Dieser Bericht, vom 11.April 2000, ist als PDF-Dokument vorhanden ...
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B aumgart <strong>ist</strong> zurück. An einem<br />
Herbstmorgen, der nach feuchtem Laub<br />
riecht und nach dem Regen der Nacht,<br />
kehr Axel Baumgart zurück in sein<br />
kleines Bergdorf im Norden Navarras.<br />
Er <strong>ist</strong> durchgefahren, den ganzen Tag,<br />
die ganze Nacht, 26 Stunden in seinem<br />
roten VW Passat, Jahrgang 79. Er hat<br />
einen Liter Salzwasser getrunken und<br />
es wieder erbrochen, um diesen inneren<br />
Druck loszuwerden. Er hat geweint, bis<br />
sein Kopf kurz hinter Paris endlich frei<br />
war. Und nun <strong>ist</strong> er wieder da, nach<br />
zwei Jahren, die ihn um die halbe Welt<br />
führten und in den Knast von Bielefeld-<br />
Brackwede. Und diesmal werden die<br />
Spanier ihn richtig kennen lernen. Ihn –<br />
Axel Leuthold Fritz Baumgart aus<br />
Herford in Ostwestfalen.<br />
Er hat sich viel vorgenommen, dieser<br />
schlanke drahtige Mann mit dem verhärmten<br />
Gesicht und den dicken Adern,<br />
die sich über seine Schläfen erstrecken<br />
wie ein Flussdelta. Zunächst einmal<br />
wird er den Spaniern erklären, was<br />
Demokratie <strong>ist</strong>. Er wird ihnen auch sagen,<br />
dass ihr Königreich ein Land der<br />
Dritten Welt <strong>ist</strong> und ausländerfeindlich<br />
zudem. Er wird Interpol Madrid anzeigen,<br />
wird den Richtern erläutern,<br />
wie man korrekt urteilt – und den Journal<strong>ist</strong>en,<br />
wie man korrekt recherchiert.<br />
Aber vor allem wird er diesem Land<br />
eines beweisen: wie ein deutscher Vater<br />
um seinen verlorenen Sohn kämpft.<br />
Und das sollen sie nie vergessen.<br />
Baumgart <strong>ist</strong> zurück.<br />
Nur wenige Stunden nach seiner Ankunft<br />
klingelt das Telefon in der Wohnung<br />
der 42-jährigen Hausfrau Myriam<br />
Emparanza in der baskischen Kleinstadt<br />
Legazpia. Eine Bekannte meldet<br />
sich. „Pass auf“, sagt diese. „Der verrückte<br />
Deutsche <strong>ist</strong> zurück.“ Es folgen<br />
weitere Anrufe, insgesamt fünf, und<br />
alle sagen das Gleiche: Baumgart <strong>ist</strong><br />
gesehen worden, der Kidnapper, oben<br />
in Navarra. Sie sagen „Kidnapper“ zu<br />
ihm oder „Ge<strong>ist</strong>es-kranker“ oder<br />
bedienen sich irgendeines anderen<br />
Worts aus dem Fundus psychischer Abnormitäten.<br />
Myriam Emparanza verriegelt<br />
die Haustür, schließt ihren Sohn<br />
Eneko in die Arme und ermahnt ihn:<br />
„Du gehst jetzt nicht mehr allein raus.<br />
Du machst die Tür nicht mehr auf. Dein<br />
Vater <strong>ist</strong> zurück.“<br />
WANN DIESES FAMILIENDRAMA<br />
seinen Anfang nahm, lässt sich nur<br />
noch schwer rekonstruieren. Vielleicht<br />
begann alles schon in Indien, wo sich<br />
der bibelfeste Theologe Axel Baumgart<br />
in die temperamentvolle Schönheitskönigin<br />
Myriam Rosa Emperanza<br />
Arostegui verliebte. Vielleicht auch erst<br />
in San Sebastián, <strong>als</strong> sie am 20. September<br />
1992 ihren unehelichen Sohn<br />
Eneko per Hausgeburt zur Welt brachten,<br />
was einem Angriff auf die öffentliche<br />
Ordnung und die Heilige Katho-<br />
