betrieb kurz nach dem<br />

11. September 2001. Denn nach den Anschlägen auf das World<br />

Trade Center war die Stimmung „merklich aggressiver“, wie Peter<br />

Trube erzählt, der neben seiner Arbeit als Betriebsrat ebenfalls als<br />

Kulturmittler tätig ist. Auch Seyhan Savas hat damals beobachtet,<br />

„dass viele Muslime sich so behandelt fühlten, als hätten sie die<br />

Anschläge zu veranworten. Da gab es Ausgrenzung, auch persönliche<br />

Angriffe. Im Pausenraum saßen die deutschen Kollegen auf<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


47<br />

der einen und die ausländischen Kollegen auf der anderen Seite,<br />

und keiner ist auf den anderen zugegangen.“ Savas, Trube und<br />

weitere Kollegen aus der Vertrauenskörperleitung der IG Metall<br />

schlugen daraufhin vor, Kulturmittler im Werk einzuführen, die dazu<br />

beitragen sollten, interkulturelle Konflikte zu erkennen und zu<br />

lösen. Hierbei stießen sie auf offene Ohren, denn schon 1996 hatte<br />

das Unternehmen eine Betriebsvereinbarung zur „Förderung der<br />

Gleichbehandlung aller ausländischen und deutschen Belegschaftsmitglieder“<br />

geschlossen. „Es gab also bereits eine Sensibilität<br />

für diese Problematik“, sagt Trube. „Als wir dann 2002 die<br />

Kulturmittler einführten, hat das die Unternehmensleitung sehr positiv<br />

aufgenommen.“<br />

Die angehenden Kulturmittler – zunächst 30 – wurden unter den<br />

Vertrauensleuten der einzelnen Unternehmensbereiche ausgewählt<br />

und absolvierten mehrere Fortbildungen. Seither werden<br />

regelmäßig Mitarbeiter zu Kulturmittlern ausgebildet. „Der Andrang<br />

ist groß. Wir achten aber darauf, dass die Kulturmittler die Vielfalt<br />

im Unternehmen widerspiegeln: Die Hälfte sind deutsche Kollegen,<br />

die andere Hälfte Kollegen mit ganz unterschiedlichen Nationalitäten,<br />

darunter viele Türken, die gut drei Viertel der ausländischen<br />

Belegschaft ausmachen. Und wir achten auch auf eine gute altersmäßige<br />

und geschlechtsspezifische Mischung, um alle Sichtweisen<br />

abzubilden“, sagt Savas. Der hohe Anteil Deutscher unter den Kulturmittlern<br />

ist bei diesem Thema „eher unüblich“, wie Trube sagt.<br />

„Viele Deutsche denken, dass Migrantenarbeit nur die Ausländer<br />

selbst machen. Doch es ist wichtig, dass bei uns immer 50 Prozent<br />

deutsche Kollegen dabei sind – schließlich betreffen interkulturelle<br />

Konflikte immer beide Seiten.“<br />

Ein vieldiskutiertes Thema, mit dem die Kulturmittler immer<br />

wieder zu tun haben, ist die Sprache. „Zwar ist die Betriebssprache<br />

grundsätzlich Deutsch. Aber wenn Ausländer zusammenkommen,<br />

sprechen sie untereinander häufig in ihrer Herkunftssprache. Wenn<br />

dann deutsche Kollegen dazukommen, erwarten diese, dass die<br />

Gruppe umschwenkt in die deutsche Sprache, weil sie sich sonst<br />

ausgegrenzt fühlen“, berichtet Savas. „Wir sagen immer, dass es<br />

kein Problem ist, untereinander in der eigenen Sprache zu reden.<br />

Aber man sollte darauf achten, dass man Deutsch spricht, wenn<br />

Kollegen dabei sind, die die Sprache nicht können.“ Savas selbst,<br />

die türkischer Herkunft ist, spricht grundsätzlich nur Deutsch mit<br />

ihren Kollegen – auch mit den türkischen. „Damit haben manche<br />

ein Problem und können das nicht verstehen. Da ist dann meine<br />

ganz persönliche Kulturmittlung gefragt“, sagt sie schmunzelnd.<br />

Die Vielfalt nimmt weiter zu<br />

Wie geht man in deutschen Betrieben miteinander um? Und was ist<br />

Brasilianern wichtig? Auch bei den neuen Kollegen aus Brasilien<br />

wie Cássio Vieira Rezende aus Belo Horizonte werden die Kulturmittler aktiv.<br />

Wie hilfreich ihre Erfahrungen als Kulturmittler sind, erfahren Savas<br />

und Trube seit einigen Monaten besonders intensiv: <strong>ThyssenKrupp</strong><br />

Steel investiert in ein neues Stahlwerk in Brasilien (siehe Seite 40)<br />

und bildet zur Vorbereitung brasilianische Mitarbeiter an den Anlagen<br />

in Duisburg aus. „Auf die Kollegen aus Brasilien haben wir uns<br />

gemeinsam mit einigen Kollegen auf einem Seminar vorbereitet,<br />

um mehr über die brasilianische Mentalität zu lernen. Den neuen<br />

Kollegen mussten wir dann erst mal klarmachen, wer wir überhaupt<br />

sind: In Brasilien gibt es keine Wörter für Mitbestimmung und<br />

Betriebsrat“, erzählt Trube. Nun sind – per Dolmetscher – erste<br />

Kontakte zu den Brasilianern im Stahlwerk geknüpft. Um das Eis zu<br />

brechen, ist bereits ein gemeinsames Fußballturnier geplant. „Vielleicht<br />

auch wieder ein Klischee: Brasilien gleich Fußball. Doch<br />

wenn man sich über solche gegenseitigen Klischees und Vorurteile<br />

austauscht, lernt man viel voneinander“, ist Savas überzeugt.<br />

Die beiden Kulturmittler freuen sich schon darauf, dass ihre Arbeit<br />

mit der zunehmenden Internationalisierung des Unternehmens<br />

noch interessanter wird: „Jetzt sind erst einmal die Brasilianer da,<br />

demnächst werden neue Kollegen aus den USA kommen, weil wir<br />

auch dort ein neues Werk bauen. In dieser Dimension haben wir<br />

das ja auch noch nicht erlebt. Denn bis jetzt konzentrierten wir uns<br />

auf die Kulturen, die wir hier haben: Türken, Italiener, Russen,<br />

Polen, Kroaten, Serben. Wenn jetzt noch Brasilianer und Amerikaner<br />

dazukommen, wird es so richtig spannend.“ 7<br />

TEXT: ALEXANDER SCHNEIDER | FOTOS: OLIVER RÜTHER<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


projekte_aktuell<br />

48<br />

Eisberge retten in Shanghai<br />

Eisberg voraus: Auch die kleinen Besucher packten mit an, um ein Abschmelzen<br />

des kalten Kolosses zu verhindern.<br />

3 Drüben kracht es, hinten in der Ecke<br />

qualmt es, dort wird geklopft und hier<br />

wird gekurbelt – mit handbetriebenen<br />

Dynamos, um dem in der schwülen<br />

Shanghaier Spätsommerluft dahinschmelzenden<br />

Eisberg etwas Kühlung zu<br />

verschaffen. Doch nicht nur dieser für die<br />

veranstaltete, gab es auf 2.500 Quadratmetern<br />

viel zu entdecken und auszuprobieren.<br />

Unter dem Motto „Lösungen<br />

für eine saubere Zukunft“ wurden rund<br />

50 Exponate präsentiert, von denen die<br />

meisten von <strong>ThyssenKrupp</strong> stammten,<br />

einige aber auch von Partnern wie der<br />

Shanghaier Tongji-Universität und der<br />

Technischen Universität Clausthal.<br />

Ob es um Werkstoffe ging, die moderne<br />

Meerwasserentsalzungsanlagen effizienter<br />

und nachhaltiger arbeiten lassen, um<br />

hochmoderne Verfahren zur Abtrennung<br />

von Schadstoffen aus der Luft oder um<br />

ressourcenschonende Automobilkonstruktion<br />

– Ziel der Ausstellung war es, die<br />

Besucher für die großen globalen Herausforderungen<br />

der Zukunft zu sensibilisieren:<br />

für den schonenden Umgang mit<br />

Rohstoffen und der <strong>Umwelt</strong> in einem<br />

Jahrhundert stark zunehmender Mobilität<br />

und einer bislang unbekannten<br />

Wirtschaftsdynamik, gerade auch im<br />

Gastgeberland selbst.<br />

Dass das Konzept auch von offizieller<br />

Seite begrüßt wurde, unterstreicht die<br />

Bedeutung des internationalen Knowhow-Transfers<br />

im Zeitalter der Globalisierung.<br />

Bei der Ausstellungseröffnung legte<br />

der chinesische Wissenschaftsminister<br />

Wan Gang besondere Betonung auf das<br />

Ziel seiner Regierung, Wirtschaftswachstum<br />

und Kohlendioxidemissionen zu<br />

entkoppeln. Wie das bereits im Alltag umgesetzt<br />

wird, zeigte ein in China vertrautes<br />

Exponat: Rund 12 Millionen Menschen<br />

haben den Transrapid schon genutzt, um<br />

vom internationalen Flughafen Pudong in<br />

die Shanghaier Innenstadt zu fahren<br />

– in acht Minuten statt<br />

in bis zu einer Stunde<br />

mit dem Auto.<br />

Aber auch für<br />

Überraschungen<br />

war gesorgt<br />

– zum Beilokalen<br />

Verhältnisse eher ungewöhnliche<br />

Anblick lässt die Besucher der Technologieausstellung<br />

im Shanghaier Science<br />

and Technology Museum staunen. Bei<br />

den „Technology Days“, die Thyssen<br />

Krupp während der Golden Week vom<br />

30. September bis zum 6. Oktober 2007<br />

Ein fast alltägliches Transportmittel in China:<br />

der Transrapid<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


49<br />

spiel, wenn Andrea Niehaus, die Direktorin<br />

des Deutschen Museums Bonn, die<br />

chinesischen Besucher in die Besonderheiten<br />

der chinesischen Lotusblume<br />

einführte: wie mit Hilfe der Nanotechnologie<br />

das Geheimnis des „springenden<br />

Tropfens“ gelöst und einer praktischen<br />

Anwendung zugeführt werden konnte.<br />

Denn durch den in China weitgehend unbekannten<br />

„Lotuseffekt“, der dafür sorgt,<br />

dass weder Ruß noch Honig oder Tinte<br />

auf den Blättern der Lotusblume eine<br />

Spur hinterlassen, können auch Dachziegel<br />

oder Autobleche vor Verschmutzung<br />

und Korrosion geschützt werden.<br />

Die Technology Days sind Teil der im<br />

Jahr 2004 von <strong>ThyssenKrupp</strong> ins Leben<br />

gerufenen Initiative „Zukunft Technik entdecken“.<br />

Ein weiterer Baustein der Initiative<br />

ist der IdeenPark, der vom 17. bis<br />

25. Mai 2008 in Stuttgart stattfinden wird<br />

(www.zukunft-technik-entdecken.de). 7<br />

Technik zum Anfassen: ein Großwälzlager aus<br />

einer Windturbine<br />

Farbenfroher Aufstieg in der Osloer U-Bahn<br />

Lichteffekte mit <strong>Umwelt</strong>wirkung<br />

3 Licht tut gut. Wer wüsste das besser als die in dieser Jahreszeit nicht<br />

gerade lichtverwöhnten Skandinavier? Bei der Planung von öffentlichen<br />

Orten wie Bahnhöfen, Flughäfen und Einkaufszentren spielt die Beleuchtung<br />

inzwischen eine immer wichtigere Rolle. Mit einem innovativen<br />

Beleuchtungssystem bietet <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>Elevator</strong> seinen Kunden eine<br />

individuell abstimmbare Vielfalt an ständig wechselnden Lichtszenarien<br />

– vom einfachen Farbwechsel über Lauflicht bis hin zum Lichtwechsel mit<br />

weichen Verläufen. Moderne LED-Technik sorgt dafür, dass zudem der<br />

Strom- und Materialverbrauch sinkt. So tun die in bis zu 20 Farben erstrahlenden<br />

Fahrtreppen im Osloer Bahnhof „Nationaltheater“ nicht nur den<br />

norwegischen Pendlern gut, sondern auch der <strong>Umwelt</strong>. 7<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


