Stefan Münker und Alexander Roesler Vom Mythos zur Praxis
unbegrenztes Wachstum angelegt ist. Das Internet überbrückt nicht nur Räume in
Sekundenschnelle, sondern unterliegt auch selber keinen virulenten räumlichen
Beschränkungen. Und auch hier gilt wieder, dass die technisch implementierte
Unabgeschlossenheit sich als eine die weitere Praxis der Netznutzung leitende Idee
erweisen sollte – als die Idee der prinzipiellen Offenheit der Netzkommunikation und
ihrer technischen Basis. Offen ist das Netz dabei nicht nur für unterschiedliche digitale
Techniken und für potentiell unendliche digitale Daten – offen ist es auch für
verschiedenste Formen der Nutzung. Wir können im Chat (wie am Telefon) in Echtzeit
oder per Mail (wie im Brief) versetzt miteinander kommunizieren, über Online-Archive
(wie aus Bibliotheken) Informationen abrufen oder per FTP (wie per Paketdienst)
Dateien versenden, uns über Webcams Videodateien (wie im Fernsehen) tatsächlich live
anschauen oder auf Websites gespeicherte Videodateien aus dem Netz (wie aus einer
Videothek) herunterladen, etc. pp.: immer nutzen wir das Medium Internet anders – und
nutzen es dabei gewissermaßen als ein anderes Medium.
Für das Netz gilt, in Abwandlung der prominenten Formel McLuhans: the medium is
its practice. Darin steckt eine dritte medienhistorische Pointe des Internet – das
Medium Internet nämlich ist im wesentlichen auch als eine Praxis zu verstehen. Die
Offenheit der technischen Basisstruktur macht eine auch nur annähernde vollständige
und eindeutige Beschreibung der (zukünftigen) medialen Möglichkeiten des Netzes
unmöglich; das heißt m.a.W.: auch die Praxis, als die das Medium Internet zu verstehen
ist, ist grundsätzlich offen.
Offen ist das Internet für die Entwicklung immer neuer technischer Erweiterungen
ebenso wie für die Erfindung alternativer Praktiken seiner Nutzung: und oft genug stand
der Wunsch nach einer anderen Nutzung am Anfang der Entwicklung des hierzu
notwendigen Programms. Offen ist das Netz dabei aber immer – und vielleicht: vor
allem – in zweierlei Richtungen. Denn das Internet ist in einem zentralen Sinn interaktiv.
Nicht anders als die Dezentralität und die Unabgeschlossenheit ist seine Interaktivität
dem Medium Internet als technisches Prinzip implementiert; anders gesagt: die
Kommunikationsstruktur, als welche das Internet entwickelt wurde, ist – Resultat der
strategischen Erfordernis nach Flexibilität – von Anfang an und unwiderruflich so
realisiert, dass theoretisch jeder User Sender und Empfänger in einer Person sein kann.
Kommunikation allerdings ist per definitionem interaktiv; und ihre mediale Umsetzung
hat – Stichwort: Brief, Telefon – immer schon medienspezifische Formen der
Interaktivität hervorgebracht. Das Besondere am Internet ist hier zunächst, dass es
verschiedenste Formen interaktiver Kommunikation in einem Medium vereint: dass es
uns erlaubt, Informationen zeitgleich oder zeitlich versetzt auszutauschen; und dass es
dies für jedwede digitalisierte bzw. digitalisierbare Art von Informationen erlaubt: Texte,
Bilder, Töne. Darüber hinaus ist das Internet ja nicht nur ein Medium der
Kommunikation – sondern zugleich ein Distributions- und Speichermedium. Klassische
Verbreiterungsmedien oder Archive aber sind gerade nicht interaktiv. Die Möglichkeit,
über das Internet gespeicherte Daten interaktiv zu verbreiten und zu kommunizieren, ist
mithin neu – und sie war und ist ein Grund für die Hoffnung, im Netz einen
demokratischen Umgang mit Informationen etablieren und einüben zu können.