Dieser Bericht, vom 11.April 2000, ist als PDF-Dokument vorhanden ...
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6 Jahre, spanisch, starker Körperbau,<br />
groß, glattes, kastanienbraunes Haar“ –<br />
und darunter das Foto des lächelnden<br />
Eneko. Sie fährt zu Baumgarts Mutter,<br />
doch die weiß von nichts. Sie fährt zum<br />
Bruder, doch der weiß von nichts. Sie<br />
stellt die Fotos ins Internet, doch keiner<br />
reagiert. Sie fragt Menschen auf der<br />
Straße und Angestellte am Flughafen,<br />
fragt wieder und wieder, um ja nicht<br />
diese Stille aufkommen zu lassen, die<br />
die Realität in ihren Kopf zurückkatapultiert.<br />
Die Monate vergehen, „und<br />
irgendwann fühlte ich mich wie der<br />
<strong>vom</strong> Körper abgetrennte Schwanz einer<br />
Eidechse, der sich noch bewegt, aber<br />
ohne Ziel, ohne Wirkung“. Myriam<br />
redet nicht viel. Sie sucht ihre Wörter<br />
sorgfältig aus, <strong>als</strong> wolle sie keines<br />
unnötigerweise verbrauchen. Sie sieht<br />
die Jahre <strong>als</strong> eine einzige große Wunde,<br />
die sie nicht zu schließen vermag und<br />
die sich auch dadurch nicht schließen<br />
lässt, dass sie darüber spricht. Nur über<br />
Baumgart sagt sie etwas mehr. Und<br />
manchmal schreit sie sogar.<br />
Wie war das so mit Baumgart? „Er <strong>ist</strong><br />
pervers, er <strong>ist</strong> unfassbar in seinem<br />
Kopf.“ Aber was haben sie denn an ihm<br />
geliebt? „Er <strong>ist</strong> wirklich pervers, er <strong>ist</strong><br />
süchtig danach, andere Menschen zu<br />
zerstören, er <strong>ist</strong> ...“<br />
IN JEMEN LEBEN Baumgart und<br />
Eneko so, wie sich der arbeitslose<br />
Ostwestfale das immer vorgestellt hat:<br />
Im Upper Deck der Gesellschaft, ohne<br />
Zwänge und Rücksicht. Baumgart<br />
mietet sich eine große möblierte<br />
Wohnung. Aus dem Wohnzimmer<br />
macht er ein Fußballfeld, gekocht wird<br />
auf einem Gaskocher, geschlafen auf<br />
Matratzen. Eneko <strong>ist</strong> nun sechs und lebt<br />
wie ein Königssohn. Er steht auf, wann<br />
er will, nimmt sich etwas von dem<br />
herumliegenden Geld seines Vaters.<br />
Kauft sich Schokolade und Schreckschussp<strong>ist</strong>olen<br />
und verschwindet für<br />
Stunden mit Spielkameraden auf der<br />
Straße. Manchmal gibt sein Papa ihm<br />
eine Fußmassage und lehrt ihn Rechnen<br />
und Schreiben und die Lektionen des<br />
Lebens: „Jede Schule <strong>ist</strong> blöd. Die<br />
machen dich zur Kopiermaschine, die<br />
geborgtes Wissen reproduziert.“ Oder<br />
auch: „Fluchen <strong>ist</strong> okay. Wenn Du<br />
Scheiße oder Hurensohn sagen willst,<br />
lass es raus. Das <strong>ist</strong> eine Form, sozialen<br />
Druck abzubauen.“ Das Leben auf der<br />
Straße übernimmt nun die Schulfunktion.<br />
Eneko lernt Arabisch und<br />
Englisch und den Umgang mit<br />
Schnellfeuerwaffen, wie es in Jemen<br />
nicht unüblich <strong>ist</strong>. Er liest den Koran,<br />
lernt, sich durchzuboxen, und wenn<br />
ihm wieder einer Schläge androht, sagt<br />
er zu seinem Vater: „Papa, brauchst<br />
nichts machen, ich hab ihm schon in<br />
die Eier getreten.“ Mehrfach in diesen<br />
Monaten werden die beiden Zeugen<br />
von Messerstechereien und nächtlichen<br />
Schusswechseln. Eneko bekommt mit,<br />
wie Nachbarn sterben, er hört Geschichten<br />
über Menschen, die Benzin<br />
