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Nur ein Flügelschlag zwischen Leben und Tod - GSIW

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<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong><br />

Hirntod <strong>und</strong> Organspende im Fokus<br />

verschiedener Religionen<br />

»Herzengel«<br />

Larissa Jäger, 6bG<br />

Kantonsschule Rychenberg, 06. Dezember 2011<br />

Betreut von Sandra Piccioni, zweitgelesen durch Bruno Amatruda


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

1. Einleitung .................................................................................................. 3<br />

2. Geschichtlicher Abriss .............................................................................. 4<br />

2.1 Die Entwicklung der Organtransplantation ........................................................................ 4<br />

2.2 Die Entstehung des theoretischen Ansatzes: das Hirntodkonzept ..................................... 5<br />

3. Medizinische Sichtweise ............................................................................ 6<br />

3.1 Definition Hirntod <strong>und</strong> die verschiedenen Hirntodkonzepte ............................................. 6<br />

3.2 Die medizinische <strong>Tod</strong>esdefinition <strong>und</strong> der Vergleich Hirntod – Herztod ......................... 7<br />

3.3 Das Hirn als Zentrum des menschlichen Bewussts<strong>ein</strong>s ..................................................... 9<br />

3.4 Ablauf <strong>ein</strong>er Hirntoddiagnose <strong>und</strong> Begriff der Irreversibilität .......................................... 9<br />

3.5 Vergleich von Hirntod <strong>und</strong> Koma: die Problematik der <strong>Leben</strong>szeichen .......................... 11<br />

4. Christliche Ethik ...................................................................................... 13<br />

4.1 Der Mensch als Einheit von Körper <strong>und</strong> Geist .................................................................. 13<br />

4.2 Stellungnahme zum Hirntodkonzept ................................................................................ 14<br />

4.3 Sitz der Seele <strong>und</strong> die kulturelle Prägung des Körpers ..................................................... 15<br />

4.4 Reduzierung des Menschen auf s<strong>ein</strong>e Gehirnfunktionen <strong>und</strong> das Wahren der<br />

menschlichen Würde ......................................................................................................... 17<br />

4.5 Der Sterbeprozess <strong>und</strong> die Ablösung der Seele vom Körper ............................................ 18<br />

4.6 Medizin <strong>und</strong> christliche Ethik im Vergleich ..................................................................... 20<br />

5. Buddhismus ............................................................................................ 20<br />

5.1 Einheit von Körper <strong>und</strong> Geist ............................................................................................ 20<br />

5.2 Stellungnahme zum Hirntodkonzept <strong>und</strong> die Haltung der buddhistischen Gesellschaft 21<br />

5.3 Bedeutung verschiedener Organe <strong>und</strong> Sitz der Seele ....................................................... 22<br />

5.4 Sterbeprozess <strong>und</strong> Ablösung der Seele vom Körper ......................................................... 22<br />

5.5 Der kulturelle Umgang mit dem <strong>Tod</strong> ................................................................................ 23<br />

5.6 Buddhismus <strong>und</strong> Christentum im Vergleich .................................................................... 24<br />

6. Islam ....................................................................................................... 24<br />

6.1 Rechtsgr<strong>und</strong>lagen bei <strong>ein</strong>er Organspende: Scharia .......................................................... 24<br />

6.2 Stellungnahme zum Hirntodkonzept <strong>und</strong> die Haltung der islamischen Gesellschaft ..... 26<br />

6.3 Sitz der Seele <strong>und</strong> Glaubenskonflikte mit der medizinischen <strong>Tod</strong>esdefinition ............... 27<br />

6.4 Sterbeprozess <strong>und</strong> Ablösung der Seele vom Körper ......................................................... 27<br />

6.5 Der kulturelle Umgang mit dem <strong>Tod</strong> ................................................................................ 28<br />

6.6 Islam <strong>und</strong> Christentum im Vergleich ............................................................................... 29<br />

7. Eigene zentrale Überlegungen ................................................................. 30<br />

7.1 Ist das Gehirn definierend für das Menschs<strong>ein</strong>? ............................................................... 30<br />

7.2 Wann ist <strong>ein</strong> Mensch wirklich tot? .................................................................................... 30<br />

8. Schlusswort ............................................................................................. 31<br />

9. Anhang .................................................................................................... 33<br />

9.1 Definition von Körper, Geist, Bewussts<strong>ein</strong>, Seele <strong>und</strong> Leib .............................................. 33<br />

9.2 Interview mit Herrn PD Dr. med. Markus Wilhelm vom Universitäts-Spital Zürich ..... 34<br />

9.3 Interview mit Frau Ivana Bendik vom Schweizerischen Evangelischen Kirchenb<strong>und</strong> .... 35<br />

9.4 Interview mit Frau Cornelia Broger ................................................................................. 36<br />

9.5 Interview mit Ew. Lama Pema Wangyal vom Tibet-Institut Rikon ................................ 37<br />

9.6 Interview mit Herrn Nicolas Blancho vom Islamischen Zentralrat Schweiz ................... 39<br />

9.7 Interview mit Frau Sumaya Angelina Mohamed aus der Moschee Hegi ......................... 39<br />

10. Medizinische Begriffserklärung ............................................................ 40<br />

11. Literaturverzeichnis ............................................................................... 41<br />

11.1 Primärliteratur .................................................................................................................. 41<br />

11.2 Sek<strong>und</strong>ärliteratur .............................................................................................................. 41<br />

2


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

1. Einleitung<br />

Das Thema Organspende ist alltäglich. Wir treffen es vielerorts an, sei es auf<br />

Plakaten, die für mehr Organspender werben oder auch in der fortwährenden<br />

Diskussion von Experten, ob der Hirntod als <strong>Tod</strong> zu akzeptieren ist. Die neuste<br />

Errungenschaft der Medizin, lebende Organe aus <strong>ein</strong>em »toten« Körper zu<br />

entnehmen, sorgt für <strong>ein</strong>e hitzige Debatte in der Gesellschaft. Diese Arbeit vertritt<br />

k<strong>ein</strong>en bestimmten Standpunkt in der Hirntod-Debatte, sie zeigt lediglich die<br />

verschiedenen Aspekte <strong>und</strong> Probleme der befürwortenden, sowie der ablehnenden<br />

Seite auf. Die Tabuisierung der <strong>Tod</strong>esthematik soll durch die Aus<strong>ein</strong>andersetzung mit<br />

dem Sterben verringert werden.<br />

Viele Ethiker, Philosophen <strong>und</strong> auch Mediziner haben nach den Gründen für die<br />

Entstehung <strong>ein</strong>es so <strong>ein</strong>zigartigen Hirntodkonzepts geforscht <strong>und</strong> versucht, dessen<br />

Inhalt <strong>und</strong> Konsequenzen zu ergründen. Diese wissenschaftlichen Arbeiten sind sehr<br />

ausführlich, waren jedoch manchmal etwas schwer zugänglich. Um <strong>ein</strong>e breit<br />

abgestützte Arbeit zu schreiben, musste ich mir also <strong>ein</strong> eigenes Bild der<br />

verschiedenen Seiten <strong>ein</strong>holen. Ich habe deshalb Interviews durchgeführt mit <strong>ein</strong>em<br />

Herzchirurg, der Mutter <strong>ein</strong>er transplantierten, jungen Frau, <strong>ein</strong>er Mitarbeiterin des<br />

Schweizerischen Evangelischen Kirchenb<strong>und</strong>es, <strong>ein</strong>em buddhistischen Mönch, <strong>ein</strong>er<br />

in <strong>ein</strong>er Moschee tätigen Muslima <strong>und</strong> dem Islamischen Zentralrat.<br />

Das Ziel dieser Arbeit ist es, <strong>ein</strong> komplexes Thema wie die Organspende <strong>ein</strong>mal aus<br />

<strong>ein</strong>em anderen Blickwinkel zu ergründen. Fragen wie »wann ist der Mensch wirklich<br />

tot«, »ist das Gehirn definierend für das Menschs<strong>ein</strong>«, »wie stehen andere<br />

Religionen zur Organspende«, »was geschieht mit der Seele nach dem <strong>Tod</strong>« <strong>und</strong> »wie<br />

sehen die verschiedenen Religionen den Sterbeprozess des Menschen« werden<br />

detailliert dargelegt <strong>und</strong> beantwortet. Nicht Zahlen sollen im Mittelpunkt stehen,<br />

sondern die Diskussion um den Hirntod als vollständigen <strong>Tod</strong> des Menschen.<br />

Ebenfalls wird der Umgang mit dem <strong>Tod</strong> allgem<strong>ein</strong> in den grossen Weltreligionen<br />

Christentum, Buddhismus <strong>und</strong> Islam aufgezeigt. Die Arbeit soll Anstoss geben, sich<br />

über das <strong>Leben</strong>, den <strong>Tod</strong> <strong>und</strong> die Entscheidung Organspende »ja oder n<strong>ein</strong>«<br />

Gedanken zu machen.<br />

Für die Arbeit konnte nur die postmortale Spende betrachtet werden. Da die<br />

<strong>Leben</strong>dspende nicht dieselbe Problematik des Hirntodes aufzeigt, ist sie in dieser<br />

Hinsicht irrelevant.<br />

3


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

M<strong>ein</strong>e Maturitätsarbeit ist in sechs Teile gegliedert: zu Beginn die historische<br />

Entwicklung der Organspende, um sich <strong>ein</strong>en Überblick des Themas zu verschaffen.<br />

Es folgen die medizinischen Gr<strong>und</strong>lagen, welche Fakten zum Hirntod aus technischer<br />

Sicht aufklären. Das Kernstück der Arbeit sind Überlegungen aus der christlichen<br />

Ethik. Die Ergebnisse dieses Teils werden anschliessend mit dem Buddhismus <strong>und</strong><br />

dem Islam verglichen. Zuletzt werden zwei elementare Fragestellungen der Arbeit<br />

aufgezeigt <strong>und</strong> mit eigenen Ausführungen so gut wie möglich beantwortet.<br />

Die Arbeit zielt nicht darauf ab, dass sich jeder Leser am Ende für oder gegen <strong>ein</strong>e<br />

Organspende äussern kann; sondern darauf, dass man sich Gedanken zu <strong>Leben</strong> <strong>und</strong><br />

<strong>Tod</strong>, sowie zur Problematik des Hirntodes macht.<br />

2. Geschichtlicher Abriss<br />

2.1 Die Entwicklung der Organtransplantation<br />

Von der Idee, menschliches Gewebe oder Organe von <strong>ein</strong>em Menschen auf <strong>ein</strong>en<br />

anderen zu übertragen, ist schon immer <strong>ein</strong>e Faszination ausgegangen. Es gibt<br />

zahlreiche Mythen <strong>und</strong> Legenden bis in das Jahr 500 v. Chr. zurück, die von solchen<br />

Versuchen schreiben.<br />

Die ersten wissenschaftlichen Organtransplantationen können bis in das 18. <strong>und</strong> 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert zurückverfolgt werden. Mit der Entdeckung der Organabstossung 1863<br />

durch Paul Bert begannen die ersten modernen Transplantationen. Es wurden<br />

zahlreiche Experimente an Tieren durchgeführt; das Blutgruppensystem <strong>und</strong> die<br />

Organkonservierung steuerten jeweils wichtige Beiträge zur Entwicklung der<br />

Organtransplantation bei.<br />

Um 1951 fand die erste Transplantation in der Schweiz statt, <strong>und</strong> zwar wurde an der<br />

Zürcher Augenklinik <strong>ein</strong>e Hornhaut transplantiert.<br />

Am 3. Dezember 1967 führte Christiaan Barnard in Kapstadt, Südafrika die erste<br />

allogene Herztransplantation durch, <strong>ein</strong> Meilenst<strong>ein</strong> in der Geschichte. Noch im<br />

selben Jahr wurde die Vermittlungsstelle Eurotransplant gegründet.<br />

Um 1983 wurde das immunsuppressive Medikament Cyclosporin <strong>ein</strong>geführt, das die<br />

Überlebensquote der Transplantierten massiv verbesserte. Es wird heute noch in der<br />

Medizin verwendet.<br />

4


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

2.2 Die Entstehung des theoretischen Ansatzes: das<br />

Hirntodkonzept<br />

Bereits in der antiken Medizin spielte die Frage nach dem <strong>Tod</strong> <strong>ein</strong>e bedeutende Rolle,<br />

jedoch unterscheiden sich die heutigen Interessen der Medizin erheblich von den<br />

früheren. Damals war der Beginn des Sterbeprozesses wichtig, der Zeitpunkt, an dem<br />

die Bemühungen um <strong>ein</strong>e Heilung des Patienten <strong>ein</strong>zustellen wären. Diese<br />

Einstellung blieb bis ins Mittelalter erhalten. Im 17. <strong>und</strong> 18. Jahrh<strong>und</strong>ert kam dann<br />

die Angst vor dem Sch<strong>ein</strong>tod auf, man wollte den Patienten nicht durch <strong>ein</strong>e<br />

vorzeitige Diagnose <strong>und</strong> Bestattung töten. Die Menschen begannen, nach dem Ende<br />

des Sterbeprozesses zu fragen, um die Unsicherheit des Sch<strong>ein</strong>todes zu beseitigen.<br />

Trotz all diesen Unsicherheiten blieb die Definition des Herz-Lungentodes bis in die<br />

Mitte des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts beständig. In den 50er Jahren verbesserten sich die<br />

Techniken der <strong>Leben</strong>serhaltung dramatisch, es entstand <strong>ein</strong>e neue Disziplin<br />

innerhalb der Anästhesie: die Intensivmedizin. Das Ziel war nun nicht mehr die<br />

Heilung von Krankheiten, sondern die Überwindung von lebensbedrohlichen<br />

Situationen. Die Entdeckung, dass die natürliche Atmung des Menschen auch<br />

künstlich ersetzt werden konnte, führte zu <strong>ein</strong>er Verschiebung der Grenze <strong>zwischen</strong><br />

<strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>. Von da an wurde <strong>zwischen</strong> Vitalfunktionen <strong>und</strong> dem <strong>Leben</strong> des<br />

Menschen unterschieden: Patienten konnten als tot gelten, obwohl ihre<br />

Vitalfunktionen erhalten blieben. Mit der Organspende war die Möglichkeit, lebende<br />

Organe aus »toten« Menschen zu entnehmen <strong>und</strong> sie in <strong>ein</strong>en anderen Patienten<br />

<strong>ein</strong>zupflanzen, geboren.<br />

Um Organtransplantationen erst zu ermöglichen, brauchte dieses neuartige<br />

Hirntodkonzept noch viele Entdeckungen in der Medizin <strong>und</strong> auch theoretische<br />

Überlegungen in der Ethik. Im folgenden Kapitel werden die medizinischen<br />

Gr<strong>und</strong>lagen der Organtransplantation dargelegt, der Ablauf <strong>ein</strong>er Hirntoddiagnose<br />

<strong>und</strong> der Sterbeprozess <strong>ein</strong>es Menschen detailliert erläutert.<br />

5


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

3. Medizinische Sichtweise<br />

3.1 Definition Hirntod <strong>und</strong> die verschiedenen<br />

Hirntodkonzepte<br />

3.1.1 Die Definition von »Hirntod«<br />

»Der Hirntod wird definiert als Zustand der irreversibel erloschenen Gesamtfunktion<br />

des Grosshirns, des Kl<strong>ein</strong>hirns <strong>und</strong> des Hirnstamms. Dabei wird durch kontrollierte<br />

Beatmung die Herz- <strong>und</strong> Kreislauffunktion noch künstlich aufrecht erhalten.« 1<br />

Der Begriff »Hirntod« wird im Alltag oft erwähnt, in der Medizin jedoch wird er<br />

weiter präzisiert. Der »dissoziierte Hirntod« bezeichnet jenen Zustand, in welchem<br />

das Gehirn durch <strong>ein</strong>e Schädigung s<strong>ein</strong>e Funktionen nicht mehr erfüllen kann <strong>und</strong><br />

abstirbt, während der restliche Körper dank <strong>ein</strong>er intensivmedizinischen Behandlung<br />

weiterlebt.<br />

Eine solche Schädigung ist entweder »primär« oder »sek<strong>und</strong>är«. Dabei läuft erstere<br />

im Gehirn selbst ab, bei der zweiten geht die Krankheit von <strong>ein</strong>em anderen Ort aus,<br />

das Gehirn wird »bloss« in Mitleidenschaft gezogen.<br />

Ein häufig erwähntes Beispiel für <strong>ein</strong>e primäre Hirnschädigung ist <strong>ein</strong>e Hirnblutung<br />

oder Durchblutungsstörung, welche auf <strong>ein</strong>e äussere Gewalt<strong>ein</strong>wirkung folgt. Als<br />

sek<strong>und</strong>äre Hirnschädigung wird oft der Herzinfarkt genannt, bei dem das Herz still<br />

steht <strong>und</strong> die Wiederbelebung nicht schnell genug erfolgt, um das Hirn rechtzeitig<br />

wieder mit Sauerstoff zu versorgen, es stirbt also ab.<br />

Der Krankheitszustand des dissoziierten Hirntodes ist abhängig von drei<br />

notwendigen Faktoren: der künstlichen, maschinell betriebenen Beatmung, der<br />

stoffwechselsichernden Therapie durch Infusionen <strong>und</strong> dem Automatismus des<br />

Herzschlages. Für das Weiterschlagen der Herzens muss die Sauerstoffzufuhr intakt<br />

bleiben <strong>und</strong> die Stoffwechselbedingungen im Blut müssen aufrecht erhalten werden.<br />

Die Beatmung kontrolliert die Sauerstoffzufuhr, der Stoffwechsel wird gesichert<br />

durch Infusionen.<br />

Damit das Krankheitsbild des dissoziierten Hirntodes vorliegt, muss ausgeschlossen<br />

werden, dass der Zustand in irgend<strong>ein</strong>er Weise reversibel ist. Dies wird im Kapitel<br />

3.4 »Der Ablauf <strong>ein</strong>er Hirntoddiagnose« noch genauer erläutert werden.<br />

1<br />

Wissenschaftlicher Beirat der B<strong>und</strong>esärztekammer (1998): Richtlinien zur Feststellung des<br />

Hirntodes. Dtsch. Ärzteblatt 98: B-1509-1516, zitiert in: Spittler, Johann Friedrich; Gehirn, <strong>Tod</strong> <strong>und</strong><br />

Menschenbild; Neuropsychiatrie, Neurophilosophie, Ethik <strong>und</strong> Metaphysik; Stuttgart, W.<br />

Kohlhammer Verlag, 2003.<br />

6


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

3.1.2 Die unterschiedlichen Hirntod-Konzepte<br />

Krankheitsprozesse können je nachdem verschiedene Hirnregionen in<br />

Mitleidenschaft ziehen. Es ergibt sich also die Frage, welche Region für die geistigseelischen<br />

Aktivitäten <strong>und</strong> damit für das Menschs<strong>ein</strong> entscheidend sind. Aus dieser<br />

