Nur ein Flügelschlag zwischen Leben und Tod - GSIW
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<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong><br />
Hirntod <strong>und</strong> Organspende im Fokus<br />
verschiedener Religionen<br />
»Herzengel«<br />
Larissa Jäger, 6bG<br />
Kantonsschule Rychenberg, 06. Dezember 2011<br />
Betreut von Sandra Piccioni, zweitgelesen durch Bruno Amatruda
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
1. Einleitung .................................................................................................. 3<br />
2. Geschichtlicher Abriss .............................................................................. 4<br />
2.1 Die Entwicklung der Organtransplantation ........................................................................ 4<br />
2.2 Die Entstehung des theoretischen Ansatzes: das Hirntodkonzept ..................................... 5<br />
3. Medizinische Sichtweise ............................................................................ 6<br />
3.1 Definition Hirntod <strong>und</strong> die verschiedenen Hirntodkonzepte ............................................. 6<br />
3.2 Die medizinische <strong>Tod</strong>esdefinition <strong>und</strong> der Vergleich Hirntod – Herztod ......................... 7<br />
3.3 Das Hirn als Zentrum des menschlichen Bewussts<strong>ein</strong>s ..................................................... 9<br />
3.4 Ablauf <strong>ein</strong>er Hirntoddiagnose <strong>und</strong> Begriff der Irreversibilität .......................................... 9<br />
3.5 Vergleich von Hirntod <strong>und</strong> Koma: die Problematik der <strong>Leben</strong>szeichen .......................... 11<br />
4. Christliche Ethik ...................................................................................... 13<br />
4.1 Der Mensch als Einheit von Körper <strong>und</strong> Geist .................................................................. 13<br />
4.2 Stellungnahme zum Hirntodkonzept ................................................................................ 14<br />
4.3 Sitz der Seele <strong>und</strong> die kulturelle Prägung des Körpers ..................................................... 15<br />
4.4 Reduzierung des Menschen auf s<strong>ein</strong>e Gehirnfunktionen <strong>und</strong> das Wahren der<br />
menschlichen Würde ......................................................................................................... 17<br />
4.5 Der Sterbeprozess <strong>und</strong> die Ablösung der Seele vom Körper ............................................ 18<br />
4.6 Medizin <strong>und</strong> christliche Ethik im Vergleich ..................................................................... 20<br />
5. Buddhismus ............................................................................................ 20<br />
5.1 Einheit von Körper <strong>und</strong> Geist ............................................................................................ 20<br />
5.2 Stellungnahme zum Hirntodkonzept <strong>und</strong> die Haltung der buddhistischen Gesellschaft 21<br />
5.3 Bedeutung verschiedener Organe <strong>und</strong> Sitz der Seele ....................................................... 22<br />
5.4 Sterbeprozess <strong>und</strong> Ablösung der Seele vom Körper ......................................................... 22<br />
5.5 Der kulturelle Umgang mit dem <strong>Tod</strong> ................................................................................ 23<br />
5.6 Buddhismus <strong>und</strong> Christentum im Vergleich .................................................................... 24<br />
6. Islam ....................................................................................................... 24<br />
6.1 Rechtsgr<strong>und</strong>lagen bei <strong>ein</strong>er Organspende: Scharia .......................................................... 24<br />
6.2 Stellungnahme zum Hirntodkonzept <strong>und</strong> die Haltung der islamischen Gesellschaft ..... 26<br />
6.3 Sitz der Seele <strong>und</strong> Glaubenskonflikte mit der medizinischen <strong>Tod</strong>esdefinition ............... 27<br />
6.4 Sterbeprozess <strong>und</strong> Ablösung der Seele vom Körper ......................................................... 27<br />
6.5 Der kulturelle Umgang mit dem <strong>Tod</strong> ................................................................................ 28<br />
6.6 Islam <strong>und</strong> Christentum im Vergleich ............................................................................... 29<br />
7. Eigene zentrale Überlegungen ................................................................. 30<br />
7.1 Ist das Gehirn definierend für das Menschs<strong>ein</strong>? ............................................................... 30<br />
7.2 Wann ist <strong>ein</strong> Mensch wirklich tot? .................................................................................... 30<br />
8. Schlusswort ............................................................................................. 31<br />
9. Anhang .................................................................................................... 33<br />
9.1 Definition von Körper, Geist, Bewussts<strong>ein</strong>, Seele <strong>und</strong> Leib .............................................. 33<br />
9.2 Interview mit Herrn PD Dr. med. Markus Wilhelm vom Universitäts-Spital Zürich ..... 34<br />
9.3 Interview mit Frau Ivana Bendik vom Schweizerischen Evangelischen Kirchenb<strong>und</strong> .... 35<br />
9.4 Interview mit Frau Cornelia Broger ................................................................................. 36<br />
9.5 Interview mit Ew. Lama Pema Wangyal vom Tibet-Institut Rikon ................................ 37<br />
9.6 Interview mit Herrn Nicolas Blancho vom Islamischen Zentralrat Schweiz ................... 39<br />
9.7 Interview mit Frau Sumaya Angelina Mohamed aus der Moschee Hegi ......................... 39<br />
10. Medizinische Begriffserklärung ............................................................ 40<br />
11. Literaturverzeichnis ............................................................................... 41<br />
11.1 Primärliteratur .................................................................................................................. 41<br />
11.2 Sek<strong>und</strong>ärliteratur .............................................................................................................. 41<br />
2
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
1. Einleitung<br />
Das Thema Organspende ist alltäglich. Wir treffen es vielerorts an, sei es auf<br />
Plakaten, die für mehr Organspender werben oder auch in der fortwährenden<br />
Diskussion von Experten, ob der Hirntod als <strong>Tod</strong> zu akzeptieren ist. Die neuste<br />
Errungenschaft der Medizin, lebende Organe aus <strong>ein</strong>em »toten« Körper zu<br />
entnehmen, sorgt für <strong>ein</strong>e hitzige Debatte in der Gesellschaft. Diese Arbeit vertritt<br />
k<strong>ein</strong>en bestimmten Standpunkt in der Hirntod-Debatte, sie zeigt lediglich die<br />
verschiedenen Aspekte <strong>und</strong> Probleme der befürwortenden, sowie der ablehnenden<br />
Seite auf. Die Tabuisierung der <strong>Tod</strong>esthematik soll durch die Aus<strong>ein</strong>andersetzung mit<br />
dem Sterben verringert werden.<br />
Viele Ethiker, Philosophen <strong>und</strong> auch Mediziner haben nach den Gründen für die<br />
Entstehung <strong>ein</strong>es so <strong>ein</strong>zigartigen Hirntodkonzepts geforscht <strong>und</strong> versucht, dessen<br />
Inhalt <strong>und</strong> Konsequenzen zu ergründen. Diese wissenschaftlichen Arbeiten sind sehr<br />
ausführlich, waren jedoch manchmal etwas schwer zugänglich. Um <strong>ein</strong>e breit<br />
abgestützte Arbeit zu schreiben, musste ich mir also <strong>ein</strong> eigenes Bild der<br />
verschiedenen Seiten <strong>ein</strong>holen. Ich habe deshalb Interviews durchgeführt mit <strong>ein</strong>em<br />
Herzchirurg, der Mutter <strong>ein</strong>er transplantierten, jungen Frau, <strong>ein</strong>er Mitarbeiterin des<br />
Schweizerischen Evangelischen Kirchenb<strong>und</strong>es, <strong>ein</strong>em buddhistischen Mönch, <strong>ein</strong>er<br />
in <strong>ein</strong>er Moschee tätigen Muslima <strong>und</strong> dem Islamischen Zentralrat.<br />
Das Ziel dieser Arbeit ist es, <strong>ein</strong> komplexes Thema wie die Organspende <strong>ein</strong>mal aus<br />
<strong>ein</strong>em anderen Blickwinkel zu ergründen. Fragen wie »wann ist der Mensch wirklich<br />
tot«, »ist das Gehirn definierend für das Menschs<strong>ein</strong>«, »wie stehen andere<br />
Religionen zur Organspende«, »was geschieht mit der Seele nach dem <strong>Tod</strong>« <strong>und</strong> »wie<br />
sehen die verschiedenen Religionen den Sterbeprozess des Menschen« werden<br />
detailliert dargelegt <strong>und</strong> beantwortet. Nicht Zahlen sollen im Mittelpunkt stehen,<br />
sondern die Diskussion um den Hirntod als vollständigen <strong>Tod</strong> des Menschen.<br />
Ebenfalls wird der Umgang mit dem <strong>Tod</strong> allgem<strong>ein</strong> in den grossen Weltreligionen<br />
Christentum, Buddhismus <strong>und</strong> Islam aufgezeigt. Die Arbeit soll Anstoss geben, sich<br />
über das <strong>Leben</strong>, den <strong>Tod</strong> <strong>und</strong> die Entscheidung Organspende »ja oder n<strong>ein</strong>«<br />
Gedanken zu machen.<br />
Für die Arbeit konnte nur die postmortale Spende betrachtet werden. Da die<br />
<strong>Leben</strong>dspende nicht dieselbe Problematik des Hirntodes aufzeigt, ist sie in dieser<br />
Hinsicht irrelevant.<br />
3
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
M<strong>ein</strong>e Maturitätsarbeit ist in sechs Teile gegliedert: zu Beginn die historische<br />
Entwicklung der Organspende, um sich <strong>ein</strong>en Überblick des Themas zu verschaffen.<br />
Es folgen die medizinischen Gr<strong>und</strong>lagen, welche Fakten zum Hirntod aus technischer<br />
Sicht aufklären. Das Kernstück der Arbeit sind Überlegungen aus der christlichen<br />
Ethik. Die Ergebnisse dieses Teils werden anschliessend mit dem Buddhismus <strong>und</strong><br />
dem Islam verglichen. Zuletzt werden zwei elementare Fragestellungen der Arbeit<br />
aufgezeigt <strong>und</strong> mit eigenen Ausführungen so gut wie möglich beantwortet.<br />
Die Arbeit zielt nicht darauf ab, dass sich jeder Leser am Ende für oder gegen <strong>ein</strong>e<br />
Organspende äussern kann; sondern darauf, dass man sich Gedanken zu <strong>Leben</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>Tod</strong>, sowie zur Problematik des Hirntodes macht.<br />
2. Geschichtlicher Abriss<br />
2.1 Die Entwicklung der Organtransplantation<br />
Von der Idee, menschliches Gewebe oder Organe von <strong>ein</strong>em Menschen auf <strong>ein</strong>en<br />
anderen zu übertragen, ist schon immer <strong>ein</strong>e Faszination ausgegangen. Es gibt<br />
zahlreiche Mythen <strong>und</strong> Legenden bis in das Jahr 500 v. Chr. zurück, die von solchen<br />
Versuchen schreiben.<br />
Die ersten wissenschaftlichen Organtransplantationen können bis in das 18. <strong>und</strong> 19.<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert zurückverfolgt werden. Mit der Entdeckung der Organabstossung 1863<br />
durch Paul Bert begannen die ersten modernen Transplantationen. Es wurden<br />
zahlreiche Experimente an Tieren durchgeführt; das Blutgruppensystem <strong>und</strong> die<br />
Organkonservierung steuerten jeweils wichtige Beiträge zur Entwicklung der<br />
Organtransplantation bei.<br />
Um 1951 fand die erste Transplantation in der Schweiz statt, <strong>und</strong> zwar wurde an der<br />
Zürcher Augenklinik <strong>ein</strong>e Hornhaut transplantiert.<br />
Am 3. Dezember 1967 führte Christiaan Barnard in Kapstadt, Südafrika die erste<br />
allogene Herztransplantation durch, <strong>ein</strong> Meilenst<strong>ein</strong> in der Geschichte. Noch im<br />
selben Jahr wurde die Vermittlungsstelle Eurotransplant gegründet.<br />
Um 1983 wurde das immunsuppressive Medikament Cyclosporin <strong>ein</strong>geführt, das die<br />
Überlebensquote der Transplantierten massiv verbesserte. Es wird heute noch in der<br />
Medizin verwendet.<br />
4
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
2.2 Die Entstehung des theoretischen Ansatzes: das<br />
Hirntodkonzept<br />
Bereits in der antiken Medizin spielte die Frage nach dem <strong>Tod</strong> <strong>ein</strong>e bedeutende Rolle,<br />
jedoch unterscheiden sich die heutigen Interessen der Medizin erheblich von den<br />
früheren. Damals war der Beginn des Sterbeprozesses wichtig, der Zeitpunkt, an dem<br />
die Bemühungen um <strong>ein</strong>e Heilung des Patienten <strong>ein</strong>zustellen wären. Diese<br />
Einstellung blieb bis ins Mittelalter erhalten. Im 17. <strong>und</strong> 18. Jahrh<strong>und</strong>ert kam dann<br />
die Angst vor dem Sch<strong>ein</strong>tod auf, man wollte den Patienten nicht durch <strong>ein</strong>e<br />
vorzeitige Diagnose <strong>und</strong> Bestattung töten. Die Menschen begannen, nach dem Ende<br />
des Sterbeprozesses zu fragen, um die Unsicherheit des Sch<strong>ein</strong>todes zu beseitigen.<br />
Trotz all diesen Unsicherheiten blieb die Definition des Herz-Lungentodes bis in die<br />
Mitte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts beständig. In den 50er Jahren verbesserten sich die<br />
Techniken der <strong>Leben</strong>serhaltung dramatisch, es entstand <strong>ein</strong>e neue Disziplin<br />
innerhalb der Anästhesie: die Intensivmedizin. Das Ziel war nun nicht mehr die<br />
Heilung von Krankheiten, sondern die Überwindung von lebensbedrohlichen<br />
Situationen. Die Entdeckung, dass die natürliche Atmung des Menschen auch<br />
künstlich ersetzt werden konnte, führte zu <strong>ein</strong>er Verschiebung der Grenze <strong>zwischen</strong><br />
<strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>. Von da an wurde <strong>zwischen</strong> Vitalfunktionen <strong>und</strong> dem <strong>Leben</strong> des<br />
Menschen unterschieden: Patienten konnten als tot gelten, obwohl ihre<br />
Vitalfunktionen erhalten blieben. Mit der Organspende war die Möglichkeit, lebende<br />
Organe aus »toten« Menschen zu entnehmen <strong>und</strong> sie in <strong>ein</strong>en anderen Patienten<br />
<strong>ein</strong>zupflanzen, geboren.<br />
Um Organtransplantationen erst zu ermöglichen, brauchte dieses neuartige<br />
Hirntodkonzept noch viele Entdeckungen in der Medizin <strong>und</strong> auch theoretische<br />
Überlegungen in der Ethik. Im folgenden Kapitel werden die medizinischen<br />
Gr<strong>und</strong>lagen der Organtransplantation dargelegt, der Ablauf <strong>ein</strong>er Hirntoddiagnose<br />
<strong>und</strong> der Sterbeprozess <strong>ein</strong>es Menschen detailliert erläutert.<br />
5
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
3. Medizinische Sichtweise<br />
3.1 Definition Hirntod <strong>und</strong> die verschiedenen<br />
Hirntodkonzepte<br />
3.1.1 Die Definition von »Hirntod«<br />
»Der Hirntod wird definiert als Zustand der irreversibel erloschenen Gesamtfunktion<br />
des Grosshirns, des Kl<strong>ein</strong>hirns <strong>und</strong> des Hirnstamms. Dabei wird durch kontrollierte<br />
Beatmung die Herz- <strong>und</strong> Kreislauffunktion noch künstlich aufrecht erhalten.« 1<br />
Der Begriff »Hirntod« wird im Alltag oft erwähnt, in der Medizin jedoch wird er<br />
weiter präzisiert. Der »dissoziierte Hirntod« bezeichnet jenen Zustand, in welchem<br />
das Gehirn durch <strong>ein</strong>e Schädigung s<strong>ein</strong>e Funktionen nicht mehr erfüllen kann <strong>und</strong><br />
abstirbt, während der restliche Körper dank <strong>ein</strong>er intensivmedizinischen Behandlung<br />
weiterlebt.<br />
Eine solche Schädigung ist entweder »primär« oder »sek<strong>und</strong>är«. Dabei läuft erstere<br />
im Gehirn selbst ab, bei der zweiten geht die Krankheit von <strong>ein</strong>em anderen Ort aus,<br />
das Gehirn wird »bloss« in Mitleidenschaft gezogen.<br />
Ein häufig erwähntes Beispiel für <strong>ein</strong>e primäre Hirnschädigung ist <strong>ein</strong>e Hirnblutung<br />
oder Durchblutungsstörung, welche auf <strong>ein</strong>e äussere Gewalt<strong>ein</strong>wirkung folgt. Als<br />