trinken mussten, dann beschossen<br />
wurden und explodierten. Baumgart<br />
sagt heute dazu: „Ich hab den Eindruck,<br />
dass mein Sohn mit Realität keine<br />
Probleme hat. Er hat ja auch gesehen,<br />
wie ich mich geprügelt habe.“ Eneko<br />
heißt nun Munir, was so viel bedeutet<br />
wie Licht. Baumgart nennt sich Sharaf<br />
Al-Din, „der ernsthaft Religiöse“. Er<br />
schreibt ein Buch über Kinesiologie<br />
(„Kinder und Körper, die nicht funktionieren“),<br />
geht mehrm<strong>als</strong> am Tag in<br />
die Moschee und knüpft dort die<br />
wichtigen Kontakte, die ihm später<br />
noch zugute kommen sollen. Er fühlt<br />
sich sicher im Jemen, vielleicht zu<br />
sicher. „An seinen spanischen Anwalt<br />
schickt er eine E-Mail: „Habe keine<br />
Gerichtsverfahren und keine Arschgesichter,<br />
die mir das Leben schwer<br />
machen.“ An die spanische Justiz<br />
schreibt er: „Möglicherweise werde ich<br />
hier heiraten und meine Frau wird dann<br />
nach hiesigem Recht das Sorgerecht für<br />
Eneko haben.“ Baumgart tut solche<br />
Dinge, er tut sie einfach und denkt<br />
nicht immer darüber nach, denkt nicht<br />
an die Folgen, und manchmal fragt er<br />
sich erst später, me<strong>ist</strong> zu spät, warum<br />
alles so gekommen <strong>ist</strong>. Er begründet es<br />
dann damit, dass ihm die „Sicherung<br />
durchgegangen“ oder er im „oberen<br />
Drehzahlbereich“ angekommen sei,<br />
oder schiebt die Verantwortung für sein<br />
Handeln auf irgendeinen anderen<br />
Auslöser im Kopf, zu dem er keinen<br />
Zugang hat. Myriam Emperanza wartet<br />
bereits seit einem halben Jahr auf ein<br />
Lebenszeichen, <strong>als</strong> sie <strong>vom</strong> Anwalt erfährt,<br />
dass es eine Nachricht und eine<br />
Hotmail-Adresse <strong>vom</strong> Baumgart gebe.<br />
Sie mailt zurück und erhält tatsächlich<br />
eine Antwort: „Uns geht es gut. Wenn<br />
ich in Spanien nicht mehr Verantwortung<br />
für Eneko übernehmen kann,<br />
bevorzuge ich zu bleiben, wo ich bin.“<br />
Myriam findet einen Spezial<strong>ist</strong>en, der<br />
die Herkunft der Mails identifizieren<br />
kann. Es <strong>ist</strong> ihre erste Spur, und sie<br />
führt, wie von ihr befürchtet, in ein<br />
islamisches Land. Bei der jemenitischen<br />
Botschaft in Bonn erfährt sie,<br />
„dass Herr Baumgart am 17.08.1998<br />
für sich und sein Kind Visa bei der<br />
Botschaft – Konsularabteilung – beantragt<br />
und und die Visa am gleichen Tag<br />
erhalten hat“. Sie packt ihre Sachen und<br />
fliegt sofort in den Jemen. Es <strong>ist</strong> der 22.<br />
November 1999. Inzwischen ergeben<br />
sich für Baumgart erste Probleme. Da<br />
die Immigrationsbehörden ihm ein<br />
Dauervisum verweigern, muss er das<br />
Land vorübergehend verlassen. Er nutzt<br />
die Zeit, um mit Eneko weitere Staaten<br />
zu testen. Sie fliegen nach Indonesien,<br />
und vielleicht wäre die muslimisch<br />
dominierte Inselrepublik eine echte<br />
Alternative geworden, doch wieder<br />
einmal kommt sich Baumgart selbst in<br />
die Quere. Er quatiert sich mit Eneko in<br />
einer islamischen Schule ein und macht<br />
schon bald mobil gegen den militärischen<br />
Drill. „Mit einem Islam, der<br />
unsere Körper nicht respektiert, wollen<br />
wir nichts zu tun haben“, lässt er die<br />
Leiter wissen. „Die hätten fast Blut<br />
gespuckt vor Ärger“, sagt er später<br />