projekte_aktuell<br />

50<br />

Energie aus Reststoffen<br />

Mittelkalorikkraftwerke haben eine größere Energieeffizienz als<br />

Müllheizkraftwerke.<br />

3 Mehr Strom, und das ohne<br />

Kohle: Nach diesem Prinzip arbeiten<br />

sogenannte Mittelkalorik-Kraftwerke.<br />

Denn statt fossiler Brennstoffe nutzen<br />

sie Stoffreste aus Recyclinganlagen<br />

oder Gewerbeabfälle. Trotz Mülltrennung<br />

ist nämlich längst nicht alles,<br />

was in den Abfalleimern landet, noch<br />

für das Recycling geeignet. Deshalb<br />

bleibt in der Abfallaufbereitung eine<br />

Mischung aus Papier, Kunststoff-,<br />

Holz- und Verpackungsresten übrig –<br />

die sogenannte „Mittelkalorik“. Der<br />

Heizwert der Mittelkalorik entspricht<br />

in etwa dem von trockener Braunkohle,<br />

im Gegensatz dazu jedoch teilweise<br />

CO 2-neutral, da darin nachwachsende<br />

Rohstoffe enthalten sind. An<br />

einem neuen Mittelkalorik-Kraftwerk<br />

ist nun die <strong>ThyssenKrupp</strong> Xervon<br />

Energy, ein Tochterunternehmen von<br />

<strong>ThyssenKrupp</strong> Services, beteiligt: In<br />

Bremen baut der regionale Energieversorger<br />

swb eine solche Anlage.<br />

<strong>ThyssenKrupp</strong> Xervon Energy liefert<br />

dabei den Vorschubrost, über den<br />

sich der Brennstoff während der<br />

Verbrennung bewegt, sowie Nebenanlagen.<br />

Durch modernste Anlagentechnik<br />

ist die Energieeffizienz des<br />

Mittelkalorik-Kraftwerks hoch: Es<br />

nutzt die Verbrennungswärme noch<br />

besser als viele Müllheizkraftwerke.<br />

Damit kann das Kraftwerk 70.000<br />

Tonnen Kohle jährlich als Brennstoff<br />

ersetzen. Gebaut wird in Bremen seit<br />

September 2007, Anfang 2009 soll<br />

das Kraftwerk dann bis zu 60.000<br />

Haushalte in der Hansestadt mit<br />

Strom versorgen können. 7<br />

Entschlackendes Verfahren<br />

3 Eine glühende, zähflüssige<br />

Masse, die allmählich abkühlt und<br />

schließlich Steine so hart wie Granit<br />

oder Basalt zurücklässt – was klingt<br />

wie die Geburt eines Planeten ist in<br />

Wirklichkeit eine ausgefeilte Form des<br />

Recyclings: Jeden Tag aufs Neue produziert<br />

der OxyCup-Schachtofen von<br />

<strong>ThyssenKrupp</strong> Steel in Duisburg nicht<br />

nur Roheisen aus Reststoffen des<br />

Hüttenbetriebs, sondern sorgt ebenfalls<br />

dafür, dass die dabei entstehende<br />

Schlacke zu einem wertvollen Baustoff<br />

weiterverarbeitet werden kann.<br />

Das geht natürlich nicht von selbst –<br />

<strong>ThyssenKrupp</strong> Steel entwickelte Verfahren,<br />

die die Schachtofenschlacke<br />

während der Abkühlung so beeinflussen,<br />

dass daraus ein kristallines<br />

Material mit hoher Dichte und Festigkeit<br />

wird: der Wasserbaustein. Was<br />

früher noch Abfall war, wird so zu<br />

einem marktfähigen Produkt. Denn<br />

diese Wasserbausteine sind gerade<br />

im Garten- und Landschaftsbau<br />

beliebt. Und weil sie aus Reststoffen<br />

entstehen, schonen sie auch noch<br />

die natürlichen Ressourcen. 7<br />

Steine zu Steinen: Aus diesen Agglomeratsteinen<br />

wird im Schachtofen Roheisen produziert –<br />

und aus der dabei anfallenden Schlacke<br />

entstehen wiederum<br />

Wasserbausteine.<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


51<br />

»Was früher noch Abfall war,<br />

wird zu einem marktfähigen Produkt.«<br />

Schonende Sicherheit<br />

3 Wer an Edelstahl denkt, kann sich<br />

wohl kaum vorstellen, dass dieses<br />

Material auch einen schweren Autounfall<br />

aushalten kann. Doch in bestimmten<br />

Bereichen wie der B-Säule<br />

– die Fahrzeugboden und -dach in<br />

der Mitte des Fahrzeugs verbindet –<br />

ist es sinnvoll und machbar, Edelstahl<br />

zu verwenden. Ohne an Sicherheit<br />

einzubüßen, können Autos so<br />

Gewicht sparen und damit Ressour-<br />

cen schonen, weil sie weniger Energie<br />

verbrauchen. Das hat Thyssen<br />

Krupp Nirosta nun im Rahmen des<br />

Projekts „Next Generation Vehicle“<br />

(www.ngvproject.org) gezeigt, das<br />

die Einsatzmöglichkeiten von Edelstahl<br />

im Automobilbau unter anderem<br />

in Crashtests untersucht hat.<br />

Geht es nach den Edelstahlherstellern,<br />

haben Fahrzeugentwickler<br />

künftig immer häufiger mit Edelstahl<br />

zu tun. Wie sich dieser Werkstoff ansonsten<br />

im Automobilbau verwenden<br />

lässt, um die Autos leichter zu<br />

machen oder die Zahl der Bauteile<br />

und damit die Kosten zu verringern,<br />

zeigen Ingenieure bereits heute:<br />

Edelstahl von <strong>ThyssenKrupp</strong> Nirosta<br />

wird beispielsweise für Crashkomponenten<br />

beim Porsche Carrera GT<br />

und als Teil der Rahmenkonstruktion<br />

des Audi A8 eingesetzt. 7<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


projekte_windkraft<br />

52<br />

Große Kräfte leicht übertragen<br />

Windkraftanlagen, das sagt<br />

schon der Name, müssen eine<br />

Menge Kräfte übertragen. Bläst<br />

es einmal so richtig und kommen<br />

die Rotorblätter hierdurch<br />

in Schwung, geht es auch im<br />

Maschinenhaus rund. Diese sogenannte<br />

Gondel mit dem<br />

Generator befindet sich auf der<br />

Spitze des Turms, direkt hinter<br />

der Rotornabe. Die den Rotor<br />

drehenden Kräfte werden zum<br />

Generator weitergeleitet, der die<br />

Windenergie in Strom umwandelt.<br />

Die übrigen Kräfte werden<br />

über Lager in das Maschinenhaus<br />

eingeleitet. Bis vor wenigen<br />

Jahren waren zwei getrennte<br />

Lager üblich, um Windlasten<br />

und Gewichtskräfte in die Gondel<br />

einzuleiten. In neuen alternativen<br />

Anlagenkonzepten ist hierfür<br />

nur noch ein sogenanntes Großwälzlager<br />

nötig. Entsprechend<br />

kleiner kann die Gondel ausfallen<br />

und wiegt damit auch weniger.<br />

Rothe Erde, ein Tochterunternehmen<br />

von <strong>ThyssenKrupp</strong><br />

Technologies, hat ein spezielles<br />

Verfahren zur vollständigen Härtung<br />

der Laufbahnen für solche<br />

permanent drehenden Großwälzlager<br />

entwickelt. Hierbei<br />

wird die Tragfähigkeit der Lager<br />

durch eine induktive Randschichthärtung<br />

gewährleistet.<br />

Nun können Stürme an den<br />

Rotorblättern ziehen und zerren,<br />

wie sie wollen – das Lager tut<br />

seinen Dienst und trägt dazu bei,<br />

dass die saubere Energie aus<br />

der Luft in unseren Steckdosen<br />

ankommt. 7


projekte_mobilität<br />

54<br />

Respektvolle Annäherungen an eine<br />

mittelalterliche Stadt<br />

Wenn Alter und Moderne aufeinander<br />

treffen, kommt es schon<br />

einmal zu Spannungen. So zum<br />

Beispiel im nordspanischen<br />

Vitoria/Gasteiz, als es darum<br />

ging, den modernen, unteren<br />

Teil der Hauptstadt des Baskenlandes<br />

mit der mittelalterlichen,<br />

auf einer Anhöhe gelegenen<br />

Altstadt zu verbinden. Wo der<br />

Zugang über unebene Steintreppen<br />

bislang die einzige<br />

Zugangsmöglichkeit war, wurde<br />

eine Erweiterung des Straßennetzes<br />

mit entsprechend drastischen<br />

Eingriffen in das über<br />

Jahrhunderte gewachsene<br />

Stadtbild erwogen. Doch es gab<br />

eine Alternative, die sowohl die<br />

<strong>Umwelt</strong> als auch das ästhetische<br />

Empfinden von Einwohnern und<br />

Besuchern schont: Über sieben<br />

Fahrtreppen auf zwei verschiedenen<br />

Fahrstrecken können nun<br />

bis zu 9.000 Menschen pro<br />

Stunde das mittelalterliche<br />

Vitoria regengeschützt, emissionsfrei<br />

und nahezu geräuschlos<br />

erreichen.<br />

Die von den lokalen Architekten<br />

Roberto Ercilla und Miguel Angel<br />

Campo entworfene Stahl-Glas-<br />

Konstruktion bietet zusätzlich<br />

einen atemberaubenden Ausblick<br />

auf Stadt und Umland.<br />

Neben der harmonischen Verbindung<br />

von Moderne und Alter,<br />

Kunst und Nutzen stellten die<br />

engen Gassen der Stadt und<br />

Neigungen von sechs bis zwölf<br />

Grad die Konstrukteure vor<br />

besondere Herausforderungen.<br />

Für die innovative Umsetzung<br />

erhielt <strong>ThyssenKrupp</strong> <strong>Elevator</strong><br />

den „Project of the Year Award<br />

2007“ der Zeitschrift <strong>Elevator</strong><br />

World in der Kategorie „Automatic<br />

People Mover“. 7


perspektiven_demographischer wandel<br />

56<br />

Nordamerika<br />

335 Millionen<br />

20,2%<br />

20,5%<br />

62,7%<br />

24,1%<br />

15,9%<br />

Europa<br />

733 Millionen<br />

63,5%<br />

NEUE ALTE WELT<br />

Der demographische Wandel wird unsere Lebenswelt in den nächsten 30 Jahren<br />

stark verändern – mit guten Aussichten für „Silver Ager“<br />

10,2%<br />

29,8%<br />

61,2%<br />

Süd-/Lateinamerika/Karibik<br />

569 Millionen<br />

Welt<br />

28,3%<br />

11,6%<br />

61,4%<br />

Manche Kontinente sind „jünger“, manche „älter“<br />

– aber im Jahr 2005 liegt selbst im alten Europa<br />

der Anteil der Über-60-Jährigen noch unter<br />

25 Prozent, im jungen Afrika der Anteil der<br />

Unter-15-Jährigen noch bei über 40 Prozent.<br />

Blättern Sie auf die nächste Doppelseite, und das<br />

Bild sieht schon wieder ganz anders aus.<br />

■ 0 – 14 ■ 15 – 59 ■ 60+<br />

Quelle: United Nations Population Division<br />

Die Größe der Tortengrafiken spiegelt den absoluten Anteil an der globalen Bevölkerung wider.<br />

espenstische Szenen: ein Drittel der Rentner<br />

unterhalb der Armutsgrenze, Massenunterkünfte<br />

für verarmte Senioren, bettelnde alte<br />

Menschen in den Straßen, häusliche Pflege<br />

nur noch für Wohlhabende und ein „freiwilliges<br />

Frühableben“ im Leistungskatalog der<br />

GKrankenkassen. Eine Horrorvorstellung, die<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


10,2%<br />

57<br />

aller Asiaten waren im Jahr<br />

2005 älter als 60.<br />

28,3%<br />

Asien<br />

4,01 Milliarden<br />

62,7%<br />

5,6%<br />

41,1%<br />

53,4%<br />

Afrika<br />

944 Millionen<br />

Australien/Ozeanien<br />

35 Millionen<br />

24,9<br />

16,7%<br />

61,O%<br />

der ZDF-Dreiteiler „2030 – Aufstand der Alten“ im Januar<br />

2007 in die heimischen Wohnzimmer transportierte.<br />

Obwohl der „Demographie-Krimi“ als Fiktion gekennzeichnet<br />

war und bewusst überzog, griff er mit seinen Schreckensvisionen<br />

die Ängste vieler Menschen auf, im Alter verarmt,<br />

verlassen und verelendet zu sein. Auch diesseits der Filmwelt,<br />

im „echten Leben“, wird von vielen ein überaus negatives Bild<br />

vom Demographiewandel in vielen Teilen der westlichen Welt<br />

gezeichnet. Mancher scheint gar zu befürchten, dass der<br />

Untergang des Abendlandes bevorsteht. Und tatsächlich gilt<br />

als gesichert, dass der Generationenwandel unumkehrbar ist.<br />

Schon in weniger als 30 Jahren, so haben Statistiker<br />

errechnet, wird jeder zweite Deutsche älter als 50 Jahre sein.<br />

Mitte des Jahrhunderts wird es hierzulande mehr 65-Jährige 3<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


perspektiven_demographischer wandel<br />

58<br />

2050<br />

28,2%<br />

17,1%<br />

23,1%<br />

14,6%<br />

44,1%<br />

18,0%<br />

55,6%<br />

50,9%<br />

18,0%<br />

29,5% 11,5%<br />

58,3%<br />

57,8%<br />

28,0%<br />

61,7%<br />

18,4%<br />

21,6%<br />

56,9%<br />

In 42 Jahren hat sich die Altersstruktur der globalen<br />

Bevölkerung bereits deutlich verändert. Mit Ausnahme<br />

Afrikas ist der Anteil der Bevölkerung im arbeitsfähigen<br />

Alter (15–59) überall geschrumpft.<br />

(Legende: siehe S. 56)<br />

Quelle: United Nations Population Division<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


59<br />

3<br />

als 15-Jährige geben. Die Bevölkerung schrumpft und altert.<br />

Doch die durch den demographischen Wandel veränderte<br />

<strong>Umwelt</strong> bringt auch viele Chancen mit sich, die bisher kaum<br />