sek<strong>und</strong>äre Hirnschädigung wird oft der Herzinfarkt genannt, bei dem das Herz still<br />
steht <strong>und</strong> die Wiederbelebung nicht schnell genug erfolgt, um das Hirn rechtzeitig<br />
wieder mit Sauerstoff zu versorgen, es stirbt also ab.<br />
Der Krankheitszustand des dissoziierten Hirntodes ist abhängig von drei<br />
notwendigen Faktoren: der künstlichen, maschinell betriebenen Beatmung, der<br />
stoffwechselsichernden Therapie durch Infusionen <strong>und</strong> dem Automatismus des<br />
Herzschlages. Für das Weiterschlagen der Herzens muss die Sauerstoffzufuhr intakt<br />
bleiben <strong>und</strong> die Stoffwechselbedingungen im Blut müssen aufrecht erhalten werden.<br />
Die Beatmung kontrolliert die Sauerstoffzufuhr, der Stoffwechsel wird gesichert<br />
durch Infusionen.<br />
Damit das Krankheitsbild des dissoziierten Hirntodes vorliegt, muss ausgeschlossen<br />
werden, dass der Zustand in irgend<strong>ein</strong>er Weise reversibel ist. Dies wird im Kapitel<br />
3.4 »Der Ablauf <strong>ein</strong>er Hirntoddiagnose« noch genauer erläutert werden.<br />
1<br />
Wissenschaftlicher Beirat der B<strong>und</strong>esärztekammer (1998): Richtlinien zur Feststellung des<br />
Hirntodes. Dtsch. Ärzteblatt 98: B-1509-1516, zitiert in: Spittler, Johann Friedrich; Gehirn, <strong>Tod</strong> <strong>und</strong><br />
Menschenbild; Neuropsychiatrie, Neurophilosophie, Ethik <strong>und</strong> Metaphysik; Stuttgart, W.<br />
Kohlhammer Verlag, 2003.<br />
6
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
3.1.2 Die unterschiedlichen Hirntod-Konzepte<br />
Krankheitsprozesse können je nachdem verschiedene Hirnregionen in<br />
Mitleidenschaft ziehen. Es ergibt sich also die Frage, welche Region für die geistigseelischen<br />
Aktivitäten <strong>und</strong> damit für das Menschs<strong>ein</strong> entscheidend sind. Aus dieser<br />
Diskussion sind die drei folgenden Hirntod-Konzepte entstanden.<br />
Hirnstamm (in<br />
Grossbritannien<br />
gültig)<br />
Grosshirn (nur<br />
theoretisch, in der<br />
Praxis nicht<br />
existent)<br />
Gesamtfunktion<br />
(praktiziert von<br />
den meisten<br />
Staaten)<br />
Basis<br />
Eine intakte Funktion des<br />
oberen Hirnstamms ist<br />
unerlässlich für <strong>ein</strong><br />
funktionstüchtiges Grosshirn.<br />
Ein vollständiger Ausfall der<br />
Grosshirnrinde ist zweifelsfrei<br />
an den Verlust jeglichen<br />
Handelns oder Denkens<br />
gekoppelt.<br />
Nachweis des irreversiblen<br />
Ausfalls der Funktionen des<br />
Hirnstamms <strong>und</strong> der<br />
Grosshirnrinde.<br />
Problem<br />
Es kann nicht bewiesen werden, dass<br />
Teile des Grosshirns trotzdem weiter<br />
funktionieren.<br />
Das Konzept tritt in dieser r<strong>ein</strong>en<br />
Form kaum auf <strong>und</strong> es kann auch<br />
nicht mit ausreichender Sicherheit<br />
nachgewiesen <strong>und</strong> abgegrenzt<br />
werden.<br />
Positiv: klare Abgrenzung<br />
gegenüber ähnlichen<br />
Krankheitsbildern (totales Locked-<br />
In-Syndrom, apallisches Syndrom)<br />
3.2 Die medizinische <strong>Tod</strong>esdefinition <strong>und</strong> der Vergleich<br />
Hirntod – Herztod<br />
In diesem Kapitel wird der »normale« Sterbeprozess <strong>ein</strong>es Menschen detailliert<br />
erklärt. Zusätzlich werden die Einzelheiten des Sterbeprozesses im Hirntod<br />
veranschaulicht, indem der Prozess mit dem Herz-Kreislauftod infolge <strong>ein</strong>es<br />
Herzinfarktes verglichen wird.<br />
Auf der medizinischen Ebene wird der <strong>Tod</strong> <strong>ein</strong>es Menschen in verschiedene Phasen<br />
<strong>ein</strong>geteilt, um die Prozesshaftigkeit des Sterbens zu verdeutlichen:<br />
1. klinischer <strong>Tod</strong>: völliger Kreislaufstillstand mit potenziell reversibler Aufhebung<br />
jeder zerebralen Aktivität<br />
2. zerebraler <strong>Tod</strong>: auch kortikaler oder Grosshirntod<br />
3. Hirntod: kortikaler <strong>Tod</strong> mit zusätzlicher Nekrose von Kl<strong>ein</strong>-, Mittel- <strong>und</strong><br />
Stammhirn, gilt als Kriterium für den <strong>Tod</strong> <strong>ein</strong>es Individuums<br />
4. biologischer <strong>Tod</strong>: vollständiges Absterben aller Organe<br />
7
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
Der Ausgangs- <strong>und</strong> Endpunkt des Vergleiches Hirntod-Herztod ist bei beiden<br />
Beispielen derselbe: Der ges<strong>und</strong>e Mensch steht am Anfang <strong>und</strong> zuletzt ist der<br />
Leichnam, da<strong>zwischen</strong> jedoch spielen sich jedoch komplett unterschiedliche<br />
Ereignisse ab.<br />
Bei <strong>ein</strong>em Herzstillstand fällt zuerst die Sauerstoffzufuhr an die Organe aus <strong>und</strong> sie<br />
stellen ihre Funktion <strong>ein</strong>. Das Gehirn erlischt als erstes <strong>und</strong> der Mensch wird<br />
bewusstlos. Eventuelle Wiederbelebungsmassnahmen können das Herz wieder in<br />
Gang setzen. Je nachdem, wie lange das Hirn nicht durchblutet wurde, trägt das<br />
Gehirn Schäden davon oder nicht. Beide Organe - das Herz sowie das Hirn - sind<br />
innerhalb weniger Minuten wiederbelebbar. Erfolgt k<strong>ein</strong>e Wiederbelebung, so ist das<br />
Absterben des Gehirns zwar <strong>ein</strong>e Folge des Herzstillstandes, die beiden Ereignisse<br />
treten jedoch zeitlich so nahe bei<strong>ein</strong>ander auf, dass k<strong>ein</strong>e Dissoziation bzw. k<strong>ein</strong><br />
grosser Unterschied <strong>zwischen</strong> Absterben von Herz <strong>und</strong> Gehirn bemerkt wird.<br />
Dies verhält sich jedoch anders bei der Diagnose Hirntod. Wenn <strong>ein</strong> Patient nach<br />
<strong>ein</strong>em Unfall mit <strong>ein</strong>er Hirnblutung in <strong>ein</strong> Spital <strong>ein</strong>geliefert wird, <strong>und</strong> sich s<strong>ein</strong><br />
Zustand soweit verschlechtert, dass die Atmung unregelmässig wird, erfolgt der<br />
Anschluss an <strong>ein</strong>e Beatmungsmaschine. Dabei schlägt das Herz automatisch weiter<br />
<strong>und</strong> der dissoziierte Hirntod kann beim Überleben des restlichen Körpers <strong>ein</strong>treten.<br />
So können Patienten mehrere Tage oder sogar Monate künstlich »am <strong>Leben</strong>«<br />
gehalten werden.<br />
Äusserlich unterscheidet sich <strong>ein</strong> bewusstloser nicht von <strong>ein</strong>em hirntoten Patienten.<br />
In beiden Fällen ist der Körper warm, durchblutet <strong>und</strong> der Brustkorb hebt <strong>und</strong> senkt<br />
sich unter der maschinellen Beatmung. In der Medizin wird diese Unterscheidung<br />
jedoch benötigt, um Gewissenskonflikte zu vermeiden. Hierfür entstand die Idee der<br />
Irreversibilität. Mit diversen klinischen Untersuchungen soll festgestellt werden, ob<br />
der Krankheitsverlauf nach dem <strong>ein</strong>getretenen Hirntod reversibel ist oder nicht. Herr<br />
Wilhelm 2 , mit dem <strong>ein</strong> Interview durchgeführt wurde, bezeichnete den Unterschied<br />
<strong>zwischen</strong> <strong>ein</strong>em komatösen <strong>und</strong> <strong>ein</strong>em hirntoten Patienten folgendermassen:<br />
»Bei <strong>ein</strong>em komatösen Patienten ist das Bewussts<strong>ein</strong> reduziert, nicht gänzlich<br />
ausgefallen wie bei <strong>ein</strong>em hirntoten. Ein Apnoetest zur Überprüfung der<br />
Spontanatmung würde bei ersterem negativ ausfallen, da das Grosshirn noch<br />
funktioniert.«<br />
2<br />
Herr PD Dr. med. Markus Wilhelm, Herz- <strong>und</strong> Gefässchirurgie am Universitäts-Spital Zürich,<br />
Interview vom 23.08.11<br />
8
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
Im folgenden Kapitel werden die Symptome beim Überprüfen der Irreversibilität<br />
mithilfe <strong>ein</strong>es Diagramms dargestellt. Die Anzeichen sollen die Irreversibiliät des<br />
Zustandes verdeutlichen, jedoch muss klar gemacht werden, dass der Verlauf bereits<br />
vor dem diagnostizierten Hirntod irreversibel ist.<br />
3.3 Das Hirn als Zentrum des menschlichen Bewussts<strong>ein</strong>s<br />
In der medizinischen Fachliteratur wird das Gehirn häufig als Sitz des Bewussts<strong>ein</strong>s<br />
betitelt. Die Neurologie kennt zwei Arten von Bewussts<strong>ein</strong>: Das Wachbewussts<strong>ein</strong><br />
<strong>und</strong> das Reflexivbewussts<strong>ein</strong>. Aus dem Kontext kann gefolgert werden, dass das<br />
reflexive Bewussts<strong>ein</strong> mit dem Hirntod zusammenhängt. Reflexivbewussts<strong>ein</strong> ist <strong>ein</strong><br />
Begriff für geistige Vorgänge, die ablaufen, selbst wenn wir sie manchmal gar nicht<br />
bewusst wahrnehmen, es können auch Träume im Schlaf s<strong>ein</strong>, die wir nicht<br />
verursachen, sondern welche von unserem Unterbewussts<strong>ein</strong> projiziert werden. Mit<br />
Wachbewussts<strong>ein</strong> wird der Zustand definiert, in welchem wir bloss wach sind.<br />
Das Gehirn mit s<strong>ein</strong>en geistigen Fähigkeiten hält nach der M<strong>ein</strong>ung vieler<br />
Wissenschaftler <strong>ein</strong>e übergeordnete Position inne, da es Impulse durch den Körper<br />
leitet <strong>und</strong> den Muskeln so unterschiedliche Anweisungen gibt. Die Medizin trennt<br />
den Geist des Menschen komplett von s<strong>ein</strong>em Körper (= kartesischer Dualismus),<br />
wodurch <strong>ein</strong>e Transplantation erst denkbar wird. Wenn das Gehirn die Fähigkeit<br />
verliert, dem Körper Befehle zu erteilen <strong>und</strong> abstirbt, ist der Hirntod <strong>ein</strong>getreten. Um<br />
die Diagnose des Hirntodes wird es im nächsten Kapitel gehen.<br />
3.4 Ablauf <strong>ein</strong>er Hirntoddiagnose <strong>und</strong> Begriff der<br />
Irreversibilität<br />
Für die Feststellung des Hirntodes bei <strong>ein</strong>em Patienten sind klare Richtlinien<br />
zwingend nötig. In diesem Kapitel wird der generelle Ablauf erklärt, <strong>und</strong> die<br />
spezifischen Richtlinien des Uni Spitals Zürich aufgezählt.<br />
Zu Beginn muss die Untersuchung von zwei unabhängigen, nicht mit der<br />
Transplantation in Kontakt stehenden Ärzten durchgeführt werden. Nach<br />
mindestens 24 St<strong>und</strong>en klinischer Beobachtung werden die Anzeichen in <strong>ein</strong>em<br />
»minimalen Zeitintervall« 3 untersucht.<br />
3<br />
für weitere Informationen siehe: Feststellung des <strong>Tod</strong>es mit Bezug auf Organtransplantationen,<br />
Medizin-ethische Richtlinien, http://www.swisstransplant.org/pdf/SAMW-Richtlinien-D.pdf<br />
9
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
Bilder des<br />
Gehirns<br />
Vergiftung,<br />
Unterkühlung<br />
Hirntoddiagnose<br />
Voraussetzungen<br />
klinische<br />
Untersuchungen<br />
Sicherung der<br />
Irreversibilität<br />
Feststellung<br />
<strong>ein</strong>er schweren<br />
Hirnschädigung<br />
Ausschliessen<br />
ähnlicher<br />
Krankheitsbilder<br />
Infektionen des<br />
Gehirns<br />
Narkose<br />
Voraussetzungen<br />
Registrierung der<br />
elektrischen<br />
Hirnströme mit dem<br />
EEG<br />
schwere<br />
Stoffwechselerkrankungen<br />
Spiral-Computertomographie:<br />
Röntgenbilder des<br />
Gehirns<br />
Hirntoddiagnose<br />
Voraussetzungen<br />
klinische<br />
Untersuchungen<br />
Feststellung<br />
<strong>ein</strong>es Komas<br />
Ausfall des<br />
Pupillen-Licht-<br />
Reflexes<br />
Ausfall der<br />
Schmerzreaktion<br />
beim Pressen von<br />
Austrittsstellen<br />
der<br />
Gesichsnerven<br />
Ausfall der<br />
Spotan-Atmung,<br />
welche vom<br />
Hirnstamm<br />
ausgeht<br />
Hirntoddiagnose<br />
klinische<br />
Untersuchungen<br />
Sicherung der<br />
Irreversibilität<br />
Ausfall des<br />
Husten- <strong>und</strong><br />
Würgereflexes<br />
(durch<br />
Stimulation des<br />
Rachens)<br />
Zusatzuntersuchungen<br />
Wiederholen der<br />
klinischen<br />
Untersuchungen<br />
Szintigraphie: Bilder<br />
des Gehirns durch<br />
radioaktive<br />
Substanzen im Blut<br />
evozierte Potenziale:<br />
Stimulation des<br />
Nervengewebes mit<br />
elektr. Signalen<br />
Doppler- <strong>und</strong> Farbduplexsonographie:<br />
Ultraschall zur<br />
Klärung der<br />
Hirndurchblutung<br />
intraarterielle<br />
Angiographie:<br />
Injektion <strong>ein</strong>es<br />
Kontrastmittels in die<br />
Blutbahnen des<br />
Gehirns<br />
Sicherung der<br />
Irreversibilität<br />
Ausfall des<br />
Schliessmechanismus<br />
der<br />
Augenlider bei<br />
Berühren der<br />
Hornhaut<br />
Ausfall der<br />
Gegenbewegung<br />
der Augäpfel bei<br />
Kopfdrehen<br />
10
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
Eine Hirntoddiagnose ist in drei Abschnitte <strong>ein</strong>geteilt: die Klärung der<br />
Voraussetzungen, die medizinische Untersuchung <strong>und</strong> zuletzt die Sicherung der<br />
Irreversibilität mit eventuell erforderlichen Zusatzuntersuchungen.<br />
Im dissoziierten Hirntod kann <strong>ein</strong>e Vielzahl von Reflexen ausgelöst werden, die für<br />
unvorbereitete Beobachter sehr verwirrend s<strong>ein</strong> können. Das nächste Kapitel wird die<br />
verschiedenen Arten von <strong>Leben</strong>szeichen genauer betrachten <strong>und</strong> den Hirntod vom<br />
ähnlichen Krankheitszustand des Komas abgrenzen.<br />
3.5 Vergleich von Hirntod <strong>und</strong> Koma: die Problematik der<br />
<strong>Leben</strong>szeichen<br />
3.5.1 Differenzierung vom Koma<br />
Das Koma ist <strong>ein</strong> typisches Symptom für den Hirntod. Es kann aber auch all<strong>ein</strong>e<br />
auftreten, ohne dass das Gehirn unweigerlich s<strong>ein</strong>e Funktion <strong>ein</strong>stellt.<br />
Die Tiefe <strong>ein</strong>es Komazustandes wird definiert anhand der Reaktionen der Patienten<br />
auf Ansprechen, Schütteln <strong>und</strong> Stimulation durch Schmerzreize; je tiefer das Koma,<br />
desto weniger Regungen.<br />
In der Hirntoddiagnostik wird <strong>ein</strong> Koma als Symptom für den Hirntod betrachtet,<br />
wenn der Patient k<strong>ein</strong>erlei Regungen auf Stimulationen zeigt. Ein durch<br />
Schlafmittelvergiftung hervorgerufenes Koma ist jedoch auch nach dem Ausfall der<br />
Schmerzreaktionen noch rückbildungsfähig, muss deshalb zweifelsfrei<br />
ausgeschlossen werden können.<br />
Die Problematik geht so weit, dass man mit der modernen Medizin <strong>ein</strong><br />
rückbildungsfähiges Koma nach Ausfall des Hustenreflexes nicht vom Hirntod<br />
unterscheiden kann. Teilweise können mit dem EEG noch verbliebene Hirnströme<br />
gemessen werden, andernfalls muss mithilfe mehrerer Untersuchungen beurteilt<br />
werden, ob sich der Patient bereits im Hirntod befindet.<br />
3.5.2 Die Problematik der <strong>Leben</strong>szeichen im Hirntod<br />
An <strong>ein</strong>em hirntoten Patienten lassen sich verschiedene Arten von<br />
<strong>Leben</strong>digkeitszeichen erkennen. Deren Interpretation <strong>und</strong> ihre Bedeutung für das<br />
kulturelle <strong>Tod</strong>esverständnis ist von grosser Wichtigkeit, um <strong>ein</strong>e neutrale Beurteilung<br />
zu ermöglichen.<br />
Man unterscheidet <strong>zwischen</strong> fünf Bereichen der <strong>Leben</strong>digkeit: dem äusseren Aspekt,<br />
spinal-vegetativen Reflexen, spinalen Automatismen, organinteraktiven<br />
Stoffwechselprozessen <strong>und</strong> hormonellen Steuerungsvorgängen.<br />
11
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
• Von aussen her gesehen unterscheidet sich <strong>ein</strong> Hirntoter nicht von <strong>ein</strong>em<br />
komatösen Patienten. Der Brustkorb hebt <strong>und</strong> senkt sich durch die künstliche<br />
Beatmung, die Haut ist warm, rosig <strong>und</strong> weich, der Rumpf bebt leicht unter dem<br />
Rhythmus des Herzschlags.<br />
• Spinal-vegetative Reflexe werden durch Nervenfasern innerhalb <strong>und</strong><br />
ausserhalb des Rückenmarks hervorgerufen. Dies kann die Ausbildung <strong>ein</strong>er<br />
Gänsehaut s<strong>ein</strong>, fleckige Hautrötungen <strong>und</strong> Veränderungen der Herzfrequenz oder<br />
des Blutdruckes durch den Schnitt mit dem Skalpell bei <strong>ein</strong>er Organentnahme.<br />
• Spinale Automatismen sind Bewegungen in den Extremitäten <strong>ein</strong>es Hirntoten.<br />
Entweder erfolgen sie in gleichmässigen Abständen oder sie werden durch den<br />
gleichen Reiz ausgelöst. Sie sind im Rückenmark verankert <strong>und</strong> werden erst durch<br />
den Ausfall der Kontrolle durch das Gehirn enthemmt. Die Begründung für die<br />
