Stefan Münker und Alexander Roesler Vom Mythos zur Praxis
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Stefan Münker und Alexander Roesler
Vom Mythos zur Praxis
Auch eine Geschichte des Internet
Als das Internet Mitte der 90er Jahre seinen globalen Siegeszug begann, waren die
Erwartungen groß – zu groß. Und so machte, noch bevor die meisten wussten, wie sie
einen Webbrowser zu bedienen hätten und durch die digitale Netze navigieren sollten,
ein Mythos seine Runde: der Mythos einer schönen neuen Welt, in der jenseits
räumlicher und zeitlicher Beschränkungen Orte zur Verwirklichung utopischer Visionen
entstehen würden. Mit der zunehmenden technischen Realisierung der Netzwelt wurde
es möglich und notwendig zugleich, den Mythos zu entzaubern 1 . Das aber ist nur die
eine Seite.
Denn, auch wenn die Erfindungen von Rad und Schrift, Druckerpresse, Dampfmaschine
oder Telefon zivilisationshistorisch bedeutsamer gewesen sein mögen, es gilt noch
immer: Kein Medium hat jemals zuvor so schnell so viele grundlegende gesellschaftliche
Änderungen und technische Innovationen mit sich gebracht wie das Internet; und dessen
Erfolgsgeschichte ist noch nicht am Ende. Das ist die andere Seite. Neue
Kulturtechniken – Stichwort: Email, Chat – sind entstanden und wirken auf alte zurück.
Wir kommunizieren und arbeiten anders, informieren uns schneller und bewegen uns
immer wieder neu durch eine tatsächlich irgendwie kleiner gewordene und auf jeden Fall
medial veränderte Welt. Heute ist das INTERnational NETwork für viele Teil des
alltäglichen Lebens: Es ist Motor ökonomischen Wachstums und wissenschaftlichen
Fortschritts, Instrument sozialen und politischen Handelns, Medium künstlerischen und
literarischen Schaffens, es ist Marktplatz, Darkroom, Labor, Archiv und Suchmaschine.
Und es ist vor allem eines – nicht mehr wegzudenken. An die Stelle der illusionären
Erwartungen sind pragmatische Anforderungen getreten: Anforderungen an die Technik
und ihre (Weiter-) Entwicklung ebenso wie an die Kompetenz, Flexibilität und den
Erfindungsreichtum derer, die sie nutzen. Leben und Handeln im elektronischer Raum ist
ein selbstverständlicher Ausdruck gesamtgesellschaftlicher Praxis – und längst Teil
menschlichen Lebens außerhalb der digitalen Sphäre.
Dass dies so gekommen ist, liegt paradoxerweise gerade auch an der Kraft des Mythos.
Seine utopische Erzählung von der möglichen Eroberung des Cyberspace als
bevorstehender Kolonialisierung eines neuen, fernen Kontinents ungeahnter
Möglichkeiten setzte Energien erst frei, um die enormen technologischen und
ökonomischen Anstrengungen in die Wege zu leiten, die zur Etablierung des Internets als
eines global funktionierenden und massenhaft genutzten Mediums notwendig waren –
und, so bleibt zu vermuten, für seinen zukünftigen Ausbau weiterhin notwendig sind.
Utopien jedoch, auch wenn sie motivierend wirken mögen, lassen sich nicht restlos in
Praxis umsetzen. Der letzte gesellschaftliche Bereich, der dies unter großen Verlusten in
Erfahrung gebracht hat, ist die Wirtschaft. Auch die vermeintlich rationalen Rechner der
local und global players des ökonomischen Systems haben, nach anfänglichem Zögern,
allzu euphemistischen Verheißungen schließlich geglaubt, sie in ihrem Sinne gedeutet, zu
instrumentalisieren versucht – und mussten dies teilweise teuer bezahlen. Die
ökonomischen Fehleinschätzungen sind paradigmatisch. Zwar ist das Internet im
Zeitalter der Globalisierung ein ebenso effizientes wie profitables Medium ökonomischen
Handelns – und man kann zurecht sagen, dass die von Marx prophezeite „Verschlingung
aller Völker in das Netz des Weltmarktes“ mit dem Internet ihre digitale Stufe erreicht
(Haug 619); keineswegs jedoch lassen sich die euphorischen Visionen eines
sogenannten „neuen“ und damit vermeintlich anderen Marktes umstandslos in das
existierende ökonomische System integrieren: Es gibt eben nur einen Markt.