nicht ohne Stolz.<br />
Auch Indonesien hat keine Perspektive,<br />
entscheidet Baumgart, und wahrscheinlich<br />
gibt es auf der ganzen Welt kein<br />
Land, das es ihm recht machen könnte<br />
– und umgekehrt. Aber er macht weiter,<br />
testet weiter, testet Länder wie Probepackungen,<br />
probiert noch den Sudan<br />
aus, den strengmuslimischen Staat am<br />
Rande der Sahara, muss aber feststellen,<br />
dass Kinder mitten auf der Straße<br />
sterben und Eneko Probleme mit den<br />
hygienischen Bedingungen bekommt.<br />
Niedergeschlagen und müde kehren sie<br />
zurück in den Jemen.<br />
NOCH AM ABEND des 22. Novembers<br />
steigt Myriam Emparanza in einem<br />
Hotel in Sanaas Altstadt ab. Sie kleidet<br />
sich <strong>als</strong> Muslimin und trägt einen<br />
schwarzen Tschador, aus dem nur noch<br />
ihre großen braunen Augen<br />
herausschauen. Wochenlang zieht<br />
Myriam mit ihren Fotos durch das<br />
Labyrinth dieser weitläufigen Zwei-<br />
Millionen-Stadt. Durch Viertel, in<br />
denen ihr Schicksal wie eine Bagatelle<br />
erscheint, weil jeder seine eigenen<br />
Toten hat. Sie trifft sich mit Vertretern<br />
der Parteien und der an der Regierung<br />
beteiligten Stämme. Sie sucht sogar den<br />
Ausbildungsleiter der ETA-Truppen<br />
und den Sohn Fidel Castros auf, der <strong>als</strong><br />
Arzt in einem Krankenhaus arbeitet, sie<br />
klammert sich an jeden, der Macht hat<br />
oder Beziehungen oder wenigstens das<br />
Herz, eine verzweifelte Mutter zu verstehen.<br />
Doch keiner kann ihr weiterhelfen,<br />
und das eigene Außenmin<strong>ist</strong>erium<br />
rät: "Brechen Sie das Ganze ab.<br />
Es <strong>ist</strong> zu gefährlich.“ Mitte Dezember<br />
aber mehren sich plötzlich Zeichen,<br />
dass Baumgart und Eneko in der Stadt<br />
sind. Ein Österreicher glaubt, die<br />
beiden gesehen zu haben, und in Al<br />
Aspahi, einem wohlhabenden Viertel<br />
im Süden Sanaas, bestätigen Bewohner,<br />
dass der kurz geschorene Deutsche und<br />
sein kurz geschorener Sohn in der<br />
Nachbarschaft leben. Etwas später erreicht<br />
auch der internationale Haftbefehl,<br />
übermittelt von Interpol Madrid<br />
am 3. Januar <strong>2000</strong>, die jemenitische<br />
Hauptstadt. In einem internen Begleitschreiben<br />
steht: „Warnung! Diese Person<br />
<strong>ist</strong> gewalttätig, psychisch krank und<br />
bewaffnet."<br />
ALS DIE POLIZEI Baumgart am 26.<br />
Januar <strong>2000</strong> in seiner Wohnung<br />
festnehmen will, zahlt es sich aus, dass<br />
er inzwischen gute Kontakte aufgebaut<br />
hat. Nachbarn verteidigen ihn in einem<br />
Gerangel, und ein befreundeter Richter<br />
spricht ihm binnen fünf Minuten das<br />
Sorgerecht zu. Später wird Myriam<br />
sagen, Baumgart habe sich mit Waffen<br />
verteidigt. Baumgart bestreitet das. Es<br />
<strong>ist</strong> einer der wenigen Punkte, an dem<br />
sich die Aussagen der beiden nicht<br />
verifizieren lassen. Und auch die<br />
<strong>Bericht</strong>e von Interpol, der Deutschen<br />
Botschaft und jemenitischen Beamten<br />
geben keine klare Auskunft. Der Druck<br />
auf Baumgart wächst. Selbst der<br />
Richter rät zu einer Einigung, und am<br />
2. Februar wird Myriam Emparanza<br />
gestattet, ihren Sohn in Gegenwart von<br />
Bodyguards tatsächlich wiederzusehen.<br />
Wie war das, diese erste Begegnung ?<br />
„Er war eine neue Person“, sagt sie.<br />