Entstehung im Rückenmark ist diejenige, dass solche Automatismen <strong>und</strong> Reflexe<br />
auch bei Tetraplegikern (Lähmung bis zum Hals) <strong>und</strong> Patienten mit <strong>ein</strong>er isolierten<br />
Hirnstammerkrankung beobachtet wurden.<br />
• Organinteraktive Stoffwechselprozesse sind in vier Bereichen erkennbar:<br />
1. Aufnahme von Sauerstoff durch die Lunge,<br />
2. Nahrungsaufnahme aus dem Darm,<br />
3. Prozess der Verarbeitung durch Leber <strong>und</strong> Bauchspeicheldrüse <strong>und</strong><br />
4. Ausscheidungsvorgang durch Niere <strong>und</strong> Dickdarm.<br />
• Hormonelle Steuerungsvorgänge finden <strong>zwischen</strong> dem Blutkreislauf <strong>und</strong><br />
Hormondrüsen statt. Da diese Drüsen jedoch an die Hirnanhangdrüse gekoppelt<br />
sind, ist <strong>ein</strong>e anhaltende Hormonproduktion im hirntoten Körper nur für kurze Zeit<br />
möglich.<br />
Alle oben genannten <strong>Leben</strong>digkeitszeichen laufen nach medizinischer M<strong>ein</strong>ung<br />
ausschliesslich auf der biologischen Ebene <strong>ein</strong>es Menschen ab. Herr Wilhelm<br />
bestätigte dies im Interview ebenfalls. Obgleich dies wissenschaftlich bewiesen<br />
wurde, diskutiert die Gesellschaft noch immer darüber, ob <strong>ein</strong> hirntoter Patient<br />
anhand dieser <strong>Leben</strong>szeichen wirklich zweifelsfrei als Leichnam betrachtet werden<br />
kann. Im nächsten Kapitel werden ethische Fragestellungen zur Organspende<br />
beantwortet <strong>und</strong> dem Gedanken, (ab) wann <strong>ein</strong> Mensch denn wirklich tot ist,<br />
nachgegangen.<br />
12
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
4. Christliche Ethik<br />
Für die folgenden Ausführungen in der Ethik des Christentums muss <strong>ein</strong>e klare<br />
Begriffsabgrenzung gemacht werden, um Missverständnisse zu vermeiden <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e<br />
<strong>ein</strong>deutige Argumentation zu ermöglichen.<br />
Der Körper bezeichnet alle physischen, biologisch begründbaren Eigenschaften <strong>und</strong><br />
Vorgänge <strong>ein</strong>es Menschen. Als Geist wird derjenige Teil bezeichnet, in dem alle<br />
psychischen Vorgänge stattfinden. Der Mensch ist also <strong>ein</strong>e Einheit von Körper <strong>und</strong><br />
Geist.<br />
Der Geist besteht wiederum aus zwei Teilen. Einerseits braucht es für die<br />
menschliche Existenz Bewussts<strong>ein</strong>, das für die geistigen Tätigkeiten verantwortlich<br />
ist. Denken, verstehen, fühlen <strong>und</strong> der Ursprung des physischen Handelns durch den<br />
Körper sind alle im Bewussts<strong>ein</strong> verankert. Der Sitz des Bewussts<strong>ein</strong>s ist im Gehirn.<br />
Andererseits hat der Mensch auch <strong>ein</strong>e Seele, bzw. <strong>ein</strong> Selbst, die emotionale<br />
Eindrücke speichert. Sie definiert den Charakter <strong>und</strong> die Eigenwahrnehmung. Über<br />
den Sitz der Seele sind sich die Religionen nicht im Klaren.<br />
Im Hirntod stirbt das Bewussts<strong>ein</strong> sofort ab, was mit der medizinischen Einstellung<br />
über<strong>ein</strong> stimmt. Die Seele jedoch, der spirituelle Aspekt des Menschen löst sich vom<br />
Körper ab, sie ist unsterblich.<br />
Der in der Religion oft benutzte Ausdruck Leib ist <strong>ein</strong>e Zusammenfügung des Körpers<br />
mit der Seele.<br />
4.1 Der Mensch als Einheit von Körper <strong>und</strong> Geist<br />
In diesem Unterkapitel wird die kulturell bedingte Konzeption von Körper, Geist <strong>und</strong><br />
Seele genauer betrachtet. Bei den folgenden Ausführungen, mit Ausnahme des<br />
Kapitels 4.2, wird nicht nach Konfessionen (katholisch bzw. protestantisch, etc.)<br />
unterschieden. Vielmehr handelt es sich hierbei um ethische Überlegungen zur<br />
medizinischen <strong>Tod</strong>esdefinition bezüglich Hirntod <strong>und</strong> Organspende aus <strong>ein</strong>er<br />
allgem<strong>ein</strong>en christlichen Sichtweise.<br />
Das Christentum beschreibt den Menschen als <strong>ein</strong>e Einheit von Körper, Geist <strong>und</strong><br />
Seele, wobei hier der Begriff »Geist« nicht für Bewussts<strong>ein</strong> <strong>und</strong> Seele steht, sondern<br />
lediglich im Sinne des Bewussts<strong>ein</strong>s zu verstehen ist. Der christliche Glaube hält<br />
13
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
daran fest, dass Gott dem Menschen <strong>ein</strong>e Seele gegeben hat, die im ganzen Körper<br />
verankert ist, nicht bloss im Kopf.<br />
Der Philosoph Alfred Schöpf definierte <strong>ein</strong>st den Leib aus philosophischer Sicht:<br />
»Unter dem menschlichen Leib verstehen wir die angeborene organische Ganzheit,<br />
die durch seelisch-geistiges Erleben <strong>und</strong> Handeln organisiert <strong>und</strong> gestaltet wird.<br />
Abstrahiert man von Psyche <strong>und</strong> Bewussts<strong>ein</strong> <strong>und</strong> betrachtet lediglich die anatomischphysiologische<br />
Seite, dann sprechen wir vom Körper des Menschen. [...]« 4<br />
Viele Menschen wenden sich in Fragen bezüglich des Körpers <strong>und</strong> des Geistes an die<br />
Religion, deren Überlegungen zum Hirntod <strong>und</strong> der Organspende im folgenden<br />
Kapitel genauer betrachtet werden.<br />
4.2 Stellungnahme zum Hirntodkonzept<br />
4.2.1 Die katholische Kirche<br />
Die Problematik des Hirntodkonzepts hat auch in den grossen Kirchen des<br />
Christentums Einzug gehalten. Gemäss <strong>ein</strong>er offiziellen Erklärung stimmt die<br />
katholische Kirche dem Konzept, dass der Mensch im Hirntod tot ist, zu. Im Jahre<br />
2008 hat Papst Benedikt XVI sich äusserst lobend zur Organspende geäussert: Es sei<br />
<strong>ein</strong>e »besondere Form, Nächstenliebe zu zeigen.«<br />
»In <strong>ein</strong>er Zeit wie der unseren, die von den verschiedensten Arten des Egoismus<br />
geprägt wird, wird es immer dringender, zu verstehen, dass man in <strong>ein</strong>e Logik des<br />
kostenlosen Gebens <strong>ein</strong>treten muss, um <strong>ein</strong> richtiges Bild vom <strong>Leben</strong> zu haben. Es gibt<br />
<strong>ein</strong>e Verantwortung aus Liebe <strong>und</strong> Barmherzigkeit, die dazu verpflichtet, aus dem<br />
eigenen <strong>Leben</strong> <strong>ein</strong> Geschenk an die anderen zu machen, wenn man sich tatsächlich<br />
selbst verwirklichen will.« 5<br />
Trotz dieser selbstlosen Aussage erwähnte Papst Benedikt jedoch auch die<br />
auftretende Problematik des Umgangs mit der Würde <strong>und</strong> der personalen Einheit des<br />
Menschen. Um das Prinzip der Nächstenliebe zu erfüllen, durch welches die<br />
Organspende christlich erst akzeptiert wurde, darf der Körper auf k<strong>ein</strong>en Fall<br />
objektiviert oder zu kommerziellen Zwecken genutzt werden. <strong>Leben</strong>de Organe<br />
dürften nur aus <strong>ein</strong>em Toten entnommen werden. Wenn Sterbende ihre Organe<br />
spendeten, dann müsse »der Respekt vor dem <strong>Leben</strong> des Spenders das<br />
Hauptkriterium s<strong>ein</strong>. 5 « Auffällig an dieser Äusserung ist, dass Papst Benedikt trotz<br />
der Zustimmung der katholischen Kirche an die Organspende von »Sterbenden«<br />
spricht, denen Organe entnommen werden, nicht von Toten.<br />
4<br />
Schöpf, Alfred in: O. Höffe, Lexikon d. Ethik, 1997, 171f., aus: http://web.physik.uni-rostock.de/<br />
aktuell/Ring/U_Kern_Leib-Seele2.pdf<br />
5<br />
Papst Benedikt XVI, radio vaticana, 07.11.2008: http://storico.radiovaticana.org/ted/storico/<br />
2008-11/243140_vatikan_organspenden_sind_zeichen_der_nachstenliebe.html<br />
14
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
4.2.2 Die protestantische Kirche<br />
In der Reformierten Kirche gibt es k<strong>ein</strong> Oberhaupt wie es die katholische Kirche<br />
kennt. Somit kann jede Person aus freiem Willen selbst <strong>ein</strong>er Organspende im<br />
Hirntod zustimmen oder <strong>ein</strong>e solche verweigern.<br />
Jedoch äusserte sich Frau Bendik vom Schweizerischen Evangelischen Kirchenb<strong>und</strong><br />
(SEK) auch kritisch zur Organspende. Hirntote seien ganz klar Sterbende, die sich<br />
bloss an <strong>ein</strong>em »point of no return« befinden, erst die Organentnahme sei der <strong>Tod</strong><br />
dieser Person. 6<br />
Sofern sich jemand klar für <strong>ein</strong>e Organspende entscheidet, <strong>und</strong> dies nach dem freien<br />
Willen <strong>und</strong> im Sinne <strong>ein</strong>es Geschenks für kranke Menschen geschieht, dann wird <strong>ein</strong><br />
solcher Entschluss auch von der reformierten Kirche selbstverständlich unterstützt.<br />
4.3 Sitz der Seele <strong>und</strong> die kulturelle Prägung des Körpers<br />
Seit Jahrtausenden schon gilt das Herz in vielen Kulturen dieser Welt als Inbegriff<br />
menschlichen <strong>Leben</strong>s. Bereits zur Zeit der Antike machten sich griechische<br />
Philosophen, genannt Stoiker, über die Seele Gedanken. Sie waren der Ansicht, dass<br />
die Seele aus acht Teilen besteht: dem Hegemonikón (oberster Seelenteil), den fünf<br />
Sinnen, dem fortpflanzenden Teil <strong>und</strong> der Stimme. Einige Stoiker sahen den Sitz des<br />
Hegemonikón im Kopf, andere im Herzen. Die Seele besteht nach stoischer Lehre aus<br />
pneuma, <strong>ein</strong>em feurigen Atemhauch, der im ganzen Körper anzufinden ist. Die<br />
M<strong>ein</strong>ungen zur Seele nach dem <strong>Tod</strong> gingen bereits damals schon aus<strong>ein</strong>ander.<br />
Aus der Zeit des alten Ägypten sind Bilder erhalten geblieben, auf welchen die<br />
»Wägung des Herzens« des Toten stattfindet. Dafür wurde das Herz auf <strong>ein</strong>e<br />
Waagschale gelegt <strong>und</strong> auf die andere Seite die Feder der Göttin der Wahrheit. Ob die<br />
Seele r<strong>ein</strong> <strong>und</strong> gut war, entschied sich, wenn die Waage im Gleichgewicht blieb.<br />
6<br />
Frau Ivana Bendik aus dem Institut für Theologie <strong>und</strong> Ethik des Schweizerischen Evangelischen<br />
Kirchenb<strong>und</strong>es; Interview vom 24.08.11<br />
15
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
Diese antike Schilderung untermalt den ständigen Gedanken der Menschheit, dass<br />
im Herzen der Sitz der Seele ist. Bis heute ist das Herz als Sitz der Gefühle <strong>und</strong> der<br />
Liebe in der Gesellschaft verankert geblieben, <strong>und</strong> die Faszination, die der Begriff der<br />
Seele auf den Menschen ausübt, reicht sogar bis in die Moderne.<br />
Im Alltag verweisen wir oft unbewusst mit bestimmten Ausdrücken auf die<br />
signifikante Rolle, die das Herz in unserem <strong>Leben</strong> spielt. So sprechen wir von<br />
Menschen, die »das Herz am rechten Fleck haben«, die wir »ins Herz schliessen«,<br />
von Schreckensmomenten, an denen uns “das Herz in die Hose rutscht” oder von<br />
Gefühlen wie der Erleichterung, wenn uns »<strong>ein</strong> St<strong>ein</strong> vom Herzen fällt« <strong>und</strong> dem<br />
Mut, wenn wir uns »<strong>ein</strong> Herz fassen«.<br />
Der ganze menschliche Körper ist Gegenstand von kulturellen Prägungen: So kann<br />
jemand »frei von der Leber weg reden«, <strong>ein</strong>em anderen geht etwas »an die Nieren«<br />
<strong>und</strong> er macht sich darüber »Kopfzerbrechen«. Die Organe, die im täglichen Gebrauch<br />
jedoch am häufigsten vorkommen, sind das Herz <strong>und</strong> der Kopf.<br />
Ebenso machen wir Verbindungen <strong>zwischen</strong> dem Körper <strong>und</strong> <strong>ein</strong>er Maschine, wann<br />
immer wir unsere Geisteszustände mithilfe mechanischer Ausdrücke beschreiben. So<br />
wird beispielsweise von <strong>ein</strong>em »überladenen System«, <strong>ein</strong>er »vollen Festplatte« oder<br />
von »sich drehenden Rädchen im Kopf« gesprochen.<br />
Hier wird impliziert, dass der Körper genau wie <strong>ein</strong>e Maschine kontrollier- <strong>und</strong><br />
steuerbar ist. Obwohl dies mit den technischen Fortschritten immer weiter möglich<br />
ist, so steht der physische Körper trotzdem in <strong>ein</strong>er Wechselwirkung mit dem<br />
belebten Leib.<br />
7<br />
7<br />
Quelle: Papyrus des Hunefer, www.pernefer.de/ka.htm<br />
16
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
Der christliche Glaube beruht auf der Auffassung, dass das menschliche <strong>Leben</strong> <strong>ein</strong><br />
Geschenk Gottes ist <strong>und</strong> Körper, Geist <strong>und</strong> Seele (hier ist der Geist wieder als<br />
Verstand anzusehen) zu<strong>ein</strong>ander in ständiger Wechselwirkung stehen. Sie sind<br />
ver<strong>ein</strong>t <strong>und</strong> können nicht getrennt als drei unabhängige Aspekte angesehen werden.<br />
Der Mensch in s<strong>ein</strong>er Ganzheit ist beseelt, <strong>und</strong> somit personales Gegenüber zu Gott,<br />
die menschliche Seele ist nicht an <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges Organ zu binden.<br />
Im nächsten Kapitel wird erarbeitet, wie der Mensch durch die Medizin auf s<strong>ein</strong>e<br />
Gehirnfunktionen reduziert wird, bzw. weshalb so viel Wert auf die Wahrung der<br />
Würde gesetzt wird.<br />
4.4 Reduzierung des Menschen auf s<strong>ein</strong>e Gehirnfunktionen<br />
<strong>und</strong> das Wahren der menschlichen Würde<br />
Gemäss der medizinischen Definition ist der Körper des Menschen aufgeteilt in <strong>ein</strong>en<br />
funktionierenden Körper <strong>und</strong> <strong>ein</strong> höher gestelltes Gehirn, dem das menschliche<br />
Bewussts<strong>ein</strong> zugeordnet wird. Somit hat nach der M<strong>ein</strong>ung der Medizin alles<br />
menschliche Denken <strong>und</strong> Handeln s<strong>ein</strong>en Ursprung im Gehirn, wo analog dazu also<br />
auch der Sitz der Seele s<strong>ein</strong> muss. Durch diese Gleichstellung der Hirnfunktion mit<br />
dem Menschs<strong>ein</strong> wurde die Transplantation erst möglich gemacht. Doch so nützlich<br />
<strong>und</strong> notwendig diese klare Abgrenzung für die Biomedizin auch ist, <strong>ein</strong>e solche<br />
Definition bringt auch Kontroversen mit sich, denn die christliche Religion hält an<br />
der leiblichen Ganzheit des Menschen fest <strong>und</strong> besteht auf die Integrität der<br />
menschlichen Würde. Dies ist der allererste Gr<strong>und</strong>satz in der Medizinethik:<br />
»Das f<strong>und</strong>amentale Kriterium für die Legitimität <strong>ein</strong>er medizinischen Intervention<br />
muss die Verteidigung <strong>und</strong> Förderung des Menschen als ganzes s<strong>ein</strong> - der körperlichen<br />
<strong>und</strong> spirituellen Einheit - in Harmonie mit der <strong>ein</strong>zigartigen Würde, die <strong>ein</strong> Mensch<br />
all<strong>ein</strong> durch s<strong>ein</strong> Menschs<strong>ein</strong> schon besitzt.« 8<br />
Dieses Zitat besagt, dass <strong>ein</strong> medizinischer Eingriff stets begrenzt ist, nicht nur im<br />
Hinblick auf die technischen Möglichkeiten, sondern auch auf den Respekt vor der<br />
Würde des Menschen.<br />
Im Christentum wird das Gehirn dem restlichen Körper nicht übergeordnet, sondern<br />
der Mensch wird als Einheit von verschiedenen Faktoren aufgefasst. Alle diese<br />
Komponenten tragen dazu bei, dass Menschen Menschen sind.<br />
8<br />
Gambino, Gabriella, »Die katholische Kirche« in: Organtransplantationen — ethisch betrachtet;<br />
zus.gestellt von Morris, Sir Peter; Berlin, Lit Verlag, 2006<br />
17
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
Der Glaube plädiert darauf, dass der Mensch im Hirntod zwar unumkehrbar auf dem<br />
Wege in den <strong>Tod</strong> ist, sich jedoch noch im Sterbeprozess befindet <strong>und</strong> deshalb die<br />
menschliche Würde unbedingt beachtet werden muss. Dies ist jedoch sehr<br />
problematisch, da mit der strikten Trennung Gehirn-Körper die spirituelle Einheit<br />
von Körper <strong>und</strong> Geist (mit Verstand <strong>und</strong> Seele als Bestandteile) übergangen wird.<br />
Die katholischen <strong>und</strong> protestantischen Kirchen mussten also <strong>ein</strong>en Weg finden, den<br />
radikalen Eingriff in den Sterbeprozess <strong>ein</strong>es Menschen <strong>und</strong> die Verletzung dessen<br />
Würde zu rechtfertigen. Dies taten sie durch das Prinzip der Nächstenliebe oder der<br />
Solidarität <strong>und</strong> legitimierten auf diesem Wege die Organtransplantation, wie bereits<br />