Diskussion sind die drei folgenden Hirntod-Konzepte entstanden.<br />

Hirnstamm (in<br />

Grossbritannien<br />

gültig)<br />

Grosshirn (nur<br />

theoretisch, in der<br />

Praxis nicht<br />

existent)<br />

Gesamtfunktion<br />

(praktiziert von<br />

den meisten<br />

Staaten)<br />

Basis<br />

Eine intakte Funktion des<br />

oberen Hirnstamms ist<br />

unerlässlich für <strong>ein</strong><br />

funktionstüchtiges Grosshirn.<br />

Ein vollständiger Ausfall der<br />

Grosshirnrinde ist zweifelsfrei<br />

an den Verlust jeglichen<br />

Handelns oder Denkens<br />

gekoppelt.<br />

Nachweis des irreversiblen<br />

Ausfalls der Funktionen des<br />

Hirnstamms <strong>und</strong> der<br />

Grosshirnrinde.<br />

Problem<br />

Es kann nicht bewiesen werden, dass<br />

Teile des Grosshirns trotzdem weiter<br />

funktionieren.<br />

Das Konzept tritt in dieser r<strong>ein</strong>en<br />

Form kaum auf <strong>und</strong> es kann auch<br />

nicht mit ausreichender Sicherheit<br />

nachgewiesen <strong>und</strong> abgegrenzt<br />

werden.<br />

Positiv: klare Abgrenzung<br />

gegenüber ähnlichen<br />

Krankheitsbildern (totales Locked-<br />

In-Syndrom, apallisches Syndrom)<br />

3.2 Die medizinische <strong>Tod</strong>esdefinition <strong>und</strong> der Vergleich<br />

Hirntod – Herztod<br />

In diesem Kapitel wird der »normale« Sterbeprozess <strong>ein</strong>es Menschen detailliert<br />

erklärt. Zusätzlich werden die Einzelheiten des Sterbeprozesses im Hirntod<br />

veranschaulicht, indem der Prozess mit dem Herz-Kreislauftod infolge <strong>ein</strong>es<br />

Herzinfarktes verglichen wird.<br />

Auf der medizinischen Ebene wird der <strong>Tod</strong> <strong>ein</strong>es Menschen in verschiedene Phasen<br />

<strong>ein</strong>geteilt, um die Prozesshaftigkeit des Sterbens zu verdeutlichen:<br />

1. klinischer <strong>Tod</strong>: völliger Kreislaufstillstand mit potenziell reversibler Aufhebung<br />

jeder zerebralen Aktivität<br />

2. zerebraler <strong>Tod</strong>: auch kortikaler oder Grosshirntod<br />

3. Hirntod: kortikaler <strong>Tod</strong> mit zusätzlicher Nekrose von Kl<strong>ein</strong>-, Mittel- <strong>und</strong><br />

Stammhirn, gilt als Kriterium für den <strong>Tod</strong> <strong>ein</strong>es Individuums<br />

4. biologischer <strong>Tod</strong>: vollständiges Absterben aller Organe<br />

7


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

Der Ausgangs- <strong>und</strong> Endpunkt des Vergleiches Hirntod-Herztod ist bei beiden<br />

Beispielen derselbe: Der ges<strong>und</strong>e Mensch steht am Anfang <strong>und</strong> zuletzt ist der<br />

Leichnam, da<strong>zwischen</strong> jedoch spielen sich jedoch komplett unterschiedliche<br />

Ereignisse ab.<br />

Bei <strong>ein</strong>em Herzstillstand fällt zuerst die Sauerstoffzufuhr an die Organe aus <strong>und</strong> sie<br />

stellen ihre Funktion <strong>ein</strong>. Das Gehirn erlischt als erstes <strong>und</strong> der Mensch wird<br />

bewusstlos. Eventuelle Wiederbelebungsmassnahmen können das Herz wieder in<br />

Gang setzen. Je nachdem, wie lange das Hirn nicht durchblutet wurde, trägt das<br />

Gehirn Schäden davon oder nicht. Beide Organe - das Herz sowie das Hirn - sind<br />

innerhalb weniger Minuten wiederbelebbar. Erfolgt k<strong>ein</strong>e Wiederbelebung, so ist das<br />

Absterben des Gehirns zwar <strong>ein</strong>e Folge des Herzstillstandes, die beiden Ereignisse<br />

treten jedoch zeitlich so nahe bei<strong>ein</strong>ander auf, dass k<strong>ein</strong>e Dissoziation bzw. k<strong>ein</strong><br />

grosser Unterschied <strong>zwischen</strong> Absterben von Herz <strong>und</strong> Gehirn bemerkt wird.<br />

Dies verhält sich jedoch anders bei der Diagnose Hirntod. Wenn <strong>ein</strong> Patient nach<br />

<strong>ein</strong>em Unfall mit <strong>ein</strong>er Hirnblutung in <strong>ein</strong> Spital <strong>ein</strong>geliefert wird, <strong>und</strong> sich s<strong>ein</strong><br />

Zustand soweit verschlechtert, dass die Atmung unregelmässig wird, erfolgt der<br />

Anschluss an <strong>ein</strong>e Beatmungsmaschine. Dabei schlägt das Herz automatisch weiter<br />

<strong>und</strong> der dissoziierte Hirntod kann beim Überleben des restlichen Körpers <strong>ein</strong>treten.<br />

So können Patienten mehrere Tage oder sogar Monate künstlich »am <strong>Leben</strong>«<br />

gehalten werden.<br />

Äusserlich unterscheidet sich <strong>ein</strong> bewusstloser nicht von <strong>ein</strong>em hirntoten Patienten.<br />

In beiden Fällen ist der Körper warm, durchblutet <strong>und</strong> der Brustkorb hebt <strong>und</strong> senkt<br />

sich unter der maschinellen Beatmung. In der Medizin wird diese Unterscheidung<br />

jedoch benötigt, um Gewissenskonflikte zu vermeiden. Hierfür entstand die Idee der<br />

Irreversibilität. Mit diversen klinischen Untersuchungen soll festgestellt werden, ob<br />

der Krankheitsverlauf nach dem <strong>ein</strong>getretenen Hirntod reversibel ist oder nicht. Herr<br />

Wilhelm 2 , mit dem <strong>ein</strong> Interview durchgeführt wurde, bezeichnete den Unterschied<br />

<strong>zwischen</strong> <strong>ein</strong>em komatösen <strong>und</strong> <strong>ein</strong>em hirntoten Patienten folgendermassen:<br />

»Bei <strong>ein</strong>em komatösen Patienten ist das Bewussts<strong>ein</strong> reduziert, nicht gänzlich<br />

ausgefallen wie bei <strong>ein</strong>em hirntoten. Ein Apnoetest zur Überprüfung der<br />

Spontanatmung würde bei ersterem negativ ausfallen, da das Grosshirn noch<br />

funktioniert.«<br />

2<br />

Herr PD Dr. med. Markus Wilhelm, Herz- <strong>und</strong> Gefässchirurgie am Universitäts-Spital Zürich,<br />

Interview vom 23.08.11<br />

8


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

Im folgenden Kapitel werden die Symptome beim Überprüfen der Irreversibilität<br />

mithilfe <strong>ein</strong>es Diagramms dargestellt. Die Anzeichen sollen die Irreversibiliät des<br />

Zustandes verdeutlichen, jedoch muss klar gemacht werden, dass der Verlauf bereits<br />

vor dem diagnostizierten Hirntod irreversibel ist.<br />

3.3 Das Hirn als Zentrum des menschlichen Bewussts<strong>ein</strong>s<br />

In der medizinischen Fachliteratur wird das Gehirn häufig als Sitz des Bewussts<strong>ein</strong>s<br />

betitelt. Die Neurologie kennt zwei Arten von Bewussts<strong>ein</strong>: Das Wachbewussts<strong>ein</strong><br />

<strong>und</strong> das Reflexivbewussts<strong>ein</strong>. Aus dem Kontext kann gefolgert werden, dass das<br />

reflexive Bewussts<strong>ein</strong> mit dem Hirntod zusammenhängt. Reflexivbewussts<strong>ein</strong> ist <strong>ein</strong><br />

Begriff für geistige Vorgänge, die ablaufen, selbst wenn wir sie manchmal gar nicht<br />

bewusst wahrnehmen, es können auch Träume im Schlaf s<strong>ein</strong>, die wir nicht<br />

verursachen, sondern welche von unserem Unterbewussts<strong>ein</strong> projiziert werden. Mit<br />

Wachbewussts<strong>ein</strong> wird der Zustand definiert, in welchem wir bloss wach sind.<br />

Das Gehirn mit s<strong>ein</strong>en geistigen Fähigkeiten hält nach der M<strong>ein</strong>ung vieler<br />

Wissenschaftler <strong>ein</strong>e übergeordnete Position inne, da es Impulse durch den Körper<br />

leitet <strong>und</strong> den Muskeln so unterschiedliche Anweisungen gibt. Die Medizin trennt<br />

den Geist des Menschen komplett von s<strong>ein</strong>em Körper (= kartesischer Dualismus),<br />

wodurch <strong>ein</strong>e Transplantation erst denkbar wird. Wenn das Gehirn die Fähigkeit<br />

verliert, dem Körper Befehle zu erteilen <strong>und</strong> abstirbt, ist der Hirntod <strong>ein</strong>getreten. Um<br />

die Diagnose des Hirntodes wird es im nächsten Kapitel gehen.<br />

3.4 Ablauf <strong>ein</strong>er Hirntoddiagnose <strong>und</strong> Begriff der<br />

Irreversibilität<br />

Für die Feststellung des Hirntodes bei <strong>ein</strong>em Patienten sind klare Richtlinien<br />

zwingend nötig. In diesem Kapitel wird der generelle Ablauf erklärt, <strong>und</strong> die<br />

spezifischen Richtlinien des Uni Spitals Zürich aufgezählt.<br />

Zu Beginn muss die Untersuchung von zwei unabhängigen, nicht mit der<br />

Transplantation in Kontakt stehenden Ärzten durchgeführt werden. Nach<br />

mindestens 24 St<strong>und</strong>en klinischer Beobachtung werden die Anzeichen in <strong>ein</strong>em<br />

»minimalen Zeitintervall« 3 untersucht.<br />

3<br />

für weitere Informationen siehe: Feststellung des <strong>Tod</strong>es mit Bezug auf Organtransplantationen,<br />

Medizin-ethische Richtlinien, http://www.swisstransplant.org/pdf/SAMW-Richtlinien-D.pdf<br />

9


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

Bilder des<br />

Gehirns<br />

Vergiftung,<br />

Unterkühlung<br />

Hirntoddiagnose<br />

Voraussetzungen<br />

klinische<br />

Untersuchungen<br />

Sicherung der<br />

Irreversibilität<br />

Feststellung<br />

<strong>ein</strong>er schweren<br />

Hirnschädigung<br />

Ausschliessen<br />

ähnlicher<br />

Krankheitsbilder<br />

Infektionen des<br />

Gehirns<br />

Narkose<br />

Voraussetzungen<br />

Registrierung der<br />

elektrischen<br />

Hirnströme mit dem<br />

EEG<br />

schwere<br />

Stoffwechselerkrankungen<br />

Spiral-Computertomographie:<br />

Röntgenbilder des<br />

Gehirns<br />

Hirntoddiagnose<br />

Voraussetzungen<br />

klinische<br />

Untersuchungen<br />

Feststellung<br />

<strong>ein</strong>es Komas<br />

Ausfall des<br />

Pupillen-Licht-<br />

Reflexes<br />

Ausfall der<br />

Schmerzreaktion<br />

beim Pressen von<br />

Austrittsstellen<br />

der<br />

Gesichsnerven<br />

Ausfall der<br />

Spotan-Atmung,<br />

welche vom<br />

Hirnstamm<br />

ausgeht<br />

Hirntoddiagnose<br />

klinische<br />

Untersuchungen<br />

Sicherung der<br />

Irreversibilität<br />

Ausfall des<br />

Husten- <strong>und</strong><br />

Würgereflexes<br />

(durch<br />

Stimulation des<br />

Rachens)<br />

Zusatzuntersuchungen<br />

Wiederholen der<br />

klinischen<br />

Untersuchungen<br />

Szintigraphie: Bilder<br />

des Gehirns durch<br />

radioaktive<br />

Substanzen im Blut<br />

evozierte Potenziale:<br />

Stimulation des<br />

Nervengewebes mit<br />

elektr. Signalen<br />

Doppler- <strong>und</strong> Farbduplexsonographie:<br />

Ultraschall zur<br />

Klärung der<br />

Hirndurchblutung<br />

intraarterielle<br />

Angiographie:<br />

Injektion <strong>ein</strong>es<br />

Kontrastmittels in die<br />

Blutbahnen des<br />

Gehirns<br />

Sicherung der<br />

Irreversibilität<br />

Ausfall des<br />

Schliessmechanismus<br />

der<br />

Augenlider bei<br />

Berühren der<br />

Hornhaut<br />

Ausfall der<br />

Gegenbewegung<br />

der Augäpfel bei<br />

Kopfdrehen<br />

10


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

Eine Hirntoddiagnose ist in drei Abschnitte <strong>ein</strong>geteilt: die Klärung der<br />

Voraussetzungen, die medizinische Untersuchung <strong>und</strong> zuletzt die Sicherung der<br />

Irreversibilität mit eventuell erforderlichen Zusatzuntersuchungen.<br />

Im dissoziierten Hirntod kann <strong>ein</strong>e Vielzahl von Reflexen ausgelöst werden, die für<br />

unvorbereitete Beobachter sehr verwirrend s<strong>ein</strong> können. Das nächste Kapitel wird die<br />

verschiedenen Arten von <strong>Leben</strong>szeichen genauer betrachten <strong>und</strong> den Hirntod vom<br />

ähnlichen Krankheitszustand des Komas abgrenzen.<br />

3.5 Vergleich von Hirntod <strong>und</strong> Koma: die Problematik der<br />

<strong>Leben</strong>szeichen<br />

3.5.1 Differenzierung vom Koma<br />

Das Koma ist <strong>ein</strong> typisches Symptom für den Hirntod. Es kann aber auch all<strong>ein</strong>e<br />

auftreten, ohne dass das Gehirn unweigerlich s<strong>ein</strong>e Funktion <strong>ein</strong>stellt.<br />

Die Tiefe <strong>ein</strong>es Komazustandes wird definiert anhand der Reaktionen der Patienten<br />

auf Ansprechen, Schütteln <strong>und</strong> Stimulation durch Schmerzreize; je tiefer das Koma,<br />

desto weniger Regungen.<br />

In der Hirntoddiagnostik wird <strong>ein</strong> Koma als Symptom für den Hirntod betrachtet,<br />

wenn der Patient k<strong>ein</strong>erlei Regungen auf Stimulationen zeigt. Ein durch<br />

Schlafmittelvergiftung hervorgerufenes Koma ist jedoch auch nach dem Ausfall der<br />

Schmerzreaktionen noch rückbildungsfähig, muss deshalb zweifelsfrei<br />

ausgeschlossen werden können.<br />

Die Problematik geht so weit, dass man mit der modernen Medizin <strong>ein</strong><br />

rückbildungsfähiges Koma nach Ausfall des Hustenreflexes nicht vom Hirntod<br />

unterscheiden kann. Teilweise können mit dem EEG noch verbliebene Hirnströme<br />

gemessen werden, andernfalls muss mithilfe mehrerer Untersuchungen beurteilt<br />

werden, ob sich der Patient bereits im Hirntod befindet.<br />

3.5.2 Die Problematik der <strong>Leben</strong>szeichen im Hirntod<br />

An <strong>ein</strong>em hirntoten Patienten lassen sich verschiedene Arten von<br />

<strong>Leben</strong>digkeitszeichen erkennen. Deren Interpretation <strong>und</strong> ihre Bedeutung für das<br />

kulturelle <strong>Tod</strong>esverständnis ist von grosser Wichtigkeit, um <strong>ein</strong>e neutrale Beurteilung<br />

zu ermöglichen.<br />

Man unterscheidet <strong>zwischen</strong> fünf Bereichen der <strong>Leben</strong>digkeit: dem äusseren Aspekt,<br />

spinal-vegetativen Reflexen, spinalen Automatismen, organinteraktiven<br />

Stoffwechselprozessen <strong>und</strong> hormonellen Steuerungsvorgängen.<br />

11


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

• Von aussen her gesehen unterscheidet sich <strong>ein</strong> Hirntoter nicht von <strong>ein</strong>em<br />

komatösen Patienten. Der Brustkorb hebt <strong>und</strong> senkt sich durch die künstliche<br />

Beatmung, die Haut ist warm, rosig <strong>und</strong> weich, der Rumpf bebt leicht unter dem<br />

Rhythmus des Herzschlags.<br />

• Spinal-vegetative Reflexe werden durch Nervenfasern innerhalb <strong>und</strong><br />

ausserhalb des Rückenmarks hervorgerufen. Dies kann die Ausbildung <strong>ein</strong>er<br />

Gänsehaut s<strong>ein</strong>, fleckige Hautrötungen <strong>und</strong> Veränderungen der Herzfrequenz oder<br />

des Blutdruckes durch den Schnitt mit dem Skalpell bei <strong>ein</strong>er Organentnahme.<br />

• Spinale Automatismen sind Bewegungen in den Extremitäten <strong>ein</strong>es Hirntoten.<br />

Entweder erfolgen sie in gleichmässigen Abständen oder sie werden durch den<br />

gleichen Reiz ausgelöst. Sie sind im Rückenmark verankert <strong>und</strong> werden erst durch<br />

den Ausfall der Kontrolle durch das Gehirn enthemmt. Die Begründung für die<br />

Entstehung im Rückenmark ist diejenige, dass solche Automatismen <strong>und</strong> Reflexe<br />

auch bei Tetraplegikern (Lähmung bis zum Hals) <strong>und</strong> Patienten mit <strong>ein</strong>er isolierten<br />

Hirnstammerkrankung beobachtet wurden.<br />

• Organinteraktive Stoffwechselprozesse sind in vier Bereichen erkennbar:<br />

1. Aufnahme von Sauerstoff durch die Lunge,<br />

2. Nahrungsaufnahme aus dem Darm,<br />

3. Prozess der Verarbeitung durch Leber <strong>und</strong> Bauchspeicheldrüse <strong>und</strong><br />

4. Ausscheidungsvorgang durch Niere <strong>und</strong> Dickdarm.<br />

• Hormonelle Steuerungsvorgänge finden <strong>zwischen</strong> dem Blutkreislauf <strong>und</strong><br />

Hormondrüsen statt. Da diese Drüsen jedoch an die Hirnanhangdrüse gekoppelt<br />

sind, ist <strong>ein</strong>e anhaltende Hormonproduktion im hirntoten Körper nur für kurze Zeit<br />

möglich.<br />

Alle oben genannten <strong>Leben</strong>digkeitszeichen laufen nach medizinischer M<strong>ein</strong>ung<br />

ausschliesslich auf der biologischen Ebene <strong>ein</strong>es Menschen ab. Herr Wilhelm<br />

bestätigte dies im Interview ebenfalls. Obgleich dies wissenschaftlich bewiesen<br />

wurde, diskutiert die Gesellschaft noch immer darüber, ob <strong>ein</strong> hirntoter Patient<br />

anhand dieser <strong>Leben</strong>szeichen wirklich zweifelsfrei als Leichnam betrachtet werden<br />

kann. Im nächsten Kapitel werden ethische Fragestellungen zur Organspende<br />

beantwortet <strong>und</strong> dem Gedanken, (ab) wann <strong>ein</strong> Mensch denn wirklich tot ist,<br />

nachgegangen.<br />

12


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

4. Christliche Ethik<br />

Für die folgenden Ausführungen in der Ethik des Christentums muss <strong>ein</strong>e klare<br />