Ironischerweise sagen die Pleiten der Internet-Startups und der Niedergang der
Dotcom-Aktien mehr über das Funktionieren der Börse als über das Internet. Dennoch
gilt: das Internet nach der Entzauberung des anfänglichen Hypes als bloßen Mythos
abtun hieße, das Kind mit dem Bad auszuschütten. Wie Mythos und Aufklärung
dialektisch verbunden sind, so bleibt das utopische Potential, das im Mythos verklärt
zum Ausdruck kommt, in die praktische Nutzung des Netzes wirkungsmächtig
verwoben.
Kurze Geschichte des Internet
„Wo Du bist, ist egal“ – und: „Was Du suchst, Du wirst es finden“. Mit diesen
Versprechen zieht das Internet uns User in seinen Bann. Die Verheißung, die aus der
Verknüpfung der Speicherkapazität der digitalen Maschinen mit den
Übertragungsmöglichkeiten der telematischen Medien spricht, klingt dabei tatsächlich
wie die Utopie einer glücklich gelungenen Globalisierung. Sie lautet: Alles ist immer
präsent – und jeder stets dabei. Was jeder heißt, verraten die Statistiken (die angesichts
des raschen Wachstums allerdings meist veraltet sind, bevor sie gedruckt werden):
Schätzte man vor fünf Jahren die Zahl der Nutzer noch auf insgesamt 50 bis 60
Millionen, liegen die Zahlen heute, im Jahr 2001, bei weltweit ca. 400 Millionen.
Annähernd 110 Millionen Hosts soll es geben, d.h. Computer, die mit einer eigenen
Internetadresse (IP) versehen sind. Im August 2001 hatte knapp die Hälfte der
deutschen Bevölkerung Zugang zum Internet. Die meiste Zeit verbringen die User damit,
im Netz einfach zu surfen, bei Online-Auktionen und auf Tauschbörsen nach
Schnäppchen zu jagen oder sich in ungezählten Chats und bei kollektiven
(Abenteuer)Spielen zu amüsieren bzw. unterhalten zu lassen. Zu den häufigsten
Tätigkeiten im Netz gehören – nach dem meist genutzten Feature des neuen Mediums,
der elektronischen Post – das Herunterladen von Dateien unterschiedlichen Inhalts, das
Online-Banking und -Shopping, das Buchen von Reisen, die Nutzung von
Dienstleistungsangeboten von Ämtern und Behörden sowie der Aktien- und
Wertpapierhandel und, last not least, der Besuch von Porno-Seiten.
Doch so rasant und spektakulär der Siegeszug des Internet seit Mitte der 90er Jahre
sich vollzogen hat, so langsam und unmerklich vollzog sich lange Zeit das Knüpfen des
Netzes der Netze:
Schuld an seiner Entstehung war, gewissermaßen, Sputnik; genauer: die Angst der
USA, nach der ersten erfolgreichen Erdumkreisung einer sowjetischen Rakete im
Kampf um die Vorherrschaft im All ins Hintertreffen zu geraten. Ende der 50er Jahre
ief das Pentagon aus diesem Grund unter anderem auch eine neue Forschungsgruppe
ins Leben, die sog. Advanced Resarch Project Agency, kurz: Arpa. Ein Jahrzehnt
später – der Kampf ums All war mit der gelungenen Landung von Apollo 11 vorläufig
zugunsten der Amerikaner entschieden, die wiederum kurz davor waren, mit dem
Rückzug aus Vietnam ihre größte Demütigung als Weltmacht zu erfahren – entwickelten
die Forscher der Arpa mit dem sog. Arpanet ein dezentrales Netzwerk, dessen
strategisches Ziel es war, Computer verschiedener Militärstützpunkte derart miteinander
verbinden sollte, das selbst nach einem Nuklearschlag die Kommunikation nicht
abreißen sollte. Die medienhistorische Pointe hinter dieser Entwicklung ist die
Umdeutung des Computers von einer Rechenmaschine in ein Kommunikationsmedium,