im Kapitel »Begründung der Kirchen« beschrieben wurde.<br />
4.5 Der Sterbeprozess <strong>und</strong> die Ablösung der Seele vom Körper<br />
In diesem Unterkapitel wird der Prozess des Sterbens in christlicher Hinsicht<br />
behandelt <strong>und</strong> noch genauer auf den Ablöseprozess der Seele vom physischen Körper<br />
<strong>ein</strong>gegangen.<br />
Die Frage nach dem <strong>Tod</strong> hat die Menschen schon immer beschäftigt. Trotz dem<br />
grossen technologischen Fortschritt der letzten Jahre kann es jedoch bis heute nur zu<br />
<strong>ein</strong>em gewissen Punkt hin gelüftet werden.Die moderne Medizin baut auf der<br />
Gr<strong>und</strong>lage auf, dass das Bewussts<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>es Menschen eng an s<strong>ein</strong>e physische Person,<br />
genauer gesagt s<strong>ein</strong> Gehirn geb<strong>und</strong>en ist (bereits erläutert im Kapitel 3.3).<br />
Nach den neusten Erkenntnissen der Sterbeforschung kann die unsterbliche Seele,<br />
unsere Wahrnehmung des »Selbst«, im Sterben jedoch aus dem Körper treten <strong>und</strong><br />
sich unabhängig von Raum <strong>und</strong> Zeit bewegen, was am Phänomen der<br />
Nahtoderfahrung erkannt werden konnte. Die Eindrücke, von denen Sterbende<br />
berichten, sind immer sehr emotional <strong>und</strong> können so auch ohne den ans Gehirn<br />
geb<strong>und</strong>ene Verstand wahrgenommen werden.<br />
Bernhard Jakoby 9 zeigt in s<strong>ein</strong>em Bericht mögliche Sterbephasen auf, die <strong>ein</strong> Mensch<br />
während dem Sterben durchlaufen kann. Die folgende Tabelle zeigt bloss <strong>ein</strong>e<br />
Möglichkeit des Sterbeprozesses, jeder Mensch berichtet von anderen Erlebnissen<br />
<strong>und</strong> so kann k<strong>ein</strong> allgem<strong>ein</strong>es Bild vom <strong>Tod</strong> daraus gefolgert werden. Dass sich im<br />
9<br />
Bernhard, Jakoby,; deutscher Sterbeforscher; Tabelle aus: http://www.kath-kirche-vorarlberg.at/<br />
organisation/katholisches-bildungswerk-vorarlberg/artikel/geheimnis-sterben-was-wir-heute-ueberden-sterbeprozess-wissen-1<br />
18
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
Zustand des Nahtodes die Wahrnehmung erweitert, d.h. unsere Seele die physischen<br />
Grenzen des Körpers überwindet, ist jedoch empirisch bewiesen.<br />
Phase<br />
1. Lockerung der Seele:<br />
Schwebezustand<br />
2. Konfrontation mit<br />
den verdrängten<br />
Problemen<br />
3. Das letzte Aufgebot<br />
der physischen<br />
Reserven:<br />
Bewussts<strong>ein</strong>serweiterung<br />
4. Der Augenblick des<br />
<strong>Tod</strong>es<br />
5. Die Loslösung der<br />
Seele vom Körper<br />
Merkmale<br />
Der Sterbende kann s<strong>ein</strong> Bett nicht mehr eigenständig verlassen,<br />
die »Erdung« lässt nach. Die Seele beginnt, sich sanft zu lösen,<br />
Betroffene fühlen sich leicht <strong>und</strong> erleben Schwebezustände<br />
<strong>zwischen</strong> Schlaf, Traum <strong>und</strong> Wachbewussts<strong>ein</strong>.<br />
Der Sterbende möchte mit sich ins R<strong>ein</strong>e kommen <strong>und</strong><br />
verbleibende Dinge klären. Der Kontakt mit der geistigen Welt<br />
wird schrittweise aufgebaut, die Wahrnehmung konzentriert sich<br />
zunehmend auf ausserkörperliche Ersch<strong>ein</strong>ungen.<br />
Das letzte »Aufblühen« wird registriert, es kann je nachdem sanft<br />
oder laut (durch Schreie, Stöhnen oder Aufbäumen) verlaufen.<br />
Das <strong>Leben</strong>sfeuer erstrahlt noch <strong>ein</strong> letztes Mal bevor es erlischt.<br />
Die Augen des Sterbenden sind gross, glänzend <strong>und</strong> wie von<br />
<strong>ein</strong>em inneren Licht oder Feuer erhellt.<br />
Das Ende des Sterbeprozesses setzt mit dem letzten Herzschlag<br />
<strong>und</strong> Atemzug <strong>ein</strong>. Die Seele des Menschen wendet sich an die<br />
geistige Welt, ist aber noch immer an den menschlichen Körper<br />
geb<strong>und</strong>en. Angehörige berichten häufig von <strong>ein</strong>er Energie, die sie<br />
im Raum gespürt haben, die an die Anwesenheit der Verstorbenen<br />
erinnert.<br />
Die Verbindung <strong>zwischen</strong> Körper <strong>und</strong> Geist, manchmal als<br />
»Silberschnur« bezeichnet, wird endgültig durchtrennt. Die Seele<br />
tritt komplett in die geistige Welt über <strong>und</strong> der Körper des<br />
Verstorbenen gleicht <strong>ein</strong>er leeren Hülle.<br />
19
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
4.6 Medizin <strong>und</strong> christliche Ethik im Vergleich<br />
Medizin<br />
<strong>Tod</strong>esdefinition durch Absterben des<br />
Gehirns oder Herzversagen<br />
Der Sterbeprozess ist <strong>ein</strong>geteilt in<br />
1. den klinischen,<br />
2. den zerebralen,<br />
3. den Hirntod <strong>und</strong><br />
4. den biologischen (vollständigen <strong>Tod</strong>).<br />
Für den Menschen ist das Gehirn<br />
definierend. Es macht den Menschen<br />
erst zu dem, was er ist <strong>und</strong> ist höher<br />
gestellt als der restliche Körper.<br />
Beim <strong>Tod</strong> stirbt der Mensch mit Körper<br />
<strong>und</strong> Geist, es bleibt nichts übrig.<br />
christliche Ethik<br />
Die <strong>Tod</strong>esdefinition wird nicht begrenzt auf das<br />
Versagen <strong>ein</strong>zelner Organe, sondern b<strong>ein</strong>haltet den<br />
<strong>Tod</strong> des Menschen als Ganzes.<br />
Der Sterbeprozess findet in mehreren Phasen statt,<br />
während denen sich die Seele des Sterbenden<br />
zunehmend an die geistige Welt wendet, bis die<br />
Verbindung <strong>zwischen</strong> Körper <strong>und</strong> Geist endgültig<br />
getrennt wird.<br />
Das Gehirn definiert den Menschen nicht, es ist<br />
zwar <strong>ein</strong> wichtiger Bestandteil des Körpers, wird<br />
aber gleichgestellt mit allen anderen Organen.<br />
Bloss der Teil des Bewussts<strong>ein</strong>s stirbt beim <strong>Tod</strong>, die<br />
Seele ist unsterblich <strong>und</strong> löst sich vom Körper.<br />
5. Buddhismus<br />
5.1 Einheit von Körper <strong>und</strong> Geist<br />
Körper <strong>und</strong> Geist stehen auch nach buddhistischer Ansicht in ständiger<br />
Wechselwirkung zu<strong>ein</strong>ander. Das Gehirn hält <strong>ein</strong>e gleichgestellte Position inne wie<br />
alle anderen Organe , es wird dem restlichen Körper k<strong>ein</strong>esfalls übergeordnet.<br />
»Im Buddhismus wird das Gehirn lediglich als <strong>ein</strong> Teil des Körpers angesehen, wo<br />
<strong>ein</strong>ige der Anweisungen des Geistes zu den anderen Teilen des Körpers geleitet werden,<br />
jedoch ist es nicht der Ort, an dem die Gedanken entstehen; Gedanken entstehen in dem<br />
nicht-körperlichen Geist.« 10<br />
Eine Person wird im Buddhismus durch fünf Aggregate, genannt »Skandhas«,<br />
beschrieben. Diese sind: Form (Körperlichkeit), Gefühl (Empfindung),<br />
Wahrnehmung (Erkennung), Intellekt (psychische Formkräfte) <strong>und</strong> das<br />
Bewussts<strong>ein</strong>. 11 Das erste ist <strong>ein</strong> r<strong>ein</strong> äusserliches Phänomen, die letzten vier beziehen<br />
sich alle auf den Geist mit s<strong>ein</strong>en subjektiven Empfindungen.<br />
10<br />
http://www.viewonbuddhism.org/buddhismus-deutsch/g-geist.htm<br />
11<br />
Rinpoche, Sogyal; »Das tibetische Buch vom <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> vom Sterben«, 2. verbesserte Auflage,<br />
Frankfurt am Main, O.W. Barth Verlag, 2004<br />
20
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
Buddhisten kennen k<strong>ein</strong>e beständige<br />
Selbstwahrnehmung. Die fünf Aggregate,<br />
die im Menschen ver<strong>ein</strong>t sind, verändern<br />
sich während des <strong>Leben</strong>s sowie nach<br />
<strong>ein</strong>er Wiedergeburt ständig. Was jedoch<br />
bleibt, ist die Kontinuität des Geistes,<br />
über alle Wiedergeburten hin verteilt.<br />
Diese Einstellung zu Körper <strong>und</strong> Geist<br />
wurde auch im Interview deutlich, das<br />
mit Lama Pema Wangyal 12 geführt<br />
wurde. Buddhisten sind der Ansicht,<br />
dass beim <strong>Tod</strong> der ganze Geist inklusive<br />
der Seele den Körper verlässt <strong>und</strong> noch<br />
viele Male wiedergeboren werden kann. 13<br />
5.2 Stellungnahme zum Hirntodkonzept <strong>und</strong> die Haltung der<br />
buddhistischen Gesellschaft<br />
Im Buddhismus gibt es k<strong>ein</strong>e religiöse Autorität, die Regeln bezüglich dem täglichen<br />
<strong>Leben</strong> bestimmt. Ew. Lama Pema Wangyal sagte im Gespräch dazu:<br />
»Es gibt bloss Traditionen <strong>und</strong> kulturelle Normen, die Buddhisten praktizieren. Die<br />
Organspende wird akzeptiert im Sinne <strong>ein</strong>es Geschenkes an <strong>ein</strong>en anderen Menschen.<br />
Es zählt zu den ehrenvollsten Taten, jemandem, der <strong>ein</strong> Organ braucht, dieses Geschenk<br />
zu machen.« 14<br />
Für <strong>ein</strong>en Buddhisten gehören Mitgefühl <strong>und</strong> Grosszügigkeit zu den obersten<br />
Prinzipien auf dem Weg zur Erleuchtung. Die <strong>Leben</strong>dspende wird als<br />
unproblematisch angesehen, denn so können Buddhisten anderen Menschen Organe<br />
geben, von denen sie nicht alles zum <strong>Leben</strong> benötigen (Nieren, Teile der Leber). Es ist<br />
wichtig für Buddhisten, sich nicht an den Körper zu klammern <strong>und</strong> in dieser Weise<br />
wird ihnen bei der <strong>Leben</strong>dspende nichts weggenommen.<br />
Bei der postmortalen Organspende sieht die Ausgangslage jedoch <strong>ein</strong> bisschen anders<br />
aus: Der <strong>Tod</strong> wird prozesshaft beschrieben, <strong>und</strong> kann aus buddhistischer Sicht von<br />
wenigen Minuten bis zu mehreren Tagen dauern (siehe Kapitel 5.4). In dieser Zeit<br />
12<br />
Lama Pema Wangyal, buddhistischer Mönch im Tibeti-Institut Rikon, Interview vom 24.08.11<br />
13<br />
Rad des <strong>Leben</strong>s: www.shiatsu-austria.at/<strong>ein</strong>fuehrung/kultur_13.htm<br />
14<br />
Interview mit Lama Pema Wangyal vom 24.08.11<br />
21
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
sollte der Körper des »Sterbenden« in k<strong>ein</strong>er Weise gestört, bzw. berührt werden,<br />
damit sich die Seele in Ruhe vom Körper lösen kann. Hat die sterbende Person<br />
jedoch aus freiem Willen in <strong>ein</strong>e Organspende <strong>ein</strong>gewilligt, so gilt <strong>ein</strong>e<br />
Transplantation als Akt grossen Mitgefühls, durch den Menschenleben gerettet<br />
werden können. Diese Entscheidung sollte jeder Buddhist für sich all<strong>ein</strong>e treffen,<br />
nachdem er sich intensiv mit dem <strong>Tod</strong> <strong>und</strong> der Wiedergeburt befasst hat.<br />
5.3 Bedeutung verschiedener Organe <strong>und</strong> Sitz der Seele<br />
Der Buddhismus kennt k<strong>ein</strong>e kulturelle Assoziationen für die verschiedenen inneren<br />
Organe. Für <strong>ein</strong>ige religiöse Meister befindet sich der ganze Geist im Herzen, was<br />
ihm <strong>ein</strong>e besondere Bedeutung verleiht. Andere wiederum sind der Ansicht, dass er<br />
im Hirn verankert ist. Ein Buddhist sollte sich nicht an s<strong>ein</strong>e Organe klammern, <strong>ein</strong><br />
Organ erhält bloss deshalb <strong>ein</strong>e spezielle Bedeutung, weil es durch den Geist<br />
kontrolliert wird.<br />
Der Sitz der Seele ist im Buddhismus nicht an <strong>ein</strong>em gewissen Ort im Körper<br />
verankert, vielmehr wandert sie frei herum. Lama Pema berichtete von folgender<br />
Auffassung:<br />
»Während <strong>ein</strong>em Monat, also etwa dreissig Tagen wandert die Seele durch den ganzen<br />
Körper: Die Reise beginnt in den Zehen <strong>und</strong> geht mit jedem Tag <strong>ein</strong> Stück weiter nach<br />
oben über die linke Seite. Bei Vollmond befindet sie sich im Scheitel <strong>und</strong> beginnt dann,<br />
über die rechte Seite herunterzusteigen.« 15<br />
Im tibetischen Buddhismus existiert die Vorstellung, dass das Bewussts<strong>ein</strong> ebenfalls<br />
nicht an <strong>ein</strong>er Stelle bleibt, sondern sich je nach körperlicher <strong>und</strong> mentaler Aktivität<br />
an <strong>ein</strong>em anderen Ort befindet. Lama Pema erklärte im Interview, wie <strong>ein</strong>e solche<br />
Bewegung zu verstehen ist:<br />
»Wenn jemand sehr tief schläft, ist s<strong>ein</strong> Bewussts<strong>ein</strong> auch tiefer unten im Körper, etwa<br />
in der Region des Herzens. Bei leichterem Schlaf befindet sich das Bewussts<strong>ein</strong> etwas<br />
weiter oben, ungefähr in der Kehle. Während den restlichen Tätigkeiten ist es im<br />
Kopf.« 16<br />
5.4 Sterbeprozess <strong>und</strong> Ablösung der Seele vom Körper<br />
Innerhalb des Buddhismus gibt es verschiedene Richtungen, die unterschiedlichen<br />
Rituale <strong>und</strong> Traditionen b<strong>ein</strong>halten. Der Fokus liegt hier im tibetischen Buddhismus.<br />
15<br />
Interview mit Lama Pema Wangyal vom 24.08.11<br />
16<br />
Interview mit Lama Pema Wangyal vom 24.08.11<br />
22
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
Unter dem Begriff »Sterbeprozess« sind viele Arten denkbar. In diesem Kapitel wird<br />
jedoch nur auf den »normalen« Sterbeprozess <strong>ein</strong>es Menschen durch hohes Alter<br />
oder Krankheit Bezug genommen, was <strong>ein</strong>en Vergleich auf derselben Ebene mit den<br />
M<strong>ein</strong>ungen aus dem Christentum <strong>und</strong> dem Islam ermöglicht.<br />
Im Buddhismus sind fünf Urstoffe bekannt, die den Menschen ausmachen: der<br />
Urstoff der Erde (Festigkeit), des Wassers (Flüssigkeit), des Feuers (Wärme), der Luft<br />
(Atem) <strong>und</strong> des Raumes (unbegrenzte Leere). Während dem Sterbeprozess verlieren<br />
diese Urstoffe der Reihe nach ihre Kraft, den Geist zu unterstützen. Die Seele<br />
beginnt, sich vom Körper abzulösen. Dabei durchläuft der Sterbende verschiedene<br />
Geisteszustände, in denen er jeweils beim Auflösen <strong>ein</strong>es weiteren Urstoffes <strong>ein</strong>e<br />
bestimmte Vision vor s<strong>ein</strong>em inneren Auge hat. Es ist von grosser Wichtigkeit, immer<br />
an heilsamen Gedanken festzuhalten, um »die Eindrücke positiver Handlungen zur<br />
Reife zu bringen.« 17 Dies kann dem Betroffenen bei der Wiedergeburt die Existenz als<br />
Tier oder noch erbärmlicheres Wesen ersparen. 18<br />
5.5 Der kulturelle Umgang mit dem <strong>Tod</strong><br />
Ein Toter sollte im Buddhismus für <strong>ein</strong>e gewisse Zeit, meistens drei bis vier Tage,<br />
ungestört bleiben, damit sich s<strong>ein</strong>e Seele gänzlich vom Körper ablösen kann. Diese<br />
alte Tradition wird jedoch nicht immer praktiziert. Lama Pema m<strong>ein</strong>te dazu:<br />
»Bei Lamas [budd. Mönche] wird sehr vorsichtig gehandelt. Normale Menschen können<br />
schon berührt werden, das ist k<strong>ein</strong> Problem. Befindet sich der Sterbende aber noch in<br />
der Meditationsphase, können W<strong>ein</strong>en oder sonstige Störfaktoren <strong>ein</strong>en negativen<br />
Einfluss auf die Wiedergeburt dieses Menschen haben.« 19<br />
Was noch immer durchgeführt wird, ist die Aufbahrung von Verstorbenen, damit<br />
Angehörige Abschied nehmen können. Dies gestaltet sich in westlichen Kulturen<br />
jedoch immer schwieriger, meistens muss <strong>ein</strong>e behördliche Erlaubnis geholt werden.<br />
Für Buddhisten ist der <strong>Tod</strong> nicht das Ende des <strong>Leben</strong>s, sondern nur <strong>ein</strong>e<br />
Übergangsphase in die Wiedergeburt dieses Menschen, weshalb sie auch nicht wie<br />
die Christen um den Verstorbenen trauern. Eher sollte man sich gemäss Lama Pema<br />
für diese Person freuen, dass er/sie <strong>ein</strong>e Chance auf <strong>ein</strong> neues <strong>Leben</strong> oder die<br />
Erleuchtung, die Erlösung aus dem Rad des <strong>Leben</strong>s, bekommt.<br />
17<br />
»Verständnis vom <strong>Tod</strong> im tibetischen Buddhismus« auf www.bodhibaum.net<br />
18<br />
Detaillierte Ausführungen auf www.bodhibaum.net oder im »Tibetischen Buch vom <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> vom<br />
Sterben« von Sogyal Rinpoche (s. Literaturverzeichnis)<br />
19<br />
Interview mit Lama Pema Wangyal vom 24.08.11<br />
23
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
Trotzdem finden während 49 Tagen verschiedenste Zeremonien statt, um die<br />
verstorbene Person zu ehren <strong>und</strong> <strong>ein</strong>en Übergang in <strong>ein</strong>e hohe Existenzform zu<br />