beachtet werden – sowohl für die ältere als auch für die jüngere<br />

Generation. Probleme, mit denen sich Politik und Gesellschaft<br />

heute noch plagen, werden schon in einer Generation<br />

auf natürliche Weise entzerrt: Es wird genügend Kindergartenund<br />

Krippenplätze für dann weniger Kinder geben. Jugendliche,<br />

die heute keine Lehrstelle finden, werden unter mehreren<br />

Ausbildungsplätzen wählen können, und überfüllte Hörsäle<br />

gehören der Vergangenheit an. Gut ausgebildete Frauen,<br />

die nach der Familienpause weiter ihrem Beruf nachgehen<br />

wollen, werden in der Arbeitswelt dringender benötigt denn je.<br />

Der drohende Fachkräftemangel, der schon heute laut beklagt<br />

wird, wird (zwangsläufig) dafür sorgen, dass wieder hochmotivierte<br />

und erfahrene Fachleute über 50 eingestellt werden,<br />

die in den letzten Jahren dem Jugendwahn in vielen Unternehmen<br />

weichen mussten. Kurz und gut: Es wird mehr Platz<br />

und Wohnraum für die Menschen geben, und sie werden bessere<br />

Bildungs- und Berufschancen für ein langes und ausgefülltes<br />

Arbeitsleben bekommen. Das hört sich doch durchaus<br />

ermutigend an.<br />

Brachliegende Ressourcen<br />

Aber noch sind wir nicht so weit – in unserer heutigen Realität<br />

kommen eher die Jungen, Dynamischen zum Zuge. In vielen<br />

Unternehmen gibt es kaum noch Angestellte über 50, dafür<br />

aber viele Mittdreißiger, die nach wenigen Berufsjahren schon<br />

den Gipfel des Möglichen erreicht haben. Dieses Missverhältnis<br />

ist in Deutschland besonders krass: Mit einer Beschäftigungsquote<br />

von unter 42 Prozent bei den 55- bis 64-Jährigen<br />

ist die Bundesrepublik Schlusslicht im Vergleich mit Schweden<br />

(70 Prozent), Neuseeland (67 Prozent) oder der Schweiz (65<br />

Prozent). Es mutet seltsam an, dass z.B. in den Ingenieursberufen<br />

seit langem vor einem dramatischen Fachkräftemangel<br />

gewarnt wird, auf umständliche Weise Spezialisten vom anderen<br />

Ende der Welt nach Europa gelockt werden und gleichzeitig<br />

gut ausgebildete Arbeitnehmer auf dem hiesigen Arbeitsmarkt<br />

keine Chance mehr bekommen, nur weil sie die 50 schon<br />

überschritten haben. Engagierte Hochschullehrer müssen<br />

wegen starrer Altersgrenzen ihren universitären Arbeitsplatz<br />

räumen, obwohl ihr umfangreiches Spezialwissen für die junge<br />

Studentengeneration überaus wertvoll wäre. Nicht immer<br />

gehen emeritierte deutsche Professoren dann in den Ruhestand,<br />

sondern immer öfter an amerikanische Universitäten,<br />

wo man ihre hohen Qualifikationen offenbar mehr schätzt.<br />

Älteren Menschen scheint man hierzulande kreatives Denken,<br />

die Fähigkeit zur Innovation, Dynamik und Fortschrittsfähigkeit<br />

nicht mehr zuzutrauen. Erst wenige haben verstanden, dass<br />

eine breite Umstellung im Denken erforderlich ist: weg von der<br />

Fixierung auf Jugend und Schönheit hin zur Anerkennung von<br />

Erfahrung und Wissensressourcen. So könnte der „Problemfall<br />

Demographiewandel“ nachhaltig gelöst werden.<br />

Erfahrungsschätze ausschöpfen<br />

»In der östlichen Kultur<br />

bedeutet das Alte das Ehrwürdige,<br />

Verehrenswürdige.«<br />

Völlig anders ist derweil die Haltung der Asiaten, speziell der<br />

Japaner, gegenüber dem Alter und alten Menschen. Während<br />

der Westen geprägt ist von der Dynamik des Fortschritts, von<br />

steter Erneuerung und dem Kampf Jung gegen Alt, der Begeisterung<br />

für das Neue, steht im fernen Osten die Ehrfurcht<br />

vor der Tradition ganz weit oben auf der Werteskala. Und dies<br />

meint beileibe nicht die Verhinderung von Fortschritt – sonst<br />

wäre Japan nicht eine der führenden Industrienationen. In der<br />

östlichen Kultur bedeutet das Alte das Ehrwürdige, Verehrenswürdige.<br />

Alter ist kein Makel, sondern der Beweis für ein<br />

gelebtes Leben, für Erfahrung, die weitergegeben werden<br />

kann und muss. Das gilt sowohl im Privaten und in der Familie<br />

als auch im Berufsleben und in den Unternehmen. Die Jungen<br />

lernen von den Älteren, nutzen und wertschätzen deren<br />

Erfahrung.<br />

Diese fernöstlich inspirierte Philosophie findet ihren Niederschlag<br />

inzwischen auch bei uns, z.B. in „Erfahrung Deutschland“,<br />

einer Initiative der Deutschen Seniorenliga (DSL) mit<br />

wissenschaftlichem Beirat, die von Banken und Wirtschaftsunternehmen<br />

ausdrücklich unterstützt und gefördert wird.<br />

Die Initiative „Erfahrung Deutschland“ vermittelt ehemalige<br />

Leistungsträger, die sich im Ruhestand befinden, zurück in die<br />

deutsche Wirtschaft. Dort arbeiten sie als Berater und Experten<br />

auf Zeit für einzelne Projekte. Die Initiatoren betonen, dass<br />

die Ruheständler wichtige Wissensträger seien, extrem gut<br />

aus- und fortgebildet und mit jahrzehntelang erworbenen<br />

Erfahrungen. Auf diese wertvollen Ressourcen können Unternehmen<br />

inzwischen nicht mehr verzichten. Und die Zahl<br />

der Unternehmen wächst, in denen Personalverantwortliche<br />

erkannt haben, dass ein Team oder ein Projekt dann nach-<br />

3<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


perspektiven_demographischer wandel<br />

60<br />

Männer<br />

80 +<br />

75 – 79<br />

Frauen<br />

70 – 74<br />

65 – 69<br />

60 – 64<br />

55 – 59<br />

50 – 54<br />

Entwicklungsländer<br />

45 – 49<br />

40 – 44<br />

35 – 39<br />

30 – 34<br />

25 – 29<br />

20 – 24<br />

15 – 19<br />

10 – 14<br />

5 – 9<br />

0 – 4<br />

300<br />

250<br />

200<br />

150<br />

100<br />

50 0 50 100 150 200 250 300<br />

Millionen<br />

80 +<br />

75 – 79<br />

Industrieländer<br />

70 – 74<br />

65 – 69<br />

60 – 64<br />

55 – 59<br />

50 – 54<br />

45 – 49<br />

40 – 44<br />

35 – 39<br />

30 – 34<br />

25 – 29<br />

20 – 24<br />

15 – 19<br />

10 – 14<br />

5 – 9<br />

0 – 4<br />

Im Gegensatz zu<br />

den Industrieländern<br />

haben Entwicklungsländer<br />

eine sehr junge<br />

Altersstruktur. Ein<br />

Drittel der Bevölkerung<br />

in Entwicklungsländern<br />

sind<br />

Kinder und<br />

Jugendliche. In<br />

Afrika sind sogar<br />

42 Prozent der<br />

Bevölkerung jünger<br />

als 15 Jahre.<br />

Grund für die junge<br />

Bevölkerungsstruktur<br />

ist die<br />

hohe Fertilitätsrate<br />

vieler Entwicklungsländer.<br />

300<br />

250<br />

200<br />

150<br />

100<br />

50 0 50 100 150 200 250 300<br />

Millionen<br />

Quelle: Vereinte Nationen, World Population Prospects: The 2000 Revision, New York 2001.<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


61<br />

3 haltig erfolgreich wird, wenn die Mischung aus verschiedenen<br />

Altersgruppen und Erfahrungshintergründen stimmt.<br />

Mehrere große deutsche Industrie- und Automobilkonzerne<br />

arbeiten seit längerem mit altersgemischten Teams, in denen<br />

erfahrene Mitarbeiter zusammen mit jungen Fachkräften effizientere,<br />

optimierte Arbeitsergebnisse erzielen können. Denn<br />

langjährige Experten haben das richtige Gespür im Umgang<br />

mit Kunden, können aufgrund höherer Lebens- und Arbeitserfahrung<br />

mit komplexen Sachverhalten besser umgehen und<br />

zeichnen sich durch eine höhere Sozialkompetenz aus.<br />

Genau das bestätigen auch die Gründer des Jobportals<br />

www.expertia.de, der ersten Internetjobbörse für Arbeitssuchende<br />

ab 50 Jahren. Sie heben hervor, welche besonderen<br />

Eigenschaften für die sogenannten „Silver Agers“ sprechen:<br />

„Unsere Experten verfügen über persönliche Reife und können<br />

sowohl mit Erfolgen als auch Misserfolgen aufgrund ihrer<br />

Erfahrung sehr gut umgehen. Sie wissen, was sie können und<br />

wo ihre Grenzen sind. Mit Problemen und Krisen im Job gehen<br />

sie gelassen um, haben langjährige Praxiserfahrung und kennen<br />

Risiken und Stolpersteine. Sie wissen, wie sie die Dinge<br />

anpacken müssen. Unsere Experten haben eine hohe soziale<br />

Intelligenz, weil sie im Lauf ihres Berufslebens alle möglichen<br />

Persönlichkeitstypen von Chefs, Mitarbeitern und Kollegen<br />

kennengelernt haben. Sie wirken oft stabilisierend bei Teamkonflikten“,<br />

so weiß man hier.<br />

Die neue Welt der jungen Alten<br />

Tatsächlich waren ältere Menschen noch nie so vital und leistungsfähig.<br />

Die heute 60-Jährigen sind geistig und körperlich<br />

deutlich jünger als die 55-Jährigen früherer Generationen. Sie<br />

nehmen interessiert und aktiv am Leben teil und haben durchaus<br />

Ansprüche an ihre Ruhestandsphase.<br />

Erst jüngst hat eine Roland-Berger-Studie im Auftrag der Bundesregierung<br />

diese Diskrepanz aufgezeigt und die positiven<br />

Auswirkungen der alternden Gesellschaft im Hinblick auf<br />

Wachstum und Beschäftigung ins Blickfeld gerückt. Von der<br />

„Wirtschaftskraft Alter“ könne Deutschland in den nächsten<br />

Jahren und Jahrzehnten stark profitieren. Dabei müssten die<br />

Ideen für die Ansprache dieser wachsenden Zielgruppe weit<br />

über Haftcreme und Treppenlifte hinausgehen. Die Bereiche<br />

Freizeit und Tourismus, Wohnen und Dienstleistungen, Neue<br />

Medien und Kommunikation, Finanzdienstleistungen und vor<br />

allem Gesundheit und Pflege stünden vor einem enormen<br />

Boom – wenn die Zeichen der Zeit erkannt würden.<br />

Schon jetzt hat der Wunsch der Menschen nach ewiger<br />

Jugend und Schönheit eine ganze „Anti-Aging“- Industrie<br />

hervorgebracht, die rasante Wachstumszahlen aufweisen<br />

kann. Lifestyleprodukte, Nahrungsergänzungsmittel und<br />

Diäten verkaufen sich gut. Allerdings findet auch eine Menge<br />

faszinierender Forschung statt: Typische Alterserkrankungen<br />

wie Alzheimer oder Diabetes, Gefäßerkrankungen und Osteoporose<br />

werden immer intensiver erforscht und besser behandelbar.<br />

Bei aller Bemühung darum, die Beschwerden und Krankheiten<br />

des Alters zu besiegen: Eine wissenschaftlich fundierte<br />

Altersmedizin wird sicher nicht einem übersteigerten Jugendwahn<br />

zuarbeiten. Seriöse Gerontologen betonen, dass es das<br />

Ziel ihrer Arbeit sei, eine Verlängerung jener Phase zu erreichen,<br />

in der man gesund und glücklich ist im Leben. Und so<br />

soll am Ende dieser Betrachtung der Wunsch eines englischen<br />

Altersforschers exemplarisch für geglücktes Altern stehen:<br />

„Meine Vorstellung vom gesunden Altwerden wäre es,<br />

erschossen zu werden. Vom eifersüchtigen Ehemann einer<br />

Geliebten – mit 90 Jahren.“ 7<br />

TEXT: DR. MELANIE THIELKING<br />

Skurriles<br />

Der Jugendwahn treibt zum Teil seltsame Blüten.<br />

Besonders in den USA gibt es viele Alte, die ihre<br />

Jungerhaltung zum Kult erhoben haben. Doch<br />

auch in Deutschland sprudeln immer neue Anti-<br />

Aging-Ideen hervor:<br />

Prevent-Age-Medizin: Gezielter Einsatz von<br />

Hormonen, Melatonin, DHEA, der Verzehr von<br />

Sojaprodukten, grünem Tee und speziellen<br />

Fettsäuren sollen Altersbeschwerden lindern und<br />

Alterungsprozesse hinauszögern.<br />

Neurobics: das Aerobic-Programm für das Gehirn.<br />

Neurobics-Übungen beziehen alle fünf Sinne des<br />

Menschen ein, um die geistige Fitness zu steigern.<br />

Face-Jogging: gezielte Übungen gegen eine<br />

vorzeitige Alterung der Gesichtshaut durch Streichmassagen,<br />

Lymphdrainage und Akupressuren,<br />

die die Gesichtsmuskulatur stimulieren und durchblutungsfördernd<br />

wirken.<br />

Well-Aging: Eine ausgewogene Aminosäurenbalance<br />

im Körper, ein spezifisches Workout der<br />

Tiefenmuskulatur und richtiges Essen sollen<br />

mobilisierend und verjüngend auf den Körper<br />

wirken. 7<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


perspektiven_mehrgenerationenhaus<br />

62<br />

UNTER EINEM DACH<br />

Die Fragen, die der demographische Wandel aufwirft, verlangen nach neuen Antworten. Eine<br />

solche ist das Mehrgenerationenhaus – ein Dach, unter dem mehrere Generationen miteinander<br />

leben und voneinander lernen können. Bald soll es einen solchen Treffpunkt in jedem Landkreis<br />

in Deutschland geben. Langen bei Frankfurt am Main hat schon jetzt einen.


In Martina Römerts<br />

Yogastunde werden<br />

nicht nur Sonne und<br />

Mond begrüßt, sondern<br />

auch Säuglinge<br />

und Kleinkinder willkommen<br />

geheißen<br />

– notfalls mit Reiswaffeln.<br />

Der Sohn zupft an der Trainingshose der Mutter.<br />

Während sie auf der Turnmatte liegt, die Hände<br />

in die Hüften stemmt und die Beine in die<br />

Höhe streckt, fragt er nach einer Puffreiswaffel.<br />

So sieht keine gewöhnliche Yogastunde<br />

aus. Ort der Sportübung ist das Zentrum für<br />

Jung und Alt, das zwei Vereine – das Mütterzentrum<br />

und die Seniorenhilfe – gemeinsam in Langen bei Frankfurt<br />

unterhalten. Das Zentrum gehört zu den Mehrgenerationenhäusern,<br />

die Bundesfamilienministerin Ursula von der<br />

Leyen seit einem Jahr fördert. Ein Mehrgenerationenhaus soll<br />

ein offener Treffpunkt sein, an dem Menschen verschiedenen<br />

Alters zusammenkommen, Hilfe finden und geben können.<br />

3


perspektiven_mehrgenerationenhaus<br />

64<br />

3 Ein Opa für alle Fälle<br />

Tesafilmstreifen halten den Einband zusammen: Das Bilderbuch<br />

„Die Tiere des Waldes“ lieben die Kinder am meisten.<br />

Wieder und wieder muss Jan Jabczynski den Band hervorkramen<br />

und von den Rehen, Bären und Amseln berichten.<br />

Zumindest solange im Flur der Papierpfeil auf die Buntstiftwolke<br />

zeigt. Weist er jedoch endlich auf die Filzstiftsonne, dürfen<br />

alle hinaus. In den Sandkasten und auf die Schaukel. Dass<br />

er seit ungefähr vier Jahren Rentner ist, erzählt Jan Jabczynski,<br />

während er Sandkuchen in Plastikförmchen backt. Fast genauso<br />

lange kümmert sich der ehemalige Bibliothekar schon<br />

gemeinsam mit den Erzieherinnen um ein Dutzend Kinder. Ein,<br />

zweimal in der Woche schaut er in der Tagesstätte vorbei. „Je<br />

nach Bedarf“, sagt er. Er hat eine Aufgabe, er wird gebraucht.<br />

3


Niemand nennt ihn<br />

Jan Jabczynski, alle<br />

rufen nach Opa Jan.<br />

Enkelkinder hat<br />

der Rentner keine.<br />

Dafür aber Fabian,<br />

Sina und Mohammed.