„Ein fremder Mensch. Er hatte so große<br />
Hände und Füße bekommen und<br />
wusste nicht mehr, wie er mich nennen<br />
soll: Mama? Er sagte: ,Ich bin nicht<br />
Eneko. Ich bin Munir. Ich gehe nicht<br />
zur Schule. Ich geh zur Moschee.' Ich<br />
habe ihn dann nur umarmt und gesagt:<br />
,Auf der ganzen Welt habe ich dich<br />
gesucht.' Da hat er geantwortet: ,Dann<br />
warst du ja sehr schnell.’“ Myriam<br />
lächelt kurz. Es <strong>ist</strong> das einzige Mal in<br />
den Gesprächen, dass sie lächelt. Sie <strong>ist</strong><br />
eine gebrochene und gealterte Frau, die<br />
ihren Sohn zwar gefunden hat, sich<br />
selbst aber verloren. Ihre Karriere hat<br />
sie aufgegeben, ihre Kontakte auch und<br />
all die Lebensträume, die sie mal hatte.<br />
Sie sitzt verweint an einem einfachen<br />
Kieferntisch in einer dieser Wohnungen,<br />
die überall stehen könnten. In<br />
Deutschland oder Holland oder einem<br />
Ikea-Katalog. Eine Wohnung, die<br />
genau das ausdrückt, was einst ihre<br />
größte Furcht war: Normalität.<br />
Im Jemen dauert der Kampf um Eneko<br />
weitere zwei Monate und nimmt nun<br />
groteske Züge an. Ein Gericht we<strong>ist</strong><br />
Baumgart an, das Kind zurückzugeben,<br />
doch sein Freund, der Vizechef des<br />
Geheimdienstes, macht das Urteil wieder<br />
rückgängig. Ein anderer Richter<br />
schlägt vor, dass Myriam Emparanza<br />
Axel Baumgart heiraten soll, doch sie<br />
lehnt kategorisch ab. Tags darauf will<br />
Myriam Eneko besuchen, wie sie es<br />
nun täglich macht, doch Baumgart <strong>ist</strong><br />
wieder geflohen. „Wir sind beim<br />
Freund <strong>vom</strong> Geheimdienst untergetaucht<br />
und über die Mauer geklettert,<br />
<strong>als</strong> die Polizei anrückte“, berichtet<br />
Baumgart, und es klingt wie das große<br />
Abenteuer, der große Showdown eines<br />
mitteleuropäischen Beziehungskriegs in<br />
einem orientalischen Labyrinth.<br />
Schließlich, am 21. März, fallt die Entscheidung<br />
in diesem Episodenkrimi,<br />
über den mittlerweile Sonderkorrespondenten<br />
berichten und die spanische<br />
Öffentlichkeit in Atem halten („Spannung<br />
bis zum Finish“). Nach einem<br />
Besuch des jemenitischen Außenmin<strong>ist</strong>ers<br />
Kader Bajamal in Madrid wird<br />
Axel Baumgart auf Druck beider<br />
Regierungen festgenommen. Acht Tage<br />
später, am 28. März um Mitternacht,<br />
wird er in Begleitung eines Obersts<br />
nach Frankfurt am Main ausgeflogen<br />
und dort <strong>vom</strong> Bundesgrenzschutz in<br />
Empfang genommen. Die deutsche<br />
Botschaft in Riad teilt mit: „Herr<br />
Baumgart <strong>ist</strong> aus hiesiger Sicht<br />
psychisch instabil und könnte geneigt<br />
sein, Gewalt anzuwenden.“<br />
NACH 15 MONATEN DER SUCHE sieht<br />
sich Myriam Emparanza nun am Ziel,<br />
doch <strong>als</strong> sie Eneko abholen will, <strong>ist</strong><br />
dieser verschwunden. Versteckt beim<br />
Präsidenten des Parlaments, Abdala<br />
Ben Hussein Al Ahram. Der Fall des<br />
kleinen muslimischen Spaniers <strong>ist</strong> auch<br />
im Jemen längst ein Politikum, und<br />
jede Partei, jeder der zahlreichen<br />
Stämme hat ein eigenes Interesse. Erst<br />
nach einer weiteren Woche spürt Myriam<br />
gemeinsam mit dem spanischen<br />
Botschafter Eneko in einem Palast im<br />
Nordosten des Landes auf und kann ihn