unterstützen. Dies kommt daher, dass sich gemäss buddhistischen Schriften <strong>ein</strong><br />
Mensch höchstens sieben Wochen im Bardo, also dem Zwischenzustand befindet.<br />
Während der Beerdigung oder Kremation, die in der tibetischen Tradition sehr häufig<br />
praktiziert wird, tragen Buddhisten deshalb weiss, die Farbe der Wiedergeburt <strong>und</strong><br />
des <strong>Leben</strong>s.<br />
5.6 Buddhismus <strong>und</strong> Christentum im Vergleich<br />
Buddhismus<br />
- Der Mensch wird durch die fünf<br />
Aggregate, genannt »Skandhas«,<br />
beschrieben.<br />
- Der Geist des Menschen verändert sich<br />
während dem <strong>Leben</strong> ständig.<br />
- Beim <strong>Tod</strong> verlässt der Geist mit der Seele<br />
den Körper <strong>und</strong> wird wieder geboren.<br />
- k<strong>ein</strong>e religiöse Autorität, bloss Traditionen<br />
<strong>und</strong> kulturelle Normen<br />
- k<strong>ein</strong>e Assoziationen mit Organen, nur wenn<br />
sie durch den Geist kontrolliert werden.<br />
- Der Geist <strong>und</strong> die Seele wandern frei im<br />
Körper herum<br />
- Aufbahrung des Verstorbenen,<br />
anschliessend häufig Kremation<br />
Christentum<br />
- Der Mensch wird definiert als <strong>ein</strong>e Einheit<br />
von Körper, Geist (im Sinne des Verstandes)<br />
<strong>und</strong> Seele.<br />
- Ein beständiges »Ich« macht den<br />
Menschen aus.<br />
- Beim <strong>Tod</strong> stirbt der Verstand bzw. das<br />
Bewussts<strong>ein</strong>, die Seele löst sich vom Körper<br />
- Der Papst ist das Oberhaupt der<br />
katholischen Kirche, die reformierte Kirche<br />
hat k<strong>ein</strong>e religiöse Autorität<br />
- Das Herz als Sitz der Gefühle <strong>und</strong> das<br />
Gehirn als Sitz des Bewussts<strong>ein</strong>s<br />
- Geist <strong>und</strong> Seele bleiben an <strong>ein</strong>em Ort<br />
verankert<br />
- heutzutage meistens k<strong>ein</strong>e Aufbahrung, nur<br />
Beerdigung oder Kremation<br />
6. Islam<br />
6.1 Rechtsgr<strong>und</strong>lagen bei <strong>ein</strong>er Organspende: Scharia<br />
Die Diskussion um das Thema Hirntod ist in den islamischen Staaten in vollem<br />
Gange. Gelehrte der Scharia, des Gottesrechts, sind mit sehr komplexen Fragen<br />
konfrontiert, wie etwa der, die sich mit der Bestimmbarkeit des genauen<br />
<strong>Tod</strong>eszeitpunktes beschäftigt. Die Bestimmung ist deswegen problematisch, weil sich<br />
nach dem <strong>Tod</strong> zahlreiche Rechtsverhältnisse ändern, <strong>und</strong> der Tote sollte sehr bald<br />
(möglichst nach weniger als 24 St<strong>und</strong>en) bestattet werden.<br />
24
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
In der Scharia werden auch diverse <strong>Tod</strong>esmerkmale genannt, wie der starre, nach<br />
oben gerichtete Blick, der der Seele »nachschaut«, das Erschlaffen der Füsse <strong>und</strong> der<br />
Gesichtshaut, die Krümmung der Nase <strong>und</strong> das Einsinken der Schläfen. 20<br />
Für die schariatrechliche <strong>Tod</strong>esbestimmung muss <strong>ein</strong>e vollständige Trennung von<br />
Seele <strong>und</strong> Körper stattgef<strong>und</strong>en haben. Da die Seele jedoch nicht sichtbar ist, kann<br />
im Hirntod nicht zweifelsfrei behauptet werden, dass diese Trennung bereits<br />
vollführt wurde. Trotzdem wurde der Hirntod vonseiten islamischer Gelehrten<br />
rechtlich anerkannt.<br />
Frau Mohamed 21 machte folgende Aussage über die rechtlichen Bestimmungen zur<br />
Organspende:<br />
»Nach muslimischer Auffassung tritt der <strong>Tod</strong> dann <strong>ein</strong>, wenn die Seele den Körper<br />
verlässt. Der genaue Zeitpunkt, wann dies der Fall ist, kann unseres Wissens nicht klar<br />
bestimmt werden. Hirntod ist also nicht zwingend mit dem <strong>Tod</strong> gleichzusetzen.« 22<br />
Religiöse Gelehrte <strong>und</strong> islamische Juristen haben bereits etliche Fatwas, also<br />
Rechtsgutachten bezüglich der Scharia, herausgegeben, in denen sie zur<br />
Organspende <strong>und</strong> -transplantation Stellung nahmen. Folgendes Zitat ist <strong>ein</strong>e Fatwa,<br />
die von der islamischen Fiqh Akademie veröffentlicht wurde:<br />
»Organs from the deceased can be transplanted to a patient, where the life of the<br />
recipient depends on the transplant, or if the continuation of the basic bodily functions<br />
of the recipient depends on the transplant. This is however, dependent on the deceased‘s<br />
consent, or that of his next-of-kin after his death, or by the decision of the leaders of the<br />
Muslim community, should the deceased be unidentified, or does not have any next-ofkin.«<br />
23<br />
Zusammengefasst bedeutet dies, dass <strong>ein</strong>er hirntoten Person Organe zur<br />
Transplantation entnommen werden dürfen, wenn der Verstorbene entweder zu<br />
Lebzeiten selbst <strong>ein</strong>gewilligt hat, direkte Angehörige für ihn <strong>ein</strong>willigen oder die<br />
Führer der muslimischen Gem<strong>ein</strong>schaft des Verstorbenen <strong>ein</strong>er Entnahme<br />
zustimmen.<br />
Es wird ebenfalls grossen Wert darauf gelegt, dass die Würde des Verstorbenen<br />
gewahrt <strong>und</strong> das Organ nicht zu kommerziellen Zwecken gebraucht wird. Die<br />
verschiedenen Überlegungen zur Legitimität <strong>ein</strong>er Organspende werden im nächsten<br />
Unterkapitel näher betrachtet.<br />
20<br />
Holznienkemper, Thomas; Organspende <strong>und</strong> Transplantation <strong>und</strong> ihre Rezension in der Ethik der<br />
abrahamitischen Religionen, »4.4.2.4 Islamisch« S.51<br />
21<br />
Frau Sumaya Angelina Mohamed, Moschee Hegi, Interview vom 15.10.11<br />
22<br />
Interview mit Frau Sumaya Angelina Mohamed, 15.10.11<br />
23<br />
The decision of the Islamic Fiqh Academy in its Fourth meeting in Jeddah on February 11, 1988.<br />
http://www.muis.gov.sg/cms/uploadedFiles/MuisGovSG/Religious/OOM/Resources/Muis<br />
%20kidney%20book%20ENG.pdf<br />
25
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
6.2 Stellungnahme zum Hirntodkonzept <strong>und</strong> die Haltung der<br />
islamischen Gesellschaft<br />
Der Islam macht sich, wie auch jede andere Religion, Gedanken zu Fragen über den<br />
<strong>Tod</strong> des Menschen. Ganz besondere Beachtung wurde in den letzten Jahren dem<br />
Thema Hirntod <strong>und</strong> Organspende geschenkt.<br />
In der dritten internationale Konferenz islamischer Gelehrter in Amman/Jordanien<br />
wurde der Hirntod mit dem Herztod gleichgestellt. 24 Dadurch wurde es den<br />
muslimischen Ländern ethisch erlaubt, Organspenden <strong>und</strong> -transplantationen<br />
durchzuführen.<br />
Die Legitimität der Organspende im islamischen Glauben wird damit begründet, dass<br />
»Taten nach den dahinterstehenden Absichten beurteilt werden.« 25 Eine<br />
Organspende soll Ausdruck von Mitgefühl s<strong>ein</strong> <strong>und</strong> in Anbetracht der Rettung <strong>ein</strong>es<br />
Menschenlebens, was im Islam <strong>ein</strong>e der höchsten Tugenden ist, Zeichen der<br />
Nächstenliebe s<strong>ein</strong>.<br />
Da es im Islam k<strong>ein</strong>e Oberhaupt gibt, das den Schlussentscheid bei aktuellen Fragen<br />
fällt, müssen die Gelehrten versuchen, den Koran bzw. die Scharia nach bestem<br />
Wissen zu deuten. In der schriftlichen Befragung von Frau Mohamed wurde deutlich,<br />
dass für <strong>ein</strong>e Mehrheit der Gelehrten <strong>ein</strong>e Organspende im Sinne der <strong>Leben</strong>srettung<br />
erlaubt ist, wenn der »(mögliche) Nutzen den (möglichen) Schaden überwiegt.« 26<br />
Es existieren bisher noch k<strong>ein</strong>e Studien über die Organspenden nach<br />
Religionszugehörigkeit. Trotzdem ist bekannt, dass auch Muslime in der Schweiz<br />
Organe spenden <strong>und</strong> annehmen. Ein wichtiger Unterschied ist <strong>zwischen</strong> der <strong>Leben</strong>d-<br />
<strong>und</strong> der postmortalen Spende. Allgem<strong>ein</strong> gilt das gr<strong>und</strong>sätzliche Verbot der<br />
Verletzung des menschlichen Körpers, der dem Muslimen von Allah anvertraut<br />
wurde. Bei der <strong>Leben</strong>dspende kann der mögliche Schaden der spendenden Person<br />
grösser s<strong>ein</strong> als bei der postmortalen, <strong>und</strong> deshalb müssen alle Faktoren genau<br />
betrachtet <strong>und</strong> gegen<strong>ein</strong>ander abgewogen werden.<br />
24<br />
http://www.organspende-info.de/downloads/24-134-390/Unterrichtsmaterial_organspende.pdf<br />
25<br />
Interview mit Frau Sumaya Angelina Mohamed vom 15.10.11<br />
26<br />
Interview mit Frau Sumaya Angelina Mohamed vom 15.10.11<br />
26
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
6.3 Sitz der Seele <strong>und</strong> Glaubenskonflikte mit der<br />
medizinischen <strong>Tod</strong>esdefinition<br />
Der Islam kennt <strong>ein</strong> Menschenbild, das dem des Christentums sehr ähnelt. Ein<br />
Mensch besteht demnach aus dem Körper, der Seele <strong>und</strong> der sog. <strong>Leben</strong>skraft. 27 Der<br />
Körper beschreibt den physischen Aspekt, die Seele den nicht materiellen Teil. Die<br />
<strong>Leben</strong>skraft kann als göttlichen Antrieb betitelt werden, was <strong>ein</strong>e Parallele zur<br />
Philosophie der Stoa im antiken Griechenland ist (s. Kapitel 4.3). Für Stoiker bestand<br />
der Mensch ebenfalls aus drei Teilen: dem Körper (materia), der Vernunft (ratio)<br />
<strong>und</strong> dem göttlichen Atem (pneuma). Je mehr von diesem pneuma <strong>ein</strong> Lebewesen<br />
besitzt, desto göttlicher ist es.<br />
Gemäss der Medizin nimmt das Gehirn <strong>ein</strong>e zentrale Stellung für das Menschs<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>,<br />
von ihm gehen alle Impulse an die Organe aus. Der Islam jedoch steht nicht<br />
vollkommen hinter dieser technischen Auffassung. Frau Mohamed m<strong>ein</strong>te dazu:<br />
»Im Islam wird allgem<strong>ein</strong> nicht das Hirn, sondern das Herz als Zentrum aller<br />
menschlichen Wahrnehmung bezeichnet, wobei (...) hier das spirituelle Herz gem<strong>ein</strong>t<br />
ist. Obwohl man natürlich auch im Islam das Hirn als Zentrum des Denkens <strong>und</strong> - in<br />
Kombination mit dem Impuls des Herzens - auch des Handelns sieht, nimmt es daher<br />
jedoch nicht die zentrale Stellung <strong>ein</strong>, die ihm die moderne Medizin u. U. zuschreiben<br />
möchte.« 25<br />
6.4 Sterbeprozess <strong>und</strong> Ablösung der Seele vom Körper<br />
»Die Seele verlässt nach dem Sterbeprozess den Körper bis zum Tag der Auferstehung,<br />
an dem sich beide wieder mit<strong>ein</strong>ander ver<strong>ein</strong>en werden. Dort wird der Mensch über<br />
s<strong>ein</strong>e Taten vor Gott Rechenschaft ablegen <strong>und</strong> schließlich wird über die Belohnung<br />
oder Bestrafung des Menschen entschieden.« 28<br />
Im Islam existiert die feste Vorstellung, dass die Seele <strong>ein</strong>es Menschen den Körper im<br />
Moment des <strong>Tod</strong>es verlässt <strong>und</strong> dann für kurze Zeit in <strong>ein</strong>en “Aufbewahrungsort“<br />
geht. Wenn der leblose Körper sich im Grab befindet, kehrt die Seele angeblich<br />
wieder zu ihm zurück <strong>und</strong> wartet auf die Befragung durch zwei Engel, die über<br />
Belohnung oder Bestrafung entscheiden. Zwischen dem <strong>Tod</strong> <strong>und</strong> der Befragung<br />
durch die Engel ist die Seele immer noch bis zu <strong>ein</strong>em gewissen Punkt mit dem<br />
Körper verb<strong>und</strong>en. Sie nimmt alles in ihrer Umgebung wahr, kann sich jedoch nicht<br />
mit den <strong>Leben</strong>den verständigen.<br />
27<br />
Interview mit Frau Sumaya Angelina Mohamed vom 15.10.11<br />
28<br />
http://www.kultur-ges<strong>und</strong>heit.de/ges<strong>und</strong>heit_krankheit_<strong>und</strong>_muslimische_patienten/<br />
lebensphasen/sterbebegleitung_<strong>und</strong>_tod.php<br />
27
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
Bevor die Seele ins Jenseits übergehen kann, wird sie über Glaube, Handlungen,<br />
Religion, Gott <strong>und</strong> den Propheten Mohammed befragt. Dann wird über Belohnung<br />
oder Bestrafung entschieden, indem im ersten Fall der Kopf des Verstorbenen nach<br />
rechts ausgerichtet wird <strong>und</strong> die Seele ins Paradies gehen kann, oder indem im Falle<br />
<strong>ein</strong>er Bestrafung der Kopf nach links gelegt wird <strong>und</strong> der Verstorbene in die Hölle<br />
kommt.<br />
In der Sure 56 »Das unvermeidliche Ereignis« des Korans sieht der <strong>Tod</strong> wie folgt aus:<br />
1. Wenn das Ereignis <strong>ein</strong>trifft -<br />
2. Es gibt nichts, das s<strong>ein</strong> Eintreffen verhindern könnte -<br />
3. Dann wird es (die <strong>ein</strong>en) erniedrigen, (andere) wird es erhöhen. [...]<br />
7. Und ihr sollt in drei Ränge (gestellt) werden: [...]<br />
88. Wenn er nun zu denen gehört, die (Gott) nahe sind,<br />
89. Dann (wird er) Glück (geniessen) <strong>und</strong> Duft (der Seligkeit) <strong>und</strong> <strong>ein</strong>en Garten<br />
90. Und wenn er zu denen gehört, die zur Rechten sind,<br />
91. (Wird ihm <strong>ein</strong>) »Friede sei mit dir, der du zu denen zur Rechten gehörst!«<br />
92. Wenn er aber zu den Leugnern, Irregegangenen gehört,<br />
93. Dann (wird ihm) <strong>ein</strong>e Bewirtung mit siedendem Wasser<br />
94. Und Brennen in der Hölle<br />
95. Wahrlich, dies ist die Wahrheit selbst.<br />
96. Lobpreise darum den Namen d<strong>ein</strong>es Herrn, des Grossen. 29<br />
6.5 Der kulturelle Umgang mit dem <strong>Tod</strong><br />
Jede Religion hat ihre eigenen Praktiken beim Umgang mit Verstorbenen. Es gibt<br />
unterschiedliche Rituale <strong>und</strong> Vorgangsweisen, mit denen die Angehörigen den<br />
Verblichenen die letzte Ehre erweisen <strong>und</strong> sie in die Welt der Ahnen übergehen<br />
lassen. In diesem Kapitel werden die Rituale der praktizierenden Muslime näher<br />
betrachtet.<br />
Für die Muslime ist der <strong>Tod</strong> nicht das Ende des Menschen, sondern vielmehr <strong>ein</strong> Tor<br />
vom Diesseits zum Jenseits. Der »letzte Besuch« ist für gläubige Muslime von grosser<br />
Bedeutung. Fre<strong>und</strong>e, Angehörige <strong>und</strong> Bekannte des Sterbenden besuchen ihn noch<br />
<strong>ein</strong> letztes Mal, um Unklarheiten zu ber<strong>ein</strong>igen <strong>und</strong> ihren Beistand auszudrücken.<br />
Die Artikulation des islamischen Glaubenssatzes <strong>und</strong> Rezitation des Korans während<br />
der Sterbebegleitung soll den Sterbenden beruhigen, sodass s<strong>ein</strong>e Seele in Ruhe dem<br />
Schöpfer übergeben werden kann.<br />
Wenn die Person verstorben ist, werden die Hände gekreuzt, Augen <strong>und</strong> M<strong>und</strong><br />
geschlossen <strong>und</strong> das Kinn mit <strong>ein</strong>em Stück Stoff festgeknotet. Dann wird der Körper<br />
des Verstorbenen in <strong>ein</strong>em Waschritual, das von <strong>ein</strong>er Person gleichen Geschlechts<br />
29<br />
http://www.intratext.com/IXT/DEU0018/_P3D.HTM<br />
28
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
durchzuführen ist, ger<strong>ein</strong>igt. Anschliessend wird er nach strengen Regeln in das<br />
Totengewand gewickelt, wofür beim Mann drei, bei der Frau fünf weisse Tücher<br />
verwendet werden.<br />
Nach islamischem Glauben gehört der menschliche Körper der Erde, deshalb sollten<br />
Verstorbene möglichst bald nach dem <strong>Tod</strong> (unter 24 St<strong>und</strong>en) bestattet werden.<br />
Normalerweise werden gläubige Muslime nicht in <strong>ein</strong>em Sarg bestattet. In westlichen<br />
Ländern ist dies jedoch Vorschrift <strong>und</strong> so werden <strong>ein</strong>fache, ungeschmückte Särge<br />
verwendet. In ihrem Grab werden die Verstorbenen auf die rechte Seite, das Gesicht<br />
nach Mekka schauend gelegt <strong>und</strong> <strong>ein</strong> Vorbeter (Imâm) verrichtet das Totengebet.<br />
Während der Beerdigungszeremonie sollte zum Verstorbenen gesprochen werden, da<br />
s<strong>ein</strong>e Seele noch immer bei dem leblosen Körper ist. Es wird zwar um den<br />
Verstorbenen getrauert, man sollte jedoch gefasst s<strong>ein</strong>, da für die Muslime das<br />
menschliche <strong>Leben</strong> bloss <strong>ein</strong>e Etappe ist.<br />
6.6 Islam <strong>und</strong> Christentum im Vergleich<br />