die, so ist es den Dokumentationen der Arpa zu entnehmen, auf deren zeitweiligen Leiter
J.C.R. Licklider zurückgeht. Im Herbst ’69 ging das Arpanet mit dem Zusammenschluss
der University of California in Los Angeles, dem Stanford Research Institute, der
University of Utah und der University of California in Santa Barbara online. Die Zahl der
angeschlossenen Universitäten, die das Netz jenseits seiner militärisch-strategischen
Aufgabe als neues Medium des wissenschaftlichen Informationsaustausches zu
entdecken begannen, stieg rasch an – und die technischen Möglichkeiten des Netzes
wurden beständig entwickelt: So wurde beispielsweise 1971 mit dem File-Transfer-
Protocol (FTP) die Möglichkeit des direkten Austausches von Dateien zwischen
einzelnen Rechnern ebenso wie mit dem Telnet die Möglichkeit des direkten Zugriffs auf
einen anderen angeschlossen Computer implementiert – und schließlich mit der
user@host-Konvention der Internet-Email-Dienst programmiert; 1973 wurde mit dem
Transmission Control Protocol (TCP) die für das weitere Wachstum entscheidende
Möglichkeit entwickelt, verschiedene Netze miteinander zu verknüpfen – im späteren
Zusatz TCP/IP (für Internet Protocol) erhielt das Netz auch offiziell seinen Namen.
1978 wurde das Arpanet-Experiment offiziell beendet, das Arpanet selber allerdings
erst 1990 endgültig abgeschaltet. Parallel zur Weiterentwicklung der technischen
Möglichkeiten innerhalb des Internet entstanden in den 80er Jahren mit den sog.
Bulletin Board Systems (BBS) weitere Computernetze – private wie das FidoNet
1983 oder 1985 WELL (Whole Earth ’Letronic Link) und kommerzielle wie
Compuserve und AOL, die zunächst, wenn auch nur für kurze Zeit, ohne Anschluss an
das Internet funktionierten. Als Compuserve 1989 seinen Gateway ins Internet
schaltete, war die Idee autonomer alternativer Netze de facto verabschiedet. Das
Internet umspannte seit Ende der 80er schließlich den Globus. Gleichwohl blieb es für
die breite Masse noch einige Jahre relativ unbekannt – nicht zuletzt, weil es recht
umständlich zu bedienen war. Die Lösung dieses Problems und den Internetboom erst
richtig ins Rollen brachte die Erfindung des World Wide Web durch Tim Berners-Lee
am Schweizer Forschungszentrum CERN im Jahr 1991. Das Netz wurde
multimediatauglich – und kam damit in der Gegenwart der damals bereits überall
herbeibeschworenen globalen Informationsgesellschaft an.
Mittlerweile sind die drei Buchstaben des WWW fast zum Synonym für das Internet
geworden – und kaum einer erinnert sich noch an die bilder- und tonlosen Zeiten der
Pioniertage des Netzes zurück, als die Programmlotsen, die durch das Datenmeer
führten, so schöne Titel trugen wie Gopher, Veronica oder Archie...
Der Rest der Geschichte ist bekannt: Das Internet hat sich in drei Stufen vom
strategischen Experiment des amerikanischen Militärs über eine internationale
Kommunikationsplattform der universitären Forschung zu einem zunehmend
kommerzialisierten Medium entwickelt, das für viele bereits das Attribut eines
„Tagesbegleitmediums“ verdient. Diese Geschichte aber ist noch lange nicht vorbei. Ihr
Weitergang wird vor allem durch drei Faktoren bestimmt: Durch 1) schnellere
Übertragungswege, 2) übersichtlichere Eingangsportale und 3) die zunehmende
(technische und inhaltliche) Konvergenz verschiedener Medien (wie des Fernsehens,
Radios oder des mobilen Telefons) mit dem Computer.