Begriffsabgrenzung gemacht werden, um Missverständnisse zu vermeiden <strong>und</strong> <strong>ein</strong>e<br />

<strong>ein</strong>deutige Argumentation zu ermöglichen.<br />

Der Körper bezeichnet alle physischen, biologisch begründbaren Eigenschaften <strong>und</strong><br />

Vorgänge <strong>ein</strong>es Menschen. Als Geist wird derjenige Teil bezeichnet, in dem alle<br />

psychischen Vorgänge stattfinden. Der Mensch ist also <strong>ein</strong>e Einheit von Körper <strong>und</strong><br />

Geist.<br />

Der Geist besteht wiederum aus zwei Teilen. Einerseits braucht es für die<br />

menschliche Existenz Bewussts<strong>ein</strong>, das für die geistigen Tätigkeiten verantwortlich<br />

ist. Denken, verstehen, fühlen <strong>und</strong> der Ursprung des physischen Handelns durch den<br />

Körper sind alle im Bewussts<strong>ein</strong> verankert. Der Sitz des Bewussts<strong>ein</strong>s ist im Gehirn.<br />

Andererseits hat der Mensch auch <strong>ein</strong>e Seele, bzw. <strong>ein</strong> Selbst, die emotionale<br />

Eindrücke speichert. Sie definiert den Charakter <strong>und</strong> die Eigenwahrnehmung. Über<br />

den Sitz der Seele sind sich die Religionen nicht im Klaren.<br />

Im Hirntod stirbt das Bewussts<strong>ein</strong> sofort ab, was mit der medizinischen Einstellung<br />

über<strong>ein</strong> stimmt. Die Seele jedoch, der spirituelle Aspekt des Menschen löst sich vom<br />

Körper ab, sie ist unsterblich.<br />

Der in der Religion oft benutzte Ausdruck Leib ist <strong>ein</strong>e Zusammenfügung des Körpers<br />

mit der Seele.<br />

4.1 Der Mensch als Einheit von Körper <strong>und</strong> Geist<br />

In diesem Unterkapitel wird die kulturell bedingte Konzeption von Körper, Geist <strong>und</strong><br />

Seele genauer betrachtet. Bei den folgenden Ausführungen, mit Ausnahme des<br />

Kapitels 4.2, wird nicht nach Konfessionen (katholisch bzw. protestantisch, etc.)<br />

unterschieden. Vielmehr handelt es sich hierbei um ethische Überlegungen zur<br />

medizinischen <strong>Tod</strong>esdefinition bezüglich Hirntod <strong>und</strong> Organspende aus <strong>ein</strong>er<br />

allgem<strong>ein</strong>en christlichen Sichtweise.<br />

Das Christentum beschreibt den Menschen als <strong>ein</strong>e Einheit von Körper, Geist <strong>und</strong><br />

Seele, wobei hier der Begriff »Geist« nicht für Bewussts<strong>ein</strong> <strong>und</strong> Seele steht, sondern<br />

lediglich im Sinne des Bewussts<strong>ein</strong>s zu verstehen ist. Der christliche Glaube hält<br />

13


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

daran fest, dass Gott dem Menschen <strong>ein</strong>e Seele gegeben hat, die im ganzen Körper<br />

verankert ist, nicht bloss im Kopf.<br />

Der Philosoph Alfred Schöpf definierte <strong>ein</strong>st den Leib aus philosophischer Sicht:<br />

»Unter dem menschlichen Leib verstehen wir die angeborene organische Ganzheit,<br />

die durch seelisch-geistiges Erleben <strong>und</strong> Handeln organisiert <strong>und</strong> gestaltet wird.<br />

Abstrahiert man von Psyche <strong>und</strong> Bewussts<strong>ein</strong> <strong>und</strong> betrachtet lediglich die anatomischphysiologische<br />

Seite, dann sprechen wir vom Körper des Menschen. [...]« 4<br />

Viele Menschen wenden sich in Fragen bezüglich des Körpers <strong>und</strong> des Geistes an die<br />

Religion, deren Überlegungen zum Hirntod <strong>und</strong> der Organspende im folgenden<br />

Kapitel genauer betrachtet werden.<br />

4.2 Stellungnahme zum Hirntodkonzept<br />

4.2.1 Die katholische Kirche<br />

Die Problematik des Hirntodkonzepts hat auch in den grossen Kirchen des<br />

Christentums Einzug gehalten. Gemäss <strong>ein</strong>er offiziellen Erklärung stimmt die<br />

katholische Kirche dem Konzept, dass der Mensch im Hirntod tot ist, zu. Im Jahre<br />

2008 hat Papst Benedikt XVI sich äusserst lobend zur Organspende geäussert: Es sei<br />

<strong>ein</strong>e »besondere Form, Nächstenliebe zu zeigen.«<br />

»In <strong>ein</strong>er Zeit wie der unseren, die von den verschiedensten Arten des Egoismus<br />

geprägt wird, wird es immer dringender, zu verstehen, dass man in <strong>ein</strong>e Logik des<br />

kostenlosen Gebens <strong>ein</strong>treten muss, um <strong>ein</strong> richtiges Bild vom <strong>Leben</strong> zu haben. Es gibt<br />

<strong>ein</strong>e Verantwortung aus Liebe <strong>und</strong> Barmherzigkeit, die dazu verpflichtet, aus dem<br />

eigenen <strong>Leben</strong> <strong>ein</strong> Geschenk an die anderen zu machen, wenn man sich tatsächlich<br />

selbst verwirklichen will.« 5<br />

Trotz dieser selbstlosen Aussage erwähnte Papst Benedikt jedoch auch die<br />

auftretende Problematik des Umgangs mit der Würde <strong>und</strong> der personalen Einheit des<br />

Menschen. Um das Prinzip der Nächstenliebe zu erfüllen, durch welches die<br />

Organspende christlich erst akzeptiert wurde, darf der Körper auf k<strong>ein</strong>en Fall<br />

objektiviert oder zu kommerziellen Zwecken genutzt werden. <strong>Leben</strong>de Organe<br />

dürften nur aus <strong>ein</strong>em Toten entnommen werden. Wenn Sterbende ihre Organe<br />

spendeten, dann müsse »der Respekt vor dem <strong>Leben</strong> des Spenders das<br />

Hauptkriterium s<strong>ein</strong>. 5 « Auffällig an dieser Äusserung ist, dass Papst Benedikt trotz<br />

der Zustimmung der katholischen Kirche an die Organspende von »Sterbenden«<br />

spricht, denen Organe entnommen werden, nicht von Toten.<br />

4<br />

Schöpf, Alfred in: O. Höffe, Lexikon d. Ethik, 1997, 171f., aus: http://web.physik.uni-rostock.de/<br />

aktuell/Ring/U_Kern_Leib-Seele2.pdf<br />

5<br />

Papst Benedikt XVI, radio vaticana, 07.11.2008: http://storico.radiovaticana.org/ted/storico/<br />

2008-11/243140_vatikan_organspenden_sind_zeichen_der_nachstenliebe.html<br />

14


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

4.2.2 Die protestantische Kirche<br />

In der Reformierten Kirche gibt es k<strong>ein</strong> Oberhaupt wie es die katholische Kirche<br />

kennt. Somit kann jede Person aus freiem Willen selbst <strong>ein</strong>er Organspende im<br />

Hirntod zustimmen oder <strong>ein</strong>e solche verweigern.<br />

Jedoch äusserte sich Frau Bendik vom Schweizerischen Evangelischen Kirchenb<strong>und</strong><br />

(SEK) auch kritisch zur Organspende. Hirntote seien ganz klar Sterbende, die sich<br />

bloss an <strong>ein</strong>em »point of no return« befinden, erst die Organentnahme sei der <strong>Tod</strong><br />

dieser Person. 6<br />

Sofern sich jemand klar für <strong>ein</strong>e Organspende entscheidet, <strong>und</strong> dies nach dem freien<br />

Willen <strong>und</strong> im Sinne <strong>ein</strong>es Geschenks für kranke Menschen geschieht, dann wird <strong>ein</strong><br />

solcher Entschluss auch von der reformierten Kirche selbstverständlich unterstützt.<br />

4.3 Sitz der Seele <strong>und</strong> die kulturelle Prägung des Körpers<br />

Seit Jahrtausenden schon gilt das Herz in vielen Kulturen dieser Welt als Inbegriff<br />

menschlichen <strong>Leben</strong>s. Bereits zur Zeit der Antike machten sich griechische<br />

Philosophen, genannt Stoiker, über die Seele Gedanken. Sie waren der Ansicht, dass<br />

die Seele aus acht Teilen besteht: dem Hegemonikón (oberster Seelenteil), den fünf<br />

Sinnen, dem fortpflanzenden Teil <strong>und</strong> der Stimme. Einige Stoiker sahen den Sitz des<br />

Hegemonikón im Kopf, andere im Herzen. Die Seele besteht nach stoischer Lehre aus<br />

pneuma, <strong>ein</strong>em feurigen Atemhauch, der im ganzen Körper anzufinden ist. Die<br />

M<strong>ein</strong>ungen zur Seele nach dem <strong>Tod</strong> gingen bereits damals schon aus<strong>ein</strong>ander.<br />

Aus der Zeit des alten Ägypten sind Bilder erhalten geblieben, auf welchen die<br />

»Wägung des Herzens« des Toten stattfindet. Dafür wurde das Herz auf <strong>ein</strong>e<br />

Waagschale gelegt <strong>und</strong> auf die andere Seite die Feder der Göttin der Wahrheit. Ob die<br />

Seele r<strong>ein</strong> <strong>und</strong> gut war, entschied sich, wenn die Waage im Gleichgewicht blieb.<br />

6<br />

Frau Ivana Bendik aus dem Institut für Theologie <strong>und</strong> Ethik des Schweizerischen Evangelischen<br />

Kirchenb<strong>und</strong>es; Interview vom 24.08.11<br />

15


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

Diese antike Schilderung untermalt den ständigen Gedanken der Menschheit, dass<br />

im Herzen der Sitz der Seele ist. Bis heute ist das Herz als Sitz der Gefühle <strong>und</strong> der<br />

Liebe in der Gesellschaft verankert geblieben, <strong>und</strong> die Faszination, die der Begriff der<br />

Seele auf den Menschen ausübt, reicht sogar bis in die Moderne.<br />

Im Alltag verweisen wir oft unbewusst mit bestimmten Ausdrücken auf die<br />

signifikante Rolle, die das Herz in unserem <strong>Leben</strong> spielt. So sprechen wir von<br />

Menschen, die »das Herz am rechten Fleck haben«, die wir »ins Herz schliessen«,<br />

von Schreckensmomenten, an denen uns “das Herz in die Hose rutscht” oder von<br />

Gefühlen wie der Erleichterung, wenn uns »<strong>ein</strong> St<strong>ein</strong> vom Herzen fällt« <strong>und</strong> dem<br />

Mut, wenn wir uns »<strong>ein</strong> Herz fassen«.<br />

Der ganze menschliche Körper ist Gegenstand von kulturellen Prägungen: So kann<br />

jemand »frei von der Leber weg reden«, <strong>ein</strong>em anderen geht etwas »an die Nieren«<br />

<strong>und</strong> er macht sich darüber »Kopfzerbrechen«. Die Organe, die im täglichen Gebrauch<br />

jedoch am häufigsten vorkommen, sind das Herz <strong>und</strong> der Kopf.<br />

Ebenso machen wir Verbindungen <strong>zwischen</strong> dem Körper <strong>und</strong> <strong>ein</strong>er Maschine, wann<br />

immer wir unsere Geisteszustände mithilfe mechanischer Ausdrücke beschreiben. So<br />

wird beispielsweise von <strong>ein</strong>em »überladenen System«, <strong>ein</strong>er »vollen Festplatte« oder<br />

von »sich drehenden Rädchen im Kopf« gesprochen.<br />

Hier wird impliziert, dass der Körper genau wie <strong>ein</strong>e Maschine kontrollier- <strong>und</strong><br />

steuerbar ist. Obwohl dies mit den technischen Fortschritten immer weiter möglich<br />

ist, so steht der physische Körper trotzdem in <strong>ein</strong>er Wechselwirkung mit dem<br />

belebten Leib.<br />

7<br />

7<br />

Quelle: Papyrus des Hunefer, www.pernefer.de/ka.htm<br />

16


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

Der christliche Glaube beruht auf der Auffassung, dass das menschliche <strong>Leben</strong> <strong>ein</strong><br />

Geschenk Gottes ist <strong>und</strong> Körper, Geist <strong>und</strong> Seele (hier ist der Geist wieder als<br />

Verstand anzusehen) zu<strong>ein</strong>ander in ständiger Wechselwirkung stehen. Sie sind<br />

ver<strong>ein</strong>t <strong>und</strong> können nicht getrennt als drei unabhängige Aspekte angesehen werden.<br />

Der Mensch in s<strong>ein</strong>er Ganzheit ist beseelt, <strong>und</strong> somit personales Gegenüber zu Gott,<br />

die menschliche Seele ist nicht an <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>ziges Organ zu binden.<br />

Im nächsten Kapitel wird erarbeitet, wie der Mensch durch die Medizin auf s<strong>ein</strong>e<br />

Gehirnfunktionen reduziert wird, bzw. weshalb so viel Wert auf die Wahrung der<br />

Würde gesetzt wird.<br />

4.4 Reduzierung des Menschen auf s<strong>ein</strong>e Gehirnfunktionen<br />

<strong>und</strong> das Wahren der menschlichen Würde<br />

Gemäss der medizinischen Definition ist der Körper des Menschen aufgeteilt in <strong>ein</strong>en<br />

funktionierenden Körper <strong>und</strong> <strong>ein</strong> höher gestelltes Gehirn, dem das menschliche<br />

Bewussts<strong>ein</strong> zugeordnet wird. Somit hat nach der M<strong>ein</strong>ung der Medizin alles<br />

menschliche Denken <strong>und</strong> Handeln s<strong>ein</strong>en Ursprung im Gehirn, wo analog dazu also<br />

auch der Sitz der Seele s<strong>ein</strong> muss. Durch diese Gleichstellung der Hirnfunktion mit<br />

dem Menschs<strong>ein</strong> wurde die Transplantation erst möglich gemacht. Doch so nützlich<br />

<strong>und</strong> notwendig diese klare Abgrenzung für die Biomedizin auch ist, <strong>ein</strong>e solche<br />

Definition bringt auch Kontroversen mit sich, denn die christliche Religion hält an<br />

der leiblichen Ganzheit des Menschen fest <strong>und</strong> besteht auf die Integrität der<br />

menschlichen Würde. Dies ist der allererste Gr<strong>und</strong>satz in der Medizinethik:<br />

»Das f<strong>und</strong>amentale Kriterium für die Legitimität <strong>ein</strong>er medizinischen Intervention<br />

muss die Verteidigung <strong>und</strong> Förderung des Menschen als ganzes s<strong>ein</strong> - der körperlichen<br />

<strong>und</strong> spirituellen Einheit - in Harmonie mit der <strong>ein</strong>zigartigen Würde, die <strong>ein</strong> Mensch<br />

all<strong>ein</strong> durch s<strong>ein</strong> Menschs<strong>ein</strong> schon besitzt.« 8<br />

Dieses Zitat besagt, dass <strong>ein</strong> medizinischer Eingriff stets begrenzt ist, nicht nur im<br />

Hinblick auf die technischen Möglichkeiten, sondern auch auf den Respekt vor der<br />

Würde des Menschen.<br />

Im Christentum wird das Gehirn dem restlichen Körper nicht übergeordnet, sondern<br />

der Mensch wird als Einheit von verschiedenen Faktoren aufgefasst. Alle diese<br />

Komponenten tragen dazu bei, dass Menschen Menschen sind.<br />

8<br />

Gambino, Gabriella, »Die katholische Kirche« in: Organtransplantationen — ethisch betrachtet;<br />

zus.gestellt von Morris, Sir Peter; Berlin, Lit Verlag, 2006<br />

17


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

Der Glaube plädiert darauf, dass der Mensch im Hirntod zwar unumkehrbar auf dem<br />

Wege in den <strong>Tod</strong> ist, sich jedoch noch im Sterbeprozess befindet <strong>und</strong> deshalb die<br />

menschliche Würde unbedingt beachtet werden muss. Dies ist jedoch sehr<br />

problematisch, da mit der strikten Trennung Gehirn-Körper die spirituelle Einheit<br />

von Körper <strong>und</strong> Geist (mit Verstand <strong>und</strong> Seele als Bestandteile) übergangen wird.<br />

Die katholischen <strong>und</strong> protestantischen Kirchen mussten also <strong>ein</strong>en Weg finden, den<br />

radikalen Eingriff in den Sterbeprozess <strong>ein</strong>es Menschen <strong>und</strong> die Verletzung dessen<br />

Würde zu rechtfertigen. Dies taten sie durch das Prinzip der Nächstenliebe oder der<br />

Solidarität <strong>und</strong> legitimierten auf diesem Wege die Organtransplantation, wie bereits<br />

im Kapitel »Begründung der Kirchen« beschrieben wurde.<br />

4.5 Der Sterbeprozess <strong>und</strong> die Ablösung der Seele vom Körper<br />

In diesem Unterkapitel wird der Prozess des Sterbens in christlicher Hinsicht<br />

behandelt <strong>und</strong> noch genauer auf den Ablöseprozess der Seele vom physischen Körper<br />

<strong>ein</strong>gegangen.<br />

Die Frage nach dem <strong>Tod</strong> hat die Menschen schon immer beschäftigt. Trotz dem<br />

grossen technologischen Fortschritt der letzten Jahre kann es jedoch bis heute nur zu<br />

<strong>ein</strong>em gewissen Punkt hin gelüftet werden.Die moderne Medizin baut auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage auf, dass das Bewussts<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>es Menschen eng an s<strong>ein</strong>e physische Person,<br />

genauer gesagt s<strong>ein</strong> Gehirn geb<strong>und</strong>en ist (bereits erläutert im Kapitel 3.3).<br />

Nach den neusten Erkenntnissen der Sterbeforschung kann die unsterbliche Seele,<br />

unsere Wahrnehmung des »Selbst«, im Sterben jedoch aus dem Körper treten <strong>und</strong><br />

sich unabhängig von Raum <strong>und</strong> Zeit bewegen, was am Phänomen der<br />

Nahtoderfahrung erkannt werden konnte. Die Eindrücke, von denen Sterbende<br />

berichten, sind immer sehr emotional <strong>und</strong> können so auch ohne den ans Gehirn<br />

geb<strong>und</strong>ene Verstand wahrgenommen werden.<br />

Bernhard Jakoby 9 zeigt in s<strong>ein</strong>em Bericht mögliche Sterbephasen auf, die <strong>ein</strong> Mensch<br />

während dem Sterben durchlaufen kann. Die folgende Tabelle zeigt bloss <strong>ein</strong>e<br />

Möglichkeit des Sterbeprozesses, jeder Mensch berichtet von anderen Erlebnissen<br />