Islam<br />
Organspende als Ausdruck von Mitgefühl <strong>und</strong><br />
Nächstenliebe zur Rettung <strong>ein</strong>es Menschenlebens.<br />
Der Mensch ist <strong>ein</strong>e Einheit von Körper, Seele <strong>und</strong><br />
<strong>Leben</strong>skraft.<br />
Die Seele verlässt den Körper beim <strong>Tod</strong>, bis sie an<br />
der Auferstehung wieder ver<strong>ein</strong>t werden.<br />
Bestattung war ursprünglich ohne Sarg<br />
Die verstorbene Person wird in weisse Tücher<br />
gewickelt, der Körper nach rechts gedreht <strong>und</strong> mit<br />
dem Gesicht nach Mekka schauend bestattet.<br />
Christentum<br />
Organspende ist Zeichen von<br />
Nächstenliebe <strong>und</strong> Solidarität gegenüber<br />
den Mitmenschen.<br />
Im Menschen sind der physische Körper<br />
<strong>und</strong> der beseelte Leib ver<strong>ein</strong>t.<br />
Die Seele ist bei Gott, der Körper wird als<br />
leere Hülle zurückgelassen.<br />
Bestattung im Sarg oder Kremation<br />
Der Mensch wird auf dem Rücken liegend<br />
mit über<strong>ein</strong>ander gelegten Händen <strong>und</strong><br />
in schöner Kleidung beerdigt.<br />
29
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
7. Eigene zentrale Überlegungen<br />
7.1 Ist das Gehirn definierend für das Menschs<strong>ein</strong>?<br />
Das Gehirn gibt dem restlichen Körper Befehle: den Muskeln, sich zu bewegen <strong>und</strong><br />
Organen wie der Leber den Befehl, im Körper zu arbeiten. Dies lässt die Medizin<br />
darauf schliessen, dass das Gehirn zwangsläufig <strong>ein</strong>e höhere Position innehält als der<br />
übrige Körper. Dies ist jedoch nicht ganz wahr: <strong>ein</strong> Herz, <strong>ein</strong>e Lunge, <strong>ein</strong>e Leber etc.<br />
können auch ohne die Befehle vom Gehirn weiter existieren, <strong>und</strong> zwar maschinell<br />
betrieben. Die als <strong>ein</strong>zigartig angesehene Funktion des Gehirns kann also künstlich<br />
durch <strong>ein</strong>e von Menschen erschaffene Maschine ersetzt werden, es braucht weder<br />
Denken noch Handeln vom Gehirn, um den restlichen Körper mindestens für <strong>ein</strong>ige<br />
Zeit in Gang zu halten.<br />
Das menschliche Herz ist ebenfalls für <strong>ein</strong>en gewissen Zeitraum ersetzbar, <strong>und</strong> zwar<br />
durch <strong>ein</strong> Kunstherz, das alle lebenswichtigen Funktionen übernimmt. Es ist jedoch<br />
nur als Überbrückung gedacht, bis für den Patienten <strong>ein</strong> geeignetes Spenderherz<br />
gef<strong>und</strong>en wird. Im Gegensatz zur Maschine, die den Menschen im Hirntod »am<br />
<strong>Leben</strong>« hält, endet die Benutzung <strong>ein</strong>es Kunstherzens nicht im <strong>Tod</strong>, sondern im<br />
<strong>Leben</strong>.<br />
Da das Hirn genau wie das Herz künstlich zumindest für kurze Zeit ersetzt werden<br />
kann, ist darauf zu schliessen, dass das Gehirn dem restlichen Körper nicht<br />
übergeordnet ist, es ist <strong>ein</strong> Organ wie alle anderen.<br />
Doch was macht uns Menschen denn so <strong>ein</strong>zigartig? Wenn alle Organe gleichgestellt<br />
sind, dann muss der Mensch <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>zigartiges Zusammenspiel von verschiedenen<br />
Komponenten s<strong>ein</strong>. Einige Ethiker <strong>und</strong> Philosophen behaupten, dass <strong>ein</strong>e Seele den<br />
Menschen so <strong>ein</strong>zigartig macht, andere gehen davon aus, dass der Mensch den<br />
göttlichen Atem <strong>ein</strong>geflösst bekam. Eine Kombination von Materie (materia) <strong>und</strong><br />
Vernunft (ratio) wie es die Philosophen der Stoa schon in der Antike beschrieben<br />
haben, wäre hingegen auch denkbar.<br />
7.2 Wann ist <strong>ein</strong> Mensch wirklich tot?<br />
Beim Herztod gelten verschiedene Kriterien, wie beispielsweise der Stillstand des<br />
Kreislaufs, die Leichenstarre, das Erkalten des Körpers <strong>und</strong> die sichtbaren<br />
Totenflecken. Alle genannten Merkmale sind klare Anzeichen dafür, dass der <strong>Tod</strong><br />
<strong>ein</strong>getreten ist. Beim Hirntod jedoch wurde der <strong>Tod</strong>eszeitpunkt nach vorne<br />
30
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
verschoben: Der Körper ist noch warm, der Brustkorb hebt <strong>und</strong> senkt sich, der ganze<br />
Kreislauf funktioniert <strong>ein</strong>wandfrei, der Stoffwechsel ist normal, etc. Alle Organe<br />
funktionieren weiter, mit Ausnahme des Gehirns. Die Medizin setzt den<br />
<strong>Tod</strong>eszeitpunkt auf dann, wenn das Gehirn abgestorben ist.<br />
Hier muss hervorgehoben werden, dass immer Perfekt-Formen gebraucht werden:<br />
»der <strong>Tod</strong> ist <strong>ein</strong>getreten« <strong>und</strong> »das Gehirn ist abgestorben«. Es sind Zustände,<br />
k<strong>ein</strong>esfalls Zeitpunkte, die die Medizin bestimmen kann. Unklar bleibt, wann der<br />
Moment kommt, an welchem »der <strong>Tod</strong> <strong>ein</strong>tritt« <strong>und</strong> »das Gehirn abstirbt«. Dies<br />
kommt daher, dass solche elementaren Bestandteile des menschlichen <strong>Leben</strong>s nicht<br />
Zeitpunkte, sondern Phasen sind. Wissenschaftler streiten sich noch heute darüber,<br />
wann <strong>ein</strong> Mensch »geboren« wird, ob er bereits bei der Zeugung <strong>ein</strong> Mensch ist,<br />
irgendwann während der Schwangerschaft, oder erst bei der effektiven Geburt. Die<br />
Entstehung des Menschen ist <strong>ein</strong> Vorgang genau wie das Sterben.<br />
»Tot ist, wenn das menschliche <strong>Leben</strong> zu <strong>ein</strong>em Ende gekommen ist.« Diese<br />
Formulierung kann aufgestellt werden, um das Sterben des Menschen zu erläutern.<br />
Der Mensch befindet sich erst im <strong>Tod</strong>, wenn die Sterbeprozesse vollständig<br />
abgeschlossen sind.<br />
Ein Mensch im Hirntod jedoch existiert weiter unter den Bedingungen <strong>ein</strong>er<br />
künstlichen Beatmung. S<strong>ein</strong> <strong>Leben</strong> wird zu Ende kommen, das ist unbestritten.<br />
Jedoch befindet sich dieser Mensch immer noch im Sterben, da die lebenswichtigen<br />
Organe noch erhalten blieben <strong>und</strong> erst nach <strong>ein</strong>em ungewissen Zeitraum beginnen,<br />
abzusterben. Wenn sogar <strong>ein</strong>e Schwangerschaft im Hirntod noch möglich ist, also<br />
<strong>Leben</strong> aus dem angeblich toten Körper entstehen kann, darf daraus geschlossen<br />
werden, dass <strong>ein</strong> Hirntoter <strong>ein</strong> Sterbender, k<strong>ein</strong>esfalls <strong>ein</strong> Toter ist.<br />
8. Schlusswort<br />
Bis ins 18. Jahrh<strong>und</strong>ert galt der Herz-Kreislauftod als <strong>ein</strong>ziger <strong>Tod</strong> <strong>ein</strong>es Menschen.<br />
<strong>Leben</strong>serhaltende Massnahmen wie die Intensivtherapie <strong>und</strong> andere Fortschritte der<br />
Medizin trugen zur Entdeckung des Hirntodes bei. Dies hat enorme Auswirkungen<br />
auf die Menschheit gehabt: Zum <strong>ein</strong>en wurde die Grenze des <strong>Tod</strong>es verschwommen,<br />
da <strong>ein</strong> menschliches <strong>Leben</strong> durch Maschinen künstlich am <strong>Leben</strong> gehalten werden<br />
konnte. Ebenfalls wurde es technisch möglich, lebende Organe aus <strong>ein</strong>em hirntoten<br />
Menschen herauszunehmen <strong>und</strong> sie <strong>ein</strong>er todkranken Person <strong>ein</strong>zupflanzen.<br />
31
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
Diese neuen Möglichkeiten brachten vielerorts grosse Kontroversen hervor.<br />
Mediziner, Vertreter der Religionen <strong>und</strong> alle Menschen mussten sich Gedanken zum<br />
<strong>Tod</strong> <strong>und</strong> der Bedeutung des Hirns machen. In m<strong>ein</strong>er Arbeit wollte ich das so sehr<br />
umstrittene Hirntodkonzept von verschiedenen Seiten aufzeigen: die medizinischen<br />
Gr<strong>und</strong>lagen, die ethischen M<strong>ein</strong>ungen aus christlicher Sicht, sowie die<br />
Aus<strong>ein</strong>andersetzung mit dem Buddhismus <strong>und</strong> dem Islam. Interviews oder<br />
schriftliche Befragungen mit jeweils <strong>ein</strong>em oder zwei Vertretern des Fachs haben mir<br />
<strong>ein</strong>en detaillierten Einblick in dieses komplexe Thema ermöglicht.<br />
Im Verlauf der Arbeit bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass das Gehirn nicht<br />
definierend für das Menschs<strong>ein</strong> ist. Die Medizin möchte ihm zwar <strong>ein</strong>e höhere<br />
Position zugestehen, jedoch bleibt unklar, was genau den Antrieb für das rationale<br />
Denken gibt. Der Mensch ist im Hirntod zwar unwiderruflich auf dem Weg in den<br />
<strong>Tod</strong>, aber er zählt immer noch zu den <strong>Leben</strong>den. Die christliche Kirche ist allgem<strong>ein</strong><br />
der Ansicht, dass <strong>ein</strong>e Organspende legitim ist, sofern sie freiwillig <strong>und</strong> mit der<br />
Absicht <strong>ein</strong>es Geschenkes durch Nächstenliebe <strong>und</strong> Solidarität erfolgt. Im<br />
Buddhismus verhält es sich ähnlich: Da k<strong>ein</strong> Oberhaupt existiert, das bestimmte<br />
Regeln aufgestellt hat, muss sich jeder Mensch mit sich selbst <strong>und</strong> dem <strong>Tod</strong><br />
aus<strong>ein</strong>andersetzen, um zu <strong>ein</strong>em Entschluss zu gelangen. Im Islam existieren etliche<br />
Schriften des Propheten <strong>und</strong> ebenso das Gottesrecht, die Scharia. Verschiedene<br />
Gelehrte haben das Thema Organspende <strong>und</strong> -transplantation ausführlich studiert<br />
<strong>und</strong> sind zu der Entscheidung gelangt, es offiziell zu akzeptieren, jedoch unter der<br />
Bedingung, dass die Spende freiwillig ist <strong>und</strong> nicht zu kommerziellen Zwecken dient.<br />
An dieser Stelle möchte ich <strong>ein</strong>en Dank an alle Interviewpartner aussprechen: Herr<br />
Dr. Markus Wilhelm, Frau Cornelia Broger, Frau Ivana Bendik, Ew. Lama Pema<br />
Wangyal, Frau Sumaya Angelina Mohamed <strong>und</strong> Herr Nicolas Blancho. Durch ihre<br />
ausführlichen Antworten auf m<strong>ein</strong>e Interviewfragen konnte ich m<strong>ein</strong>e Arbeit breit<br />
abstützen. Ebenfalls danke ich den Personen, die mich auf aktuelle Berichte in den<br />
Medien aufmerksam gemacht haben <strong>und</strong> diese Arbeit durchgelesen haben.<br />
Ein grosses Dankeschön geht an m<strong>ein</strong>e Betreuerin Frau Sandra Piccioni, die mir stets<br />
mit Rat <strong>und</strong> Tat zur Seite stand. Sie konnte sich für dieses Thema faszinieren <strong>und</strong> hat<br />
mich unterstützt, wann immer ich <strong>ein</strong>e zweite M<strong>ein</strong>ung brauchte. Durch ihre<br />
treffenden Vorschläge, die hilfreichen Ideen <strong>und</strong> konstruktive Kritik hat sie mir mit<br />
der Arbeit in grossem Masse weitergeholfen.<br />
32
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
9. Anhang<br />
9.1 Definition von Körper, Geist, Bewussts<strong>ein</strong>, Seele <strong>und</strong> Leib<br />
Der Körper b<strong>ein</strong>haltet alle physischen, biologisch begründbaren Vorgänge, der Geist<br />
hingegen steht für psychische Prozesse. Der Mensch ist also <strong>ein</strong>e Einheit von Körper<br />
<strong>und</strong> Geist.<br />
Der Geist besteht wiederum aus zwei Bereichen. Einerseits braucht es für die<br />
menschliche Existenz Bewussts<strong>ein</strong>, manchmal auch Verstand genannt, das für die<br />
geistigen Tätigkeiten verantwortlich ist. Denken, Verstehen, physisches Fühlen <strong>und</strong><br />
der Ursprung des physischen Handelns durch den Körper sind alle im Bewussts<strong>ein</strong><br />
verankert. Das Bewussts<strong>ein</strong> kann neurologisch nachgewiesen werden, s<strong>ein</strong>en Sitz hat<br />
es im Gehirn.<br />
Der Bereich Bewussts<strong>ein</strong> beschreibt technische Wahrnehmung <strong>und</strong> Reflexion, die<br />
neurologisch untersucht werden kann. Gr<strong>und</strong>sätzlich ist das Bewussts<strong>ein</strong> kurzzeitig.<br />
Der Mensch kann sich nicht an gewisse Gedanken oder Handlungen erinnern. Durch<br />
Wiederholung bestimmter Handlungsketten kann <strong>ein</strong>e langzeitige Erinnerung<br />
bewirkt werden. Ebenfalls ist das Bewussts<strong>ein</strong> platzbeschränkt, wir können nicht<br />
unbegrenzte Massen an Informationen in unserem Gedächtnis speichern.<br />
Diese Darlegung zeigt sich besonders am folgenden Beispiel: Als Kind lernen wir, wie<br />
man Fahrrad fährt. Die Erinnerung an das Gelernte wird mit dem Bewussts<strong>ein</strong><br />
erreicht, <strong>und</strong> zwar nur durch ständiges Wiederholen. Andernfalls würde es aus dem<br />
Gedächtnis irgendwann wieder herausfallen; wie bei Schülern, die den Schulstoff<br />
nach <strong>ein</strong>er Prüfung bald wieder vergessen, weil Platz für Neues geschafft werden<br />
muss.<br />
Da das Bewussts<strong>ein</strong> an das Gehirn geb<strong>und</strong>en ist, stirbt es beim Hirntod sofort ab, der<br />
Patient hat also das Reflexionsvermögen vollständig verloren.<br />
Andererseits hat der Mensch auch <strong>ein</strong>e Seele bzw. <strong>ein</strong> Selbst, welches emotionale<br />
Eindrücke speichert. Dadurch wird unser Charakter <strong>und</strong> unsere Eigenwahrnehmung<br />
definiert. In der Seele werden nur sehr emotionale Erlebnisse oder Erfahrungen<br />
gespeichert. Daher kommt auch die Phrase: »Es hat sich mir tief in die Seele<br />
gebrannt.« Die für den Aspekt des Bewussts<strong>ein</strong>s korrekte Erklärung der<br />
Wiederholung bestimmter Handlungen kann hier nicht mehr angewendet werden.<br />
Einige wenige Kindheitserinnerungen bleiben präsent, weil ihnen auf emotionaler<br />
Ebene <strong>ein</strong> grosser Stellenwert zugeschrieben wird. Dafür ist die Seele, der spirituelle<br />
Aspekt des Geistes, verantwortlich. Es kann als Langzeiterinnerung im Sinne <strong>ein</strong>er<br />
irrationalen Wahrnehmung verstanden werden, die unbeschränkt Platz bietet.<br />
Wenn wir beispielsweise <strong>ein</strong>e Kindheitserinnerung an <strong>ein</strong> bestimmtes Geschenk<br />
haben, dann vergessen wir dies nicht plötzlich, weil über Jahre hinweg mehrere<br />
Erinnerungen dazu kommen.<br />
Über den Sitz der Seele sind sich die Religionen nicht im Klaren, jedoch ist sie nicht<br />
neurologisch nachweisbar, kann also auch nicht im Gehirn verankert s<strong>ein</strong>. Beim<br />
Hirntod stirbt demnach die Seele nicht mit dem Körper, sondern löst sich gemäss<br />
den Religionen von ihm <strong>und</strong> geht in <strong>ein</strong>e andere Existenzform über.<br />
Der Ausdruck Leib ist <strong>ein</strong>e Zusammenfügung des Körpers mit der Seele. Er wird in<br />
der Religion oft benutzt, um die Präsenz des heiligen Geistes im menschlichen Körper<br />
auszudrücken.<br />
33
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
9.2 Interview mit Herrn PD Dr. med. Markus Wilhelm vom<br />
Universitäts-Spital Zürich<br />
- Ist bei <strong>ein</strong>em Spenderorgan das Alter des Spenders relevant? Was war<br />
der grösste Unterschied, an den Sie sich erinnern können?<br />
- Der Altersunterschied ist auf jeden Fall relevant. Junge Herzen sind<br />
leistungsfähiger als ältere. Zudem müssen verschiedene Faktoren von Spender <strong>und</strong><br />
Empfänger zu<strong>ein</strong>ander passen: Die Blutgruppen sollten kompatibel s<strong>ein</strong>, dann<br />
muss Körpergewicht <strong>und</strong> -grösse in etwa passen, <strong>und</strong> der Altersunterschied sollte<br />
nicht zu gross s<strong>ein</strong>. Klar, man kann <strong>ein</strong>em sechzigjährigen Patienten <strong>ein</strong> Herz <strong>ein</strong>es<br />
dreissigjährigen problemlos implantieren. Jedoch sind wir wegen der geringen<br />
Spenderzahl eher zurückhaltend bei solch grossen Differenzen <strong>und</strong> geben junge<br />
Herzen eher jungen Empfängern. Der Altersunterschied kann jedoch schon mal<br />
zwanzig Jahre betragen.<br />
- Kommt es oft vor, dass <strong>ein</strong> Organ während der Operation s<strong>ein</strong>e<br />
Funktion nicht aufgenommen hat?<br />
- Das kann ich nur für das Herz bestätigen. Man nennt es »primäres Transplantats-<br />
Versagen«. Die Organe sind ja mitgenommen von der Zeit, die sie ausserhalb des<br />
Körpers verbracht haben: mit <strong>ein</strong>er Eislösung stillgelegt, bei 4°C transportiert <strong>und</strong><br />