Das technische Herz der Utopie
Medien sind nicht neutral. Was sie sind, wird bestimmt durch das mehr oder weniger
offene Wechselspiel zweier Faktoren: ihrer technischen Beschaffenheit und ihrer
pragmatischen Verwendung. Setzt die technische Beschaffenheit die Parameter ihres
möglichen Nutzen – und bestimmt somit, was die Medien können –, so ist es die
pragmatische Verwendung, deren Geschichte erst darüber entscheidet, welchen Nutzen
wir tatsächlich aktualisieren – d.h., was wir mit Medien tun. Das Zentralmedium des
Gutenbergzeitalters beispielsweise, das Buch, lässt sich bereits aus technischen Gründen
nicht als interaktives Kommunikationsmedium nutzen; die verschiedenen literarischen
Gattungen wiederum, zu deren Verbreitung wir es verwenden, haben sich – Stichwort:
Roman – z.T. erst im Laufe seiner jahrhundertlangen Verwendungsgeschichte entwickelt
und auf der Basis der technischen Grundlagen zunehmend ausdifferenziert. Dem Telefon
hingegen, dem klassischen Kommunikationsmedium der Moderne, ist die Interaktivität
zwar technisch implementiert; dennoch wurde zu Beginn seiner Karriere zunächst damit
experimentiert, es wie das erst später entwickelte Radio zur Verbreitung z.B. von
Musikaufführungen zu verwenden 2 : die kulturelle Praxis der verbalen
Telekommunikation musste erst erfunden werden.
Das in diesem Kontext spezifische Merkmal der Geschichte des Internet nun ist die
Tatsache, dass hier der technisch fundierte mögliche Nutzen, statt in seiner
Aktualisierung zunehmend eindeutig definiert zu werden, im Verlauf der Verwendung
stets weiter gewachsen ist. Überspitzt formuliert: wir aktualisieren nicht nur, was das
Netz kann – das Netz lernt auch zu können, was wir von ihm wollen. Das wiederum
liegt ist im Wesentlichen daran, dass die Entwicklung und der Gebrauch des Internet auf
eine einzigartige Weise weitgehend parallel verlaufen sind. In dieser Parallelität steckt
neben der initialen Umdeutung der Rechenmaschine Computer zum
Kommunikationsmedium die zweite medienhistorische Pointe des Internet – und der
Grund für die ungewöhnlich flexible Struktur, die das Internet zu einem Medium sui
generis macht. Freilich: Flexibilität heißt nicht Beliebigkeit. Der Parameter des möglichen
Nutzens ist eindeutig – das Medium Internet lässt sich nur für Tätigkeiten verwenden,
die es mit digitalisierten Daten und ihrem telematischen Transport zu tun haben. (Wir
können eine Pizza oder ein Buch zwar online bestellen – nicht aber liefern ...) Es lässt
sich aber eben gleichzeitig für alles verwenden, was mit dem Austausch digitaler Daten
zu tun hat. (Und hier, so lässt sich prophezeien, sind der technischen und kulturellen
Phantasie noch lange keine Grenzen gesetzt ...)
Die Parallelität von Entwicklung und Verwendung des Internet lässt sich beispielhaft an
drei ebenso grundlegenden wie folgenreichen Prinzipien illustrieren, die der technischen
Struktur des Mediums implementiert sind – und sich in seinem pragmatischen Gebrauch
immer wieder fortschreiben: Den Prinzipien der Dezentralität, der Unabgeschlossenheit
und der Interaktivität.
Die dezentrale Struktur des Internet ist, zunächst, schlicht das Resultat der strategischen
Aufgabenstellung, die das Pentagon den Forschern des Arpanet vorgegeben hatte:
einen, s.o., möglichen Zusammenbruch der Kommunikation zwischen den eigenen
Streitkräften als Folge eines gegnerischen militärischen Angriffs zu vermeiden. Die
Lösung bestand in der Entwicklung des für das Internet bis heute typischen Weise des
Datentransports, in dem die zu übermittelnden Dateien in kleine Datenpakete aufgeteilt
werden, die sich, versehen mit den notwendigen Informationen über Sender und
Adressat, einzeln und selbständig ihren Weg durch das telematische Netz ans
vorgesehene Ziel suchen: Wenn, so die Idee, keiner weiß, welchen Weg die Daten
nehmen, kann auch niemand diesen Weg zerstören. Mit der Aussicht auf die technische
Umsetzung dieser Idee waren die Militärs zufrieden – und schickten das Arpanet online.