66<br />

perspektiven_mehrgenerationenhaus


Mehr als 50 Buntstiftzeichnungen<br />

hängen im Flur. Sie<br />

zeigen Großeltern<br />

und Enkel. Und<br />

einmal auch einen<br />

quietschgelben<br />

Hund.<br />

3 Alltägliche Begegnungen<br />

Eine Großmutter frisiert sich den weißen Lockenkopf, ein<br />

Großvater trägt enge Röhrenjeans. Rund 50 Buntstiftporträts<br />

hängen an der Flurwand. Sie haben eine Gemeinsamkeit:<br />

Viele der Großeltern wurden unter Palmen, auf Segelschiffen<br />

oder in Liegestühlen gemalt – die 4 bis 14 Jahre alten Künstler<br />

treffen Oma und Opa zumeist in den Ferien. „Wichtig ist<br />

aber vor allem die alltägliche Begegnung zwischen Jüngeren<br />

und Älteren“, sagt Monika Maier-Luchmann, die für die<br />

Koordination im Zentrum zuständig ist. „Diesen ständigen<br />

Kontakt wollen wir ermöglichen.“<br />

3


perspektiven_mehrgenerationenhaus<br />

68<br />

Das Engagement aller ist gefragt –<br />

auch bei der Gartenarbeit.<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


69<br />

Wo die Kinder sonst im Kaufmannsladen Kakao und Konserven gegen<br />

Papiergeld tauschen, posiert ausnahmsweise die Großfamilie.<br />

Das Zentrum für<br />

Jung und Alt gibt<br />

es seit rund<br />

20 Jahren, das<br />

Mehrgenerationenhaus<br />

seit gut<br />

einem Jahr.<br />

3 Erfahrungsschätze anzapfen<br />

Rund 400 Namen stehen auf der Liste, allesamt mit einem<br />

„Betätigungsfeld“ versehen. Spalte für Spalte geht Helga<br />

Techen sie durch. Wer von den aktiven Mitgliedern im Seniorenverein<br />

könnte wohl einer Grundschülerin Deutschnachhilfe<br />

geben? Bei einer pensionierten Lehrerin hält sie inne und<br />

greift zum Telefonhörer. So findet die 72-Jährige Woche für<br />

Woche Menschen, die anderen im Garten, bei Behördengängen,<br />

in der Schule helfen wollen. Helga Techen sitzt fast jeden<br />

Dienstag von 10 bis 12 Uhr in der Geschäftsstelle. „Denn“,<br />

sagt die frühere Reisebürokauffrau, „hier ist Leben im Haus.“7<br />

TEXT: INKA WICHMANN | FOTOS: OLIVER RÜTHER<br />

Eine Drittklässlerin<br />

braucht Nachhilfe<br />

im Deutschunterricht.<br />

Ursula Gutsch<br />

(vorne) und Helga<br />

Techen vermitteln<br />

sie ihr.<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


perspektiven_naturgewalten<br />

70<br />

ANGEBETET, GEFÜRCHTET,<br />

ABER NIE GEZÄHMT<br />

Magisch angezogen fühlen wir uns von dem, was wir am meisten fürchten. Eine Ambivalenz,<br />

die in den Naturgewalten ganz klar zum Ausdruck kommt: Was Segen bringen kann,<br />

kann auch schaden. Zu allen Zeiten haben die Menschen Wind, Wasser und Sonne besungen<br />

und gefürchtet – und versucht, sie sich zunutze zu machen.<br />

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71<br />

ZUNUTZE GEMACHT –<br />

Beim Sonnenwagen von Trundholm, einer Skulptur aus der älteren Nordischen Bronzezeit<br />

(um 1400 v. Chr.) Nordeuropas, handelt es sich um den Versuch, sich die Bewegung<br />

der Sonne klarzumachen. Weitergeführt wurde die nordische Vorstellung später von den<br />

Griechen und Römern mit ihren vom Sonnengott gelenkten Vierergespannen.<br />

Sonne<br />

Dass von der Sonne, dem<br />

beherrschenden Himmelskörper<br />

in unserem Planetensystem,<br />

alles Leben auf der Erde abhängt, ist den Menschen<br />

seit Alters her bewusst. In nahezu allen Kulturen, von<br />

den Azteken, Mayas und Inkas bis zu den Ägyptern, Griechen<br />

und nordischen Kulturen findet sich ein mehr oder weniger<br />

ausgeprägter Sonnenkult. Die Sonne wurde früh als natürliche<br />

Uhr des Menschen erkannt, ihre regelmäßige tägliche Wiederkehr<br />

ängstlich erwartet und mittels magischer Rituale<br />

beschworen, die Bestimmung ihrer Bahnpunkte für die Erstellung<br />

von Kalendern und die Voraussage wichtiger jahreszeitlicher<br />

Ereignisse wie des Nilhochwassers im alten Ägypten<br />

genutzt. Große Ängste lösten Sonnenfinsternisse aus. So war<br />

man im alten China überzeugt, ein Drache würde die Sonne<br />

verschlingen, und versuchte, diesen mit großem Lärm dazu zu<br />

bewegen, sie wieder freizugeben.<br />

Als physikalisches Objekt wurde die Sonne vermutlich erstmals<br />

im antiken Griechenland betrachtet. Mit seiner Beschreibung<br />

der Sonne als feurige Ausdünstung oder Wolke widersprach<br />

der griechische Philosoph und Dichter Xenophanes<br />

ca. 500 v. Chr. fundamental der vorherigen – und auch in späteren<br />

Jahrhunderten noch häufig vertretenen – Auffassung<br />

der Sonne als Gottheit.<br />

Eine passive Nutzung der Sonnenenergie ist in Ansätzen bereits<br />

in der Architektur des alten Ägyptens, in Mesopotamien<br />

und in den frühen südamerikanischen Hochkulturen zu finden.<br />

So nutzten die Ägypter zur Zeit des Pharaos Echnaton vor<br />

ca. 3.000 Jahren die Sonnenenergie zum Öffnen und<br />

Schließen der Tore eines Tempels. Wenn die aufgehende<br />

Sonne Wasser in einem großen Behälter in der Nähe des Tempels<br />

erwärmte, dehnten Wasser und Luft sich aus, das Wasser<br />

im Behälter lief über und floss in einen zweiten Behälter,<br />

der per Seilzug mit den Toren verbunden war und diese mit<br />

seinem Gewicht aufzog. Bei Sonnenuntergang kühlte das<br />

Wasser ab und floss mit dem nachlassenden Druck in den<br />

großen Behälter zurück. Ein schwerer Stein, der als Gegengewicht<br />

diente, zog die Tore wieder zu.<br />

3<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


perspektiven_naturgewalten<br />

72<br />

„Die Armillarsphaere“, Holzschnitt von Albrecht<br />

Dürer (1525): Ein auf die Hauptkreise der<br />

Gestirnsbewegungen reduzierter Himmelsglobus<br />

zeigt das geozentrische Weltsystem in der<br />

Außenansicht – hier mit den Winden der Erde in<br />

menschlicher Gestalt.<br />

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In der aztekischen Mythologie ist<br />

Quetzalcoatl – die gefiederte Schlange<br />

– der Gott des Windes.<br />

mit Sonnenkraft in Kalifornien zum ersten Mal Warmwasser<br />

aufbereitet, und 1932 wurden in Chicago sogar ganze Solarhäuser<br />

gebaut. Das Prinzip der Solarzelle wurde 1954 in den<br />

USA entwickelt. Bereits 1958 wurde der erste mit Solarzellen<br />

bestückte Satellit ins All geschickt.<br />

73<br />

3<br />

Auch das Prinzip der Solarthermie – die Beobachtung, dass<br />

sich Sonnenwärme in Glas oder Spiegeln konzentrieren lässt –<br />

wurde bereits lange vor unserer Zeitrechnung angewandt.<br />

Sicher nachgewiesen ist die Verwendung von Brennspiegeln<br />

im antiken Griechenland und Rom. Der griechische Philosoph<br />

Aristoteles berichtet um 350 v. Chr. zudem, dass Seeleute mit<br />

Hilfe von Destillation durch Sonnenwärme Trinkwasser aus<br />

Meerwasser gewannen.<br />

Die aktive Nutzung der Sonnenenergie ist allerdings eine<br />

Errungenschaft der Neuzeit. Im 18. Jahrhundert erfand der<br />

Naturforscher Horace-Bénédict de Saussure mit seiner „Heizkiste“<br />

einen Vorläufer der heutigen Solarkollektoren. Nach<br />

dem Vorbild von de Saussure konstruierte der französische<br />

Mathematiklehrer Augustin Mouchot dann im 19. Jahrhundert<br />

sogar einen mit Dampf betriebenen Solarmotor. Mit der Entdeckung<br />

des Photoeffekts schuf der französische Physiker<br />

Alexandre Edmond Becquerel 1839 schließlich die Voraussetzungen<br />

für die heutigen Solarzellen. 1904 entstand in<br />

St. Louis die erste Solarfarmanlage, fünf Jahre später wurde<br />

Wind<br />

Flügelbewehrt, mit wehendem Gewand,<br />

fliegenden Locken und dick<br />

geblähten Wangen schwebt er<br />

heran: Zephyr, der Westwind, bläst die leichtfüßig in ihrer<br />

Muschelbarke stehende Venus an das Ufer Zyperns. So zeigt<br />

es Botticellis „Geburt der Venus“, eines der prominentesten<br />

Werke der Renaissancemalerei, die systematisch die Figuren<br />

antiker Mythologie wiederauferstehen lässt – samt ihrer ungezählten<br />

Götter und personifizierten Naturgewalten.<br />

Neben Westwind Zephyr wurden im alten Griechenland auch<br />

dessen Brüder Notos (Süd-), Boreas (Nord-) und Euros (Ostwind)<br />

verehrt. Ihre menschlich-geflügelte Erscheinungsform<br />

ist aber nur einer unter zahlreichen Versuchen polytheistischer<br />

Völker, dem Wind eine fassbare, göttliche Gestalt zu<br />

verleihen: So stellten sich die Azteken ihren Gott<br />

Quetzalcoatl als gefiederte Schlange vor, die Ägypter<br />

verehrten den Windgott Amun in Gestalt eines Widders<br />

und als Mann mit Federkrone, die Anbetungsformen<br />

reichen vom reinen Gebet bis zum Blut- und Menschenopfer.<br />

Das Ziel aller Opferungen aber blieb durch alle<br />

Kulturen und Zeiten gleich: die Gunst der Götter zu gewinnen,<br />

die dem Wind gebieten sollten – natürlich im Sinne der<br />

Anbetenden. Denn so alt wie die Verehrung der Windgötter,<br />

so alt ist auch die Nutzung der Windenergie durch<br />

den Menschen.<br />

Die wohl älteste Nutzungsform der Windenergie ist wie Windgott<br />

Amun vermutlich bei den Ägyptern zu Hause: das Segel.<br />

Über 5.000 Jahre alt sind die ägyptischen Vasen, die die<br />

frühesten Abbildungen von Segelbooten zeigen. Und die Erfolgsgeschichte<br />

dieser Erfindung dauerte bis weit ins 19. Jahrhundert:<br />

Denn erst das Aufkommen der Dampfmaschine setzte<br />

der intensiven Nutzung der Windkraft ein vorläufiges Ende.<br />

Dazwischen aber liegen nicht nur der Import der Windmühle<br />

aus Asien nach Europa und die ständige technische Fortentwicklung<br />

der Segelschiffe bis zum Fünfmaster. Auch einige<br />

der bedeutendsten Errungenschaften der Zivilisation wären<br />

ohne Windenergie unmöglich gewesen, wie die Entdeckung<br />

Amerikas oder die Forschungsreisen Charles Darwins.<br />

Allerdings folgt dem Segen der Windkraft auch der Fluch auf<br />

dem Fuße, und das bis in unsere Tage. Der wiederkehrenden<br />

Begeisterung für Windkraftanlagen und erneuerbare Energien<br />

stehen verheerende Stürme gegenüber, die Namen wie<br />

„Katrina“ oder „Kyrill“ tragen und deren Stärke wir anhand<br />

der Beaufort-Skala, die der gleichnamige britische Seeadmiral<br />

1806 zur Klassifikation von Winden nach ihrer Geschwindigkeit<br />

entwickelte, messen. 3<br />

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perspektiven_naturgewalten<br />

74<br />

„Die große Woge“, Holzschnitt von Katsushika Hokusai<br />

3 Ähnlich wie Beaufort begegnen auch wir heute der immensen<br />

Kraft des Windes: Wissenschaftliche Erforschung hat Gebete<br />

und Opfer abgelöst, Satelliten beobachten das Erdenwetter,<br />

Messungen ermitteln Windstärke, Luftdruck, -temperatur und<br />

-feuchtigkeit. Dennoch bleibt es die Naturgewalt, die am<br />

längeren Hebel sitzt. Zwar kann die Kraft des Windes immer<br />

besser gemessen, vorhergesagt und genutzt werden – doch<br />

bezähmt ist sie deswegen noch lange nicht.<br />

Wasser<br />

Meterhoch türmt sich<br />

die Riesenwelle auf,<br />

jeden Moment droht<br />

sie zu brechen; ihre Schaumkronen greifen Tentakeln gleich<br />

nach den schlanken Holzbooten, die der Gewalt des Wassers<br />

schutzlos ausgeliefert sind. „Die große Woge“ von Katsushika<br />

Hokusai (1831) ist ein Meisterwerk des japanischen Farbholzschnitts<br />

und eindrucksvolles Zeugnis jenes Naturphänomens,<br />

das sich spätestens mit der Katastrophe vom 26. Dezember<br />

2004 dem kollektiven Gedächtnis eingeprägt hat. Das japani-<br />

sche Wort „Tsunami“ bedeutet eigentlich „lange Hafenwelle“,<br />

doch heute sind damit ausschließlich jene Monsterwellen<br />

gemeint, die aus seismographischen Erschütterungen hervorgehen:<br />

Seebeben oder Vulkanausbrüchen. Gebärdet sich das<br />

Meer an stürmischen Tagen ohnehin höchst anarchisch, potenziert<br />

sich bei sogenannten „Freak Waves“ die Zerstörungskraft<br />

– selbst Containerschiffe und Supertanker können von<br />

den kolossalen Riesenwogen zertrümmert werden. „Nichts<br />

auf der Welt ist weicher als Wasser, aber im Besiegen des<br />

Harten kommt ihm nichts gleich“, schrieb der chinesische<br />

Philosoph Laotse bereits im 6. Jahrhundert v. Chr.. Taifune,<br />

die das Meer aufs Land peitschen, Sturmfluten, die Deiche<br />

brechen lassen, Flüsse, die nach Dauerregen über die Ufer<br />

treten: Die Urgewalt des Wassers lässt sich nicht bezähmen –<br />

und nur mit großer Mühe kann der Mensch sich seine Kraft zu<br />

Diensten machen. Wasser gibt und Wasser nimmt; als Sintflut<br />

bringt es Verderben, als Taufe das Heil. Kein Wunder also,<br />

dass die Menschheit seit jeher ein höchst ambivalentes<br />

Verhältnis zum Wasser hat. Auch die Wassergötter, in der grie-<br />

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Die Statue des griechischen<br />