<strong>und</strong> so kann k<strong>ein</strong> allgem<strong>ein</strong>es Bild vom <strong>Tod</strong> daraus gefolgert werden. Dass sich im<br />

9<br />

Bernhard, Jakoby,; deutscher Sterbeforscher; Tabelle aus: http://www.kath-kirche-vorarlberg.at/<br />

organisation/katholisches-bildungswerk-vorarlberg/artikel/geheimnis-sterben-was-wir-heute-ueberden-sterbeprozess-wissen-1<br />

18


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

Zustand des Nahtodes die Wahrnehmung erweitert, d.h. unsere Seele die physischen<br />

Grenzen des Körpers überwindet, ist jedoch empirisch bewiesen.<br />

Phase<br />

1. Lockerung der Seele:<br />

Schwebezustand<br />

2. Konfrontation mit<br />

den verdrängten<br />

Problemen<br />

3. Das letzte Aufgebot<br />

der physischen<br />

Reserven:<br />

Bewussts<strong>ein</strong>serweiterung<br />

4. Der Augenblick des<br />

<strong>Tod</strong>es<br />

5. Die Loslösung der<br />

Seele vom Körper<br />

Merkmale<br />

Der Sterbende kann s<strong>ein</strong> Bett nicht mehr eigenständig verlassen,<br />

die »Erdung« lässt nach. Die Seele beginnt, sich sanft zu lösen,<br />

Betroffene fühlen sich leicht <strong>und</strong> erleben Schwebezustände<br />

<strong>zwischen</strong> Schlaf, Traum <strong>und</strong> Wachbewussts<strong>ein</strong>.<br />

Der Sterbende möchte mit sich ins R<strong>ein</strong>e kommen <strong>und</strong><br />

verbleibende Dinge klären. Der Kontakt mit der geistigen Welt<br />

wird schrittweise aufgebaut, die Wahrnehmung konzentriert sich<br />

zunehmend auf ausserkörperliche Ersch<strong>ein</strong>ungen.<br />

Das letzte »Aufblühen« wird registriert, es kann je nachdem sanft<br />

oder laut (durch Schreie, Stöhnen oder Aufbäumen) verlaufen.<br />

Das <strong>Leben</strong>sfeuer erstrahlt noch <strong>ein</strong> letztes Mal bevor es erlischt.<br />

Die Augen des Sterbenden sind gross, glänzend <strong>und</strong> wie von<br />

<strong>ein</strong>em inneren Licht oder Feuer erhellt.<br />

Das Ende des Sterbeprozesses setzt mit dem letzten Herzschlag<br />

<strong>und</strong> Atemzug <strong>ein</strong>. Die Seele des Menschen wendet sich an die<br />

geistige Welt, ist aber noch immer an den menschlichen Körper<br />

geb<strong>und</strong>en. Angehörige berichten häufig von <strong>ein</strong>er Energie, die sie<br />

im Raum gespürt haben, die an die Anwesenheit der Verstorbenen<br />

erinnert.<br />

Die Verbindung <strong>zwischen</strong> Körper <strong>und</strong> Geist, manchmal als<br />

»Silberschnur« bezeichnet, wird endgültig durchtrennt. Die Seele<br />

tritt komplett in die geistige Welt über <strong>und</strong> der Körper des<br />

Verstorbenen gleicht <strong>ein</strong>er leeren Hülle.<br />

19


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

4.6 Medizin <strong>und</strong> christliche Ethik im Vergleich<br />

Medizin<br />

<strong>Tod</strong>esdefinition durch Absterben des<br />

Gehirns oder Herzversagen<br />

Der Sterbeprozess ist <strong>ein</strong>geteilt in<br />

1. den klinischen,<br />

2. den zerebralen,<br />

3. den Hirntod <strong>und</strong><br />

4. den biologischen (vollständigen <strong>Tod</strong>).<br />

Für den Menschen ist das Gehirn<br />

definierend. Es macht den Menschen<br />

erst zu dem, was er ist <strong>und</strong> ist höher<br />

gestellt als der restliche Körper.<br />

Beim <strong>Tod</strong> stirbt der Mensch mit Körper<br />

<strong>und</strong> Geist, es bleibt nichts übrig.<br />

christliche Ethik<br />

Die <strong>Tod</strong>esdefinition wird nicht begrenzt auf das<br />

Versagen <strong>ein</strong>zelner Organe, sondern b<strong>ein</strong>haltet den<br />

<strong>Tod</strong> des Menschen als Ganzes.<br />

Der Sterbeprozess findet in mehreren Phasen statt,<br />

während denen sich die Seele des Sterbenden<br />

zunehmend an die geistige Welt wendet, bis die<br />

Verbindung <strong>zwischen</strong> Körper <strong>und</strong> Geist endgültig<br />

getrennt wird.<br />

Das Gehirn definiert den Menschen nicht, es ist<br />

zwar <strong>ein</strong> wichtiger Bestandteil des Körpers, wird<br />

aber gleichgestellt mit allen anderen Organen.<br />

Bloss der Teil des Bewussts<strong>ein</strong>s stirbt beim <strong>Tod</strong>, die<br />

Seele ist unsterblich <strong>und</strong> löst sich vom Körper.<br />

5. Buddhismus<br />

5.1 Einheit von Körper <strong>und</strong> Geist<br />

Körper <strong>und</strong> Geist stehen auch nach buddhistischer Ansicht in ständiger<br />

Wechselwirkung zu<strong>ein</strong>ander. Das Gehirn hält <strong>ein</strong>e gleichgestellte Position inne wie<br />

alle anderen Organe , es wird dem restlichen Körper k<strong>ein</strong>esfalls übergeordnet.<br />

»Im Buddhismus wird das Gehirn lediglich als <strong>ein</strong> Teil des Körpers angesehen, wo<br />

<strong>ein</strong>ige der Anweisungen des Geistes zu den anderen Teilen des Körpers geleitet werden,<br />

jedoch ist es nicht der Ort, an dem die Gedanken entstehen; Gedanken entstehen in dem<br />

nicht-körperlichen Geist.« 10<br />

Eine Person wird im Buddhismus durch fünf Aggregate, genannt »Skandhas«,<br />

beschrieben. Diese sind: Form (Körperlichkeit), Gefühl (Empfindung),<br />

Wahrnehmung (Erkennung), Intellekt (psychische Formkräfte) <strong>und</strong> das<br />

Bewussts<strong>ein</strong>. 11 Das erste ist <strong>ein</strong> r<strong>ein</strong> äusserliches Phänomen, die letzten vier beziehen<br />

sich alle auf den Geist mit s<strong>ein</strong>en subjektiven Empfindungen.<br />

10<br />

http://www.viewonbuddhism.org/buddhismus-deutsch/g-geist.htm<br />

11<br />

Rinpoche, Sogyal; »Das tibetische Buch vom <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> vom Sterben«, 2. verbesserte Auflage,<br />

Frankfurt am Main, O.W. Barth Verlag, 2004<br />

20


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

Buddhisten kennen k<strong>ein</strong>e beständige<br />

Selbstwahrnehmung. Die fünf Aggregate,<br />

die im Menschen ver<strong>ein</strong>t sind, verändern<br />

sich während des <strong>Leben</strong>s sowie nach<br />

<strong>ein</strong>er Wiedergeburt ständig. Was jedoch<br />

bleibt, ist die Kontinuität des Geistes,<br />

über alle Wiedergeburten hin verteilt.<br />

Diese Einstellung zu Körper <strong>und</strong> Geist<br />

wurde auch im Interview deutlich, das<br />

mit Lama Pema Wangyal 12 geführt<br />

wurde. Buddhisten sind der Ansicht,<br />

dass beim <strong>Tod</strong> der ganze Geist inklusive<br />

der Seele den Körper verlässt <strong>und</strong> noch<br />

viele Male wiedergeboren werden kann. 13<br />

5.2 Stellungnahme zum Hirntodkonzept <strong>und</strong> die Haltung der<br />

buddhistischen Gesellschaft<br />

Im Buddhismus gibt es k<strong>ein</strong>e religiöse Autorität, die Regeln bezüglich dem täglichen<br />

<strong>Leben</strong> bestimmt. Ew. Lama Pema Wangyal sagte im Gespräch dazu:<br />

»Es gibt bloss Traditionen <strong>und</strong> kulturelle Normen, die Buddhisten praktizieren. Die<br />

Organspende wird akzeptiert im Sinne <strong>ein</strong>es Geschenkes an <strong>ein</strong>en anderen Menschen.<br />

Es zählt zu den ehrenvollsten Taten, jemandem, der <strong>ein</strong> Organ braucht, dieses Geschenk<br />

zu machen.« 14<br />

Für <strong>ein</strong>en Buddhisten gehören Mitgefühl <strong>und</strong> Grosszügigkeit zu den obersten<br />

Prinzipien auf dem Weg zur Erleuchtung. Die <strong>Leben</strong>dspende wird als<br />

unproblematisch angesehen, denn so können Buddhisten anderen Menschen Organe<br />

geben, von denen sie nicht alles zum <strong>Leben</strong> benötigen (Nieren, Teile der Leber). Es ist<br />

wichtig für Buddhisten, sich nicht an den Körper zu klammern <strong>und</strong> in dieser Weise<br />

wird ihnen bei der <strong>Leben</strong>dspende nichts weggenommen.<br />

Bei der postmortalen Organspende sieht die Ausgangslage jedoch <strong>ein</strong> bisschen anders<br />

aus: Der <strong>Tod</strong> wird prozesshaft beschrieben, <strong>und</strong> kann aus buddhistischer Sicht von<br />

wenigen Minuten bis zu mehreren Tagen dauern (siehe Kapitel 5.4). In dieser Zeit<br />

12<br />

Lama Pema Wangyal, buddhistischer Mönch im Tibeti-Institut Rikon, Interview vom 24.08.11<br />

13<br />

Rad des <strong>Leben</strong>s: www.shiatsu-austria.at/<strong>ein</strong>fuehrung/kultur_13.htm<br />

14<br />

Interview mit Lama Pema Wangyal vom 24.08.11<br />

21


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

sollte der Körper des »Sterbenden« in k<strong>ein</strong>er Weise gestört, bzw. berührt werden,<br />

damit sich die Seele in Ruhe vom Körper lösen kann. Hat die sterbende Person<br />

jedoch aus freiem Willen in <strong>ein</strong>e Organspende <strong>ein</strong>gewilligt, so gilt <strong>ein</strong>e<br />

Transplantation als Akt grossen Mitgefühls, durch den Menschenleben gerettet<br />

werden können. Diese Entscheidung sollte jeder Buddhist für sich all<strong>ein</strong>e treffen,<br />

nachdem er sich intensiv mit dem <strong>Tod</strong> <strong>und</strong> der Wiedergeburt befasst hat.<br />

5.3 Bedeutung verschiedener Organe <strong>und</strong> Sitz der Seele<br />

Der Buddhismus kennt k<strong>ein</strong>e kulturelle Assoziationen für die verschiedenen inneren<br />

Organe. Für <strong>ein</strong>ige religiöse Meister befindet sich der ganze Geist im Herzen, was<br />

ihm <strong>ein</strong>e besondere Bedeutung verleiht. Andere wiederum sind der Ansicht, dass er<br />

im Hirn verankert ist. Ein Buddhist sollte sich nicht an s<strong>ein</strong>e Organe klammern, <strong>ein</strong><br />

Organ erhält bloss deshalb <strong>ein</strong>e spezielle Bedeutung, weil es durch den Geist<br />

kontrolliert wird.<br />

Der Sitz der Seele ist im Buddhismus nicht an <strong>ein</strong>em gewissen Ort im Körper<br />

verankert, vielmehr wandert sie frei herum. Lama Pema berichtete von folgender<br />

Auffassung:<br />

»Während <strong>ein</strong>em Monat, also etwa dreissig Tagen wandert die Seele durch den ganzen<br />

Körper: Die Reise beginnt in den Zehen <strong>und</strong> geht mit jedem Tag <strong>ein</strong> Stück weiter nach<br />

oben über die linke Seite. Bei Vollmond befindet sie sich im Scheitel <strong>und</strong> beginnt dann,<br />

über die rechte Seite herunterzusteigen.« 15<br />

Im tibetischen Buddhismus existiert die Vorstellung, dass das Bewussts<strong>ein</strong> ebenfalls<br />

nicht an <strong>ein</strong>er Stelle bleibt, sondern sich je nach körperlicher <strong>und</strong> mentaler Aktivität<br />

an <strong>ein</strong>em anderen Ort befindet. Lama Pema erklärte im Interview, wie <strong>ein</strong>e solche<br />

Bewegung zu verstehen ist:<br />

»Wenn jemand sehr tief schläft, ist s<strong>ein</strong> Bewussts<strong>ein</strong> auch tiefer unten im Körper, etwa<br />

in der Region des Herzens. Bei leichterem Schlaf befindet sich das Bewussts<strong>ein</strong> etwas<br />

weiter oben, ungefähr in der Kehle. Während den restlichen Tätigkeiten ist es im<br />

Kopf.« 16<br />

5.4 Sterbeprozess <strong>und</strong> Ablösung der Seele vom Körper<br />

Innerhalb des Buddhismus gibt es verschiedene Richtungen, die unterschiedlichen<br />

Rituale <strong>und</strong> Traditionen b<strong>ein</strong>halten. Der Fokus liegt hier im tibetischen Buddhismus.<br />

15<br />

Interview mit Lama Pema Wangyal vom 24.08.11<br />

16<br />

Interview mit Lama Pema Wangyal vom 24.08.11<br />

22


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

Unter dem Begriff »Sterbeprozess« sind viele Arten denkbar. In diesem Kapitel wird<br />

jedoch nur auf den »normalen« Sterbeprozess <strong>ein</strong>es Menschen durch hohes Alter<br />

oder Krankheit Bezug genommen, was <strong>ein</strong>en Vergleich auf derselben Ebene mit den<br />

M<strong>ein</strong>ungen aus dem Christentum <strong>und</strong> dem Islam ermöglicht.<br />

Im Buddhismus sind fünf Urstoffe bekannt, die den Menschen ausmachen: der<br />

Urstoff der Erde (Festigkeit), des Wassers (Flüssigkeit), des Feuers (Wärme), der Luft<br />

(Atem) <strong>und</strong> des Raumes (unbegrenzte Leere). Während dem Sterbeprozess verlieren<br />

diese Urstoffe der Reihe nach ihre Kraft, den Geist zu unterstützen. Die Seele<br />

beginnt, sich vom Körper abzulösen. Dabei durchläuft der Sterbende verschiedene<br />

Geisteszustände, in denen er jeweils beim Auflösen <strong>ein</strong>es weiteren Urstoffes <strong>ein</strong>e<br />

bestimmte Vision vor s<strong>ein</strong>em inneren Auge hat. Es ist von grosser Wichtigkeit, immer<br />

an heilsamen Gedanken festzuhalten, um »die Eindrücke positiver Handlungen zur<br />

Reife zu bringen.« 17 Dies kann dem Betroffenen bei der Wiedergeburt die Existenz als<br />

Tier oder noch erbärmlicheres Wesen ersparen. 18<br />

5.5 Der kulturelle Umgang mit dem <strong>Tod</strong><br />

Ein Toter sollte im Buddhismus für <strong>ein</strong>e gewisse Zeit, meistens drei bis vier Tage,<br />

ungestört bleiben, damit sich s<strong>ein</strong>e Seele gänzlich vom Körper ablösen kann. Diese<br />

alte Tradition wird jedoch nicht immer praktiziert. Lama Pema m<strong>ein</strong>te dazu:<br />

»Bei Lamas [budd. Mönche] wird sehr vorsichtig gehandelt. Normale Menschen können<br />

schon berührt werden, das ist k<strong>ein</strong> Problem. Befindet sich der Sterbende aber noch in<br />

der Meditationsphase, können W<strong>ein</strong>en oder sonstige Störfaktoren <strong>ein</strong>en negativen<br />

Einfluss auf die Wiedergeburt dieses Menschen haben.« 19<br />

Was noch immer durchgeführt wird, ist die Aufbahrung von Verstorbenen, damit<br />

Angehörige Abschied nehmen können. Dies gestaltet sich in westlichen Kulturen<br />

jedoch immer schwieriger, meistens muss <strong>ein</strong>e behördliche Erlaubnis geholt werden.<br />

Für Buddhisten ist der <strong>Tod</strong> nicht das Ende des <strong>Leben</strong>s, sondern nur <strong>ein</strong>e<br />

Übergangsphase in die Wiedergeburt dieses Menschen, weshalb sie auch nicht wie<br />

die Christen um den Verstorbenen trauern. Eher sollte man sich gemäss Lama Pema<br />

für diese Person freuen, dass er/sie <strong>ein</strong>e Chance auf <strong>ein</strong> neues <strong>Leben</strong> oder die<br />

Erleuchtung, die Erlösung aus dem Rad des <strong>Leben</strong>s, bekommt.<br />

17<br />

»Verständnis vom <strong>Tod</strong> im tibetischen Buddhismus« auf www.bodhibaum.net<br />

18<br />

Detaillierte Ausführungen auf www.bodhibaum.net oder im »Tibetischen Buch vom <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> vom<br />

Sterben« von Sogyal Rinpoche (s. Literaturverzeichnis)<br />

19<br />

Interview mit Lama Pema Wangyal vom 24.08.11<br />

23


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

Trotzdem finden während 49 Tagen verschiedenste Zeremonien statt, um die<br />

verstorbene Person zu ehren <strong>und</strong> <strong>ein</strong>en Übergang in <strong>ein</strong>e hohe Existenzform zu<br />

unterstützen. Dies kommt daher, dass sich gemäss buddhistischen Schriften <strong>ein</strong><br />

Mensch höchstens sieben Wochen im Bardo, also dem Zwischenzustand befindet.<br />

Während der Beerdigung oder Kremation, die in der tibetischen Tradition sehr häufig<br />

praktiziert wird, tragen Buddhisten deshalb weiss, die Farbe der Wiedergeburt <strong>und</strong><br />

des <strong>Leben</strong>s.<br />

5.6 Buddhismus <strong>und</strong> Christentum im Vergleich<br />

Buddhismus<br />

- Der Mensch wird durch die fünf<br />

Aggregate, genannt »Skandhas«,<br />

beschrieben.<br />

- Der Geist des Menschen verändert sich<br />

während dem <strong>Leben</strong> ständig.<br />

- Beim <strong>Tod</strong> verlässt der Geist mit der Seele<br />

den Körper <strong>und</strong> wird wieder geboren.<br />

- k<strong>ein</strong>e religiöse Autorität, bloss Traditionen<br />

<strong>und</strong> kulturelle Normen<br />

- k<strong>ein</strong>e Assoziationen mit Organen, nur wenn<br />

sie durch den Geist kontrolliert werden.<br />

- Der Geist <strong>und</strong> die Seele wandern frei im<br />

Körper herum<br />

- Aufbahrung des Verstorbenen,<br />

anschliessend häufig Kremation<br />

Christentum<br />

- Der Mensch wird definiert als <strong>ein</strong>e Einheit<br />

von Körper, Geist (im Sinne des Verstandes)<br />

<strong>und</strong> Seele.<br />

- Ein beständiges »Ich« macht den<br />

Menschen aus.<br />

- Beim <strong>Tod</strong> stirbt der Verstand bzw. das<br />

Bewussts<strong>ein</strong>, die Seele löst sich vom Körper<br />

- Der Papst ist das Oberhaupt der<br />

katholischen Kirche, die reformierte Kirche<br />

hat k<strong>ein</strong>e religiöse Autorität<br />

- Das Herz als Sitz der Gefühle <strong>und</strong> das<br />

Gehirn als Sitz des Bewussts<strong>ein</strong>s<br />

- Geist <strong>und</strong> Seele bleiben an <strong>ein</strong>em Ort<br />

verankert<br />

- heutzutage meistens k<strong>ein</strong>e Aufbahrung, nur<br />

Beerdigung oder Kremation<br />

6. Islam<br />

6.1 Rechtsgr<strong>und</strong>lagen bei <strong>ein</strong>er Organspende: Scharia<br />

Die Diskussion um das Thema Hirntod ist in den islamischen Staaten in vollem<br />