dann implantiert. Zwischen Explantation <strong>und</strong> Implantation vergehen also schnell<br />
drei St<strong>und</strong>en. Manche Patienten können damit aus unbekannten Gründen besser<br />
umgehen als andere, <strong>und</strong> so kommt es, dass <strong>ein</strong> Organ manchmal s<strong>ein</strong>e Funktion<br />
nicht aufnimmt. Das sind bis zu 5% aller Transplantationen.<br />
- Haben Sie das Gefühl, dass das <strong>Leben</strong> des Patienten nicht all<strong>ein</strong> in Ihrer<br />
Hand liegt, sondern <strong>ein</strong>e höhere Macht, bspw. Gott, entscheidet?<br />
- Für das praktische Gelingen bin ich physisch für den Erfolg verantwortlich, jedoch<br />
glaube ich, dass es <strong>ein</strong>e höhere Macht gibt, sagen wir Gott, die schlussendlich<br />
entscheidet.<br />
- Wie begründet die Medizin die Aussage, dass das Bewussts<strong>ein</strong> an das<br />
menschliche Gehirn geb<strong>und</strong>en ist?<br />
- Dies ist nun eher <strong>ein</strong>e philosophische Frage. Das Bewussts<strong>ein</strong> definiert uns als<br />
Menschen, bewusstes Denken <strong>und</strong> Handeln sind der grosse Unterschied zum Tier.<br />
- Wie lange darf aus medizinischer Sicht gewartet werden, bis <strong>ein</strong> Patient<br />
explantiert wird, was ist noch vertretbar?<br />
- Hierbei ist von grosser Bedeutung, wie stabil der Patient im Hirntod ist. Früher<br />
wurden die Tests in <strong>ein</strong>em Abstand von bis zu 12 St<strong>und</strong>en durchgeführt, ich denke,<br />
das ist schon noch vertretbar. Es ist natürlich ungünstig, wenn zu lange gewartet<br />
wird <strong>und</strong> das Organ Schaden nimmt. Das wird versucht, zu vermeiden.<br />
- Glauben Sie, dass die Seele des Verstorbenen sich in den wenigen<br />
St<strong>und</strong>en <strong>zwischen</strong> Hirntod <strong>und</strong> Explantation bereits vom Körper<br />
abgelöst hat?<br />
- N<strong>ein</strong>, das glaube ich nicht. Ich habe mir das bisher noch nie überlegt, aber spontan<br />
würde ich darauf antworten, dass sich die Seele erst mit dem vollständigen <strong>Tod</strong><br />
des Organismus vom Körper ablöst, nicht schon mit dem Hirntod.<br />
34
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
- Wie genau funktioniert die Immunsuppression?<br />
- Schematisch erklärt, ist unser Immunsystem <strong>ein</strong>e Art Armee. Es gibt <strong>ein</strong>en<br />
Eindringling,- das implantierte Organ- welchen die Armee angreift. Was nützlich<br />
ist bei Viren oder Infektionen, ist bei Transplantationen unerwünscht, also muss<br />
die Armee geschwächt werden. Diese Aufgabe erfüllen die Immunsuppressiva.<br />
9.3 Interview mit Frau Ivana Bendik vom Schweizerischen<br />
Evangelischen Kirchenb<strong>und</strong><br />
- In der Schweiz ist die Möglichkeit der Organspende durch den Hirntod<br />
von der Medizin <strong>und</strong> auch von der Kirche akzeptiert. Wie lautet die<br />
offizielle M<strong>ein</strong>ung der reformierten Kirchen <strong>und</strong> wie wird ihr<br />
Einverständnis in dieses Konzept begründet?<br />
- In der katholischen Kirche bestimmt das Oberhaupt, also der Papst die Regeln. Die<br />
reformierte Kirche hat in dem Sinne k<strong>ein</strong>e Lehrinstanz, jede Person kann <strong>ein</strong>e<br />
eigene Position haben. Die Theologie muss sich der Problematik bewusst s<strong>ein</strong>, dass<br />
durch <strong>ein</strong>e Begründung des Hirntodkriteriums der Umgang mit Hirntoten<br />
be<strong>ein</strong>flusst werden kann. M<strong>ein</strong>er M<strong>ein</strong>ung nach steht sowieso fest, dass der<br />
Hirntod <strong>ein</strong> nicht ausreichendes Kriterium für den <strong>Tod</strong> des Menschen ist.<br />
Menschen in diesem Zustand sind Sterbende, die sich an <strong>ein</strong>em irreversiblen Punkt<br />
im Sterbeprozess befinden, auf k<strong>ein</strong>en Fall Tote. Die Organentnahme ist der<br />
eigentliche <strong>Tod</strong> dieser Person, was durch christliche Sicht eigentlich sehr<br />
bedenklich ist.<br />
- Gibt es in der christlichen Gesellschaft <strong>ein</strong>en Sitz der Seele? Falls ja,<br />
woran ist die Seele im Körper geb<strong>und</strong>en?<br />
- Man weiss nicht, wo der Sitz der Seele ist. Die Trennung von Geist, Seele <strong>und</strong><br />
Körper kommt ursprünglich von Platon, <strong>ein</strong>em griechischen Philosophen. Nach<br />
der Bibel ist <strong>ein</strong>e Trennung <strong>zwischen</strong> Körper, Geist <strong>und</strong> Seele nicht möglich. Beim<br />
<strong>Tod</strong> stirbt der Mensch in s<strong>ein</strong>er Ganzheit. Die Seele kann nicht entschwinden, sie<br />
stirbt mit dem Körper mit. Bei der Auferstehung wird darauf vertraut, dass den<br />
Menschen <strong>ein</strong>e neue Form von <strong>Leben</strong> geschenkt wird in <strong>ein</strong>er anderen Welt<br />
gem<strong>ein</strong>sam mit Gott.<br />
- Die Medizin begründet den <strong>Tod</strong> <strong>ein</strong>es Menschen mit s<strong>ein</strong>em endgültigen<br />
Bewussts<strong>ein</strong>sverlust. Welche Bedeutung hat das Bewussts<strong>ein</strong> für die<br />
Integrität <strong>ein</strong>es Menschen nach christlicher Ansicht?<br />
- Jeder Mensch hat <strong>ein</strong>e ursprüngliche Würde. Diese Würde ist von Gott gegeben,<br />
die hat <strong>ein</strong> Mensch per se. Man muss hierfür nicht irgendwelche Kriterien oder<br />
Bedingungen erfüllen.<br />
- Die anhaltenden Körperfunktionen <strong>ein</strong>er hirntoten Person werden in<br />
der Medizin als r<strong>ein</strong> biologische Aktivität auf der Zellebene abgetan.<br />
Können diese Funktionen auch als vitale Zeichen von <strong>Leben</strong> betrachtet<br />
werden?<br />
- Hinter dieser Aussage stecken sozusagen zwei Menschenbilder: <strong>ein</strong> technisches<br />
<strong>und</strong> <strong>ein</strong> weniger technisches. Das Entscheidende ist, dass man sich dem<br />
technischen Menschenbild behelfen muss, um <strong>ein</strong>e Organtransplantation erst zu<br />
ermöglichen. Hirntote sind aber nur an <strong>ein</strong>em so genannten “point of no return”,<br />
an welchem sie nicht mehr ins normale <strong>Leben</strong> zurückkehren können. Die Mediziner<br />
35
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
wissen auch, dass sie <strong>ein</strong>en Sterbenden vor sich haben, sie machen sich aber nicht<br />
so viele Gedanken darüber. Sollten sie auch gar nicht, um <strong>ein</strong>e objektive Sichtweise<br />
zu garantieren.<br />
- Das Sterben als ernstzunehmende Alternative zur Transplantation ist<br />
immer noch <strong>ein</strong> Tabuthema in der christlichen Gesellschaft. Wie stehen<br />
Sie zu dieser Möglichkeit?<br />
- Die Aufgabe der Kirche ist hier, den Menschen bei <strong>ein</strong>er solch schwierigen<br />
Entscheidung zu unterstützen, ohne sie in <strong>ein</strong>e Richtung zu drängen. Diese<br />
Menschen brauchen bloss Raum, um ihre eigene Entscheidung zu treffen.<br />
Trotzdem machen geben die meisten Leute ihren kranken Angehörigen nicht die<br />
Möglichkeit, sich bewusst für das Sterben zu entscheiden.<br />
9.4 Interview mit Frau Cornelia Broger<br />
Im Alter von knapp 13 Jahren wurde Antonia krank. Sie wurde in der Schule mit<br />
<strong>ein</strong>em Virus infiziert, der ihr Herz angriff: Myokarditis. Die Krankheit schritt binnen<br />
wenigen Wochen so rapide voran, dass nur noch <strong>ein</strong>e Transplantation ihr <strong>Leben</strong><br />
retten konnte. Sie entschied sich für das <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> stimmte <strong>ein</strong>er<br />
Organtransplantation zu. In der schwierigen Zeit hat ihre Familie ihr sehr geholfen<br />
<strong>und</strong> Antonia konnte mit dem neuen Herz noch zehn Jahre weiter leben. Eine<br />
bewegende Geschichte, an der ich dank den Erzählungen von Antonia‘s Mutter<br />
teilhaben durfte.<br />
- Frau Broger, was war die ursprüngliche Krankheit Ihrer Tochter?<br />
- Antonia hatte weder <strong>ein</strong>e Krankheit noch <strong>ein</strong> Herzfehler, sondern war <strong>ein</strong> sehr<br />
lebendiges <strong>und</strong> eigenständiges Kind. In der Schule bekam sie <strong>ein</strong>en Virus<br />
zusammen mit anderen Kindern, der bei ihr jedoch das Herz angriff.<br />
- Was führte dazu, dass sie ihr Zustand so verschlechterte, sodass nur<br />
noch <strong>ein</strong>e Transplantation Besserung bringen konnte?<br />
- Die Krankheit verlief explosionsartig, es war wie <strong>ein</strong>e Lawine, die man nicht mehr<br />
stoppen konnte. Knapp drei Wochen nachdem der Virus diagnostiziert wurde, war<br />
Antonia bereits herztransplantiert.<br />
- Wie sind Sie mit dem Druck umgegangen, wie meisterten Sie die<br />
schwierige Entscheidung für oder gegen <strong>ein</strong>e Transplantation?<br />
- Antonia hat sich selbst für <strong>ein</strong>e Transplantation entschieden, ihre Herztätigkeit<br />
nahm auf 20% ab <strong>und</strong> sie wurde schliesslich an <strong>ein</strong> Kunstherz angeschlossen. Die<br />
Entscheidung für oder gegen <strong>ein</strong>e Transplantation war für mich die schlimmste<br />
Nacht m<strong>ein</strong>es <strong>Leben</strong>s. Als Mutter war ich mit der Situation überfordert, ich konnte<br />
nicht über das <strong>Leben</strong> <strong>ein</strong>es anderen entscheiden. Ich habe sehr mit mir selbst<br />
gerungen <strong>und</strong> wusste, dass ich Antonia fragen musste. Sie sollte selbst über ihre<br />
<strong>Leben</strong> entscheiden, aber schlussendlich entscheidet <strong>ein</strong>e höhere Macht über das<br />
Gelingen dieser Massnahme. Ich habe sie dann am Bett gefragt, <strong>und</strong> sie hat bloss<br />
genickt. Sie hat sich für das <strong>Leben</strong> entschieden, <strong>und</strong> ich denke, das kommt von<br />
<strong>ein</strong>er inneren Kraft.<br />
- In der Literatur ist häufig von Wahnzuständen <strong>und</strong> Delirien die Rede, in<br />
welchen sich die Patienten nach <strong>ein</strong>er erfolgten Transplantation<br />
befinden. Haben Sie auch diese Erfahrung bei Ihrer Tochter gemacht?<br />
36
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
- Antonia hatte oft Angstträume nach der Transplantation. Von <strong>ein</strong>er Kollegin<br />
erhielt sie <strong>ein</strong> Foto der jüngsten Tochter, alle Fotos <strong>und</strong> Karten wurden an der<br />
Wand aufgehängt. Sie erzählte mir, dass sie geträumt hatte, dass sie die Mörderin<br />
von “Valeria”, dieses kl<strong>ein</strong>en Mädchens war. Das hat sie sehr beschäftigt, die<br />
Ängste ihres Unterbewussts<strong>ein</strong>s kamen dadurch zum Vorsch<strong>ein</strong>.<br />
- Hat Ihre Tochter manchmal an den Spender des Herzens gedacht?<br />
Wenn ja, was waren Ihre Gedanken <strong>und</strong> Gefühle gegenüber dem<br />
Spender?<br />
- Sie wusste, dass das Herz von <strong>ein</strong>em 40-50 jährigen Mann kam, es war eigentlich<br />
zu gross für ihren Körper. Nach der Operation musste der Thorax noch offen<br />
gelassen werden, das Herz musste erst s<strong>ein</strong>en Platz finden neben den anderen<br />
Organen. Ein paar Tage später konnte der Thorax dann geschlossen werden.<br />
- Hat sie das neue Herz als Teil von ihr betrachtet oder war es ständig<br />
etwas Fremdes?<br />
- Es blieb lange etwas Fremdes, sie hatte Angst, die Narbe zu berühren. Wenn sie<br />
schwimmen ging, wollte sie nicht, dass jemand ihre Narbe sieht. Nach <strong>ein</strong>er Weile<br />
löste sich dies jedoch, vielleicht auch, weil sie etwas Besonderes war, sie bekam<br />
grosse Aufmerksamkeit.<br />
9.5 Interview mit Ew. Lama Pema Wangyal vom Tibet-Institut<br />
Rikon<br />
- In der Schweiz ist die Möglichkeit der Organspende durch den Hirntod<br />
von der Medizin <strong>und</strong> auch vom Buddhismus teilweise akzeptiert. Wie<br />
lautet die offizielle M<strong>ein</strong>ung des Buddhismus <strong>und</strong> wie wird das<br />
Einverständnis in dieses Konzept begründet?<br />
- Im Buddhismus gibt es k<strong>ein</strong> Oberhaupt, das über Regeln <strong>und</strong> Gebote bestimmt wie<br />
in der katholischen Kirche. Es gibt bloss Traditionen <strong>und</strong> kulturelle Normen, die<br />
Buddhisten praktizieren. Die Organspende wird akzeptiert im Sinne <strong>ein</strong>er Gabe an<br />
<strong>ein</strong>en anderen Menschen. Es zählt zu den ehrenvollsten Taten, jemandem, der <strong>ein</strong><br />
Organ braucht, dieses Geschenk zu machen. Buddhisten sollen mitfühlende Wesen<br />
s<strong>ein</strong>. Der Buddhismus hat drei Stufen: im mittlere Weg beispielsweise beschäftigt<br />
sich mit Grosszügigkeit. In den alten Schriften ist von Wesen die Rede, welche<br />
anderen durch Mitgefühl ohne grosse Überlegungen sofort <strong>ein</strong>en Arm, bzw. <strong>ein</strong><br />
Teil der Haut gegeben haben. Sie spüren auch k<strong>ein</strong>en Schmerz dabei, da ihr Geist<br />
durch diesen selbstlose Dienst ger<strong>ein</strong>igt wird.<br />
- In der Medizin wird das Hirn als das Zentrum menschlichen Handelns<br />
<strong>und</strong> Denkens bezeichnet <strong>und</strong> somit der Mensch auf s<strong>ein</strong>e<br />
Gehirnfunktionen reduziert. Wie steht der Buddhismus zu dieser<br />
M<strong>ein</strong>ung? Ist der Mensch schon tot, wenn nur das Gehirn s<strong>ein</strong>e<br />
Funktion nicht mehr erfüllen kann?<br />
- Der Mensch ist nach der M<strong>ein</strong>ung des Buddhismus noch nicht tot, wenn das Gehirn<br />
nicht mehr funktioniert. In der westlichen Gesellschaft erklären die Ärzte <strong>ein</strong>en<br />
Menschen bereits für tot, wenn s<strong>ein</strong> Gehirn abgestorben ist. Im Buddhismus ist<br />
dies jedoch anders. Wenn <strong>ein</strong> buddhistischer Mönch, <strong>ein</strong> Lama, gerufen wird, kann<br />
dieser eventuelle noch bestehende Energien im Menschen erkennen. Die Person<br />
befindet sich dann in <strong>ein</strong>er so genannten “tiefen Meditationsstufe”. Diese Energien<br />
sind wie subtile Winde, die im Herzen sind. Mit dem letzten Atemzug <strong>ein</strong>es<br />
37
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
Sterbenden fliessen diese dann komplett raus <strong>und</strong> der Mensch ist tot. Mit den<br />
subtilen Energien, genannt “lebenserhaltende Winde”, strömt dann auch unser<br />
Geist heraus.<br />
- Wie sieht der im Buddhismus beschriebene Sterbeprozess <strong>ein</strong>es<br />
Menschen aus?<br />
- Das ist <strong>ein</strong> wirklich schwieriges Thema. Grob erklärt gibt es die fünf Elemente<br />
Erde, Wasser, Feuer, Luft <strong>und</strong> Raum, die sich der Reihe nach auflösen. Sie<br />
existieren in der Aussenwelt aber auch im Innern des Menschen. Während dieses<br />
Auflösungsprozesses zeigen sich auch physische Symptome. Anfangs löst sich das<br />
Element Erde in Wasser. Der Körper wird schlaff <strong>und</strong> schwer, man kann sich nicht<br />
mehr aus eigener Kraft bewegen. Danach löst sich das Wasser in Feuer. In dieser<br />
Phase fühlt sich der Sterbende wie ausgetrocknet, als ob man verdurstet. Wenn<br />
das Feuer sich in Wind löst, erkaltet der Körper. Die Wärme entweicht aus dem<br />
Körper idealerweise zuerst aus den Füssen bis zum Herzen <strong>und</strong> zuletzt aus dem<br />
Kopf. Man verliert die äussere Wahrnehmung. Wenn sich Wind in Raum löst, geht<br />
das Bewussts<strong>ein</strong> mit dem letzten Atemzug aus dem Körper. Mönche können diese<br />
Prozesse wahrnehmen, im letzten Prozess besteht auch die Möglichkeit der<br />
Erleuchtung, die Erlösung aus dem Rad des <strong>Leben</strong>s. Da gibt es drei weitere<br />
Zustände, die sehr schnell vorüber sind. Das Bewussts<strong>ein</strong> enthält gewissermassen<br />
drei verschiedene Gifte: Hass, Anhaften <strong>und</strong> Unwissenheit. Diese drei Gifte<br />
bestehen wiederum aus verschiedenen Faktoren, die sich ver<strong>ein</strong>en <strong>und</strong> auflösen. Es<br />
gibt vier verschiedene Phasen: In der ersten lösen sich die 33 Faktoren von Hass<br />
auf, was wie <strong>ein</strong> heller Mond sch<strong>ein</strong>t. Als nächstes löst sich die Anhaften mit allen<br />
vierzig Faktoren auf, was die Ersch<strong>ein</strong>ung <strong>ein</strong>er roten Sonne ergibt. Die dritte<br />
Phase ist Dunkelheit, wenn sich die sieben unterschiedlichen Faktoren von<br />
Unwissenheit auflösen. Wenn diese Phasen vorbei sind, bleibt nur noch Klarheit<br />
übrig. Konnte die sterbende Person alles ganz bewusst wahrnehmen, ist der<br />