Gottes der Meere, Poseidon,<br />

im Archäologischen Nationalmuseum<br />

Athen. Undatiert<br />

chischen Mythologie durch Poseidon vertreten, sind zwiespältige<br />

Geschöpfe. So erschuf ein gutgelaunter Poseidon, der<br />

sich gerne mit Nereiden und Okeaniden vergnügte, neue<br />

Inseln und ließ die See ruhen. Wurde er jedoch wütend,<br />

erschütterte er mit seinem Dreizack die Erde und wühlte das<br />

Meer auf. Viele Meeres- und Schöpfungsgeschichten sind<br />

universell: Ihre Motive winden sich durch die Kulturen wie ein<br />

Fluss, der die Völker der Welt miteinander verbindet. Nicht im<br />

Salz-, sondern im Süßwasser liegt der Ursprung der Zivilisation:<br />

Die erste Hochkultur im Zweistromland zwischen Euphrat<br />

und Tigris konnte erst entstehen, als die Menschen gelernt<br />

hatten, ihre<br />

Felder zu bewässern.<br />

Auch<br />

heute werden Ströme<br />

vielfältig genutzt: Sie liefern Wasser für<br />

die Landwirtschaft, für Energieerzeugung durch Wasserkraft;<br />

sie dienen als wichtige Handels- und Transportwege.<br />

Kaum zu glauben, dass nur etwa 3 Prozent der Gesamtwassermenge<br />

auf unserem Globus – geschätzten 1,4 Milliarden<br />

Kubikkilometern – als Süßwasserreservoir zur Verfügung<br />

stehen; das meiste davon ist im Eis der Pole und in Gebirgsgletschern<br />

eingefroren. Umso unbegreiflicher ist, wie verschwenderisch<br />

wir mit dem kostbaren Nass umgehen. Die<br />

<strong>Umwelt</strong>behörde der Vereinten Nationen zeichnet in ihrem<br />

jüngsten Bericht ein düsteres Bild: In weniger als 20 Jahren<br />

werde das Frischwasser in weiten Teilen der Erde knapp,<br />

prognostizieren die Experten. Bereits heute sterben jährlich<br />

3 Millionen Menschen an den Folgen von verschmutztem Wasser.<br />

Drei Viertel der Erdoberfläche sind von Wasser bedeckt;<br />

trotzdem nennen wir unseren Planeten „Erde“. „Wasser“ wäre<br />

eigentlich zutreffender. 7<br />

TEXT: ANKE BRYSON, SARAH BAUTZ, MARGIT UBER<br />

75<br />

Ein Gott, der Früchte bringt: der Flussgott Hapi, Personifikation des Nils<br />

und der Nilüberschwemmungen, hier abgebildet auf einem Relief aus<br />

der Zeit um 1490-1468 v. Chr.<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


perspektiven_katastrophen<br />

76<br />

660 Tonnen Stahl zum Schutz vor Erdbeben:<br />

Diese Stahlkugel in der Spitze des 508 Meter<br />

hohen Wolkenkratzers „Taipeh 101“ in der<br />

taiwanischen Hauptstadt Taipeh soll als<br />

Schwingungsdämpfer bei Erdbeben dienen.<br />

MIT DER GEFAHR<br />

LEBEN LERNEN<br />

Erdbeben, Hurrikane, Dürren, Tsunamis, Überschwemmungen – Naturgefahren gibt es seit Menschengedenken.<br />

Doch die Zahl der Katastrophen hat in den vergangenen Jahren rapide zugenommen.<br />

Der Mensch, scheint es, bleibt hilfloses Opfer tosender Naturgewalten – es sei denn, er entwickelt<br />

die richtigen Warnsysteme und Anpassungsstrategien.<br />

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Im Jahr 1975 zählten Experten weltweit<br />

etwa 70 Naturkatastrophen. Im Jahr<br />

2006 waren es mit 395 fast sechsmal<br />

so viele – und die Zahl der Opfer steigt<br />

überproportional. Dafür gibt es viele<br />

Gründe: die wachsende Erdbevölkerung<br />

und damit mehr Menschen, die<br />

extremen Naturereignissen zum Opfer fallen.<br />

Millionen Bauern und Tagelöhner<br />

drängen in die überquellenden Megacities,<br />

von denen sich viele in gefährdeten Regionen<br />

befinden. Mehr und mehr Menschen<br />

leben weltweit in Küstenregionen und<br />

Flusstälern. Treiben Stürme oder schwere<br />

Regenfälle Fluten heran, sind Hunderttausende<br />

betroffen. Auch der Klimawandel<br />

scheint eine Rolle zu spielen. Er gilt als Ursache<br />

für lang anhaltende Dürren, extreme<br />

Niederschläge und starke Stürme.<br />

Das alles klingt beängstigend. Doch es gibt<br />

einen ermutigenden Trend: die wachsende<br />

Einsicht, dass der Mensch die Naturereignisse<br />

nicht fatalistisch über sich ergehen<br />

lassen muss. Er kann durchaus<br />

selbst steuern, ob das Naturereignis<br />

zur Katastrophe wird. Die<br />

Voraussetzung dafür ist, dass<br />

er das Risiko kennt und vor<br />

dem Ereignis gewarnt wird.<br />

Der Tsunami im Dezember<br />

2004 brach aus heiterem<br />

Himmel über die Menschen<br />

in Südostasien<br />

herein. Unter anderem,<br />

weil es im indischen<br />

Ozean noch kein leistungsfähiges<br />

Frühwarnsystem<br />

gab. Doch wahrscheinlich<br />

wäre selbst<br />

dann eine Katastrophe eingetreten,<br />

wenn die Sirenen<br />

geheult und im Radio Warnmeldungen<br />

geschnarrt hätten.<br />

Naturkatastrophen passieren unregelmäßig.<br />

Wenn es lange still ist,<br />

geraten sie in Vergessenheit. Das<br />

Gefühl für die Gefahr verschwindet. In<br />

Thailand oder in Indien übersahen die<br />

Menschen das Warnsignal: Vor der Welle<br />

zog sich das Meer zurück. Kaum jemand<br />

3<br />

77<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


perspektiven_katastrophen<br />

78<br />

sowieso zahlt.“ Nach der Katastrophe wird<br />

dann oftmals an derselben Stelle neu gebaut<br />

– bis zur nächsten Katastrophe.<br />

Risikobewusstsein lässt sich lernen<br />

Das modernste Tsunami-Warnzentrum der Welt steht in Indien. Innerhalb von 13 Minuten<br />

nach einem Erdbeben warnt es vor den „Monsterwellen“.<br />

3 wusste, wie er sich richtig verhalten sollte.<br />

Ähnliches gilt für die Flut in Mozambique<br />

im Jahr 2002. Obwohl das Wasser nach<br />

starken Regenfällen immer weiter stieg,<br />

blieben die Menschen in ihren Häusern –<br />

aus Angst, bestohlen zu werden, aber<br />

auch, weil ihnen die Gefahr nicht bewusst<br />

war. Und selbst in New Orleans wollten die<br />

Menschen lieber daheim ausharren – trotz<br />

bedrohlicher Satellitenbilder im Fernsehen<br />

und drängender Evakuierungsaufrufe.<br />

Ihnen war nicht klar, welche Wassermassen<br />

sich draußen vor den Deichen am<br />

Mississippi und Lake Pontchartrain aufstauten.<br />

Mehrere Hundert ertranken.<br />

Trügerische Sicherheit<br />

Für Thomas Loster gibt es deshalb nur<br />

einen Weg, die Menschen vor den zunehmenden<br />

Naturkatastrophen zu schützen –<br />

die Schulung des Risikobewusstseins.<br />

„Bottom-up-Ansatz“ nennt das der Geschäftsführer<br />

der Stiftung der Münchner<br />

Rückversicherung, die sich auf Katastrophenvorsorge<br />

spezialisiert hat. Die Katastrophenvorsorge<br />

beginnt im Bewusstsein<br />

des kleinen Mannes – des Fischers, des<br />

Bauern. „Lösungen wie Frühwarnsysteme<br />

sind sinnvoll. Sie erreichen die Menschen<br />

ganz am Ende der Informationskette aber<br />

nur, wenn sie um die Gefahr wissen und<br />

entsprechend reagieren können.“<br />

Sich des Risikos bewusst zu sein, ist der<br />

wohl beste Schutz gegen eine Katastrophe.<br />

Wie viele Katastrophen zeigen, ist das<br />

Bewusstsein oftmals aber nicht vorhanden<br />

– das gilt nicht allein für Entwicklungsländer,<br />

sondern auch für die erste Welt. Der<br />

Sozialgeograph Carsten Felgentreff von<br />

der Universität Osnabrück kennt die<br />

psychologischen Mechanismen: „Je sicherer<br />

sich die Leute fühlen, desto mehr Werte<br />

häufen sie an. Im Katastrophenfall sind die<br />

Schäden immens.“<br />

Die Waldbrände in Kalifornien vor wenigen<br />

Monaten machten das nur allzu deutlich.<br />

Viele Wohlhabende hatten ihre Häuser in<br />

den trockenen Waldflächen vor den Städten<br />

gebaut, in Gebieten, die schon immer<br />

von Waldbränden verwüstet werden. Niemand<br />

hatte damit gerechnet, dass irgendwann<br />

die Feuerwalze anrollen würde. Das<br />

Problem kann durch Versicherungen noch<br />

verschärft werden, sagt Felgentreff. „Es ist<br />

paradox. Wer gut versichert ist, geht höhere<br />

Risiken ein, weil die Versicherung ja<br />

Ein Tsunami-<br />

Warnturm am<br />

Strand von<br />

Patong auf der<br />

thailändischen<br />

Insel Phuket.<br />

Das Wissen um die Gefahr ist also der<br />

Schlüssel für eine erfolgreiche Katastrophenvermeidung.<br />

Die Gesellschaft für<br />

Technische Zusammenarbeit (GTZ) in<br />

Eschborn berücksichtigt das in ihren Entwicklungshilfeprojekten.<br />

Nach dem Tsunami<br />

startete die GTZ ein Schulprojekt in Indonesien<br />

und auf Sri Lanka. Gemeinsam<br />

mit den Bildungsbehörden beider Länder<br />

entwickelten die Experten Unterrichtsmaterial<br />

für Schüler und Lehrer, das über die Naturgefahren<br />

in der Region informiert – Überflutungen,<br />

Vulkanausbrüche, Erdbeben<br />

und Hangrutschungen. Mehr als 30.000<br />

Kinder haben inzwischen nicht nur Lesen<br />

und Schreiben, sondern auch Risikobewusstsein<br />

gelernt. Seine Bewährungsprobe<br />

bestand das Projekt im Mai 2006,<br />

als ein Erdbeben die indonesische Region<br />

Yogyakarta erschütterte. „Die Opferzahlen<br />

wären weitaus höher gewesen, wenn die<br />

meisten Kinder nicht kurz vorher in der<br />

Schule gelernt hätten, wie sie sich bei<br />

einem Erdbeben verhalten müssen“, sagt<br />

Thomas Schaef, bei der GTZ Planungsspezialist<br />

für internationales Disaster-Management.<br />

Bildung ist nur ein Aspekt der<br />

modernen Katastrophenbekämpfung. Das<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


79<br />

Ein Seismograph im Erdbebenforschungszentrum der Universität von Tokio.<br />

»Die moderne Katastrophenhilfe<br />

braucht eher Einfühlungsvermögen<br />

als harte Technik.«<br />

Das Tsunami-Frühwarnsystem des Kieler Leibniz-<br />

Instituts für Meereswissenschaften soll über<br />

Bojen in Verbindung mit Meeresbodensensoren<br />

Seebeben und Flutwellen frühzeitig erkennen.<br />

international als ideal betrachtete und vom<br />

Genfer UN-Katastrophenschutzprogramm<br />

(International Strategy for Disaster Reduction,<br />

ISDR) vorgeschlagene Modell besteht<br />

noch aus weiteren Säulen. Auch die GTZ<br />

richtet ihre Projekte danach aus. Wichtigstes<br />

Ziel ist, die Katastrophe zu verhindern.<br />

Zum Konzept gehört daher die Katastrophenvorbeugung<br />

– dazu zählen die Unterstützung<br />

von Katastrophenschutzeinrichtungen<br />

wie dem Technischen Hilfswerk<br />

in Deutschland oder die Ausrüstung von<br />

Rettungskräften. Die Katastrophenprävention<br />

ist die dritte Säule: Baumaßnahmen,<br />

die helfen, die Katastrophe zu verhindern –<br />

durch erdbebensichere Häuser oder hurrikanfeste<br />

Gebäude. Vor allem beim Wiederaufbau<br />

muss man präventiv denken –<br />

getreu dem Motto „Aus Schaden wird man<br />

klug“. Nur dann lässt sich die nächste Katastrophe<br />

tatsächlich abwenden. Darüber<br />

hinaus können ein entsprechendes Baurecht<br />

und intelligente Landnutzungspläne<br />

vermeiden, dass in gefährdeten Bereichen<br />

wie etwa Überschwemmungsflächen gebaut<br />

wird. Die letzte Säule ist meist der<br />

Beginn eines Katastrophenschutzprojektes<br />

– die Risikoanalyse. „Risiko“ ist das magische<br />

Wort der Katastrophenexperten. Nach<br />

der Definition der Gefahrenforscher ist das<br />

Risiko das mathematische Produkt aus der<br />

Eintretenswahrscheinlichkeit einer Gefahr<br />

und dem Schadenspotential – den materiellen<br />

Werten oder Menschenleben, die vernichtet<br />

werden könnten. 3<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


mit wissenschaftlichen Messungen – etwa<br />

Luftaufnahmen des Höhenprofils. Die Bauern<br />

brachten traditionelles Wissen über<br />

dürreresistente Pflanzen ein, die Europäer<br />

ihre Expertise über den Bau von Wasserrückhaltebecken<br />

oder Uferbefestigungen.<br />

Nach vier Jahren sind erste, einst<br />

karge Hänge aufgeforstet. Mäuerchen<br />

schützen die Hänge am Fluss vor Sturzbächen.<br />

Es ist gelungen, die Bauern und<br />

auch die Kommunalpolitiker in das Projekt<br />

zu integrieren, sagt Schaef. Die Bauern<br />

wissen jetzt, wie sie der Bedrohung begegnen<br />

können. Inzwischen folgen andere<br />

Regionen in Bolivien dem Beispiel.<br />

Das Projekt Rio San Pedro macht klar, dass<br />

die moderne Katastrophenhilfe eher<br />

Einfühlungsvermögen als harte Technik<br />

braucht. Damit packt man die Naturgefahren<br />

anders als noch vor zehn Jahren an.<br />

Seit Ende der achtziger Jahre hatte man<br />

die Erforschung der Naturgefahren mit<br />

Hightech forciert. Ausgeklügelte Frühwarnsysteme<br />

wurden entwickelt. Viel Geld floss<br />

in die Erforschung von Erdbeben und anperspektiven_katastrophen<br />

80<br />

Heiße Arbeit: Eine Vulkanologin vom Vulkanobservatorium auf Hawaii entnimmt dem Lavafluss des<br />

Pu’u ‘O’o ein Stück Magma.<br />

3 Mit der Risikoanalyse begann vor knapp<br />

fünf Jahren ein GTZ-Projekt im Hochland<br />

von Bolivien. Hier im Einzugsgebiet des Rio<br />

San Pedro bricht die Katastrophe durchaus<br />

häufiger über die Menschen herein – vermutlich<br />

beschleunigt durch den Klimawandel.<br />

Dürreperioden setzen früh im Jahr ein<br />

und dauern länger als gewöhnlich. Dann<br />

wieder gibt es extreme Regenfälle. Flüsse<br />

schwellen zu Sturzfluten an, spülen den<br />

Rest der ausgelaugten Muttererde fort und<br />

reißen Straßen und Brücken mit sich.<br />

Selbst in einigermaßen guten Jahren hatten<br />

die Menschen kaum genug zu essen.<br />

Die jungen Leute wanderten ab. Verdingten<br />

sich als Tagelöhner.<br />

Von Vorbeugung bis Prävention<br />

Schaef und seine Mitarbeiter hatten das<br />

Ziel, die Bevölkerung direkt mit einzubinden<br />

– „bottom-up“. Sie ließen die Dorfbewohner<br />

die Gefahren in handgemalte Karten<br />

zeichnen – wo waren Schlammlawinen<br />

niedergegangen, wo war der Hang gerutscht<br />

– und kombinierten die Ergebnisse<br />

»Wer lernt,<br />

mit der Gefahr zu leben,<br />

wird nicht weichen müssen.«<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