Gange. Gelehrte der Scharia, des Gottesrechts, sind mit sehr komplexen Fragen<br />

konfrontiert, wie etwa der, die sich mit der Bestimmbarkeit des genauen<br />

<strong>Tod</strong>eszeitpunktes beschäftigt. Die Bestimmung ist deswegen problematisch, weil sich<br />

nach dem <strong>Tod</strong> zahlreiche Rechtsverhältnisse ändern, <strong>und</strong> der Tote sollte sehr bald<br />

(möglichst nach weniger als 24 St<strong>und</strong>en) bestattet werden.<br />

24


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

In der Scharia werden auch diverse <strong>Tod</strong>esmerkmale genannt, wie der starre, nach<br />

oben gerichtete Blick, der der Seele »nachschaut«, das Erschlaffen der Füsse <strong>und</strong> der<br />

Gesichtshaut, die Krümmung der Nase <strong>und</strong> das Einsinken der Schläfen. 20<br />

Für die schariatrechliche <strong>Tod</strong>esbestimmung muss <strong>ein</strong>e vollständige Trennung von<br />

Seele <strong>und</strong> Körper stattgef<strong>und</strong>en haben. Da die Seele jedoch nicht sichtbar ist, kann<br />

im Hirntod nicht zweifelsfrei behauptet werden, dass diese Trennung bereits<br />

vollführt wurde. Trotzdem wurde der Hirntod vonseiten islamischer Gelehrten<br />

rechtlich anerkannt.<br />

Frau Mohamed 21 machte folgende Aussage über die rechtlichen Bestimmungen zur<br />

Organspende:<br />

»Nach muslimischer Auffassung tritt der <strong>Tod</strong> dann <strong>ein</strong>, wenn die Seele den Körper<br />

verlässt. Der genaue Zeitpunkt, wann dies der Fall ist, kann unseres Wissens nicht klar<br />

bestimmt werden. Hirntod ist also nicht zwingend mit dem <strong>Tod</strong> gleichzusetzen.« 22<br />

Religiöse Gelehrte <strong>und</strong> islamische Juristen haben bereits etliche Fatwas, also<br />

Rechtsgutachten bezüglich der Scharia, herausgegeben, in denen sie zur<br />

Organspende <strong>und</strong> -transplantation Stellung nahmen. Folgendes Zitat ist <strong>ein</strong>e Fatwa,<br />

die von der islamischen Fiqh Akademie veröffentlicht wurde:<br />

»Organs from the deceased can be transplanted to a patient, where the life of the<br />

recipient depends on the transplant, or if the continuation of the basic bodily functions<br />

of the recipient depends on the transplant. This is however, dependent on the deceased‘s<br />

consent, or that of his next-of-kin after his death, or by the decision of the leaders of the<br />

Muslim community, should the deceased be unidentified, or does not have any next-ofkin.«<br />

23<br />

Zusammengefasst bedeutet dies, dass <strong>ein</strong>er hirntoten Person Organe zur<br />

Transplantation entnommen werden dürfen, wenn der Verstorbene entweder zu<br />

Lebzeiten selbst <strong>ein</strong>gewilligt hat, direkte Angehörige für ihn <strong>ein</strong>willigen oder die<br />

Führer der muslimischen Gem<strong>ein</strong>schaft des Verstorbenen <strong>ein</strong>er Entnahme<br />

zustimmen.<br />

Es wird ebenfalls grossen Wert darauf gelegt, dass die Würde des Verstorbenen<br />

gewahrt <strong>und</strong> das Organ nicht zu kommerziellen Zwecken gebraucht wird. Die<br />

verschiedenen Überlegungen zur Legitimität <strong>ein</strong>er Organspende werden im nächsten<br />

Unterkapitel näher betrachtet.<br />

20<br />

Holznienkemper, Thomas; Organspende <strong>und</strong> Transplantation <strong>und</strong> ihre Rezension in der Ethik der<br />

abrahamitischen Religionen, »4.4.2.4 Islamisch« S.51<br />

21<br />

Frau Sumaya Angelina Mohamed, Moschee Hegi, Interview vom 15.10.11<br />

22<br />

Interview mit Frau Sumaya Angelina Mohamed, 15.10.11<br />

23<br />

The decision of the Islamic Fiqh Academy in its Fourth meeting in Jeddah on February 11, 1988.<br />

http://www.muis.gov.sg/cms/uploadedFiles/MuisGovSG/Religious/OOM/Resources/Muis<br />

%20kidney%20book%20ENG.pdf<br />

25


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

6.2 Stellungnahme zum Hirntodkonzept <strong>und</strong> die Haltung der<br />

islamischen Gesellschaft<br />

Der Islam macht sich, wie auch jede andere Religion, Gedanken zu Fragen über den<br />

<strong>Tod</strong> des Menschen. Ganz besondere Beachtung wurde in den letzten Jahren dem<br />

Thema Hirntod <strong>und</strong> Organspende geschenkt.<br />

In der dritten internationale Konferenz islamischer Gelehrter in Amman/Jordanien<br />

wurde der Hirntod mit dem Herztod gleichgestellt. 24 Dadurch wurde es den<br />

muslimischen Ländern ethisch erlaubt, Organspenden <strong>und</strong> -transplantationen<br />

durchzuführen.<br />

Die Legitimität der Organspende im islamischen Glauben wird damit begründet, dass<br />

»Taten nach den dahinterstehenden Absichten beurteilt werden.« 25 Eine<br />

Organspende soll Ausdruck von Mitgefühl s<strong>ein</strong> <strong>und</strong> in Anbetracht der Rettung <strong>ein</strong>es<br />

Menschenlebens, was im Islam <strong>ein</strong>e der höchsten Tugenden ist, Zeichen der<br />

Nächstenliebe s<strong>ein</strong>.<br />

Da es im Islam k<strong>ein</strong>e Oberhaupt gibt, das den Schlussentscheid bei aktuellen Fragen<br />

fällt, müssen die Gelehrten versuchen, den Koran bzw. die Scharia nach bestem<br />

Wissen zu deuten. In der schriftlichen Befragung von Frau Mohamed wurde deutlich,<br />

dass für <strong>ein</strong>e Mehrheit der Gelehrten <strong>ein</strong>e Organspende im Sinne der <strong>Leben</strong>srettung<br />

erlaubt ist, wenn der »(mögliche) Nutzen den (möglichen) Schaden überwiegt.« 26<br />

Es existieren bisher noch k<strong>ein</strong>e Studien über die Organspenden nach<br />

Religionszugehörigkeit. Trotzdem ist bekannt, dass auch Muslime in der Schweiz<br />

Organe spenden <strong>und</strong> annehmen. Ein wichtiger Unterschied ist <strong>zwischen</strong> der <strong>Leben</strong>d-<br />

<strong>und</strong> der postmortalen Spende. Allgem<strong>ein</strong> gilt das gr<strong>und</strong>sätzliche Verbot der<br />

Verletzung des menschlichen Körpers, der dem Muslimen von Allah anvertraut<br />

wurde. Bei der <strong>Leben</strong>dspende kann der mögliche Schaden der spendenden Person<br />

grösser s<strong>ein</strong> als bei der postmortalen, <strong>und</strong> deshalb müssen alle Faktoren genau<br />

betrachtet <strong>und</strong> gegen<strong>ein</strong>ander abgewogen werden.<br />

24<br />

http://www.organspende-info.de/downloads/24-134-390/Unterrichtsmaterial_organspende.pdf<br />

25<br />

Interview mit Frau Sumaya Angelina Mohamed vom 15.10.11<br />

26<br />

Interview mit Frau Sumaya Angelina Mohamed vom 15.10.11<br />

26


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

6.3 Sitz der Seele <strong>und</strong> Glaubenskonflikte mit der<br />

medizinischen <strong>Tod</strong>esdefinition<br />

Der Islam kennt <strong>ein</strong> Menschenbild, das dem des Christentums sehr ähnelt. Ein<br />

Mensch besteht demnach aus dem Körper, der Seele <strong>und</strong> der sog. <strong>Leben</strong>skraft. 27 Der<br />

Körper beschreibt den physischen Aspekt, die Seele den nicht materiellen Teil. Die<br />

<strong>Leben</strong>skraft kann als göttlichen Antrieb betitelt werden, was <strong>ein</strong>e Parallele zur<br />

Philosophie der Stoa im antiken Griechenland ist (s. Kapitel 4.3). Für Stoiker bestand<br />

der Mensch ebenfalls aus drei Teilen: dem Körper (materia), der Vernunft (ratio)<br />

<strong>und</strong> dem göttlichen Atem (pneuma). Je mehr von diesem pneuma <strong>ein</strong> Lebewesen<br />

besitzt, desto göttlicher ist es.<br />

Gemäss der Medizin nimmt das Gehirn <strong>ein</strong>e zentrale Stellung für das Menschs<strong>ein</strong> <strong>ein</strong>,<br />

von ihm gehen alle Impulse an die Organe aus. Der Islam jedoch steht nicht<br />

vollkommen hinter dieser technischen Auffassung. Frau Mohamed m<strong>ein</strong>te dazu:<br />

»Im Islam wird allgem<strong>ein</strong> nicht das Hirn, sondern das Herz als Zentrum aller<br />

menschlichen Wahrnehmung bezeichnet, wobei (...) hier das spirituelle Herz gem<strong>ein</strong>t<br />

ist. Obwohl man natürlich auch im Islam das Hirn als Zentrum des Denkens <strong>und</strong> - in<br />

Kombination mit dem Impuls des Herzens - auch des Handelns sieht, nimmt es daher<br />

jedoch nicht die zentrale Stellung <strong>ein</strong>, die ihm die moderne Medizin u. U. zuschreiben<br />

möchte.« 25<br />

6.4 Sterbeprozess <strong>und</strong> Ablösung der Seele vom Körper<br />

»Die Seele verlässt nach dem Sterbeprozess den Körper bis zum Tag der Auferstehung,<br />

an dem sich beide wieder mit<strong>ein</strong>ander ver<strong>ein</strong>en werden. Dort wird der Mensch über<br />

s<strong>ein</strong>e Taten vor Gott Rechenschaft ablegen <strong>und</strong> schließlich wird über die Belohnung<br />

oder Bestrafung des Menschen entschieden.« 28<br />

Im Islam existiert die feste Vorstellung, dass die Seele <strong>ein</strong>es Menschen den Körper im<br />

Moment des <strong>Tod</strong>es verlässt <strong>und</strong> dann für kurze Zeit in <strong>ein</strong>en “Aufbewahrungsort“<br />

geht. Wenn der leblose Körper sich im Grab befindet, kehrt die Seele angeblich<br />

wieder zu ihm zurück <strong>und</strong> wartet auf die Befragung durch zwei Engel, die über<br />

Belohnung oder Bestrafung entscheiden. Zwischen dem <strong>Tod</strong> <strong>und</strong> der Befragung<br />

durch die Engel ist die Seele immer noch bis zu <strong>ein</strong>em gewissen Punkt mit dem<br />

Körper verb<strong>und</strong>en. Sie nimmt alles in ihrer Umgebung wahr, kann sich jedoch nicht<br />

mit den <strong>Leben</strong>den verständigen.<br />

27<br />

Interview mit Frau Sumaya Angelina Mohamed vom 15.10.11<br />

28<br />

http://www.kultur-ges<strong>und</strong>heit.de/ges<strong>und</strong>heit_krankheit_<strong>und</strong>_muslimische_patienten/<br />

lebensphasen/sterbebegleitung_<strong>und</strong>_tod.php<br />

27


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

Bevor die Seele ins Jenseits übergehen kann, wird sie über Glaube, Handlungen,<br />

Religion, Gott <strong>und</strong> den Propheten Mohammed befragt. Dann wird über Belohnung<br />

oder Bestrafung entschieden, indem im ersten Fall der Kopf des Verstorbenen nach<br />

rechts ausgerichtet wird <strong>und</strong> die Seele ins Paradies gehen kann, oder indem im Falle<br />

<strong>ein</strong>er Bestrafung der Kopf nach links gelegt wird <strong>und</strong> der Verstorbene in die Hölle<br />

kommt.<br />

In der Sure 56 »Das unvermeidliche Ereignis« des Korans sieht der <strong>Tod</strong> wie folgt aus:<br />

1. Wenn das Ereignis <strong>ein</strong>trifft -<br />

2. Es gibt nichts, das s<strong>ein</strong> Eintreffen verhindern könnte -<br />

3. Dann wird es (die <strong>ein</strong>en) erniedrigen, (andere) wird es erhöhen. [...]<br />

7. Und ihr sollt in drei Ränge (gestellt) werden: [...]<br />

88. Wenn er nun zu denen gehört, die (Gott) nahe sind,<br />

89. Dann (wird er) Glück (geniessen) <strong>und</strong> Duft (der Seligkeit) <strong>und</strong> <strong>ein</strong>en Garten<br />

90. Und wenn er zu denen gehört, die zur Rechten sind,<br />

91. (Wird ihm <strong>ein</strong>) »Friede sei mit dir, der du zu denen zur Rechten gehörst!«<br />

92. Wenn er aber zu den Leugnern, Irregegangenen gehört,<br />

93. Dann (wird ihm) <strong>ein</strong>e Bewirtung mit siedendem Wasser<br />

94. Und Brennen in der Hölle<br />

95. Wahrlich, dies ist die Wahrheit selbst.<br />

96. Lobpreise darum den Namen d<strong>ein</strong>es Herrn, des Grossen. 29<br />

6.5 Der kulturelle Umgang mit dem <strong>Tod</strong><br />

Jede Religion hat ihre eigenen Praktiken beim Umgang mit Verstorbenen. Es gibt<br />

unterschiedliche Rituale <strong>und</strong> Vorgangsweisen, mit denen die Angehörigen den<br />

Verblichenen die letzte Ehre erweisen <strong>und</strong> sie in die Welt der Ahnen übergehen<br />

lassen. In diesem Kapitel werden die Rituale der praktizierenden Muslime näher<br />

betrachtet.<br />

Für die Muslime ist der <strong>Tod</strong> nicht das Ende des Menschen, sondern vielmehr <strong>ein</strong> Tor<br />

vom Diesseits zum Jenseits. Der »letzte Besuch« ist für gläubige Muslime von grosser<br />

Bedeutung. Fre<strong>und</strong>e, Angehörige <strong>und</strong> Bekannte des Sterbenden besuchen ihn noch<br />

<strong>ein</strong> letztes Mal, um Unklarheiten zu ber<strong>ein</strong>igen <strong>und</strong> ihren Beistand auszudrücken.<br />

Die Artikulation des islamischen Glaubenssatzes <strong>und</strong> Rezitation des Korans während<br />

der Sterbebegleitung soll den Sterbenden beruhigen, sodass s<strong>ein</strong>e Seele in Ruhe dem<br />

Schöpfer übergeben werden kann.<br />

Wenn die Person verstorben ist, werden die Hände gekreuzt, Augen <strong>und</strong> M<strong>und</strong><br />

geschlossen <strong>und</strong> das Kinn mit <strong>ein</strong>em Stück Stoff festgeknotet. Dann wird der Körper<br />

des Verstorbenen in <strong>ein</strong>em Waschritual, das von <strong>ein</strong>er Person gleichen Geschlechts<br />

29<br />

http://www.intratext.com/IXT/DEU0018/_P3D.HTM<br />

28


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

durchzuführen ist, ger<strong>ein</strong>igt. Anschliessend wird er nach strengen Regeln in das<br />

Totengewand gewickelt, wofür beim Mann drei, bei der Frau fünf weisse Tücher<br />

verwendet werden.<br />

Nach islamischem Glauben gehört der menschliche Körper der Erde, deshalb sollten<br />

Verstorbene möglichst bald nach dem <strong>Tod</strong> (unter 24 St<strong>und</strong>en) bestattet werden.<br />

Normalerweise werden gläubige Muslime nicht in <strong>ein</strong>em Sarg bestattet. In westlichen<br />

Ländern ist dies jedoch Vorschrift <strong>und</strong> so werden <strong>ein</strong>fache, ungeschmückte Särge<br />

verwendet. In ihrem Grab werden die Verstorbenen auf die rechte Seite, das Gesicht<br />

nach Mekka schauend gelegt <strong>und</strong> <strong>ein</strong> Vorbeter (Imâm) verrichtet das Totengebet.<br />

Während der Beerdigungszeremonie sollte zum Verstorbenen gesprochen werden, da<br />

s<strong>ein</strong>e Seele noch immer bei dem leblosen Körper ist. Es wird zwar um den<br />

Verstorbenen getrauert, man sollte jedoch gefasst s<strong>ein</strong>, da für die Muslime das<br />

menschliche <strong>Leben</strong> bloss <strong>ein</strong>e Etappe ist.<br />

6.6 Islam <strong>und</strong> Christentum im Vergleich<br />

Islam<br />

Organspende als Ausdruck von Mitgefühl <strong>und</strong><br />

Nächstenliebe zur Rettung <strong>ein</strong>es Menschenlebens.<br />

Der Mensch ist <strong>ein</strong>e Einheit von Körper, Seele <strong>und</strong><br />

<strong>Leben</strong>skraft.<br />

Die Seele verlässt den Körper beim <strong>Tod</strong>, bis sie an<br />

der Auferstehung wieder ver<strong>ein</strong>t werden.<br />

Bestattung war ursprünglich ohne Sarg<br />

Die verstorbene Person wird in weisse Tücher<br />

gewickelt, der Körper nach rechts gedreht <strong>und</strong> mit<br />

dem Gesicht nach Mekka schauend bestattet.<br />

Christentum<br />

Organspende ist Zeichen von<br />

Nächstenliebe <strong>und</strong> Solidarität gegenüber<br />

den Mitmenschen.<br />

Im Menschen sind der physische Körper<br />

<strong>und</strong> der beseelte Leib ver<strong>ein</strong>t.<br />

Die Seele ist bei Gott, der Körper wird als<br />

leere Hülle zurückgelassen.<br />

Bestattung im Sarg oder Kremation<br />

Der Mensch wird auf dem Rücken liegend<br />

mit über<strong>ein</strong>ander gelegten Händen <strong>und</strong><br />

in schöner Kleidung beerdigt.<br />

29


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

7. Eigene zentrale Überlegungen<br />

7.1 Ist das Gehirn definierend für das Menschs<strong>ein</strong>?<br />

Das Gehirn gibt dem restlichen Körper Befehle: den Muskeln, sich zu bewegen <strong>und</strong><br />