Aus militärischen Gesichtspunkten jedoch erwies sich die Technik als ein
Danäergeschenk: weil niemand kontrollieren kann, welchen Weg Daten im Internet
nehmen, läßt sich die Internet-Kommunikation auch nicht mehr zentral überwachen. Das
Pentagon hat daraus gelernt – und geht in der telematischen Kommunikation längst
eigene Wege. Mit dem in die Internet-Technik implementierten Prinzips der Dezentralität
aber war zugleich die erste für die weitere praktische Nutzung immer wieder
wirkungsmächtige Idee geboren: die Idee des Unkontrollierbaren.
Als für die weitere Kulturgeschichte des Netzes ungemein fruchtbaren Boden erwiesen
sich dann die Institutionen der wissenschaftlichen Community, in denen das Arpanet
zuerst online ging, um weiterentwickelt zu werden. Die Übernahme einer im Auftrag des
Pentagon erdachten technologischen Struktur in universitäre Zirkel brachte eine
grundlegende erste Veränderung des militärischen Gedankens mit sich. Was als
Abwehrstrategie eines feindlichen Angriffs begann, wurde entlang der technisch
implementierten Möglichkeiten neu interpretiert und als Kommunikationsstruktur für der
wissenschaftlichen Forschung ausgebaut – und erhielt hier neue, auf die spezifischen
Bedürfnisse der argumentativen und tendenziell nicht-strategischen Kommunikation des
wissenschaftlichen Diskurses ausgerichtete Impulse. Dabei stellte sich schon bald mit
dem Wachstum des Netzes ein nächstes Problem – es galt, eine Möglichkeit zu
schaffen, unterschiedliche Rechnersysteme verschiedener Universitäten zu verbinden.
Die Lösung dieses Problems bestand in der Entwicklung des internet-spezifischen
Übertragungsprotokolls (TCP/IP), das es (wie bereits erwähnt) erlaubt,
unterschiedlichste technologische Plattformen miteinander zu vernetzen: zum Prinzip der
Dezentralität trat damit das Prinzip der Unabgeschlossenheit – und das Internet gibt es
strenggenommen seither nur noch im Plural; nur noch als, im Wortsinne, „Netz der
Netze“, das sich als globaler Verbund unterschiedlicher einzelner Netzwerktechniken
und Rechnerarchitekturen realisiert und dabei zumindest grundsätzlich auf ein schier
unbegrenztes Wachstum angelegt ist. Das Internet überbrückt nicht nur Räume in
Sekundenschnelle, sondern unterliegt auch selber keinen virulenten räumlichen
Beschränkungen. Und auch hier gilt wieder, dass die technisch implementierte
Unabgeschlossenheit sich als eine die weitere Praxis der Netznutzung leitende Idee
erweisen sollte – als die Idee der prinzipiellen Offenheit der Netzkommunikation und
ihrer technischen Basis. Offen ist das Netz dabei nicht nur für unterschiedliche digitale
Techniken und für potentiell unendliche digitale Daten – offen ist es auch für
verschiedenste Formen der Nutzung. Wir können im Chat (wie am Telefon) in Echtzeit
oder per Mail (wie im Brief) versetzt miteinander kommunizieren, über Online-Archive
(wie aus Bibliotheken) Informationen abrufen oder per FTP (wie per Paketdienst)
Dateien versenden, uns über Webcams Videodateien (wie im Fernsehen) tatsächlich live
anschauen oder auf Websites gespeicherte Videodateien aus dem Netz (wie aus einer
Videothek) herunterladen, etc. pp.: immer nutzen wir das Medium Internet anders – und
nutzen es dabei gewissermaßen als ein anderes Medium.
Für das Netz gilt, in Abwandlung der prominenten Formel McLuhans: the medium is
its practice. Darin steckt eine dritte medienhistorische Pointe des Internet – das
Medium Internet nämlich ist im wesentlichen auch als eine Praxis zu verstehen. Die
Offenheit der technischen Basisstruktur macht eine auch nur annähernde vollständige
und eindeutige Beschreibung der (zukünftigen) medialen Möglichkeiten des Netzes
unmöglich; das heißt m.a.W.: auch die Praxis, als die das Medium Internet zu verstehen
ist, ist grundsätzlich offen.