81<br />

deren Bedrohungen. Inzwischen sind viele<br />

Grundlagen bekannt. Das Geo-ForschungsZentrum<br />

in Potsdam zum Beispiel<br />

hat einen Atlas zur weltweiten Erdbebengefährdung<br />

entwickelt und führend am neuen<br />

Tsunami-Frühwarnsystem mitgearbeitet.<br />

Trotz des technischen Aufwands aber lässt<br />

sich ein Erdbeben nach wie vor nicht auf<br />

die Minute genau vorhersagen. Japan hat<br />

sich deshalb vom Ideal des unfehlbaren<br />

Erdbebenfrühwarnsystems verabschiedet<br />

und steckt die Gelder stattdessen in erdbebensichere<br />

Gebäude oder eine robuste<br />

Infrastruktur – Gasnetze, die sich in Sekundenschnelle<br />

abschalten lassen, oder Notstoppsysteme<br />

für Hochgeschwindigkeitszüge.<br />

Hilfe mit Einfühlungsvermögen<br />

Länder wie Japan können sich derartige<br />

Dinge leisten. Am schwersten von Katastrophen<br />

betroffen sind aber nach wie vor<br />

die Entwicklungsländer. Wo das Geld<br />

ohnehin knapp ist, steht der Katastrophenschutz<br />

nicht unbedingt an der Spitze der<br />

Bedarfsliste – der Straßenbau ist da mitunter<br />

wichtiger. Hilfsorganisationen versuchen<br />

deshalb, die Katastrophenvorbeugung<br />

in andere Projekte zu integrieren. So<br />

kann man ein Krankenhaus, das ohnehin<br />

neu errichtet wird, gleich erdbebensicher<br />

machen. Katastrophenschutz als Teil eines<br />

„Ongoing Process“, so nennt das Gerd<br />

Tetzlaff, Professor für Meteorologie an der<br />

Universität Leipzig. Katastrophenschutz<br />

wird eingebaut, wo sowieso gebaut wird.<br />

Bei einem neuen Deich zum Beispiel, den<br />

man etwas höher auslegt. Tetzlaff befasst<br />

US-Wissenschaftler<br />

installieren ein<br />

globales Positionierungssystem<br />

zur Kontrolle der<br />

Erdbewegungen am<br />

Mount St. Helens,<br />

der zuletzt 1980<br />

ausgebrochen ist.<br />

Amphibienhäuser in den Niederlanden: Mit wasserfesten Gebäuden bereiten sich die Niederländer auf<br />

steigende Meeresspiegel vor. Treten Flüsse über die Ufer, treiben die schwimmenden Häuser einfach<br />

obenauf.<br />

sich vor allem mit dem Einfluss des Klimawandels<br />

auf die Zunahme von Naturgefahren.<br />

Aus wissenschaftlicher Sicht, sagt er,<br />

kann bislang niemand mit Sicherheit<br />

sagen, ob extreme Wetterereignisse mit<br />

Katastrophenpotential tatsächlich zunehmen,<br />

obwohl Politiker gleich welcher Couleur<br />

immer wieder gern Schreckensbilder<br />

entwerfen. Noch fehle es an Daten. Ihn<br />

wundert es daher nicht, dass auch die Mitteleuropäer<br />

zögern, viel Geld in die Katastrophenvorsorge<br />

zu stecken, um für<br />

Naturgefahren gut gerüstet zu sein; Geld<br />

für den Bau großer Polder beispielsweise,<br />

Überschwemmungsflächen, entlang der<br />

Flüsse. Nach wie vor fällt es den Verantwortlichen<br />

schwer, die Vorsorgeziele scharf<br />

einzugrenzen und konkrete Präventionsmaßnahmen<br />

anzugehen.<br />

Der Klügere gibt nach<br />

Da erscheint es durchaus sinnvoll, den<br />

Holländern zu folgen: In den Niederlanden<br />

verabschiedet man sich inzwischen von<br />

dem 1.000-jährigen Kampf zwischen den<br />

Nordseefluten und den Deichbauern. „Man<br />

kann nicht bis in alle Ewigkeit so weitermachen<br />

und einfach immer höher bauen“,<br />

sagt Toine Smits, Experte für Wassermanagement<br />

an zwei holländischen Universitäten.<br />

Smits hat mit Unterstützung des<br />

Naturschutzverbands WWF Konzepte für<br />

alternative Hochwasserschutzmaßnahmen<br />

an den Flüssen und an der Küste entwickelt,<br />

mit denen sich der Mensch künftig<br />

an die natürliche Dynamik des Meeres und<br />

der Flüsse anpasst und nicht umgekehrt.<br />

Smits arbeitet an neuen Wohn- und<br />

Lebenskonzepten, die überflutungsunempfindlich<br />

sind. Dazu gehören schwimmende<br />

Gewächshäuser oder gar ganze<br />

Städte. Treibende Stege und Straßen gibt<br />

es bereits in Kanada, sagt Smits. In Maasbommel<br />

bei Nijmegen hat die Baufirma<br />

Dura Vermeer eine erste schwimmende<br />

Siedlung errichtet. Die Häuser ruhen auf<br />

kleinen Pontons und heben und senken<br />

sich mit dem Wasserstand. Natürlich seien<br />

Deiche an vielen Stellen unverzichtbar,<br />

sagt Smits. Aber sie sind eben nicht die<br />

einzige Lösung. Es gibt eine Alternative:<br />

Wer lernt, mit dem Wasser, mit der Gefahr,<br />

zu leben, wird nicht weichen müssen. Und<br />

das gilt für andere Naturgefahren gleichermaßen.<br />

7<br />

TEXT: TIM SCHRÖDER<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


perspektiven_zerbrechliche welt<br />

82<br />

WANDELBARE<br />

WELTDer ständige Wandel prägt unseren Planeten, seit es<br />

ihn gibt. Doch der Mensch hat die Entwicklungen<br />

beschleunigt – innerhalb weniger Jahre gestaltet er<br />

ganze Landschaften um. Manchmal aber ist es<br />

auch die Natur, die mit einem Vulkanausbruch oder<br />

einem Erdbeben für plötzliche Veränderungen sorgt.<br />

Ob menschen- oder naturgemachter Wandel: An<br />

ihre <strong>Umwelt</strong> müssen sich damit alle Bewohner der<br />

Erde immer wieder neu anpassen.<br />

Santa Cruz, Bolivien, Juni 1975<br />

Ein dichter Dschungel und vereinzelte Rodungen – so sah die Gegend nordöstlich der bolivianischen<br />

Stadt Santa Cruz noch vor etwas mehr als 30 Jahren aus. Nur auf dem links des Flusses Guapay<br />

gelegenen Ufer sind schon deutliche Siedlungsspuren zu erkennen.<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


83<br />

Santa Cruz, Bolivien, Mai 2003<br />

Wälder zu Sojafeldern: Nur wenige Jahrzehnte später prägen Äcker das<br />

Gesicht der Landschaft. Die Bevölkerung des Bundesstaats Santa Cruz<br />

ist von 30.000 auf mehr als 1 Million angewachsen – Menschen,<br />

die Bäume abholzen, um neue Dörfer zu bauen und Felder zu bestellen.<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


perspektiven_zerbrechliche welt<br />

84<br />

Shishmaref, September 2005<br />

„Permafrostboden“ heißt eigentlich Dauerfrostboden. Was aber, wenn der Frost<br />

gar nicht mehr das ganze Jahr über andauert? Das bekommen die Bewohner des<br />

Dörfchens Shishmaref zu spüren, das auf einer Insel vor Alaska liegt, …<br />

Shishmaref, Oktober 2005<br />

… denn die Küste erodiert nun um durchschnittlich<br />

3,3 Meter pro Jahr, weil der Boden<br />

auftaut und damit seine Stabilität verliert.<br />

Einige Gebäude sind dem vordringenden<br />

Meer bereits zum Opfer gefallen. Die Gemeinde<br />

muss jetzt entscheiden, ob sie das<br />

Dorf verlegt oder Dämme errichtet.<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


85<br />

Mount St. Helens, Mai 1980<br />

Es gibt nur wenige Vulkanausbrüche, die so gut<br />

dokumentiert sind wie der Ausbruch des Mount<br />

St. Helens im US-Bundesstaat Washington. Die paradiesische<br />

Berglandschaft in seiner Umgebung …<br />

Mount St. Helens, September 1980<br />

… wurde am 18. Mai 1980 von einer gewaltigen Eruption erschüttert. Eine Wolke<br />

aus heißer Asche strömte ins Tal und riss alles mit, was ihr in die Quere kam.<br />

Zurück blieb eine „nackte“, scheinbar tote <strong>Umwelt</strong>.<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


perspektiven_zerbrechliche welt<br />

86<br />

Upsala-Gletscher, 2004<br />

Wie die meisten Gletscher der Welt zieht sich allerdings auch dieser Gletscher<br />

immer weiter zurück. Die hellen Stellen auf den Felsen verraten, welche Höhe das<br />

Eis zur Zeit seiner größten Ausdehnung erreichte.<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


Upsala-Gletscher, 1928<br />

Im äußersten Süden Patagoniens erstreckt sich mit dem patagonischen Inlandeis<br />

eine der größten zusammenhängenden Eisflächen außerhalb der Polarregionen.<br />

Vom Inlandeis fließen riesige Gletscher wie der Upsala-Gletscher herab.<br />

87<br />

Zerbrechliche Erde<br />

Wie Natur und Mensch die Erde verändern,<br />

zeigt der Bildband „Zerbrechliche Erde“<br />

(National Geographic), dem diese Fotos<br />

entnommen sind. Die spektakulären Vorher-Nachher-Bilder<br />

machen deutlich, wie<br />

schnell sich das Gesicht unseres Planeten<br />

wandeln kann und welche dramatischen<br />

Folgen Naturkatastrophen und der Eingriff<br />

des Menschen haben. Die Fotos öffnen<br />

den Blick für die Herausforderungen,<br />

vor denen wir heute stehen, und belegen<br />

etwa die Zerstörungen, die der Hurrikan<br />

„Katrina“ in New Orleans und der Tsunami<br />

vor Sumatra anrichteten. Außerdem<br />

präsentiert der Bildband die Landgewinnung<br />

aus dem Meer,<br />

ausufernde Städte<br />

und gigantische<br />

Verkehrsprojekte<br />

sowie die Auswirkungen<br />

von Tourismus<br />

und Landwirtschaft.<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


perspektiven_burnout<br />

88<br />

WENN DIE SEELE<br />

SOS FUNKT<br />

Burnout ist westlich, industriell, kapitalistisch, Ausdruck einer schnelllebigen<br />

Hochleistungsgesellschaft. Oder? Rauben <strong>Umwelt</strong>faktoren auch Menschen<br />

in anderen Kulturräumen ihre Lebensenergie?<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


89<br />

Hilfe, ich kann nicht mehr! Im Film<br />

„Tage wie dieser“ reibt sich<br />

Michelle Pfeiffer als Architektin und<br />

alleinerziehende Mutter auf.<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


perspektiven_burnout<br />

90<br />

Kontrollverlust und Verzweiflung – typische Burnout-Symptome<br />

Mal ist es ein Viertel aller Arbeitnehmer, mal<br />

sogar ein Drittel aller Angestellten: Regelmäßige<br />

Untersuchungen und Umfragen<br />

zeigen, dass sich große Teile der arbeitenden<br />

Bevölkerung in Deutschland vom Burnout<br />

betroffen sehen. Eindeutig definieren<br />

lässt sich der Begriff jedoch nicht. „Burnout“<br />

ist keine Diagnose, sondern eine Metapher. Eine starke<br />

zudem. „Ausgebrannt sein“, das verstehen Menschen, auch<br />

ohne je einen Blick auf die lange Liste der möglichen Symptome<br />

geworfen zu haben.<br />

Mangels offizieller, allgemeingültiger Definition fallen Müdigkeit<br />

und Schlaflosigkeit genauso darunter wie allgemeine<br />

Lustlosigkeit, innere Leere, Angstzustände, Unzufriedenheit,<br />

das Gefühl permanenter Überforderung, Stimmungsschwankungen<br />

und viele andere negative Empfindungen. Ausschließende<br />

Symptome gibt es andererseits nicht: Der Beweis,<br />

dass ein Patient eindeutig nicht an Burnout leidet, ist<br />

kaum zu erbringen. Wollte man einen allgemeinen Konsens<br />

unter Medizinern erreichen, müsste man auf die Kombination<br />

von „emotionaler Erschöpfung“, „Depersonalisierung“ und<br />

„reduzierter persönlicher Leistungsfähigkeit“ zurückgreifen.<br />

Besonders oft scheint Burnout in Berufen mit hohem sozialem<br />

Engagement aufzutreten, bei Lehrern also, Krankenschwestern<br />

oder Sozialarbeitern. Sicher ist: Die gängigen Programme,<br />

von Entspannung bis Psychotherapie, sind nicht immer<br />

erfolgreich. Vielleicht lohnt sich der Blick über die kulturellen<br />

Grenzen?<br />

Die Suche nach dem optimalen Kräfteverhältnis<br />

Doch – gibt es Burnout überhaupt in anderen Kulturen? Kennen<br />

die Bewohner Afrikas und Asiens diese chronischen Erschöpfungszustände,<br />

sind die Völker der Dschungelregionen<br />

Papua-Neuguineas oder Hochgebirgskulturen Südamerikas<br />

genauso geplagt von Stress und Schlaflosigkeit? Schon mit<br />

dieser grundlegenden Frage tut sich die Wissenschaft schwer.<br />

Denn für eine Antwort bräuchte es nicht nur eine empirisch relevante<br />

Anzahl Burnout-geplagter Menschen, sondern immer<br />

auch einen, der Notiz nimmt, jemanden, der sich interessiert<br />

und wenn schon nicht erklärt, dann doch wenigstens dokumentiert<br />

und weiterträgt, ja vielleicht sogar darüber forscht.<br />

Die Grundkonzeption des westlichen Begriffs „Burnout“, so<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