Organen wie der Leber den Befehl, im Körper zu arbeiten. Dies lässt die Medizin<br />

darauf schliessen, dass das Gehirn zwangsläufig <strong>ein</strong>e höhere Position innehält als der<br />

übrige Körper. Dies ist jedoch nicht ganz wahr: <strong>ein</strong> Herz, <strong>ein</strong>e Lunge, <strong>ein</strong>e Leber etc.<br />

können auch ohne die Befehle vom Gehirn weiter existieren, <strong>und</strong> zwar maschinell<br />

betrieben. Die als <strong>ein</strong>zigartig angesehene Funktion des Gehirns kann also künstlich<br />

durch <strong>ein</strong>e von Menschen erschaffene Maschine ersetzt werden, es braucht weder<br />

Denken noch Handeln vom Gehirn, um den restlichen Körper mindestens für <strong>ein</strong>ige<br />

Zeit in Gang zu halten.<br />

Das menschliche Herz ist ebenfalls für <strong>ein</strong>en gewissen Zeitraum ersetzbar, <strong>und</strong> zwar<br />

durch <strong>ein</strong> Kunstherz, das alle lebenswichtigen Funktionen übernimmt. Es ist jedoch<br />

nur als Überbrückung gedacht, bis für den Patienten <strong>ein</strong> geeignetes Spenderherz<br />

gef<strong>und</strong>en wird. Im Gegensatz zur Maschine, die den Menschen im Hirntod »am<br />

<strong>Leben</strong>« hält, endet die Benutzung <strong>ein</strong>es Kunstherzens nicht im <strong>Tod</strong>, sondern im<br />

<strong>Leben</strong>.<br />

Da das Hirn genau wie das Herz künstlich zumindest für kurze Zeit ersetzt werden<br />

kann, ist darauf zu schliessen, dass das Gehirn dem restlichen Körper nicht<br />

übergeordnet ist, es ist <strong>ein</strong> Organ wie alle anderen.<br />

Doch was macht uns Menschen denn so <strong>ein</strong>zigartig? Wenn alle Organe gleichgestellt<br />

sind, dann muss der Mensch <strong>ein</strong> <strong>ein</strong>zigartiges Zusammenspiel von verschiedenen<br />

Komponenten s<strong>ein</strong>. Einige Ethiker <strong>und</strong> Philosophen behaupten, dass <strong>ein</strong>e Seele den<br />

Menschen so <strong>ein</strong>zigartig macht, andere gehen davon aus, dass der Mensch den<br />

göttlichen Atem <strong>ein</strong>geflösst bekam. Eine Kombination von Materie (materia) <strong>und</strong><br />

Vernunft (ratio) wie es die Philosophen der Stoa schon in der Antike beschrieben<br />

haben, wäre hingegen auch denkbar.<br />

7.2 Wann ist <strong>ein</strong> Mensch wirklich tot?<br />

Beim Herztod gelten verschiedene Kriterien, wie beispielsweise der Stillstand des<br />

Kreislaufs, die Leichenstarre, das Erkalten des Körpers <strong>und</strong> die sichtbaren<br />

Totenflecken. Alle genannten Merkmale sind klare Anzeichen dafür, dass der <strong>Tod</strong><br />

<strong>ein</strong>getreten ist. Beim Hirntod jedoch wurde der <strong>Tod</strong>eszeitpunkt nach vorne<br />

30


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

verschoben: Der Körper ist noch warm, der Brustkorb hebt <strong>und</strong> senkt sich, der ganze<br />

Kreislauf funktioniert <strong>ein</strong>wandfrei, der Stoffwechsel ist normal, etc. Alle Organe<br />

funktionieren weiter, mit Ausnahme des Gehirns. Die Medizin setzt den<br />

<strong>Tod</strong>eszeitpunkt auf dann, wenn das Gehirn abgestorben ist.<br />

Hier muss hervorgehoben werden, dass immer Perfekt-Formen gebraucht werden:<br />

»der <strong>Tod</strong> ist <strong>ein</strong>getreten« <strong>und</strong> »das Gehirn ist abgestorben«. Es sind Zustände,<br />

k<strong>ein</strong>esfalls Zeitpunkte, die die Medizin bestimmen kann. Unklar bleibt, wann der<br />

Moment kommt, an welchem »der <strong>Tod</strong> <strong>ein</strong>tritt« <strong>und</strong> »das Gehirn abstirbt«. Dies<br />

kommt daher, dass solche elementaren Bestandteile des menschlichen <strong>Leben</strong>s nicht<br />

Zeitpunkte, sondern Phasen sind. Wissenschaftler streiten sich noch heute darüber,<br />

wann <strong>ein</strong> Mensch »geboren« wird, ob er bereits bei der Zeugung <strong>ein</strong> Mensch ist,<br />

irgendwann während der Schwangerschaft, oder erst bei der effektiven Geburt. Die<br />

Entstehung des Menschen ist <strong>ein</strong> Vorgang genau wie das Sterben.<br />

»Tot ist, wenn das menschliche <strong>Leben</strong> zu <strong>ein</strong>em Ende gekommen ist.« Diese<br />

Formulierung kann aufgestellt werden, um das Sterben des Menschen zu erläutern.<br />

Der Mensch befindet sich erst im <strong>Tod</strong>, wenn die Sterbeprozesse vollständig<br />

abgeschlossen sind.<br />

Ein Mensch im Hirntod jedoch existiert weiter unter den Bedingungen <strong>ein</strong>er<br />

künstlichen Beatmung. S<strong>ein</strong> <strong>Leben</strong> wird zu Ende kommen, das ist unbestritten.<br />

Jedoch befindet sich dieser Mensch immer noch im Sterben, da die lebenswichtigen<br />

Organe noch erhalten blieben <strong>und</strong> erst nach <strong>ein</strong>em ungewissen Zeitraum beginnen,<br />

abzusterben. Wenn sogar <strong>ein</strong>e Schwangerschaft im Hirntod noch möglich ist, also<br />

<strong>Leben</strong> aus dem angeblich toten Körper entstehen kann, darf daraus geschlossen<br />

werden, dass <strong>ein</strong> Hirntoter <strong>ein</strong> Sterbender, k<strong>ein</strong>esfalls <strong>ein</strong> Toter ist.<br />

8. Schlusswort<br />

Bis ins 18. Jahrh<strong>und</strong>ert galt der Herz-Kreislauftod als <strong>ein</strong>ziger <strong>Tod</strong> <strong>ein</strong>es Menschen.<br />

<strong>Leben</strong>serhaltende Massnahmen wie die Intensivtherapie <strong>und</strong> andere Fortschritte der<br />

Medizin trugen zur Entdeckung des Hirntodes bei. Dies hat enorme Auswirkungen<br />

auf die Menschheit gehabt: Zum <strong>ein</strong>en wurde die Grenze des <strong>Tod</strong>es verschwommen,<br />

da <strong>ein</strong> menschliches <strong>Leben</strong> durch Maschinen künstlich am <strong>Leben</strong> gehalten werden<br />

konnte. Ebenfalls wurde es technisch möglich, lebende Organe aus <strong>ein</strong>em hirntoten<br />

Menschen herauszunehmen <strong>und</strong> sie <strong>ein</strong>er todkranken Person <strong>ein</strong>zupflanzen.<br />

31


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

Diese neuen Möglichkeiten brachten vielerorts grosse Kontroversen hervor.<br />

Mediziner, Vertreter der Religionen <strong>und</strong> alle Menschen mussten sich Gedanken zum<br />

<strong>Tod</strong> <strong>und</strong> der Bedeutung des Hirns machen. In m<strong>ein</strong>er Arbeit wollte ich das so sehr<br />

umstrittene Hirntodkonzept von verschiedenen Seiten aufzeigen: die medizinischen<br />

Gr<strong>und</strong>lagen, die ethischen M<strong>ein</strong>ungen aus christlicher Sicht, sowie die<br />

Aus<strong>ein</strong>andersetzung mit dem Buddhismus <strong>und</strong> dem Islam. Interviews oder<br />

schriftliche Befragungen mit jeweils <strong>ein</strong>em oder zwei Vertretern des Fachs haben mir<br />

<strong>ein</strong>en detaillierten Einblick in dieses komplexe Thema ermöglicht.<br />

Im Verlauf der Arbeit bin ich zu der Erkenntnis gelangt, dass das Gehirn nicht<br />

definierend für das Menschs<strong>ein</strong> ist. Die Medizin möchte ihm zwar <strong>ein</strong>e höhere<br />

Position zugestehen, jedoch bleibt unklar, was genau den Antrieb für das rationale<br />

Denken gibt. Der Mensch ist im Hirntod zwar unwiderruflich auf dem Weg in den<br />

<strong>Tod</strong>, aber er zählt immer noch zu den <strong>Leben</strong>den. Die christliche Kirche ist allgem<strong>ein</strong><br />

der Ansicht, dass <strong>ein</strong>e Organspende legitim ist, sofern sie freiwillig <strong>und</strong> mit der<br />

Absicht <strong>ein</strong>es Geschenkes durch Nächstenliebe <strong>und</strong> Solidarität erfolgt. Im<br />

Buddhismus verhält es sich ähnlich: Da k<strong>ein</strong> Oberhaupt existiert, das bestimmte<br />

Regeln aufgestellt hat, muss sich jeder Mensch mit sich selbst <strong>und</strong> dem <strong>Tod</strong><br />

aus<strong>ein</strong>andersetzen, um zu <strong>ein</strong>em Entschluss zu gelangen. Im Islam existieren etliche<br />

Schriften des Propheten <strong>und</strong> ebenso das Gottesrecht, die Scharia. Verschiedene<br />

Gelehrte haben das Thema Organspende <strong>und</strong> -transplantation ausführlich studiert<br />

<strong>und</strong> sind zu der Entscheidung gelangt, es offiziell zu akzeptieren, jedoch unter der<br />

Bedingung, dass die Spende freiwillig ist <strong>und</strong> nicht zu kommerziellen Zwecken dient.<br />

An dieser Stelle möchte ich <strong>ein</strong>en Dank an alle Interviewpartner aussprechen: Herr<br />

Dr. Markus Wilhelm, Frau Cornelia Broger, Frau Ivana Bendik, Ew. Lama Pema<br />

Wangyal, Frau Sumaya Angelina Mohamed <strong>und</strong> Herr Nicolas Blancho. Durch ihre<br />

ausführlichen Antworten auf m<strong>ein</strong>e Interviewfragen konnte ich m<strong>ein</strong>e Arbeit breit<br />

abstützen. Ebenfalls danke ich den Personen, die mich auf aktuelle Berichte in den<br />

Medien aufmerksam gemacht haben <strong>und</strong> diese Arbeit durchgelesen haben.<br />

Ein grosses Dankeschön geht an m<strong>ein</strong>e Betreuerin Frau Sandra Piccioni, die mir stets<br />

mit Rat <strong>und</strong> Tat zur Seite stand. Sie konnte sich für dieses Thema faszinieren <strong>und</strong> hat<br />

mich unterstützt, wann immer ich <strong>ein</strong>e zweite M<strong>ein</strong>ung brauchte. Durch ihre<br />

treffenden Vorschläge, die hilfreichen Ideen <strong>und</strong> konstruktive Kritik hat sie mir mit<br />

der Arbeit in grossem Masse weitergeholfen.<br />

32


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

9. Anhang<br />

9.1 Definition von Körper, Geist, Bewussts<strong>ein</strong>, Seele <strong>und</strong> Leib<br />

Der Körper b<strong>ein</strong>haltet alle physischen, biologisch begründbaren Vorgänge, der Geist<br />

hingegen steht für psychische Prozesse. Der Mensch ist also <strong>ein</strong>e Einheit von Körper<br />

<strong>und</strong> Geist.<br />

Der Geist besteht wiederum aus zwei Bereichen. Einerseits braucht es für die<br />

menschliche Existenz Bewussts<strong>ein</strong>, manchmal auch Verstand genannt, das für die<br />

geistigen Tätigkeiten verantwortlich ist. Denken, Verstehen, physisches Fühlen <strong>und</strong><br />

der Ursprung des physischen Handelns durch den Körper sind alle im Bewussts<strong>ein</strong><br />

verankert. Das Bewussts<strong>ein</strong> kann neurologisch nachgewiesen werden, s<strong>ein</strong>en Sitz hat<br />

es im Gehirn.<br />

Der Bereich Bewussts<strong>ein</strong> beschreibt technische Wahrnehmung <strong>und</strong> Reflexion, die<br />

neurologisch untersucht werden kann. Gr<strong>und</strong>sätzlich ist das Bewussts<strong>ein</strong> kurzzeitig.<br />

Der Mensch kann sich nicht an gewisse Gedanken oder Handlungen erinnern. Durch<br />

Wiederholung bestimmter Handlungsketten kann <strong>ein</strong>e langzeitige Erinnerung<br />

bewirkt werden. Ebenfalls ist das Bewussts<strong>ein</strong> platzbeschränkt, wir können nicht<br />

unbegrenzte Massen an Informationen in unserem Gedächtnis speichern.<br />

Diese Darlegung zeigt sich besonders am folgenden Beispiel: Als Kind lernen wir, wie<br />

man Fahrrad fährt. Die Erinnerung an das Gelernte wird mit dem Bewussts<strong>ein</strong><br />

erreicht, <strong>und</strong> zwar nur durch ständiges Wiederholen. Andernfalls würde es aus dem<br />

Gedächtnis irgendwann wieder herausfallen; wie bei Schülern, die den Schulstoff<br />

nach <strong>ein</strong>er Prüfung bald wieder vergessen, weil Platz für Neues geschafft werden<br />

muss.<br />

Da das Bewussts<strong>ein</strong> an das Gehirn geb<strong>und</strong>en ist, stirbt es beim Hirntod sofort ab, der<br />

Patient hat also das Reflexionsvermögen vollständig verloren.<br />

Andererseits hat der Mensch auch <strong>ein</strong>e Seele bzw. <strong>ein</strong> Selbst, welches emotionale<br />

Eindrücke speichert. Dadurch wird unser Charakter <strong>und</strong> unsere Eigenwahrnehmung<br />

definiert. In der Seele werden nur sehr emotionale Erlebnisse oder Erfahrungen<br />

gespeichert. Daher kommt auch die Phrase: »Es hat sich mir tief in die Seele<br />

gebrannt.« Die für den Aspekt des Bewussts<strong>ein</strong>s korrekte Erklärung der<br />

Wiederholung bestimmter Handlungen kann hier nicht mehr angewendet werden.<br />

Einige wenige Kindheitserinnerungen bleiben präsent, weil ihnen auf emotionaler<br />

Ebene <strong>ein</strong> grosser Stellenwert zugeschrieben wird. Dafür ist die Seele, der spirituelle<br />

Aspekt des Geistes, verantwortlich. Es kann als Langzeiterinnerung im Sinne <strong>ein</strong>er<br />

irrationalen Wahrnehmung verstanden werden, die unbeschränkt Platz bietet.<br />

Wenn wir beispielsweise <strong>ein</strong>e Kindheitserinnerung an <strong>ein</strong> bestimmtes Geschenk<br />

haben, dann vergessen wir dies nicht plötzlich, weil über Jahre hinweg mehrere<br />

Erinnerungen dazu kommen.<br />

Über den Sitz der Seele sind sich die Religionen nicht im Klaren, jedoch ist sie nicht<br />

neurologisch nachweisbar, kann also auch nicht im Gehirn verankert s<strong>ein</strong>. Beim<br />

Hirntod stirbt demnach die Seele nicht mit dem Körper, sondern löst sich gemäss<br />

den Religionen von ihm <strong>und</strong> geht in <strong>ein</strong>e andere Existenzform über.<br />

Der Ausdruck Leib ist <strong>ein</strong>e Zusammenfügung des Körpers mit der Seele. Er wird in<br />

der Religion oft benutzt, um die Präsenz des heiligen Geistes im menschlichen Körper<br />

auszudrücken.<br />

33


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

9.2 Interview mit Herrn PD Dr. med. Markus Wilhelm vom<br />

Universitäts-Spital Zürich<br />

- Ist bei <strong>ein</strong>em Spenderorgan das Alter des Spenders relevant? Was war<br />

der grösste Unterschied, an den Sie sich erinnern können?<br />

- Der Altersunterschied ist auf jeden Fall relevant. Junge Herzen sind<br />

leistungsfähiger als ältere. Zudem müssen verschiedene Faktoren von Spender <strong>und</strong><br />

Empfänger zu<strong>ein</strong>ander passen: Die Blutgruppen sollten kompatibel s<strong>ein</strong>, dann<br />

muss Körpergewicht <strong>und</strong> -grösse in etwa passen, <strong>und</strong> der Altersunterschied sollte<br />

nicht zu gross s<strong>ein</strong>. Klar, man kann <strong>ein</strong>em sechzigjährigen Patienten <strong>ein</strong> Herz <strong>ein</strong>es<br />

dreissigjährigen problemlos implantieren. Jedoch sind wir wegen der geringen<br />

Spenderzahl eher zurückhaltend bei solch grossen Differenzen <strong>und</strong> geben junge<br />

Herzen eher jungen Empfängern. Der Altersunterschied kann jedoch schon mal<br />

zwanzig Jahre betragen.<br />

- Kommt es oft vor, dass <strong>ein</strong> Organ während der Operation s<strong>ein</strong>e<br />

Funktion nicht aufgenommen hat?<br />

- Das kann ich nur für das Herz bestätigen. Man nennt es »primäres Transplantats-<br />

Versagen«. Die Organe sind ja mitgenommen von der Zeit, die sie ausserhalb des<br />

Körpers verbracht haben: mit <strong>ein</strong>er Eislösung stillgelegt, bei 4°C transportiert <strong>und</strong><br />

dann implantiert. Zwischen Explantation <strong>und</strong> Implantation vergehen also schnell<br />

drei St<strong>und</strong>en. Manche Patienten können damit aus unbekannten Gründen besser<br />

umgehen als andere, <strong>und</strong> so kommt es, dass <strong>ein</strong> Organ manchmal s<strong>ein</strong>e Funktion<br />

nicht aufnimmt. Das sind bis zu 5% aller Transplantationen.<br />

- Haben Sie das Gefühl, dass das <strong>Leben</strong> des Patienten nicht all<strong>ein</strong> in Ihrer<br />

Hand liegt, sondern <strong>ein</strong>e höhere Macht, bspw. Gott, entscheidet?<br />

- Für das praktische Gelingen bin ich physisch für den Erfolg verantwortlich, jedoch<br />

glaube ich, dass es <strong>ein</strong>e höhere Macht gibt, sagen wir Gott, die schlussendlich<br />

entscheidet.<br />

- Wie begründet die Medizin die Aussage, dass das Bewussts<strong>ein</strong> an das<br />

menschliche Gehirn geb<strong>und</strong>en ist?<br />

- Dies ist nun eher <strong>ein</strong>e philosophische Frage. Das Bewussts<strong>ein</strong> definiert uns als<br />

Menschen, bewusstes Denken <strong>und</strong> Handeln sind der grosse Unterschied zum Tier.<br />