lische Kirche gleichkam. Mit Sicherheit<br />
aber begann das Drama spätestens am<br />
1. Januar 1999, <strong>als</strong> Baumgart mit<br />
seinem inzwischen sechsjährigen Sohn<br />
Eneko in Paris eine Maschine der Luftlinie<br />
Yemenia bestieg, mit dem einen<br />
Ziel: nicht wieder zurückzukehren.<br />
Spätestens von jenem Tag an handelt es<br />
sich nicht mehr um den privaten<br />
Beziehungskrieg zweier höchst eigenwilliger<br />
Menschen. Nun schalten sich<br />
Botschaften ein, Interpol, der spanische<br />
Außenmin<strong>ist</strong>er und sogar König Juan<br />
Carlos. Ein kleiner Junge mit großen<br />
braunen Augen und Pausbacken wird<br />
zur nationalen Frage. Es beginnt eine<br />
Suche, die von Nordspanien über Indonesien<br />
in den Sudan führt und schließlich<br />
in einem jemenitischen Bergpalast<br />
endet. Dies <strong>ist</strong> die Geschichte einer<br />
Entführung. Es <strong>ist</strong> die Geschichte über<br />
den Clash of Culture in einem Europa,<br />
das so gern vereint sein will. Und nicht<br />
zuletzt <strong>ist</strong> es die Geschichte eines Weltverbesserers<br />
auf dem schmalen Grat<br />
zwischen Genie und Wahnsinn.<br />
Axel Baumgart <strong>ist</strong> keine dieser Horrorgestalten<br />
aus diesem Fundus psychischer<br />
Abnormitäten, für den ihn die<br />
Spanier halten. Er <strong>ist</strong> kein Psychopath<br />
und gewiss kein Krimineller. Aber er<br />
<strong>ist</strong> ein Mensch, der aus jedem Zustand<br />
eine Frage macht und aus jeder Frage<br />
eine Anklage. Einer, der sich an keine<br />
Konventionen hält und keine Normen<br />
und schon gar nicht an die über<br />
Jahrhunderte gewachsenen Regeln des<br />
Zusammenlebens. Es gibt Menschen<br />
wie Baumgarts Freundin Marisa, die<br />
ihm zutrauen, die Welt zu retten. Und<br />
es gibt andere wie Baumgarts Ex-<br />
Freundin Myriam, die hoffen, die Welt<br />
vor ihm zu retten.<br />
Vielleicht würde man Baumgart gern<br />
<strong>als</strong> esoterischen Spinner bezeichnen, so<br />
wie er an diesem kalten Herbsttag barfuß<br />
duch den Schlamm watet und im<br />
Rinnsal eines Stausees ein Bad nimmt.<br />
Aber dann spuckt er Wörter aus wie<br />
„kackegal“ und „verfickte Situation“<br />
und hat generell nichts einzuwenden<br />
gegen eine ordentliche Prügelei. Man<br />
könnte ihn <strong>als</strong>o einen Proleten nennen ,<br />
doch dann kommen Sätze wie: „Ich bin<br />
nach eingehender Analyse der gesellschaftlichen<br />
Realität daran interessiert,<br />
eine soziale Revolution zu starten.“<br />
Also ordnet man ihn <strong>als</strong> linken Polit-<br />
Aktiv<strong>ist</strong>en ein und wundert sich,<br />
warum er am liebsten in den Iran auswandern<br />
würde. Man kann versuchen,<br />
Baumgart in sämtliche Raster menschlicher<br />
Verhaltensmuster zu pressen, und<br />
wird immer wieder scheitern. Irgendwas<br />
wird der 39-Jährige sein – auf der<br />
Skala zwischen Jesus Chr<strong>ist</strong>us und<br />
Graciano Rocchigiani.<br />
Nur soviel <strong>ist</strong> klar: Baumgart sucht<br />
Konflikte. So wie andere Menschen<br />
nach Harmonie und Anerkennung suchen,<br />
so sucht Baumgart nach Widerständen.<br />
Nach Mauern, gegen die er anrennen<br />