91<br />

»Der Medizinmann braucht viel Zeit,<br />

Ausgebrannt, von<br />

Selbstzweifeln<br />

und Schlafstörungen<br />

geplagt<br />

um die Seele zu rufen<br />

und wieder einzusetzen.«<br />

wie wir ihn verstehen, scheint für einen internationalen<br />

Vergleich wenig geeignet. Im Westen ist der Begriff Burnout<br />

untrennbar mit dem beruflichen Umfeld verbunden. Nun lässt<br />

sich das Konzept „Beruf“ nicht immer problemlos auf andere<br />

Kulturen übertragen. Auch der Terminus „Depersonalisierung“<br />

geht von einer westlichen Auffassung von Nähe und<br />

persönlichen Beziehungen aus, die sich nicht unbedingt auf<br />

ein nigerianisches Dorf oder eine chinesische Fabrik übertragen<br />

lässt. Gleiches gilt für die „reduzierte persönliche Leistung“.<br />

Nicht zuletzt erfordert die Selbstdiagnose „Burnout“<br />

bestimmte Vorstellungen von Glück, Arbeit und Freizeit, die<br />

Muße und Beobachtungsgabe, den eigenen Zustand an<br />

einem Ideal zu messen. Nur wer Ausgeglichenheit erlebt hat,<br />

kann die Abweichung von diesem Zustand erkennen.<br />

Die grundlegende Vorstellung des Burnouts ist dabei vielen<br />

Kulturen gar nicht so fremd: „Das innere Gleichgewicht verlieren“,<br />

sich „leer fühlen“ gilt im ostasiatischen Raum als völlig<br />

legitime Leidensbeschreibung. Schließlich basiert die traditionelle<br />

Medizin auf der Existenz des „Qi“, des Lebensatems, der<br />

den Menschen durchflutet und die Organe versorgt. Um<br />

gilt es, es durch Nahrung und Atem aufzustocken. Schwächelt<br />

das Qi, steht dem traditionellen Arzt in China wie in Japan oder<br />

Korea von der Akupunktur bis zu Entspannungsübungen eine<br />

ganze Palette potenter Maßnahmen zur Verfügung. Selbst die<br />

Geomantik, in der ostasiatischen Architektur und Innenarchitektur<br />

allgegenwärtig, ist im Grunde nichts anderes als der<br />

Versuch, die Energiekräfte des Planeten in eine für den<br />

Menschen günstige Bahn zu lenken und ihn auch auf diese Art<br />

in einem optimalen Kräfteverhältnis zu platzieren. Im Prinzip<br />

also nichts anderes als eine permanente Burnout-Prophylaxe<br />

auf allen Ebenen.<br />

Gerade in Ostasien fällt noch ein weiterer Aspekt auf: Mit dem<br />

Schlagwort „Work-Life-Balance“ könnten hier viele Menschen<br />

eher wenig anfangen. Zwischen Arbeit und Leben verläuft<br />

keine Trennlinie, Arbeit ist Leben, und wenn der Geschäftsmann<br />

am Ende eines harten Tages aufs Kissen sinkt, lautet<br />

das Fazit nicht: „viel Stress gehabt“, sondern: „gut verdient“.<br />

Sicher, das ist eine grob verallgemeinernde Darstellung. Trotzdem<br />

ist ganz generell der Anspruch an den persönlichen<br />

Freiraum, die individuelle Komponente des Lebens in Asien<br />

dieses Qi muss man sich kümmern. Vereinfacht gesprochen, ein gutes Stück geringer als in Europa.<br />

3<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


perspektiven_burnout<br />

92<br />

3<br />

Tage wie dieser<br />

Wer so lebt wie Melanie Parker im Film „Tage wie<br />

dieser“ muss jederzeit mit der Diagnose Burnout<br />

rechnen. Als strapazierte Architektin und Mutter<br />

reibt sich Melanie Parker (gespielt von Michelle<br />

Pfeiffer) in dieser Rolle zwischen Geschäftsterminen<br />

und Kindergarten auf. Tatsächlich sind die Doppelbelastung<br />

und das Hin-und-her-Gerissensein<br />

zwischen familiärem und beruflichem Umfeld<br />

Hauptquellen von Burnout. Für Melanie Parker<br />

erscheint die Rettung an diesem „One Fine Day“<br />

(der Originaltitel des Films) in Form des Journalisten<br />

Jack Taylor (George Clooney), dem seine<br />

geschiedene Frau ausgerechnet<br />

an einem schwierigen<br />

Arbeitstag seine fünfjährige<br />

Tochter vor der Tür<br />

absetzt. Melanie und Jack<br />

schließen ein Bündnis, um<br />

Kind und Karriere wenigstens<br />

für einen Tag unter einen Hut<br />

zu bekommen. 7<br />

Nicht weniger inspirierend ist der Blick gen Westen. Prof. Dr.<br />

Ina Rösing, Psychotherapeutin, Kulturanthropologin und Institutsdirektorin<br />

am Klinikum der Universität Ulm, forscht seit<br />

Jahren schwerpunktmäßig über den Vergleich von „Seelenverlust“<br />

in den Anden sowie im Himalaya und Burnout in der<br />

westlichen Kultur. Mehr als sieben Jahre hat sie mit den<br />

Quechua-Indianern gelebt und zahlreiche interessante Beobachtungen<br />

mitgebracht: „In unserer Gesellschaft kennen wir<br />

Burnout als Belastungssyndrom aus dem Beruf heraus. Auch<br />

wenn dies für die in Subsistenzwirtschaft lebenden Hochgebirgsindianer<br />

der Anden im klassischen Sinne nicht zutrifft,<br />

gibt es auch hier belastende Faktoren. Das tägliche Leben<br />

besteht aus unendlich vielen Aufgaben, Konflikten. Krankheiten<br />

und der Tod sind alltäglich, die medizinische Versorgung<br />

rudimentär. Selbstverständlich können sich auch in diesem<br />

Umfeld Menschen überfordert fühlen“, unterstreicht Prof. Dr.<br />

Rösing.<br />

Die Andenkultur kennt eine große und eine kleine Seele. Die<br />

große Seele entspricht dem Leben, die kleine jedoch kann verlorengehen<br />

oder gestohlen werden. Dies geschieht zum Beispiel<br />

durch Erschrecken. Die Folgen, die Liste der möglichen<br />

Symptome, kommen dem Westler bekannt vor: Müdigkeit,<br />

Lustlosigkeit, Angstzustände, Kraftlosigkeit, gepaart mit<br />

Schlaflosigkeit und Stimmungsschwankungen. Auch wenn<br />

der Auslöser vermeintlich ein anderer ist, scheint der Seelenverlust<br />

mit dem Burnout durchaus vergleichbar. Die Reaktion<br />

darauf freilich unterscheidet sich erheblich von der westlichen<br />

Praxis. Viel Zeit braucht der herbeigerufene Medizinmann, um<br />

in langen Gesprächen seine Diagnose zu stellen. In behutsamen<br />

Zwiegesprächen wird die gesamte persönliche Lebenssituation<br />

des Patienten miteinbezogen. Danach gilt es, die Seele<br />

zu rufen und wieder einzusetzen.<br />

Sorge um den Verlust der Seele<br />

Sieben Tage wird der Patient vom Medizinmann behandelt,<br />

permanent begleitet und umsorgt, während andere Dorfbewohner<br />

seine alltäglichen Aufgaben übernehmen. „Der<br />

Patient, egal ob Mann oder Frau, wird komplett aus dem<br />

Alltag herausgenommen und erhält so die Möglichkeit, zu seinen<br />

inneren Ressourcen zurückzufinden“, so Prof. Dr. Rösing.<br />

Erstaunlich ähnlich präsentiert sich die Situation in der tibetischen<br />

Kultur des Himalayas. Auch hier existiert die Vorstellung<br />

von mehreren Seelen, wobei diese nicht nur im Körper, sondern<br />

auch außerhalb des Körpers wohnen können. Doch auch<br />

sie können verlorengehen oder geraubt werden und müssen<br />

in verblüffend ähnlichen Ritualen wieder eingesetzt werden.<br />

„Hinter all den Ritualen und Methoden, die wohl schwerlich in<br />

den Westen zu übertragen sind, steckt ein wichtiger Kerngedanke:<br />

Diese Krankheit ist legitim und wird ernst genommen“,<br />

unterstreicht Prof. Dr. Rösing. Gerade dies lässt sich von den<br />

westlichen Kulturen kaum behaupten. Sicher, der Begriff ist in<br />

aller Munde, in den Regalen der Buchhandlungen stapeln sich<br />

die Selbsthilfebücher zum Thema. Ein soziales Stigma haftet<br />

dem Begriff dennoch an. Ein Unternehmensberater oder<br />

Manager tut allemal gut daran, seine Burnoutprobleme für<br />

sich zu behalten. Auch die totale Auszeit wird ihm im Westen<br />

sicher nicht zugestanden.<br />

Der trennende Graben in Sachen Burnout verläuft daher nicht<br />

entlang von Ländergrenzen, sondern irgendwo zwischen den<br />

Polen Individualismus und Kollektivität, zwischen Akzeptanz<br />

und Ablehnung. Dies zu überwinden ist sicher auch eine<br />

kulturelle Leistung. 7<br />

TEXT: FRANÇOISE HAUSER<br />

Lektüre-Empfehlung:<br />

Ina Rösing: „Ist die Burnout-Forschung ausgebrannt?<br />

Analyse und Kritik der internationalen<br />

Burnout-Forschung“. Asanger Verlag 2003<br />

Andreas Hillert und Michael Marwitz:<br />

„Die Burnout-Epidemie oder Brennt die Leistungsgesellschaft<br />

aus?“. Verlag C.H.Beck 2006<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


ätselseite<br />

kreuz und quer<br />

93<br />

Fünf Fragen – fünf Lösungen – fünf Gewinne<br />

<strong>Umwelt</strong> bezeichnet die den Menschen umgebende Welt in unterschiedlichen<br />

Zusammenhängen. Einschneidende Veränderungsprozesse<br />

sind in nahezu allen Bereichen zu beobachten: in unserem sozialen<br />

Umfeld genauso wie in der Natur, in und von der wir leben. Wir werfen<br />

ein Schlaglicht auf fünf Aspekte dieser komplexen Problematik und stellen<br />

Ihnen hierzu jeweils eine Frage. Wer die richtigen Lösungen findet,<br />

kann mit etwas Glück auch zu den Gewinnern eines der fünf attraktiven<br />

Preise gehören. Und so geht’s: Zu jeder Frage gibt es nur ein Lösungswort.<br />

Lösen Sie die Fragen in beliebiger Reihenfolge, und tragen Sie<br />

die jeweiligen Lösungswörter in das Kreuzworträtselraster ein – wo,<br />

das müssen Sie selbst herausfinden. Bitte beachten Sie dabei, dass<br />

Umlaute (ä, ö, ü) ausgeschrieben (ae, oe, ue) werden.<br />

Setzen Sie die Buchstaben, die in mit Ziffern versehenen Kästchen<br />

stehen, in die richtige Reihenfolge, und Sie erhalten das Lösungswort.<br />

Schicken Sie eine Postkarte mit dem Lösungswort an:<br />

F.A.Z.-Institut<br />

Redaktion <strong>ThyssenKrupp</strong> Magazin<br />

Postfach 20 01 63<br />

60605 Frankfurt am Main<br />

Oder schicken Sie eine E-Mail an: thyssenkrupp_<strong>magazin</strong>@faz-institut.de.<br />

Einsendeschluss ist der 15. Mai 2008. Alle Gewinner werden schriftlich<br />

benachrichtigt. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.<br />

Und nun viel Spaß!<br />

3<br />

1<br />

7<br />

4 2<br />

Auflösung der Seite „forum_wissens_wert“:<br />

Die gesuchte Person aus „Wer war’s“: Jacques-Yves Cousteau<br />

6<br />

5<br />

Unter allen Einsendern einer<br />

richtigen Lösung verlosen wir<br />

fünf Gutscheine im Wert<br />

von je 100 Euro für amazon.de.<br />

Frage 1<br />

Alexandre Edmond Becquerel gilt als<br />

Vater der Photovoltaik. Der französische<br />

Forscher stellte gegen Mitte des<br />

19. Jahrhunderts fest, dass bei einem<br />

galvanischen Element im Sonnenlicht<br />

mehr Strom erzeugt wird als bei einem<br />

galvanischen Element im Schatten.<br />

Aus welchem Grundmaterial bestand<br />

die erste – mit einem Wirkungsgrad<br />

von 1,5 Prozent allerdings noch nicht<br />

sonderlich effektive – Solarzelle, die<br />

ein amerikanischer Forscher, auf den<br />

Entdeckungen Becquerels aufbauend,<br />

herstellte?<br />

Frage 2<br />

Als Krankheitsbild einer schnelllebigen<br />

sozialen <strong>Umwelt</strong> ist Burnout heute in<br />

aller Welt bekannt. Bereits 1936 wurde<br />

„Stress“ in einer wissenschaftlichen<br />

Publikation identifiziert und definiert.<br />

„Ich habe allen Sprachen ein neues<br />

Wort geschenkt“, sagte der „Vater der<br />

Stressforschung“ bei der Zusammenfassung<br />

seines Lebenswerks. Wer war<br />

es (Nachname)?<br />

Frage 3<br />

Es gehört von jeher zu den Ängsten der<br />

Menschen, dass die verlässlichen und<br />

unumstößlichen Gesetze der Natur<br />

außer Kraft gesetzt werden könnten.<br />

Diese Erfahrung lässt auch Shakespeare<br />

seinem Protagonisten Macbeth<br />

zuteil werden: Er muss nur dann um<br />

Macht und Leben fürchten, wenn sich<br />

ein eigentlich unverrückbarer Teil der<br />

Natur auf ihn zubewegen wird. Welcher<br />

Teil der Landschaft von Birnam<br />

marschiert ihm schließlich entgegen?<br />

Frage 4<br />

Die globale Erwärmung bringt das<br />

„ewige Eis“ der Pole zum Schmelzen.<br />

Die Träume früherer Entdecker und<br />

heutiger Reeder könnten dadurch wahr<br />

werden: eine schnellere Seepassage<br />

nach Asien und ein eisfreier Nordozean.<br />

Die erste Gesamtdurchfahrt der<br />

Nordostpassage – mit einer Überwinterung<br />

– gelang im 19. Jahrhundert<br />

einem Skandinavier. Wie heißt das<br />

Schiff, mit dem er unterwegs war?<br />

Frage 5<br />

Seit Anfang 2006 deckt ein Dorf in<br />

Deutschland nicht nur den kompletten<br />

Energiebedarf seiner Einwohner mittels<br />

regenerativer Energieträger, sondern<br />

erzeugt durch Nutzung der in ortsansässigen<br />

land- und forstwirtschaftlichen<br />

Betrieben anfallenden Biomasse<br />

sogar doppelt so viel Biostrom, wie es<br />

selbst verbraucht. Wie heißt Deutschlands<br />

erstes „Bioenergiedorf“?<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


perspektiven_interview<br />

»DIE MENSCHHEITSGESCHICHTE<br />

IST EINE GESCHICHTE<br />

DER BEWEGUNG«<br />

Ist Migration ein Naturereignis? Und wie verändert<br />

weltweite Wanderung unsere soziale <strong>Umwelt</strong>?<br />

Ein Gespräch mit dem Historiker und<br />

Publizisten Professor Karl Schlögel über den<br />

„Planeten der Nomaden“<br />

Herr Professor Schlögel, wenn Medien über Migration berichten,<br />

stellen sie dieses Phänomen häufig als Naturereignis dar:<br />

Metaphern wie Migrantenströme oder Asylantenflut vermitteln,<br />

dass diese Vorgänge von Natur aus ablaufen. Liegt Migration, liegt<br />

Wandern tatsächlich in der Natur des Menschen?<br />

Karl Schlögel: Es ist zunächst ein menschengemachtes Ereignis, weil<br />

Menschen sich in Bewegung setzen. Dass man zu diesen Metaphern<br />

greift, hat etwas mit dem überwältigenden Geschehen zu tun: Es<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