- Wie lange darf aus medizinischer Sicht gewartet werden, bis <strong>ein</strong> Patient<br />

explantiert wird, was ist noch vertretbar?<br />

- Hierbei ist von grosser Bedeutung, wie stabil der Patient im Hirntod ist. Früher<br />

wurden die Tests in <strong>ein</strong>em Abstand von bis zu 12 St<strong>und</strong>en durchgeführt, ich denke,<br />

das ist schon noch vertretbar. Es ist natürlich ungünstig, wenn zu lange gewartet<br />

wird <strong>und</strong> das Organ Schaden nimmt. Das wird versucht, zu vermeiden.<br />

- Glauben Sie, dass die Seele des Verstorbenen sich in den wenigen<br />

St<strong>und</strong>en <strong>zwischen</strong> Hirntod <strong>und</strong> Explantation bereits vom Körper<br />

abgelöst hat?<br />

- N<strong>ein</strong>, das glaube ich nicht. Ich habe mir das bisher noch nie überlegt, aber spontan<br />

würde ich darauf antworten, dass sich die Seele erst mit dem vollständigen <strong>Tod</strong><br />

des Organismus vom Körper ablöst, nicht schon mit dem Hirntod.<br />

34


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

- Wie genau funktioniert die Immunsuppression?<br />

- Schematisch erklärt, ist unser Immunsystem <strong>ein</strong>e Art Armee. Es gibt <strong>ein</strong>en<br />

Eindringling,- das implantierte Organ- welchen die Armee angreift. Was nützlich<br />

ist bei Viren oder Infektionen, ist bei Transplantationen unerwünscht, also muss<br />

die Armee geschwächt werden. Diese Aufgabe erfüllen die Immunsuppressiva.<br />

9.3 Interview mit Frau Ivana Bendik vom Schweizerischen<br />

Evangelischen Kirchenb<strong>und</strong><br />

- In der Schweiz ist die Möglichkeit der Organspende durch den Hirntod<br />

von der Medizin <strong>und</strong> auch von der Kirche akzeptiert. Wie lautet die<br />

offizielle M<strong>ein</strong>ung der reformierten Kirchen <strong>und</strong> wie wird ihr<br />

Einverständnis in dieses Konzept begründet?<br />

- In der katholischen Kirche bestimmt das Oberhaupt, also der Papst die Regeln. Die<br />

reformierte Kirche hat in dem Sinne k<strong>ein</strong>e Lehrinstanz, jede Person kann <strong>ein</strong>e<br />

eigene Position haben. Die Theologie muss sich der Problematik bewusst s<strong>ein</strong>, dass<br />

durch <strong>ein</strong>e Begründung des Hirntodkriteriums der Umgang mit Hirntoten<br />

be<strong>ein</strong>flusst werden kann. M<strong>ein</strong>er M<strong>ein</strong>ung nach steht sowieso fest, dass der<br />

Hirntod <strong>ein</strong> nicht ausreichendes Kriterium für den <strong>Tod</strong> des Menschen ist.<br />

Menschen in diesem Zustand sind Sterbende, die sich an <strong>ein</strong>em irreversiblen Punkt<br />

im Sterbeprozess befinden, auf k<strong>ein</strong>en Fall Tote. Die Organentnahme ist der<br />

eigentliche <strong>Tod</strong> dieser Person, was durch christliche Sicht eigentlich sehr<br />

bedenklich ist.<br />

- Gibt es in der christlichen Gesellschaft <strong>ein</strong>en Sitz der Seele? Falls ja,<br />

woran ist die Seele im Körper geb<strong>und</strong>en?<br />

- Man weiss nicht, wo der Sitz der Seele ist. Die Trennung von Geist, Seele <strong>und</strong><br />

Körper kommt ursprünglich von Platon, <strong>ein</strong>em griechischen Philosophen. Nach<br />

der Bibel ist <strong>ein</strong>e Trennung <strong>zwischen</strong> Körper, Geist <strong>und</strong> Seele nicht möglich. Beim<br />

<strong>Tod</strong> stirbt der Mensch in s<strong>ein</strong>er Ganzheit. Die Seele kann nicht entschwinden, sie<br />

stirbt mit dem Körper mit. Bei der Auferstehung wird darauf vertraut, dass den<br />

Menschen <strong>ein</strong>e neue Form von <strong>Leben</strong> geschenkt wird in <strong>ein</strong>er anderen Welt<br />

gem<strong>ein</strong>sam mit Gott.<br />

- Die Medizin begründet den <strong>Tod</strong> <strong>ein</strong>es Menschen mit s<strong>ein</strong>em endgültigen<br />

Bewussts<strong>ein</strong>sverlust. Welche Bedeutung hat das Bewussts<strong>ein</strong> für die<br />

Integrität <strong>ein</strong>es Menschen nach christlicher Ansicht?<br />

- Jeder Mensch hat <strong>ein</strong>e ursprüngliche Würde. Diese Würde ist von Gott gegeben,<br />

die hat <strong>ein</strong> Mensch per se. Man muss hierfür nicht irgendwelche Kriterien oder<br />

Bedingungen erfüllen.<br />

- Die anhaltenden Körperfunktionen <strong>ein</strong>er hirntoten Person werden in<br />

der Medizin als r<strong>ein</strong> biologische Aktivität auf der Zellebene abgetan.<br />

Können diese Funktionen auch als vitale Zeichen von <strong>Leben</strong> betrachtet<br />

werden?<br />

- Hinter dieser Aussage stecken sozusagen zwei Menschenbilder: <strong>ein</strong> technisches<br />

<strong>und</strong> <strong>ein</strong> weniger technisches. Das Entscheidende ist, dass man sich dem<br />

technischen Menschenbild behelfen muss, um <strong>ein</strong>e Organtransplantation erst zu<br />

ermöglichen. Hirntote sind aber nur an <strong>ein</strong>em so genannten “point of no return”,<br />

an welchem sie nicht mehr ins normale <strong>Leben</strong> zurückkehren können. Die Mediziner<br />

35


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

wissen auch, dass sie <strong>ein</strong>en Sterbenden vor sich haben, sie machen sich aber nicht<br />

so viele Gedanken darüber. Sollten sie auch gar nicht, um <strong>ein</strong>e objektive Sichtweise<br />

zu garantieren.<br />

- Das Sterben als ernstzunehmende Alternative zur Transplantation ist<br />

immer noch <strong>ein</strong> Tabuthema in der christlichen Gesellschaft. Wie stehen<br />

Sie zu dieser Möglichkeit?<br />

- Die Aufgabe der Kirche ist hier, den Menschen bei <strong>ein</strong>er solch schwierigen<br />

Entscheidung zu unterstützen, ohne sie in <strong>ein</strong>e Richtung zu drängen. Diese<br />

Menschen brauchen bloss Raum, um ihre eigene Entscheidung zu treffen.<br />

Trotzdem machen geben die meisten Leute ihren kranken Angehörigen nicht die<br />

Möglichkeit, sich bewusst für das Sterben zu entscheiden.<br />

9.4 Interview mit Frau Cornelia Broger<br />

Im Alter von knapp 13 Jahren wurde Antonia krank. Sie wurde in der Schule mit<br />

<strong>ein</strong>em Virus infiziert, der ihr Herz angriff: Myokarditis. Die Krankheit schritt binnen<br />

wenigen Wochen so rapide voran, dass nur noch <strong>ein</strong>e Transplantation ihr <strong>Leben</strong><br />

retten konnte. Sie entschied sich für das <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> stimmte <strong>ein</strong>er<br />

Organtransplantation zu. In der schwierigen Zeit hat ihre Familie ihr sehr geholfen<br />

<strong>und</strong> Antonia konnte mit dem neuen Herz noch zehn Jahre weiter leben. Eine<br />

bewegende Geschichte, an der ich dank den Erzählungen von Antonia‘s Mutter<br />

teilhaben durfte.<br />

- Frau Broger, was war die ursprüngliche Krankheit Ihrer Tochter?<br />

- Antonia hatte weder <strong>ein</strong>e Krankheit noch <strong>ein</strong> Herzfehler, sondern war <strong>ein</strong> sehr<br />

lebendiges <strong>und</strong> eigenständiges Kind. In der Schule bekam sie <strong>ein</strong>en Virus<br />

zusammen mit anderen Kindern, der bei ihr jedoch das Herz angriff.<br />

- Was führte dazu, dass sie ihr Zustand so verschlechterte, sodass nur<br />

noch <strong>ein</strong>e Transplantation Besserung bringen konnte?<br />

- Die Krankheit verlief explosionsartig, es war wie <strong>ein</strong>e Lawine, die man nicht mehr<br />

stoppen konnte. Knapp drei Wochen nachdem der Virus diagnostiziert wurde, war<br />

Antonia bereits herztransplantiert.<br />

- Wie sind Sie mit dem Druck umgegangen, wie meisterten Sie die<br />

schwierige Entscheidung für oder gegen <strong>ein</strong>e Transplantation?<br />

- Antonia hat sich selbst für <strong>ein</strong>e Transplantation entschieden, ihre Herztätigkeit<br />

nahm auf 20% ab <strong>und</strong> sie wurde schliesslich an <strong>ein</strong> Kunstherz angeschlossen. Die<br />

Entscheidung für oder gegen <strong>ein</strong>e Transplantation war für mich die schlimmste<br />

Nacht m<strong>ein</strong>es <strong>Leben</strong>s. Als Mutter war ich mit der Situation überfordert, ich konnte<br />

nicht über das <strong>Leben</strong> <strong>ein</strong>es anderen entscheiden. Ich habe sehr mit mir selbst<br />

gerungen <strong>und</strong> wusste, dass ich Antonia fragen musste. Sie sollte selbst über ihre<br />

<strong>Leben</strong> entscheiden, aber schlussendlich entscheidet <strong>ein</strong>e höhere Macht über das<br />

Gelingen dieser Massnahme. Ich habe sie dann am Bett gefragt, <strong>und</strong> sie hat bloss<br />

genickt. Sie hat sich für das <strong>Leben</strong> entschieden, <strong>und</strong> ich denke, das kommt von<br />

<strong>ein</strong>er inneren Kraft.<br />

- In der Literatur ist häufig von Wahnzuständen <strong>und</strong> Delirien die Rede, in<br />

welchen sich die Patienten nach <strong>ein</strong>er erfolgten Transplantation<br />

befinden. Haben Sie auch diese Erfahrung bei Ihrer Tochter gemacht?<br />

36


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

- Antonia hatte oft Angstträume nach der Transplantation. Von <strong>ein</strong>er Kollegin<br />

erhielt sie <strong>ein</strong> Foto der jüngsten Tochter, alle Fotos <strong>und</strong> Karten wurden an der<br />

Wand aufgehängt. Sie erzählte mir, dass sie geträumt hatte, dass sie die Mörderin<br />

von “Valeria”, dieses kl<strong>ein</strong>en Mädchens war. Das hat sie sehr beschäftigt, die<br />

Ängste ihres Unterbewussts<strong>ein</strong>s kamen dadurch zum Vorsch<strong>ein</strong>.<br />

- Hat Ihre Tochter manchmal an den Spender des Herzens gedacht?<br />

Wenn ja, was waren Ihre Gedanken <strong>und</strong> Gefühle gegenüber dem<br />

Spender?<br />

- Sie wusste, dass das Herz von <strong>ein</strong>em 40-50 jährigen Mann kam, es war eigentlich<br />

zu gross für ihren Körper. Nach der Operation musste der Thorax noch offen<br />

gelassen werden, das Herz musste erst s<strong>ein</strong>en Platz finden neben den anderen<br />

Organen. Ein paar Tage später konnte der Thorax dann geschlossen werden.<br />

- Hat sie das neue Herz als Teil von ihr betrachtet oder war es ständig<br />

etwas Fremdes?<br />

- Es blieb lange etwas Fremdes, sie hatte Angst, die Narbe zu berühren. Wenn sie<br />

schwimmen ging, wollte sie nicht, dass jemand ihre Narbe sieht. Nach <strong>ein</strong>er Weile<br />

löste sich dies jedoch, vielleicht auch, weil sie etwas Besonderes war, sie bekam<br />

grosse Aufmerksamkeit.<br />

9.5 Interview mit Ew. Lama Pema Wangyal vom Tibet-Institut<br />

Rikon<br />

- In der Schweiz ist die Möglichkeit der Organspende durch den Hirntod<br />

von der Medizin <strong>und</strong> auch vom Buddhismus teilweise akzeptiert. Wie<br />

lautet die offizielle M<strong>ein</strong>ung des Buddhismus <strong>und</strong> wie wird das<br />

Einverständnis in dieses Konzept begründet?<br />

- Im Buddhismus gibt es k<strong>ein</strong> Oberhaupt, das über Regeln <strong>und</strong> Gebote bestimmt wie<br />

in der katholischen Kirche. Es gibt bloss Traditionen <strong>und</strong> kulturelle Normen, die<br />

Buddhisten praktizieren. Die Organspende wird akzeptiert im Sinne <strong>ein</strong>er Gabe an<br />

<strong>ein</strong>en anderen Menschen. Es zählt zu den ehrenvollsten Taten, jemandem, der <strong>ein</strong><br />

Organ braucht, dieses Geschenk zu machen. Buddhisten sollen mitfühlende Wesen<br />

s<strong>ein</strong>. Der Buddhismus hat drei Stufen: im mittlere Weg beispielsweise beschäftigt<br />

sich mit Grosszügigkeit. In den alten Schriften ist von Wesen die Rede, welche<br />

anderen durch Mitgefühl ohne grosse Überlegungen sofort <strong>ein</strong>en Arm, bzw. <strong>ein</strong><br />

Teil der Haut gegeben haben. Sie spüren auch k<strong>ein</strong>en Schmerz dabei, da ihr Geist<br />

durch diesen selbstlose Dienst ger<strong>ein</strong>igt wird.<br />

- In der Medizin wird das Hirn als das Zentrum menschlichen Handelns<br />

<strong>und</strong> Denkens bezeichnet <strong>und</strong> somit der Mensch auf s<strong>ein</strong>e<br />

Gehirnfunktionen reduziert. Wie steht der Buddhismus zu dieser<br />

M<strong>ein</strong>ung? Ist der Mensch schon tot, wenn nur das Gehirn s<strong>ein</strong>e<br />

Funktion nicht mehr erfüllen kann?<br />

- Der Mensch ist nach der M<strong>ein</strong>ung des Buddhismus noch nicht tot, wenn das Gehirn<br />

nicht mehr funktioniert. In der westlichen Gesellschaft erklären die Ärzte <strong>ein</strong>en<br />

Menschen bereits für tot, wenn s<strong>ein</strong> Gehirn abgestorben ist. Im Buddhismus ist<br />

dies jedoch anders. Wenn <strong>ein</strong> buddhistischer Mönch, <strong>ein</strong> Lama, gerufen wird, kann<br />

dieser eventuelle noch bestehende Energien im Menschen erkennen. Die Person<br />

befindet sich dann in <strong>ein</strong>er so genannten “tiefen Meditationsstufe”. Diese Energien<br />

sind wie subtile Winde, die im Herzen sind. Mit dem letzten Atemzug <strong>ein</strong>es<br />

37


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

Sterbenden fliessen diese dann komplett raus <strong>und</strong> der Mensch ist tot. Mit den<br />

subtilen Energien, genannt “lebenserhaltende Winde”, strömt dann auch unser<br />

Geist heraus.<br />

- Wie sieht der im Buddhismus beschriebene Sterbeprozess <strong>ein</strong>es<br />

Menschen aus?<br />

- Das ist <strong>ein</strong> wirklich schwieriges Thema. Grob erklärt gibt es die fünf Elemente<br />

Erde, Wasser, Feuer, Luft <strong>und</strong> Raum, die sich der Reihe nach auflösen. Sie<br />

existieren in der Aussenwelt aber auch im Innern des Menschen. Während dieses<br />

Auflösungsprozesses zeigen sich auch physische Symptome. Anfangs löst sich das<br />

Element Erde in Wasser. Der Körper wird schlaff <strong>und</strong> schwer, man kann sich nicht<br />

mehr aus eigener Kraft bewegen. Danach löst sich das Wasser in Feuer. In dieser<br />

Phase fühlt sich der Sterbende wie ausgetrocknet, als ob man verdurstet. Wenn<br />

das Feuer sich in Wind löst, erkaltet der Körper. Die Wärme entweicht aus dem<br />

Körper idealerweise zuerst aus den Füssen bis zum Herzen <strong>und</strong> zuletzt aus dem<br />

Kopf. Man verliert die äussere Wahrnehmung. Wenn sich Wind in Raum löst, geht<br />

das Bewussts<strong>ein</strong> mit dem letzten Atemzug aus dem Körper. Mönche können diese<br />

Prozesse wahrnehmen, im letzten Prozess besteht auch die Möglichkeit der<br />

Erleuchtung, die Erlösung aus dem Rad des <strong>Leben</strong>s. Da gibt es drei weitere<br />

Zustände, die sehr schnell vorüber sind. Das Bewussts<strong>ein</strong> enthält gewissermassen<br />

drei verschiedene Gifte: Hass, Anhaften <strong>und</strong> Unwissenheit. Diese drei Gifte<br />

bestehen wiederum aus verschiedenen Faktoren, die sich ver<strong>ein</strong>en <strong>und</strong> auflösen. Es<br />

gibt vier verschiedene Phasen: In der ersten lösen sich die 33 Faktoren von Hass<br />

auf, was wie <strong>ein</strong> heller Mond sch<strong>ein</strong>t. Als nächstes löst sich die Anhaften mit allen<br />

vierzig Faktoren auf, was die Ersch<strong>ein</strong>ung <strong>ein</strong>er roten Sonne ergibt. Die dritte<br />

Phase ist Dunkelheit, wenn sich die sieben unterschiedlichen Faktoren von<br />

Unwissenheit auflösen. Wenn diese Phasen vorbei sind, bleibt nur noch Klarheit<br />

übrig. Konnte die sterbende Person alles ganz bewusst wahrnehmen, ist der<br />

Moment der Erleuchtung gekommen. Während dem irdischen <strong>Leben</strong> ist das<br />

Bewussts<strong>ein</strong> in <strong>ein</strong>em kindlichen Zustand. Nun kommt das ursprüngliche,<br />

“mütterliches Bewussts<strong>ein</strong>” hervor, von allen Verschleierungen befreit <strong>und</strong> so, wie<br />

es am Anfang des Rad des <strong>Leben</strong>s auf die Welt gekommen war. Wenn der<br />

passende Moment vorbeigeht, ohne erleuchtet zu werden, geht das Bewussts<strong>ein</strong><br />

endgültig aus dem Körper, bestenfalls aus dem Scheitel Chakra.<br />

- Die Seele des Menschen braucht nach dem <strong>Tod</strong> Zeit, um sich vom<br />

Körper abzulösen. Wie äussert sich diese Ablösung <strong>und</strong> wie viel Zeit<br />

nimmt sie in Anspruch?<br />

- Bei <strong>ein</strong>em praktizierenden Lama oder <strong>ein</strong>em Meister ist die Seele <strong>und</strong> der ganze<br />

Geist sehr schnell vom Körper losgelöst, vielleicht innerhalb <strong>ein</strong>er St<strong>und</strong>e. Der<br />