Moment der Erleuchtung gekommen. Während dem irdischen <strong>Leben</strong> ist das<br />
Bewussts<strong>ein</strong> in <strong>ein</strong>em kindlichen Zustand. Nun kommt das ursprüngliche,<br />
“mütterliches Bewussts<strong>ein</strong>” hervor, von allen Verschleierungen befreit <strong>und</strong> so, wie<br />
es am Anfang des Rad des <strong>Leben</strong>s auf die Welt gekommen war. Wenn der<br />
passende Moment vorbeigeht, ohne erleuchtet zu werden, geht das Bewussts<strong>ein</strong><br />
endgültig aus dem Körper, bestenfalls aus dem Scheitel Chakra.<br />
- Die Seele des Menschen braucht nach dem <strong>Tod</strong> Zeit, um sich vom<br />
Körper abzulösen. Wie äussert sich diese Ablösung <strong>und</strong> wie viel Zeit<br />
nimmt sie in Anspruch?<br />
- Bei <strong>ein</strong>em praktizierenden Lama oder <strong>ein</strong>em Meister ist die Seele <strong>und</strong> der ganze<br />
Geist sehr schnell vom Körper losgelöst, vielleicht innerhalb <strong>ein</strong>er St<strong>und</strong>e. Der<br />
Gr<strong>und</strong> dafür ist, dass diese Menschen sich zu Lebzeiten sehr intensiv mit dem <strong>Tod</strong><br />
<strong>und</strong> dem Sterbeprozess beschäftigt haben. Dadurch wissen sie, was auf sie<br />
zukommt <strong>und</strong> nehmen die Geschehnisse sehr bewusst wahr. Der Geist <strong>ein</strong>es<br />
normalen Buddhisten braucht länger, die Verbindung zum Körper zu trennen,<br />
man sollte ihnen dafür mindestens drei<strong>ein</strong>halb Tage Zeit geben. Während 49<br />
Tagen bleibt der Geist noch bei den <strong>Leben</strong>den, deshalb werden auch Zeremonien<br />
gemacht. Im schlimmsten Fall bleibt der Geist <strong>ein</strong>er bösen Person für immer auf<br />
der Erde in <strong>ein</strong>em Das<strong>ein</strong> als Dämon.<br />
38
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
9.6 Interview mit Herrn Nicolas Blancho vom Islamischen<br />
Zentralrat Schweiz<br />
- Wie ist <strong>ein</strong>e Zustimmung zur Organspende geregelt? Dürfen Angehörige<br />
für den Verstorbenen entscheiden?<br />
- Dies ist <strong>ein</strong> heikler Punkt. Generell sollte die Person direkt über <strong>ein</strong> Testament in<br />
<strong>ein</strong>e Organspende <strong>ein</strong>gewilligt haben. Deswegen ist es Pflicht, sich in s<strong>ein</strong>em<br />
Testament für oder gegen <strong>ein</strong>e Organspende zu entscheiden. Die Frage stellt sich<br />
jedoch immer wieder, ob Familienmitglieder anstelle des Patienten entscheiden<br />
dürfen. Dies ist abhängig vom Kontext, aber prinzipiell werden <strong>ein</strong>em Hirntoten<br />
k<strong>ein</strong>e Organe entnommen ohne dessen vorhergehende Bewilligung.<br />
- Kennt der Islam <strong>ein</strong>e Einheit von Körper <strong>und</strong> Geist, wie es im<br />
Christentum der Fall ist?<br />
- Der Islam hat schon <strong>ein</strong>e Aufteilung des Menschen in Körper <strong>und</strong> Geist. Ersterer<br />
ist der materielle Part, letzterer der metaphysische, nicht fassbare Aspekt. Der<br />
Mensch ist <strong>ein</strong>e Verkörperung beider Teile, die sich jedoch beim <strong>Tod</strong> trennen. In<br />
<strong>ein</strong>er anderen, nicht materiellen Welt nach dem <strong>Tod</strong> schliessen sich Körper <strong>und</strong><br />
Geist dann erneut zusammen.<br />
- Wie sieht der Islam das <strong>Leben</strong> nach dem <strong>Tod</strong>?<br />
- Nach dem <strong>Tod</strong>es<strong>ein</strong>tritt lebt der Mensch in <strong>ein</strong>er anderen, metaphysischen<br />
Dimension weiter. Er hat Einsichten in bisher unbekannte Dimensionen, die durch<br />
die materielle Welt beschränkt waren. In dieser anderen Welt sieht der Mensch<br />
s<strong>ein</strong>e Taten <strong>und</strong> die Früchte oder Ergebnisse dieser Handlungen. Dann gibt es <strong>ein</strong>e<br />
Strafe oder <strong>ein</strong>e Belohnung. Am Tag der Auferstehung kommen Körper <strong>und</strong> Seele<br />
von der Komposition her wieder zusammen.<br />
9.7 Interview mit Frau Sumaya Angelina Mohamed aus der<br />
Moschee Hegi<br />
- Gemäss <strong>ein</strong>er offiziellen Erklärung akzeptiert auch der Islam die<br />
Möglichkeit der Organspende durch den Hirntod. Wie lautet die<br />
Begründung für das Einverständnis in dieses moderne Konzept?<br />
- Wenn der (mögliche) Nutzen den (möglichen) Schaden überwiegt, wird die<br />
Organtransplantation von <strong>ein</strong>er Mehrheit der Gelehrten für den Fall <strong>ein</strong>er<br />
<strong>Leben</strong>srettung erlaubt.<br />
- Wie verträgt sich das Hirntodkonzept mit der islamischen<br />
Rechtsgr<strong>und</strong>lage? Was sind die Bestimmungen über die Organspende?<br />
- Nach muslimischer Auffassung tritt der <strong>Tod</strong> dann <strong>ein</strong>, wenn die Seele den Körper<br />
verlässt. Der genaue Zeitpunkt, wann dies der Fall ist, kann unseres Wissens nicht<br />
klar bestimmt werden. Hirntod ist also nicht zwingend mit dem <strong>Tod</strong><br />
gleichzusetzen. Der Körper <strong>ein</strong>er toten Person muss gr<strong>und</strong>sätzlich mit derselben<br />
Sorgfalt behandelt werden wie der <strong>ein</strong>er lebenden <strong>und</strong> darf nicht verletzt werden.<br />
Dennoch sind viele Gelehrte der Ansicht, dass unter dem Aspekt der <strong>Leben</strong>srettung<br />
Organspenden erlaubt sind. Letztlich ist jeder Fall nach sorgfältiger<br />
Berücksichtigung der Umstände <strong>und</strong> der religiösen Vorgaben individuell zu<br />
beurteilen <strong>und</strong> zu entscheiden!<br />
39
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
- Was ist die Konzeption des Menschenbildes von Körper, Leib <strong>und</strong><br />
Seele?<br />
- Der Körper, die Seele <strong>und</strong> die sogenannte <strong>Leben</strong>skraft sind <strong>ein</strong>e Einheit. Nach<br />
gewissen Gelehrten wird z. B. auch die P<strong>ein</strong> im Grab als <strong>ein</strong>e P<strong>ein</strong> beschrieben, die<br />
auch LEIBLICH ist (man denke an den sogenannten „Astralleib“ oder „spirituellen<br />
Körper“ von welchem mitunter die Rede ist), auch wenn der physische Körper<br />
bereits in der Verwesung begriffen ist.<br />
- Die Medizin beschränkt den Menschen gewissermassen auf s<strong>ein</strong>e<br />
Gehirnfunktionen, es wird gesagt, dass das Hirn Zentrum des<br />
menschlichen Handelns <strong>und</strong> Denkens ist. Wie stehen islamische<br />
Gelehrte zu dieser Position?<br />
- Im Islam wird allgem<strong>ein</strong> nicht das Hirn, sondern das Herz als Zentrum aller<br />
menschlichen Wahrnehmung bezeichnet, wobei, wie oben schon gesagt, hier das<br />
spirituelle Herz gem<strong>ein</strong>t ist. Obwohl man natürlich auch im Islam das Hirn als<br />
Zentrum des Denkens <strong>und</strong> – in Kombination mit dem Impuls des Herzens - auch<br />
des Handelns sieht, nimmt es daher jedoch nicht die zentrale Stellung <strong>ein</strong>, die ihm<br />
die moderne Medizin u. U. zuschreiben möchte.<br />
- Gibt es Glaubenskonflikte mit der medizinischen Definition des <strong>Tod</strong>es?<br />
Akzeptiert der Islam die Behauptung, dass <strong>ein</strong> Mensch bereits tot ist,<br />
wenn s<strong>ein</strong> Gehirn nicht mehr funktioniert?<br />
- Ja, es gibt Konflikte mit der medizinischen Definition des <strong>Tod</strong>es; die Behauptung,<br />
dass <strong>ein</strong> Mensch tot ist, wenn er hirntot ist, ist islamisch nicht haltbar (<strong>und</strong> auch<br />
medizinisch umstritten!).<br />
10. Medizinische Begriffserklärung 30<br />
a) allogene Organtransplantation: Verpflanzung von körperfremden Gewebe;<br />
Gegenteil autogen (körpereigen)<br />
b) apallisches Syndrom: dem Hirntod ähnliches Krankheitsbild, bei welchem<br />
Patienten Wachs<strong>ein</strong> oder Schlafen nur durch die geöffneten oder geschlossenen<br />
Augen erkannt werden (mehrere schwere Schädigungen im Hirn, k<strong>ein</strong>e<br />
antwortenden Reaktionen).<br />
c) Apnoetest: Abstellen der künstlichen Beatmung, Einblasen von Sauerstoff <strong>und</strong><br />
anschliessend Beobachten des Brustkorbes auf eventuelle Atembewegungen<br />
d) Kornealreflex: Schliessmechanismus der Augen bei Berühren der Hornhaut<br />
e) okulozephaler Reflex: Gegenbewegung der Augäpfel gegen <strong>ein</strong>e Kopfbewegung<br />
f) Totales Locked-In-Syndrom: dem Hirntod ähnliches Krankheitsbild, bei dem<br />
infolge <strong>ein</strong>er Blutung oder <strong>ein</strong>es Durchblutungsmangels sämtliche Bewegungen des<br />
Körpers ausgefallen sind. Obwohl nicht sicher ist, ob der Betroffene bewusst<br />
wahrnehmen <strong>und</strong> erleben kann, ist k<strong>ein</strong>e Verständigung nach aussen möglich.<br />
g) Trigeminus-Schmerz-Reaktion: Pressen der Gesichtsnerven-Austrittsstellen<br />
30<br />
aus: Spittler, Johann Friedrich; Gehirn, <strong>Tod</strong> <strong>und</strong> Menschenbild; Neuropsychologie,<br />
Neurophilosophie, Ethik <strong>und</strong> Metaphysik; Stuttgart; W. Kohlhammer Verlag, 2003.<br />
40
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
11. Literaturverzeichnis<br />
11.1 Primärliteratur<br />
- Bendik, Ivana, Institut für Theologie <strong>und</strong> Ethik im Schweizerischen Evangelischen<br />
Kirchenb<strong>und</strong> (SEK) in Bern, Interview vom 24.08.2011, Dauer: 45 min<br />
- Blancho, Nicolas, Präsident des Islamischen Zentralrates Schweiz (IZRS) in Bern,<br />
Interview vom 19.09.2011, Dauer: 35 min<br />
- Broger, Cornelia, <strong>Leben</strong>s- <strong>und</strong> Trauerbegleitung, Mutter <strong>ein</strong>es herztransplantierten<br />
Mädchens, Interview vom 11.08.2011, Dauer: 60 min<br />
- Mohamed, Sumaya Angelina, Moschee Hegi, schriftliches Interview vom 15.10.2011<br />
- Wangyal, Lama Pema, tibetisch-buddhistischer Mönch am Tibet-Institut Rikon,<br />
Interview vom 24.08.2011, Dauer: 70 min<br />
- Wilhelm, PD Dr. med. Markus, Herz- <strong>und</strong> Gefässchirurgie am Universitäts-Spital<br />
Zürich, Interview vom 23.08.2011, Dauer: 35 min<br />
11.2 Sek<strong>und</strong>ärliteratur<br />
11.2.1 Bücher<br />
- Baureithel, Ulrike; Bergmann, Anna; Herzloser <strong>Tod</strong>; Das Dilemma der<br />
Organspende; Stuttgart, Klett-Cotta Verlag, 2001 (2. überarbeitete Auflage).<br />
- Holznienkemper, Thomas; Organspende <strong>und</strong> Transplantation <strong>und</strong> ihre Rezension<br />
in der Ethik der abrahamitischen Religionen; Münster; LIT Verlag; 2005;<br />
herausgegeben von Sass, Hans-Martin; Ruhr-Universität Bochum, Band 20.<br />
- Kalitzkus, Vera; D<strong>ein</strong> <strong>Tod</strong>, m<strong>ein</strong> <strong>Leben</strong>; Warum wir Organspenden richtig finden<br />
<strong>und</strong> trotzdem davor zurückschrecken; Frankfurt/Main; Suhrkamp Verlag; 2009.<br />
- Kalitzkus, Vera; <strong>Leben</strong> durch den <strong>Tod</strong>; Die zwei Seiten der Organtransplantation;<br />
Eine medizin-ethnologische Studie; Frankfurt/Main; Campus Verlag, 2003.<br />
- Morris, Sir Peter; Organtransplantationen - ethisch betrachtet; Berlin; LIT Verlag;<br />
2006; übersetzt aus dem Englischen; Europarat; Strassburg; Band 5.<br />
- Rinpoche, Sogyal; Das tibetische Buch vom <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> vom Sterben; Frankfurt/<br />
Main; O.W. Verlag, 2004 (2. überarbeitete Auflage)<br />
- Spittler, Johann Friedrich; Gehirn, <strong>Tod</strong> <strong>und</strong> Menschenbild; Neuropsychiatrie,<br />
Neurophilosophie, Ethik <strong>und</strong> Metaphsyik; Stuttgart; W. Kohlhammer Verlag; 2003.<br />
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»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
11.2.2 Internet<br />
- Bild „Wägung des Herzens“.<br />
www.pernefer.de/ka.htm (16.10.11)<br />
- Bodhibaum Community, Rabten, Geshe, „Sterbeprozess, Bardo <strong>und</strong> Wiedergeburt“.<br />
http://www.bodhibaum.net/verstaendnis/tod-tibet.htm (31.07.11)<br />
- B<strong>und</strong>esamt für Ges<strong>und</strong>heit, „Transplantationsmedizin“.<br />
http://www.bag.admin.ch/transplantation (31.06.11)<br />
- Burial and Care GmbH, „Die Bestattungskultur des Buddhismus“.<br />
http://www.tod-<strong>und</strong>-glaube.de/buddhismus.php (20.08.11)<br />
- by heart - D<strong>ein</strong> Herz entscheidet, „Die Haltungen der Religionen zur<br />
Organtransplantation“.<br />
http://www.d<strong>ein</strong>-herz-entscheidet.de/die-haltungen-der-religionen-zurorgantransplantation.html<br />
(10.09.11)<br />
- Das Weisse Pferd, Urchristliche Zeitung für Gesellschaft, Religion, Politik <strong>und</strong><br />
Wirtschaft, „Neues <strong>Leben</strong> durch fremde Organe?“.<br />
http://www.das-weisse-pferd.com/99_04/organspende.html (11.07.11)<br />
- Das Wissensportal zum Thema Kultur <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />
http://www.kultur-ges<strong>und</strong>heit.de/ges<strong>und</strong>heit_krankheit_<strong>und</strong>_muslimische<br />
patienten/lebensphasen/sterbebegleitung_<strong>und</strong>_tod.php (18.09.11)<br />
- Der heilige Koran: „56. Das unvermeidliche Ereignis".<br />
http://www.intratext.com/IXT/DEU0018/_P3D.HTM (25.10.11)<br />
- Deutscher Radiosender Schweiz, Echo der Zeit, „Wann ist der Mensch definitiv<br />
tot?“. (Sendung vom Mittwoch, 31.08.11, 18.00 Uhr)<br />
http://www.drs1.ch/www/de/drs1/sendungen/echo-der-zeit/2646.bt10191856.html<br />
(31.08.11)<br />
- Dober, Rolf, „Ethische Kontroversen um die Organspende“.<br />
http://www.dober.de/ethik-organspende/ (11.05.11)<br />
- Eich, Thomas, Gr<strong>und</strong>mann, Johannes, „Muslimische Rechtsm<strong>ein</strong>ungen zu Hirntod,<br />
Organtransplantation <strong>und</strong> <strong>Leben</strong>“.<br />
http://www.ruhr-uni-bochum.de/kbe/islamhirntodeich.pdf (30.07.11)<br />
- Harderwijk, Rudy, „Einführung in den Buddhismus. Der Geist.<br />
http://viewonbuddhism.org/buddhismus-deutsch/g-geist.htm (20.08.11)<br />
- Hawter, Pende, „Death and Dying in the Tibetan Buddhist Tradition“.<br />
http://www.buddhanet.net/deathtib.htm (20.08.11)<br />
- „Herz - Deutsche Redewendungen“, phrasen.com.<br />
http://www.phrasen.com/tags/herz (20.08.11)<br />
42
»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />
- Informationsplattform Religion, „<strong>Tod</strong>, Bestattung <strong>und</strong><br />
Wiedergeburt“.<br />
http://www.religion-online.info/buddhismus/themen/info-wiedergeburt.html<br />
(20.08.11)<br />
- Jakoby, Bernhard, „Geheimnis Sterben - Was wir heute über den Sterbeprozess<br />
wissen“.<br />
http://www.kath-kirche-vorarlberg.at/organisation/katholisches-bildungswerkvorarlberg/artikel/geheimnis-sterben-was-wir-heute-ueber-den-sterbeprozess/<br />
wissen-1 (18.08.11)<br />
- Kern, Udo, „Leib <strong>und</strong> Seele aus theologischer Sicht“, Universität Rostock.<br />
http://web.physik.uni-rostock.de/aktuell/Ring/U_Kern_Leib-Seele2.pdf (14.08.11)<br />
- Organspende Info, „Organspende schenkt <strong>Leben</strong>“.<br />
http://www.organspende-info.de/downloads/24-134-390/<br />
Unterrichtsmaterial_organspende.pdf (20.09.11)<br />
- „Organ Transplant in Islam - The Fiqh of Organ Transplant and its Application in<br />
Singapore“.<br />
http://www.muis.gov.sg/cms/uploadedFiles/MuisGovSG/Religious/OOM/<br />
Resources/Muis%20kidney%20book%20ENG.pdf (18.09.11)<br />
- Potts, Michael, Evans, David W., „Does it matter that organ donors are not<br />
dead?“,Journal of Medical Ethics.<br />
http://www.jme.bmj.com (23.05.11)<br />
- Radio Vaticana, Die Stimme des Papstes <strong>und</strong> der Weltkirche, „Vatikan:<br />
Organspenden sind Zeichen der Nächstenliebe“. (Erklärung von Papst Benedikt<br />
XVI. am 07.11.08)<br />
http://storico.radiovaticana.org/ted/storico/2008-11/243140_vatikan_<br />
organspenden_sind_zeichen_der_nachstenliebe.html (09.09.11)<br />
- Sakr, Ahmad, „Das <strong>Leben</strong> im Grab“.<br />
http://www.tauhid.net/cyberlebenimgrab.html (20.09.11)<br />
- Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, „Feststellung des<br />
<strong>Tod</strong>es mit Bezug auf Organtransplantation“, Medizini-ethische Richtlinien<br />
http://www.swisstransplant.org/pdf/SAMW-Richtlinien-D.pdf (24.08.11)<br />
- UniversitätsSpital Zürich, Transplantationszentrum, „Geschichte“.<br />
http://www.transplantation.usz.ch/HealthProfessionals/Allgem<strong>ein</strong>es/Seiten/<br />
default.aspx (07.07.11)<br />
- Walther, Helmut, „Geist <strong>und</strong> Bewussts<strong>ein</strong> 1 – <strong>ein</strong> Versuch über den menschlichen<br />
Geist“.<br />
http://www.kreisbogen-der-metaphysik.de/geist1.htm (26.11.11)<br />
43