95<br />

eines buchstäblich überwältigenden Geschehens, dem die politischen<br />

Mechanismen hilflos gegenüberstehen. Man kann diese Prozesse in<br />

gewisser Weise steuern, moderieren. Aber man ist nicht Herr des Geschehens.<br />

Zum Teil handelt es sich hier auch wirklich um einen Naturvorgang.<br />

Denn in vielen Fällen ist Wanderung ausgelöst von Naturkatastrophen<br />

– beispielsweise Dürren, gefolgt von Hungersnot oder<br />

permanenten Überflutungen. Nicht alle Fluchtbewegungen sind Folge<br />

von Kriegen oder ethnischen Säuberungen. Es gibt immer mehr auch<br />

die Flucht vor Naturereignissen.<br />

Eine Entwicklung, die noch weiter zunehmen könnte?<br />

Ich glaube schon. Mich wundert, wie beharrlich der Mensch ist, obwohl<br />

es in bestimmten Regionen auf längere Sicht immer wieder diese Ausnahmezustände<br />

gibt. Wenn man sich die wiederkehrenden Nachrichten<br />

über die Überschwemmungen im Gangesdelta anschaut, kann man nur<br />

»Mich wundert,<br />

wie beharrlich der Mensch ist.«<br />

staunen, wie zäh der Mensch an seinen Orten festhält. Oder Erdbeben:<br />

Menschen haben sich damit abgefunden, auf kontinentalen Rissen zu<br />

leben – obwohl klar ist, dass irgendwann große Städte, Millionenstädte<br />

in Trümmern liegen werden.<br />

sprengt die Dimension, mit der man normalerweise glaubt, gesellschaftliche<br />

Vorgänge behandeln zu können. Es übersteigt den Einflussbereich<br />

von Gesetzgebung, von politischen Entscheidungen, von<br />

Verträgen. Man kann auf internationalen Konferenzen beschließen, die<br />

Grenzen zu schließen. Aber das ist natürlich eine völlig hilflose Aktion<br />

gegenüber dem faktischen Wanderungsdruck und der faktischen Intelligenz,<br />

die sich in solchen Menschenströmen ansammeln und die ihren<br />

Weg finden werden. Die Metaphern sind damit hauptsächlich Ausdruck<br />

Naturkatastrophen oder Zwangsmigration durch Kriege sind<br />

Extremsituationen. Aber was die alltägliche Migration antreibt, ist<br />

doch häufig die Suche nach Arbeit, nach einer ökonomischen<br />

Grundlage. Kann man sagen, dass die Unternehmen selbst es sind,<br />

die diese Migration antreiben, indem sie Arbeit überhaupt erst<br />

ermöglichen?<br />

Hauptmotor der Migration sind sicherlich die Wirtschaftsaktivitäten und<br />

da wahrscheinlich – aber nicht nur – die Unternehmen. Sie schaffen die<br />

Grundlagen für Lebenserwerb. Das gilt nicht nur für die Migration, wie<br />

wir sie in Europa vor Augen haben. Wenn weite Teile Afrikas oder Lateinamerikas<br />

entblößt sind und die Menschen vom Land in die Städte überströmen,<br />

dann deswegen, weil es offensichtlich immer weniger Lebens- 3<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


perspektiven_interview<br />

96<br />

»Die Beschleunigung der Bewegung führt<br />

zu einer unglaublichen Komplizierung der Lebensverhältnisse.«<br />

3 und Verdienstmöglichkeiten auf dem flachen Land gibt. Dass die Bevölkerung<br />

ganzer Kontinente sich in diesen Megalopolen niederlässt, ist ein<br />

Vorgang von historischer Dimension. 2008 wird immer angegeben<br />

als das Jahr, in dem erstmals mehr als die Hälfte der Menschheit in<br />

Städten lebt. Das ist tatsächlich ein epochales Datum. Es bedeutet,<br />

dass die traditionelle Lebensform auf dem Land für mehr als die Hälfte<br />

der Bevölkerung nicht mehr die Basis darstellt, sondern dass sie ihr<br />

Leben neu begründen müssen durch Arbeit in diesen Megalopolen.<br />

Eines Ihrer Essays trägt den Titel „Planet der Nomaden“. Ist der<br />

Zustand der Bewegung, also die Migration, das Normale für den<br />

Menschen?<br />

Die Menschheitsgeschichte ist eine Geschichte der Bewegung, und es<br />

gab immer Wanderung, auch über große Distanzen hinweg. Es hat aber<br />

eine unglaubliche Beschleunigung gegeben. Innerhalb einer Generation<br />

gibt es plötzlich dieses Phänomen, dass fast niemand mehr an dem<br />

Ort stirbt, an dem er geboren wurde. Dieser Sprung ist eine Entwicklung<br />

der allerneuesten Zeit, die mit der Auflösung der traditionellen, vor<br />

allem der ländlichen Gesellschaft zu tun hat. Dadurch werden die<br />

Verhältnisse mobil, unüberschaubar, geradezu fließend. Früher war<br />

man aufgehoben in einem Leben, das ohne große Änderungen an Ort<br />

und Stelle weiterging. Nun wechselt man innerhalb kürzester Zeit vielleicht<br />

sogar mehrmals den Lebensort und den Arbeitsort; es begegnen<br />

sich Menschen, die sich sonst nie begegnet wären. Mit dieser Komplizierung<br />

der Lebensverhältnisse fertig zu werden, erfordert eine Schule,<br />

ein Training in Indifferenz: Man kann sich gar nicht auf alles einlassen,<br />

sonst würde man verrückt. Man muss Differenzen ignorieren können<br />

und Dinge ausschalten. Die kulturelle Leistung, mit dieser Komplexität<br />

und mit dieser permanenten Bewegung leben zu können, ist ungeheuer.<br />

Es ist auch eine der zivilisatorischen Leistungen des 20. Jahrhunderts,<br />

dass man gar nichts Besonderes mehr daran findet.<br />

Sind dann die Migranten die Avantgarde dieser kulturellen Leistung,<br />

weil sie am meisten gezwungen sind, mit dieser permanenten<br />

Bewegung zurechtzukommen?<br />

Von denjenigen, die gezwungen sind, sich von heute auf morgen neu<br />

zurechtzufinden, die sich neu einrichten und Fuß fassen, sich neu aufstellen<br />

müssen, wie man heute sagt, ist ein Höchstmaß an Wachheit, an<br />

intelligenter Organisation des Lebens, an Findigkeit gefordert. Mehr als<br />

von denen, die immer schon da gewesen sind und sich eingerichtet<br />

haben. Insofern stimmt das. Aber man sollte die Avantgarderolle der<br />

Migranten nicht romantisieren. Die Intaktheit der Routinen, des funktionierenden<br />

Lebensalltags einer großen Stadt ist das Werk derer, die<br />

schon immer da sind und den Betrieb am Laufen halten. Das ist die<br />

Voraussetzung dafür, dass die Integration neuer Bürger funktionieren<br />

kann. Sie werden vielleicht fragen, ob es Grenzen gibt für diese<br />

Leistung. Ja, wahrscheinlich gibt es die.<br />

Ist die Grenze vielleicht schon erreicht, und suchen wir deshalb<br />

vermehrt unseren Halt in virtuellen Räumen, um mit der Unüberschaubarkeit<br />

der Lebensverhältnisse zurechtzukommen?<br />

Vielleicht suchen wir ihn in virtuellen Räumen. Sehr stark aber in ideologischen,<br />

symbolischen Räumen: Der neue Boom des Religiösen hat<br />

auch etwas damit zu tun, dass das Bedürfnis nach einer gewissen<br />

Orientierung steigt, je beweglicher und unüberschaubarer die Lebensverhältnisse<br />

werden. Auch dieser ungeheure Boom der Erinnerungskultur<br />

– dass man sich an bestimmten Orten oder Themen festhält, sozusagen<br />

festen Orten der Erinnerung – ist ein Komplement zu dieser<br />

rasenden Beschleunigung in der Globalisierung. Man braucht Punkte,<br />

an denen man Anker werfen kann. Orte spielen überhaupt eine große<br />

Rolle, heute vielleicht mehr als der Staat, dem man sich zurechnet. Man<br />

rechnet sich dann eben einer Stadt zu, ist nicht so sehr deutscher oder<br />

französischer Staatsbürger, sondern lebt in Paris, Berlin oder Frankfurt.<br />

Der konkrete Ort gewinnt damit an Bedeutung.<br />

Auch dadurch, dass sich die Menschen in den Städten konzentrieren<br />

und damit diesen Orten eine noch größere Bedeutung verleihen?<br />

Die Städte sind der Hauptort, wo sich alles abspielt. Man hat immer gesagt,<br />

dass es einen Bedeutungsverlust von Städten gebe. Ich glaube<br />

eher das Gegenteil: Diese Leistung und diese Rolle der Stadt, nämlich<br />

die Neuzugezogenen, die Immigranten, die provisorischen Besucher<br />

zu permanenten Bürgern eines Gemeinwesens zu machen, ist eher<br />

gewachsen. Die Stadt ist Schule des Zusammenlebens, Schule des<br />

Konfliktaustragens, Schule, wo aus irgendwelchen fremden Leuten<br />

Teile einer irgendwie funktionierenden Gemeinschaft werden. 7<br />

DAS GESPRÄCH FÜHRTE ALEXANDER SCHNEIDER | FOTOS: NICOLE MASKUS<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


97<br />

Der Historiker und Publizist Professor<br />

Karl Schlögel, Jahrgang 1948, hat an<br />

der Freien Universität Berlin, in Moskau<br />

und St. Petersburg Philosophie, Soziologie,<br />

Osteuropäische Geschichte und Slawistik<br />

studiert und lehrt heute osteuropäische<br />

Geschichte an der Europa-Universität<br />

Viadrina in Frankfurt/Oder. In seinem Essay<br />

„Planet der Nomaden“ beschreibt er als<br />

scharfsinniger Beobachter Ursachen<br />

und Folgen der globalen Migration. 2005<br />

erhielt er den Hamburger Lessing-Preis,<br />

zuvor 2004 unter anderem den Sigmund-<br />

Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa<br />

der Deutschen Akademie für Sprache und<br />

Dichtung.<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar


ückblick<br />

98<br />

Verantwortung ist einer der wichtigsten<br />

Grundwerte unserer Gesellschaft. Verantwortung<br />

übernehmen heißt, die<br />

möglichen Folgen des eigenen Handelns<br />

auch in seinen Auswirkungen auf andere<br />

Menschen, auf unsere <strong>Umwelt</strong> und auf die<br />

Zukunft unserer Welt zu bedenken. Das<br />

Magazin zeigt, was <strong>ThyssenKrupp</strong> unter<br />

Verantwortung versteht. Ein Interview<br />

mit dem Dalai Lama über universelle und<br />

individuelle Verantwortung verdeutlicht<br />

dies ebenso wie ein Gespräch mit Gesine<br />

Schwan zur Verantwortung von Staat und<br />

Unternehmen. Ob Venedig vor der Überflutung<br />

geschützt werden soll, innovative<br />

Technologien den verantwortungsbewussten<br />

Umgang mit Emissionen und Energie<br />

erleichtern oder Tsunamihilfe in Südindien<br />

geleistet wird – in einer globalisierten<br />

Welt ist Verantwortung im wahrsten Sinne<br />

grenzenlos. 7<br />

Globale Ansichten können der Blick des<br />

deutschen Fotografen auf die Gastheimat<br />

Shanghai sein oder das Streitgespräch<br />

zwischen Globalisierungsbefürworter und<br />

Globalisierungsskeptiker. Dieses Magazin<br />

handelt genauso von interkulturellen<br />

Grenzgängen wie von grenzüberschreitendem<br />

Brückenbau. Es geht um Wissenschaftler<br />

und Entwicklungsingenieure,<br />

die der Technik in einer zunehmend vernetzten<br />

Welt durch neue Verfahren und<br />

Werkstoffe neue Wege öffnen und helfen,<br />

globale Probleme wie die Wasserknappheit<br />

zu bekämpfen, aber auch um den<br />

Eintritt in neue Märkte. Internationalität<br />

bedeutet, gemeinsame Ansätze über<br />

Ländergrenzen hinweg zu verfolgen und<br />

gemeinsame Ziele auf unterschiedlichem<br />

Wege zu erreichen – und dabei voneinander<br />

zu lernen. 7<br />

Das aktuelle Magazin und bereits<br />

erschienene Magazine können Sie unter<br />

www.thyssenkrupp.com in der Service-<br />

Navigation unter „Publikationen“ bestellen.<br />

impressum<br />

Herausgeber: <strong>ThyssenKrupp</strong> AG,<br />

Dr. Jürgen Claassen,<br />

August-Thyssen-Straße 1,<br />

40211 Düsseldorf,<br />

Telefon: +49 211 824-0<br />

Projektleitung bei <strong>ThyssenKrupp</strong>: Barbara Scholten<br />

Der Inhalt der Beiträge gibt nicht in jedem Fall<br />

die Meinung des Herausgebers wieder.<br />

Nachdruck nur mit Quellenangabe und Belegexemplar.<br />

Verlag und Redaktion: F.A.Z.-Institut für Management-,<br />

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Geschäftsführung: Volker Sach, Dr. André Hülsbömer<br />

Projektleitung: Ludger Kersting<br />

Redaktion: Anke Bryson (verantwortlich), Alexander Schneider<br />

Art Director: Wolfgang Hanauer<br />

Autoren: Sarah Bautz, Anke Bryson, Françoise Hauser,<br />

Daniel Schleidt, Alexander Schneider, Tim Schröder,<br />

Dr. Melanie Thielking, Margit Uber, Jan Voosen, Inka Wichmann<br />

Bildquellen: Archivo Museo Salesiano (S. 87 oben), Peter<br />

Arnold (S. 30), David Ausserhofer/Intro (S. 28), Daniel Beltra/<br />

Greenpeace (S. 87 unten), Bridgeman Art Library (S. 75),<br />

cinetext (S. 11, 88-92), corbis (S. 10, 11, 40, 76, 80), Getty<br />

Images (S. 11, 26, 50, 52, 56, 78), Hanauer Grafik Design<br />

(S. 24, 58-63), Huber/laif (S. 51), Lineair/Das Fotoarchiv<br />

(S. 42-43), National Geographic (S. 85 unten), Picture-<br />

Alliance/dpa (S. 2-3, 8, 11, 26, 32-35, 70-75, 79, 81, 99),<br />

Vera Schimetzek (S. 81 oben), Solartaxi.com (S. 27), UNEP<br />

(S. 6-7, 82, 83), USGS (S. 85 oben), Tony A. Weyiouanna Sr.<br />

(S. 84), Javier Larrea (S. 54), Zuder/laif (S. 78)<br />

Litho: Goldbeck Art, Frankfurt am Main<br />

Druck: Kuthal Druck, Mainaschaff<br />

TK Magazin | 1 | 2008 | Januar

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