Gr<strong>und</strong> dafür ist, dass diese Menschen sich zu Lebzeiten sehr intensiv mit dem <strong>Tod</strong><br />

<strong>und</strong> dem Sterbeprozess beschäftigt haben. Dadurch wissen sie, was auf sie<br />

zukommt <strong>und</strong> nehmen die Geschehnisse sehr bewusst wahr. Der Geist <strong>ein</strong>es<br />

normalen Buddhisten braucht länger, die Verbindung zum Körper zu trennen,<br />

man sollte ihnen dafür mindestens drei<strong>ein</strong>halb Tage Zeit geben. Während 49<br />

Tagen bleibt der Geist noch bei den <strong>Leben</strong>den, deshalb werden auch Zeremonien<br />

gemacht. Im schlimmsten Fall bleibt der Geist <strong>ein</strong>er bösen Person für immer auf<br />

der Erde in <strong>ein</strong>em Das<strong>ein</strong> als Dämon.<br />

38


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

9.6 Interview mit Herrn Nicolas Blancho vom Islamischen<br />

Zentralrat Schweiz<br />

- Wie ist <strong>ein</strong>e Zustimmung zur Organspende geregelt? Dürfen Angehörige<br />

für den Verstorbenen entscheiden?<br />

- Dies ist <strong>ein</strong> heikler Punkt. Generell sollte die Person direkt über <strong>ein</strong> Testament in<br />

<strong>ein</strong>e Organspende <strong>ein</strong>gewilligt haben. Deswegen ist es Pflicht, sich in s<strong>ein</strong>em<br />

Testament für oder gegen <strong>ein</strong>e Organspende zu entscheiden. Die Frage stellt sich<br />

jedoch immer wieder, ob Familienmitglieder anstelle des Patienten entscheiden<br />

dürfen. Dies ist abhängig vom Kontext, aber prinzipiell werden <strong>ein</strong>em Hirntoten<br />

k<strong>ein</strong>e Organe entnommen ohne dessen vorhergehende Bewilligung.<br />

- Kennt der Islam <strong>ein</strong>e Einheit von Körper <strong>und</strong> Geist, wie es im<br />

Christentum der Fall ist?<br />

- Der Islam hat schon <strong>ein</strong>e Aufteilung des Menschen in Körper <strong>und</strong> Geist. Ersterer<br />

ist der materielle Part, letzterer der metaphysische, nicht fassbare Aspekt. Der<br />

Mensch ist <strong>ein</strong>e Verkörperung beider Teile, die sich jedoch beim <strong>Tod</strong> trennen. In<br />

<strong>ein</strong>er anderen, nicht materiellen Welt nach dem <strong>Tod</strong> schliessen sich Körper <strong>und</strong><br />

Geist dann erneut zusammen.<br />

- Wie sieht der Islam das <strong>Leben</strong> nach dem <strong>Tod</strong>?<br />

- Nach dem <strong>Tod</strong>es<strong>ein</strong>tritt lebt der Mensch in <strong>ein</strong>er anderen, metaphysischen<br />

Dimension weiter. Er hat Einsichten in bisher unbekannte Dimensionen, die durch<br />

die materielle Welt beschränkt waren. In dieser anderen Welt sieht der Mensch<br />

s<strong>ein</strong>e Taten <strong>und</strong> die Früchte oder Ergebnisse dieser Handlungen. Dann gibt es <strong>ein</strong>e<br />

Strafe oder <strong>ein</strong>e Belohnung. Am Tag der Auferstehung kommen Körper <strong>und</strong> Seele<br />

von der Komposition her wieder zusammen.<br />

9.7 Interview mit Frau Sumaya Angelina Mohamed aus der<br />

Moschee Hegi<br />

- Gemäss <strong>ein</strong>er offiziellen Erklärung akzeptiert auch der Islam die<br />

Möglichkeit der Organspende durch den Hirntod. Wie lautet die<br />

Begründung für das Einverständnis in dieses moderne Konzept?<br />

- Wenn der (mögliche) Nutzen den (möglichen) Schaden überwiegt, wird die<br />

Organtransplantation von <strong>ein</strong>er Mehrheit der Gelehrten für den Fall <strong>ein</strong>er<br />

<strong>Leben</strong>srettung erlaubt.<br />

- Wie verträgt sich das Hirntodkonzept mit der islamischen<br />

Rechtsgr<strong>und</strong>lage? Was sind die Bestimmungen über die Organspende?<br />

- Nach muslimischer Auffassung tritt der <strong>Tod</strong> dann <strong>ein</strong>, wenn die Seele den Körper<br />

verlässt. Der genaue Zeitpunkt, wann dies der Fall ist, kann unseres Wissens nicht<br />

klar bestimmt werden. Hirntod ist also nicht zwingend mit dem <strong>Tod</strong><br />

gleichzusetzen. Der Körper <strong>ein</strong>er toten Person muss gr<strong>und</strong>sätzlich mit derselben<br />

Sorgfalt behandelt werden wie der <strong>ein</strong>er lebenden <strong>und</strong> darf nicht verletzt werden.<br />

Dennoch sind viele Gelehrte der Ansicht, dass unter dem Aspekt der <strong>Leben</strong>srettung<br />

Organspenden erlaubt sind. Letztlich ist jeder Fall nach sorgfältiger<br />

Berücksichtigung der Umstände <strong>und</strong> der religiösen Vorgaben individuell zu<br />

beurteilen <strong>und</strong> zu entscheiden!<br />

39


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

- Was ist die Konzeption des Menschenbildes von Körper, Leib <strong>und</strong><br />

Seele?<br />

- Der Körper, die Seele <strong>und</strong> die sogenannte <strong>Leben</strong>skraft sind <strong>ein</strong>e Einheit. Nach<br />

gewissen Gelehrten wird z. B. auch die P<strong>ein</strong> im Grab als <strong>ein</strong>e P<strong>ein</strong> beschrieben, die<br />

auch LEIBLICH ist (man denke an den sogenannten „Astralleib“ oder „spirituellen<br />

Körper“ von welchem mitunter die Rede ist), auch wenn der physische Körper<br />

bereits in der Verwesung begriffen ist.<br />

- Die Medizin beschränkt den Menschen gewissermassen auf s<strong>ein</strong>e<br />

Gehirnfunktionen, es wird gesagt, dass das Hirn Zentrum des<br />

menschlichen Handelns <strong>und</strong> Denkens ist. Wie stehen islamische<br />

Gelehrte zu dieser Position?<br />

- Im Islam wird allgem<strong>ein</strong> nicht das Hirn, sondern das Herz als Zentrum aller<br />

menschlichen Wahrnehmung bezeichnet, wobei, wie oben schon gesagt, hier das<br />

spirituelle Herz gem<strong>ein</strong>t ist. Obwohl man natürlich auch im Islam das Hirn als<br />

Zentrum des Denkens <strong>und</strong> – in Kombination mit dem Impuls des Herzens - auch<br />

des Handelns sieht, nimmt es daher jedoch nicht die zentrale Stellung <strong>ein</strong>, die ihm<br />

die moderne Medizin u. U. zuschreiben möchte.<br />

- Gibt es Glaubenskonflikte mit der medizinischen Definition des <strong>Tod</strong>es?<br />

Akzeptiert der Islam die Behauptung, dass <strong>ein</strong> Mensch bereits tot ist,<br />

wenn s<strong>ein</strong> Gehirn nicht mehr funktioniert?<br />

- Ja, es gibt Konflikte mit der medizinischen Definition des <strong>Tod</strong>es; die Behauptung,<br />

dass <strong>ein</strong> Mensch tot ist, wenn er hirntot ist, ist islamisch nicht haltbar (<strong>und</strong> auch<br />

medizinisch umstritten!).<br />

10. Medizinische Begriffserklärung 30<br />

a) allogene Organtransplantation: Verpflanzung von körperfremden Gewebe;<br />

Gegenteil autogen (körpereigen)<br />

b) apallisches Syndrom: dem Hirntod ähnliches Krankheitsbild, bei welchem<br />

Patienten Wachs<strong>ein</strong> oder Schlafen nur durch die geöffneten oder geschlossenen<br />

Augen erkannt werden (mehrere schwere Schädigungen im Hirn, k<strong>ein</strong>e<br />

antwortenden Reaktionen).<br />

c) Apnoetest: Abstellen der künstlichen Beatmung, Einblasen von Sauerstoff <strong>und</strong><br />

anschliessend Beobachten des Brustkorbes auf eventuelle Atembewegungen<br />

d) Kornealreflex: Schliessmechanismus der Augen bei Berühren der Hornhaut<br />

e) okulozephaler Reflex: Gegenbewegung der Augäpfel gegen <strong>ein</strong>e Kopfbewegung<br />

f) Totales Locked-In-Syndrom: dem Hirntod ähnliches Krankheitsbild, bei dem<br />

infolge <strong>ein</strong>er Blutung oder <strong>ein</strong>es Durchblutungsmangels sämtliche Bewegungen des<br />

Körpers ausgefallen sind. Obwohl nicht sicher ist, ob der Betroffene bewusst<br />

wahrnehmen <strong>und</strong> erleben kann, ist k<strong>ein</strong>e Verständigung nach aussen möglich.<br />

g) Trigeminus-Schmerz-Reaktion: Pressen der Gesichtsnerven-Austrittsstellen<br />

30<br />

aus: Spittler, Johann Friedrich; Gehirn, <strong>Tod</strong> <strong>und</strong> Menschenbild; Neuropsychologie,<br />

Neurophilosophie, Ethik <strong>und</strong> Metaphysik; Stuttgart; W. Kohlhammer Verlag, 2003.<br />

40


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

11. Literaturverzeichnis<br />

11.1 Primärliteratur<br />

- Bendik, Ivana, Institut für Theologie <strong>und</strong> Ethik im Schweizerischen Evangelischen<br />

Kirchenb<strong>und</strong> (SEK) in Bern, Interview vom 24.08.2011, Dauer: 45 min<br />

- Blancho, Nicolas, Präsident des Islamischen Zentralrates Schweiz (IZRS) in Bern,<br />

Interview vom 19.09.2011, Dauer: 35 min<br />

- Broger, Cornelia, <strong>Leben</strong>s- <strong>und</strong> Trauerbegleitung, Mutter <strong>ein</strong>es herztransplantierten<br />

Mädchens, Interview vom 11.08.2011, Dauer: 60 min<br />

- Mohamed, Sumaya Angelina, Moschee Hegi, schriftliches Interview vom 15.10.2011<br />

- Wangyal, Lama Pema, tibetisch-buddhistischer Mönch am Tibet-Institut Rikon,<br />

Interview vom 24.08.2011, Dauer: 70 min<br />

- Wilhelm, PD Dr. med. Markus, Herz- <strong>und</strong> Gefässchirurgie am Universitäts-Spital<br />

Zürich, Interview vom 23.08.2011, Dauer: 35 min<br />

11.2 Sek<strong>und</strong>ärliteratur<br />

11.2.1 Bücher<br />

- Baureithel, Ulrike; Bergmann, Anna; Herzloser <strong>Tod</strong>; Das Dilemma der<br />

Organspende; Stuttgart, Klett-Cotta Verlag, 2001 (2. überarbeitete Auflage).<br />

- Holznienkemper, Thomas; Organspende <strong>und</strong> Transplantation <strong>und</strong> ihre Rezension<br />

in der Ethik der abrahamitischen Religionen; Münster; LIT Verlag; 2005;<br />

herausgegeben von Sass, Hans-Martin; Ruhr-Universität Bochum, Band 20.<br />

- Kalitzkus, Vera; D<strong>ein</strong> <strong>Tod</strong>, m<strong>ein</strong> <strong>Leben</strong>; Warum wir Organspenden richtig finden<br />

<strong>und</strong> trotzdem davor zurückschrecken; Frankfurt/Main; Suhrkamp Verlag; 2009.<br />

- Kalitzkus, Vera; <strong>Leben</strong> durch den <strong>Tod</strong>; Die zwei Seiten der Organtransplantation;<br />

Eine medizin-ethnologische Studie; Frankfurt/Main; Campus Verlag, 2003.<br />

- Morris, Sir Peter; Organtransplantationen - ethisch betrachtet; Berlin; LIT Verlag;<br />

2006; übersetzt aus dem Englischen; Europarat; Strassburg; Band 5.<br />

- Rinpoche, Sogyal; Das tibetische Buch vom <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> vom Sterben; Frankfurt/<br />

Main; O.W. Verlag, 2004 (2. überarbeitete Auflage)<br />

- Spittler, Johann Friedrich; Gehirn, <strong>Tod</strong> <strong>und</strong> Menschenbild; Neuropsychiatrie,<br />

Neurophilosophie, Ethik <strong>und</strong> Metaphsyik; Stuttgart; W. Kohlhammer Verlag; 2003.<br />

41


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

11.2.2 Internet<br />

- Bild „Wägung des Herzens“.<br />

www.pernefer.de/ka.htm (16.10.11)<br />

- Bodhibaum Community, Rabten, Geshe, „Sterbeprozess, Bardo <strong>und</strong> Wiedergeburt“.<br />

http://www.bodhibaum.net/verstaendnis/tod-tibet.htm (31.07.11)<br />

- B<strong>und</strong>esamt für Ges<strong>und</strong>heit, „Transplantationsmedizin“.<br />

http://www.bag.admin.ch/transplantation (31.06.11)<br />

- Burial and Care GmbH, „Die Bestattungskultur des Buddhismus“.<br />

http://www.tod-<strong>und</strong>-glaube.de/buddhismus.php (20.08.11)<br />

- by heart - D<strong>ein</strong> Herz entscheidet, „Die Haltungen der Religionen zur<br />

Organtransplantation“.<br />

http://www.d<strong>ein</strong>-herz-entscheidet.de/die-haltungen-der-religionen-zurorgantransplantation.html<br />

(10.09.11)<br />

- Das Weisse Pferd, Urchristliche Zeitung für Gesellschaft, Religion, Politik <strong>und</strong><br />

Wirtschaft, „Neues <strong>Leben</strong> durch fremde Organe?“.<br />

http://www.das-weisse-pferd.com/99_04/organspende.html (11.07.11)<br />

- Das Wissensportal zum Thema Kultur <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

http://www.kultur-ges<strong>und</strong>heit.de/ges<strong>und</strong>heit_krankheit_<strong>und</strong>_muslimische<br />

patienten/lebensphasen/sterbebegleitung_<strong>und</strong>_tod.php (18.09.11)<br />

- Der heilige Koran: „56. Das unvermeidliche Ereignis".<br />

http://www.intratext.com/IXT/DEU0018/_P3D.HTM (25.10.11)<br />

- Deutscher Radiosender Schweiz, Echo der Zeit, „Wann ist der Mensch definitiv<br />

tot?“. (Sendung vom Mittwoch, 31.08.11, 18.00 Uhr)<br />

http://www.drs1.ch/www/de/drs1/sendungen/echo-der-zeit/2646.bt10191856.html<br />

(31.08.11)<br />

- Dober, Rolf, „Ethische Kontroversen um die Organspende“.<br />

http://www.dober.de/ethik-organspende/ (11.05.11)<br />

- Eich, Thomas, Gr<strong>und</strong>mann, Johannes, „Muslimische Rechtsm<strong>ein</strong>ungen zu Hirntod,<br />

Organtransplantation <strong>und</strong> <strong>Leben</strong>“.<br />

http://www.ruhr-uni-bochum.de/kbe/islamhirntodeich.pdf (30.07.11)<br />

- Harderwijk, Rudy, „Einführung in den Buddhismus. Der Geist.<br />

http://viewonbuddhism.org/buddhismus-deutsch/g-geist.htm (20.08.11)<br />

- Hawter, Pende, „Death and Dying in the Tibetan Buddhist Tradition“.<br />

http://www.buddhanet.net/deathtib.htm (20.08.11)<br />

- „Herz - Deutsche Redewendungen“, phrasen.com.<br />

http://www.phrasen.com/tags/herz (20.08.11)<br />

42


»<strong>Nur</strong> <strong>ein</strong> <strong>Flügelschlag</strong> <strong>zwischen</strong> <strong>Leben</strong> <strong>und</strong> <strong>Tod</strong>« – Maturitätsarbeit von Larissa Jäger, 6bG<br />

- Informationsplattform Religion, „<strong>Tod</strong>, Bestattung <strong>und</strong><br />

Wiedergeburt“.<br />

http://www.religion-online.info/buddhismus/themen/info-wiedergeburt.html<br />

(20.08.11)<br />

- Jakoby, Bernhard, „Geheimnis Sterben - Was wir heute über den Sterbeprozess<br />

wissen“.<br />

http://www.kath-kirche-vorarlberg.at/organisation/katholisches-bildungswerkvorarlberg/artikel/geheimnis-sterben-was-wir-heute-ueber-den-sterbeprozess/<br />

wissen-1 (18.08.11)<br />

- Kern, Udo, „Leib <strong>und</strong> Seele aus theologischer Sicht“, Universität Rostock.<br />

http://web.physik.uni-rostock.de/aktuell/Ring/U_Kern_Leib-Seele2.pdf (14.08.11)<br />

- Organspende Info, „Organspende schenkt <strong>Leben</strong>“.<br />

http://www.organspende-info.de/downloads/24-134-390/<br />

Unterrichtsmaterial_organspende.pdf (20.09.11)<br />

- „Organ Transplant in Islam - The Fiqh of Organ Transplant and its Application in<br />

Singapore“.<br />

http://www.muis.gov.sg/cms/uploadedFiles/MuisGovSG/Religious/OOM/<br />

Resources/Muis%20kidney%20book%20ENG.pdf (18.09.11)<br />

- Potts, Michael, Evans, David W., „Does it matter that organ donors are not<br />

dead?“,Journal of Medical Ethics.<br />

http://www.jme.bmj.com (23.05.11)<br />

- Radio Vaticana, Die Stimme des Papstes <strong>und</strong> der Weltkirche, „Vatikan:<br />

Organspenden sind Zeichen der Nächstenliebe“. (Erklärung von Papst Benedikt<br />

XVI. am 07.11.08)<br />

http://storico.radiovaticana.org/ted/storico/2008-11/243140_vatikan_<br />

organspenden_sind_zeichen_der_nachstenliebe.html (09.09.11)<br />

- Sakr, Ahmad, „Das <strong>Leben</strong> im Grab“.<br />

http://www.tauhid.net/cyberlebenimgrab.html (20.09.11)<br />

- Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften, „Feststellung des<br />

<strong>Tod</strong>es mit Bezug auf Organtransplantation“, Medizini-ethische Richtlinien<br />

http://www.swisstransplant.org/pdf/SAMW-Richtlinien-D.pdf (24.08.11)<br />

- UniversitätsSpital Zürich, Transplantationszentrum, „Geschichte“.<br />

http://www.transplantation.usz.ch/HealthProfessionals/Allgem<strong>ein</strong>es/Seiten/<br />

default.aspx (07.07.11)<br />

- Walther, Helmut, „Geist <strong>und</strong> Bewussts<strong>ein</strong> 1 – <strong>ein</strong> Versuch über den menschlichen<br />

Geist“.<br />

http://www.kreisbogen-der-metaphysik.de/geist1.htm (26.11.11)<br />

43

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