Offen ist das Internet für die Entwicklung immer neuer technischer Erweiterungen
ebenso wie für die Erfindung alternativer Praktiken seiner Nutzung: und oft genug stand
der Wunsch nach einer anderen Nutzung am Anfang der Entwicklung des hierzu
notwendigen Programms. Offen ist das Netz dabei aber immer – und vielleicht: vor
allem – in zweierlei Richtungen. Denn das Internet ist in einem zentralen Sinn interaktiv.
Nicht anders als die Dezentralität und die Unabgeschlossenheit ist seine Interaktivität
dem Medium Internet als technisches Prinzip implementiert; anders gesagt: die
Kommunikationsstruktur, als welche das Internet entwickelt wurde, ist – Resultat der
strategischen Erfordernis nach Flexibilität – von Anfang an und unwiderruflich so
realisiert, dass theoretisch jeder User Sender und Empfänger in einer Person sein kann.
Kommunikation allerdings ist per definitionem interaktiv; und ihre mediale Umsetzung
hat – Stichwort: Brief, Telefon – immer schon medienspezifische Formen der
Interaktivität hervorgebracht. Das Besondere am Internet ist hier zunächst, dass es
verschiedenste Formen interaktiver Kommunikation in einem Medium vereint: dass es
uns erlaubt, Informationen zeitgleich oder zeitlich versetzt auszutauschen; und dass es
dies für jedwede digitalisierte bzw. digitalisierbare Art von Informationen erlaubt: Texte,
Bilder, Töne. Darüber hinaus ist das Internet ja nicht nur ein Medium der
Kommunikation – sondern zugleich ein Distributions- und Speichermedium. Klassische
Verbreiterungsmedien oder Archive aber sind gerade nicht interaktiv. Die Möglichkeit,
über das Internet gespeicherte Daten interaktiv zu verbreiten und zu kommunizieren, ist
mithin neu – und sie war und ist ein Grund für die Hoffnung, im Netz einen
demokratischen Umgang mit Informationen etablieren und einüben zu können.
Nun liest sich die Geschichte der elektronischen Medien freilich immer schon auch als
eine Geschichte der die Entstehung jedes neuen Mediums begleitenden demokratischen
Utopien – man denke nur an Brechts berühmte Radiotheorie! Dass weder das Radio
noch später das Fernsehen die zeitweise in sie gelegten politischen Hoffnungen erfüllen
konnten, hat allerdings zugleich einen schlichten Grund: technisch nämlich sind die beiden
großen Erfolgsmedien des zwanzigsten Jahrhunderts als One-Way-Medien realisiert;
m.a.W.: Mit Radio oder Fernsehen lassen sich nur Programme ausstrahlen, die von den
Empfängern passiv empfangen werden. (Wollen diese ihrerseits senden, müssen sie die
notwendige Technik erst erwerben und zu handhaben lernen – ein, im Vergleich zum
Internet, relativ mühseliges und kostenintensives Unterfangen. Auch bleibt eine Kontrolle
entsprechender Sender prinzipiell möglich – und sollte man die Sendequelle einmal nicht
orten können, genügt ein Störsignal auf der entsprechenden Frequenz, und die
Übertragung ist unterbrochen. Die wechselvolle Geschichte des unabhängigen Radios B
92 in Belgrad, dass zur Zeit des Milosevic Regimes vier Mal seinen Betrieb einstellen
musste, ist hierfür nur ein letztes Beispiel – aber ein interessantes: denn nach der
Besetzung des Senders durch Regierungstruppen verlagerte B92 seine Aktivitäten
immer wieder erfolgreich ins Internet...) – Im Falle von Radio und Fernsehen nun ist die
nicht realisierte Interaktivität nicht nur entscheidend für das Scheitern der in sie gesetzten
gar zu utopischen Hoffnungen; sie ist zugleich der wichtigste Garant ihres Erfolgs.
Pointiert formuliert: der Verzicht auf Interaktivität ist die Bedingung der Möglichkeit von
Massenmedien.