kann, bis sie zerbröseln und in<br />
sich zusammenfallen. Schon im Kinder<br />
garten, so sagt seine Mutter, habe ihren<br />
Sohn am me<strong>ist</strong>en interessiert, welche<br />
Konflikte Jesus mit der Gesellschaft<br />
hatte. Später studiert er evangelische<br />
Theologie und kritisiert die evangelische<br />
Theologie und unternimmt<br />
überhaupt alles, um eine Antwort auf<br />
die Frage zu erhalten: Wie viel Nonkonformität<br />
erträgt diese Gesellschaft?<br />
Als er bei einer Predigt in der Bochumer<br />
Chr<strong>ist</strong>uskirche den Apostel<br />
Paulus <strong>als</strong> Neurotiker bezeichnet, verscherzt<br />
er es sich endgültig mit der<br />
Kirchenleitung. Er lässt alles hinter sich<br />
– die Freunde, den Job, die Heimat –<br />
und flieht nach Poona, ins Zentrum<br />
Bhagwans, um zur Ruhe zu kommen.<br />
Vor sich. Und Deutschland. Und dem<br />
Kampf gegen Mauern, die immer höher<br />
werden, je älter er wird.<br />
In einer Malgruppe des westindischen<br />
Ashrams lernt Axel Baumgart Myriam<br />
kennen, eine Managerin aus dem Baskenland,<br />
die genug hat von spanischen<br />
Machos und chr<strong>ist</strong>licher Bigotterie. Für<br />
sie <strong>ist</strong> Baumgart der erste Mann, den<br />
sie richtig weinen sieht. Und für ihn <strong>ist</strong><br />
sie die erste Frau, die er richtig kämpfen<br />
sieht. Sie verlieben sich ineinander<br />
und beschließen, gemeinsam zurück<br />
nach Spanien zu gehen – <strong>als</strong> Duo<br />
Infernale mitten hinein in diesen lauwarmen<br />
Schoß der Gutbürgerlichkeit.<br />
Im Sommer 1991 ziehen sie ins<br />
Baskenland in eine Kleinstadt nahe der<br />
Küste, in der kurz zuvor der Kirchenbesuch<br />
noch <strong>vom</strong> Betrieb kontrolliert<br />
Wurde. Baumgart gibt Kurse in<br />
Kinesiologie, einer auf Muskeltests aufbauenden<br />
Therapieform, und lebt, wie<br />
ein junger Boxer kämpft: immer drauflos,<br />
ohne Deckung, im unbändigen<br />
Glauben an die eigene Kraft. Wenn ihm<br />
etwas stinkt, sagt er dies den Basken<br />
ins Gesicht. Wenn er weinen will,<br />
weint er. Selbst für Myriams Eltern.<br />
Selbst beim Familienessen. Als Baumgart<br />
dann auch noch eine Hausgeburt<br />
durchsetzt und sich mit dem Säugling<br />
14 Tage nackt ins Bett legt, erklären<br />
ihn die Emparanzas endgültig für verrückt.<br />
BAUMGART UND MYRIAM verlassen<br />
das kleinbürgerliche Spanien<br />
und ziehen mit Eneko in das kleinbürgerliche<br />
Herford, von dem Baumgart<br />
sagt, dass es eine große Kotztüte <strong>ist</strong>.<br />
Schon bald aber stellen beide fest, dass<br />
sie nicht zusammenpassen. Myriam<br />
glaubt, in ein Minenfeld geraten zu sein<br />
zwischen ihrem konservativen Elternhaus<br />
und einem Weltrevolutionär. Und<br />
Baumgart diagnostiziert, „dass ein von<br />
der Aufklärung geprägter Deutscher<br />
mit einer von General Franco geprägten<br />
Spanierin schon aus einem kulturgeschichtlichen<br />
Kontext heraus nicht<br />
zusammenleben kann“. Zehn Monate<br />
nach der Trennung beantragt er beim<br />
zuständigen Familiengericht in San<br />
Sebastián das Sorgerecht für den<br />
dam<strong>als</strong> dreijährigen Eneko. Er bekommt<br />
es zugesprochen, weil Myriam