Dies bedeutet aber auch, dass das Internet, so massenhaft es auch genutzt wird, als
Massenmedium falsch beschrieben ist. Genauer: Das Netz läßt sich zwar unter
bestimmten Umständen wie ein Massenmedium nutzen (etwa um live ein Popkonzert zu
übertragen) – es läßt sich aber nicht als Massenmedium definieren (denn es kann im
Unterschied zu den klassischen Massenmedien immer auch anders verwendet werden).
Die Aussicht, dass die massenmediale Nutzung die dominante werden wird, ist äußerst
gering – denn in der dezentralen Struktur des Netzes ist ein archimedischer Punkt, von
dem aus eine massenmediale Versorgung der Netizens erst möglich wäre, nicht
vorgesehen.
Ideal und Faktizität
Unkontrollierbar, prinzipiell offen und irreduzibel interaktiv: das Internet war von Anfang
an die perfekte Plattform für alternative politische Ideen. Radikal-demokratisch, ja,
anarchistisch – an den Rändern des Netzes, im Kreis der über die amerikanischen
Universitäten vernetzten programmierenden Hippies und ersten Hacker der grass-root
Bewegungen der 70er Jahre wurde der Mythos Internet geboren. 30 Jahre später – und
nicht allein durch die nach der Einführung des World Wide Webs eingesetzte
Kommerzialisierung – ist jedoch klar: als Heilsversprechen einer tatsächlich anderen, u-
topischen Welt ist der Mythos gestorben. Klar aber ist nun auch, dass jede richtige
Kritik am Mythos Internet eine Kritik an der falschen Verklärung einer dem Medium
Internet gleichwohl eigenen, weil technisch implementierten Idealität ist. Das wiederum
heißt zugleich: sowenig die utopischen Impulse der Netzgemeinschaft(en) sich gesamt-
gesellschaftlich umsetzen ließen, sowenig läßt sich das Internet je vollständig
gesellschaftlich integrieren und politisch, sozial oder ökonomisch regulieren.
Abstrakter formuliert: Das Internet trägt die Signatur einer ebenso intrinsischen wie
irreduziblen Differenz: der Differenz zwischen dem, was das Netz der Netze technisch
(auch) ist – und dem, als was es faktisch (zumeist) erscheint. Gespeist wird diese
Differenz aus der Spannung zwischen dem anarchistischen Potential des Internets und
den normativen Regeln seines gesellschaftlichen Umfelds. Intrinsisch ist die Differenz,
weil die dem anarchistischen Potential zugrundeliegenden Ideale dem Medium technisch
implementiert sind; irreduzibel ist sie zugleich, weil diese Ideale in keiner pragmatisch
vorstellbaren Gesellschaft realisiert werden könnten. Und so schreibt sich die Differenz
von Ideal und Faktizität auf eine historisch einzigartige Weise in jeder weiteren Nutzung
des Internets fort. Das Verhältnis vom Medium Internet zum System Gesellschaft ist, um
es mit einem Begriff Derridas zu formulieren, geprägt durch eine Logik der
Supplementarität: wie die Gesellschaft auf jeden Impuls des Internets mit neuen
Regulierungen antworten wird, reagiert das Netz auf Integrationsversuche der
Gesellschaft mit neuen Formen subversiver Unterwanderung. (Man denke nur an das
Beispiel napster: kaum hatten die US-Gerichte den Betrieb der Musiktauschbörse de
facto lahmgelegt, kursierten haufenweise Links zu alternativen Servern, die teilweise gar
besser funktionierten als das Original – eine Entwicklung, angesichts derer fraglich ist,
ob Bertelsmann aus dem Erwerb von napster den erwarteten Profit wird erwirtschaften
können ...)
Das Internet, so lautet eine Konsequenz, bleibt unkontrollierbar, offen und interaktiv –
oder es ist nicht. (Einzig ein totalitärer Weltstatt könnte das anarchistische Potential des
Netzes kontrollieren: indem er es abschaltete.)
1
2
S. Münker / A. Roesler (Hg.), Mythos Internet, Frankfurt: Suhrkamp 1997.
Siehe hierzu: John Durham Peters, „Das Telefon als theologisches und erotisches
Problem“, in: S. Münker / A. Roesler (Hg.), Telefonbuch. Beiträge zu einer
Kulturgeschichte des Telefons, Frankfurt: Suhrkamp 2000, Seite 61-82.